Lundsgaard-Hansen, Energiestrategie 2050.

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Jens Lundsgaard-Hansen

Energiestrategie 2050 – das Eis ist dünn

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Die Schweiz und Deutschland auf neuen Wegen


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Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Schaffhausen Umschlag, Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell


Inhalt Vorwort........................................................... 9 1  Der schnelle Weg in den Ausstieg......................... 11 1.1  Der Fukushima-Effekt. ................................... 11 1.2  Der erste Richtungsentscheid............................ 21 1.3 Bilanz. ...................................................... 27 2  Klima – der Blick in die Welt hinaus. . .................... 29 2.1  Klimaveränderung – Fiktion oder Wirklichkeit?. .... 29 2.2  Internationale Klimapolitik............................. 36 2.3 Bilanz. ...................................................... 50

4  60 Jahre Schweizer Energiepolitik – bis Fukushima.... 73 4.1  Versorgung als strategisches Ziel bis in die 1980er-Jahre.................................................... 73 4.2  Erfolge und Misserfolge der Energiepolitik in den 1990er-Jahren. ................................................. 79 4.3 Zwischenbilanz........................................... 88 4.4  Neuer Schub – neue Ziele – neue Massnahmen..... 90 4.5 Bilanz...................................................... 100 4.6  Folgerungen für die «Energiestrategie 2050»........ 105 5  Die «Energiestrategie 2050» im Überblick............ 107 5.1  Auf dem Weg zu einem verbindlichen Entscheid. .. 107 5.2  Ziele der «Energiestrategie 2050»..................... 112 5.3  Bilanz (Ziele). ............................................ 124

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3  Die Energie- und Klimapolitik der EU................... 53 3.1  Bedeutung der EU für die Energie- und Klimapolitik.................................................... 53 3.2  Formel 20-20-20. ......................................... 55 3.3  Der «Energiefahrplan 2050»............................. 58 3.4  «Grünbuch – ein Rahmen für die Klima- und E ­ nergie­politik bis 2030». ..................................... 66 3.5 Bilanz. ....................................................... 71


5.4  Verwirrendes Konzept – Umsetzung in zwei Phasen.. ........................................................ 125 5.5  Das erste Massnahmenpaket des Bundesrats unter der Lupe. ............................................... 127 5.6  Bilanz (erstes Massnahmenpaket).................... 140 5.7  Die zweite Phase der Massnahmen – Lenkungsstatt Fördersystem. ........................................... 141 5.8  Bilanz (zweite Phase der Massnahmen).............. 150

7  «Energiestrategie 2050» – das Eis ist dünn. . .......... 165 7.1  Kernenergie – Verweigerung einer Diskussion. ..... 165 7.2  Einstieg in fossile Stromproduktion – eine ungeliebte Wahrheit....................................................... 175 7.3  Versorgungssicherheit – ein grosser Schritt zurück. 182 7.4  Paradigmenwechsel – Überforderung des Menschen und der Gesellschaft?. ....................................... 194 7.5  Die Toolbox der «Energiestrategie 2050» – falscher Inhalt. .......................................................... 201 7.6  Zweite Phase der «Energiestrategie 2050» – K ­ lärungen notwendig........................................ 216 7.7  Kosten verschiedener Art – Lücken und Illusionen. ..................................................... 225

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6  Die deutsche «Energiewende» – ein k­ urzer Exkurs........................................................... 153 6.1  Warum Deutschland besonders ist. ................... 153 6.2  Die ursprüngliche Energiewende in Deutschland................................................... 154 6.3  Die zweite «Energiewende» – nach Fukushima..... 156 6.4  Lücke zwischen Zielen und Massnahmen – Fokus Stromerzeugung.............................................. 157 6.5  Strom aus Sonne und Wind – das Rückgrat trägt nicht mehr..................................................... 159 6.6  Die Strompreisbremse gegen die soziale Schieflage...................................................... 161 6.7 Bilanz...................................................... 162


7.8  Konfliktfelder – Überforderung des demokratischen Systems?. .................................. 236 7.9  Bilanz – eine «Energiestrategie 2050» mit mehr Chancen und weniger Risiken. ................. 243

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Abkürzungen, Glossar. ...................................... 247 Anmerkungen................................................ 248 Der Autor...................................................... 275


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Mit der «Energiestrategie 2050» macht sich die Schweiz auf den Weg in eine andere Welt. In eine Welt, in der wir im Vergleich zu heute noch halb so viel Energie und kaum noch Heizöl und Benzin verbrauchen, etwa fünfmal weniger CO2 in die Luft lassen und keine Kernkraftwerke mehr haben. Das Energiesystem, ja die ganze Gesellschaft werden ganz anders aussehen – eine energie- und klimapolitische «Revolution». Deutschland geht mit der «Energiewende» einen ähnlichen Weg. Die Frage ist, ob und wie wir in diese neue Welt kommen. Und ob wir überhaupt dorthin wollen. Den Startschuss für diese «Revolution» haben die Schweiz und Deutschland wenige Monate nach dem Reaktorunglück in Fukushima gegeben. In beiden Ländern standen Wahlen an – der «Fukushima-Effekt» war das grosse Thema. Die Zeit der Reflexion war kurz, für einmal ging es auch in der Schweiz unglaublich schnell. Inzwischen sind die Wahlen vorbei. Inzwischen hat der Bundesrat, wie dies in der Schweiz üblich ist, eine Vernehmlassung durchgeführt. Inzwi­ schen ist auch bewusst geworden, dass die grossen Dinge manch­ mal leichter gesagt sind, als getan. Das gilt auch für Deutschland – dort ist die «Energiewende» bereits im praktischen Test. Die Schwierigkeiten nehmen zu. In der Schweiz geht die «Energiestrategie 2050» nun ins Parlament. Bisher war vieles Papier und Deklaration, nun geht es um Substanz und verbindliche Entscheide. Zu dieser Debatte möchte das vorliegende Buch einen Beitrag leisten. Was ist in dieser «Energiestrategie 2050» verpackt? Was kommt auf Bevölkerung und Wirtschaft zu, mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und einer ehrgeizigen Klimapolitik? Gehen die Schweiz und Deutschland diesen Weg alleine? Sind derart weitreichende Veränderungen in einer Demokratie überhaupt machbar? Die Regierungen meinen Ja – doch die Schweiz und Deutschland bewegen sich, so die Bilanz des Buches, auf dünnem Eis. Zwei Bemerkungen methodischer Art: «Energiewende» und «Energiestrategie 2050» reichen weit in die Zukunft hinein. Deshalb kommen Modelle, Szenarien und Perspektiven zum Zug.

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Vorwort


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Die Zukunft bleibt trotzdem unsicher. Doch mit Modellen können wir leichter Aussagen über kommende Entwicklungen machen als ohne Modelle. Und: Die Diskussion der «Energiestrategie 2050» findet täglich statt. Der Redaktionsschluss für das vorliegende Buch war allerdings Ende Mai 2013. Spätere Zahlen, Entwicklungen und politische Entscheide sind nicht mehr enthalten.


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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

1.1  Der Fukushima-Effekt Fukushima – die teuerste Naturkatastrophe Am 11. März 2011 hat das stärkste je in Japan gemessene Erdbeben (9,0 auf der Richterskala) die Erde erschüttert. Kurz nach dem Beben hat ein Tsunami von gewaltigem Ausmass die Küste im Nordwesten Japans erreicht und verwüstet. Der 11. März war ein fürchterlicher Doppelschlag der Natur: Er hat rund 15 000 bis 20 000 Menschen das Leben gekostet und Tausende verletzt, er hat in einigen Regionen mehr oder weniger die gesamte Infrastruktur – Häuser, Strassen, Schienen, Wasser- und Stromversor­ gung – zerstört und Hunderttausenden das Dach über dem Kopf und die wirtschaftliche Existenz geraubt. Gemäss Angaben von

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Seit gut 40 Jahren sind in der Schweiz Kernkraftwerke am Netz. Zuerst sehr breit akzeptiert, später umstritten, aber vom Volk an der Urne immer wieder getragen und unterstützt. Auch nach Tschernobyl. Doch im Frühjahr 2011 kam alles anders. Wenige Tage und Wochen nach dem Reak­ tor­unglück von Fukushima in Japan – ein gravierendes Er­ eignis, aber weit weniger gravierend als Tschernobyl – setzte die Politik zur Kehrtwende an: schrittweiser Ausstieg aus der Kernenergie, verknüpft mit einer ehrgeizigen Klimapolitik. Deutschland ging voran und stellte seine Kernenergie und damit etwa 18 Prozent des Stroms drei Tage nach Fukushima zur Disposition. Die Schweiz folgte kurz danach und fasste den Verzicht auf 40 Prozent ihres Stroms ins Auge. Was war geschehen? Weshalb die Eile? Wer waren die Treibenden, wer die Getriebenen? Wohin sollte die Reise in Zukunft gehen? Was war durchdacht, was höchstens angedacht? Der erste Teil des Buches blickt zurück auf diese wenigen Tage und Wochen nach dem 11. März 2011, als eine energie- und klimapolitische «Revolution» ihren Lauf nahm.


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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Die Kameras schwenken bald Wir waren damals – zu unserem Glück – weit weg von dieser Katastrophe. Und doch waren wir hautnah dabei. Über TV, Internet, Radio und Zeitungen verfolgte die ganze Welt ab dem 11. März 2011 im Minuten- und Stundentakt, wie die Menschen in Japan sich gefasst und mit beinahe unvorstellbarer Disziplin diesem Schicksalsschlag stellten. Und die ganze Welt verfolgte die Analysen und Kommentare von eingeflogenen Journalisten vor Ort, von Experten im Studio und von Politikern jeder politischen Couleur. In den Medien rückte die Reaktorkatastrophe von Fuku­ shima sehr bald in den Vordergrund – mehr oder weniger sachlich, mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger spe­kulativ. Die für die Japaner in diesen Tagen wesentlich schwerwiegenderen Folgen des Erdbebens und Tsunamis – die Tausenden von Toten, Verletzten und Vermissten, die völlig zerstörte Infrastruktur – interessierten hingegen bald weniger. Die Kameras und das Interesse der europäischen Medien schwenkten immer öfter weg von Japan und auf die hiesigen Kernkraftwerke: Hätte die

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Munich Re, dem weltweit grössten Rückversicherer, beliefen sich die Schäden der Katastrophe auf rund 210 Milliarden US-Dollar1 – die teuerste Naturkatastrophe aller Zeiten. Der Nordosten Japans bot nach dem Erdbeben und Tsunami innerhalb von Stunden ein Bild der Verwüstung. Eine der stark beschädigten Infrastrukturen war auch das Kernkraftwerk von Fukushima mit mehreren Reaktoren.2 In der Region von Fukushima erreichte die Welle des Tsunami eine Höhe von gegen 10 Metern. Wenige Tage nach dem 11. März 2011 wurde deutlich, dass die Notstromversorgung und das Kühlsystem des Kern­kraftwerks zerstört und zumindest eine teilweise Kernschmelze im Gang war – Wasserstoffexplosionen, Rauchsäulen über den Reaktoren, Austritt von Radioaktivität in die Atmos­phäre und ins Meer, Alarmstufe Rot also. Etwa 80 000 Menschen im Umkreis von 20 Kilometern des Kernkraftwerks wurden am 12. März aufgefordert, angesichts der radioaktiven Strahlung ihr Z ­ uhause zu verlassen. Später kamen weitere Evaku­ ationszonen hinzu.


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1.1  Der Fukushima-Effekt

Besonnenheit beim Aufsichtsorgan Nachvollziehbare, legitime und wichtige Fragen. Sie zu stellen, ist selbstverständlich. Sie sorgfältig und fachlich fundiert zu beantworten, ist es auch. Zuständig dafür ist primär das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi), die Aufsichtsbehörde des Bundes für Sicherheitsfragen bei der Kernenergie. Es analysiert und informiert und bereitet die Entscheidgrundlagen des Bundesrats vor. Die Ereignisse im Kernkraftwerk von Fukushima waren eine Katastrophe, dies wurde sehr bald klar. Im Falle einer Kata­ strophe oder Krise gilt stets das Gleiche. Erstens: das Problem ­erfassen. Worum geht es? Was ist geschehen, was ist nicht geschehen? Zweitens: die Beurteilung der Lage. Gibt es akute Risiken und Gefahren? Welche Optionen haben wir, wo liegen die Vorund Nachteile? Dann folgen als Drittes die ersten Entschlüsse. Was ist zu tun? In welche Richtung wollen wir? Ist eine Vertiefung der Analysen, sind weitere Abklärungen nötig? Und von Beginn weg stellt sich stets die Frage: Sind Sofortmassnahmen nötig? Das Ensi hat in diesem Sinne und Schritt für Schritt gehandelt. Am 13. März konnte Bundesrätin Doris Leuthard, Vorsteherin des zuständigen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) festhalten: «Aufgrund der jüngsten Lagebeurteilung des Ensi besteht für die Bevölkerung der Schweiz keine direkte Gefahr.»3 Am gleichen Tag betonte sie in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens, die Schweizer Atom-

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Katastrophe bei uns so auch passieren können? Statt Tsunami geborstene Staudämme in den Schweizer Bergen? Als Folge davon Flutwellen in den Flussläufen im Unterland? Erdbeben von bisher unbekannter Stärke, Flugzeugabstürze oder Terroranschläge, welche die Reaktorhüllen zerreissen könnten? Ist die Sicherheit bei uns gewährt, reichen die Vorkehrungen aus? Wie und wohin würden wir Zehntausende von Menschen evakuieren? Sind auch bei unseren Kernkraftwerken Massnahmen einzuleiten? Und, ganz grundsätzlich: Ist Kernenergie überhaupt zu verantworten, oder gibt es – nach Fukushima – nur noch den Ausstieg aus der Kernenergie?


1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

kraftwerke seien sicher. Am 14. März hat Bundesrätin Doris Leuthard die drei Rahmenbewilligungsgesuche der Schweizer Stromkonzerne für neue Kernkraftwerke sistiert,4 um allfällige sicherheitstechnische Erkenntnisse aus Japan in die Verfahren einfliessen zu lassen. In der Nachrichtensendung 10 vor 10 wurde sie deshalb gefragt, ob sie nicht doch Zweifel an der Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke habe. Sie antwortete: «Nein, die Sicherheit ist ganz klar gewährleistet.» Doch angesichts der Ereignisse in Japan müsse man nun «nochmals hinschauen». Genau das tat das Ensi: Bereits am 18. März 2011 – eine Woche nach dem Ereignis in Japan – hat es Sofortmassnahmen bei den Schweizer Kernkraftwerken angeordnet und weitere Massnahmen prüfen lassen. In den nächsten Wochen und Monaten folgten weitere Verfügungen mit bindenden und terminierten Aufträgen, schwergewichtig zu den Themen Erdbeben, Überflutungsgefahr, Notstromversorgung und Kühlsysteme. Seither geht dieser Prozess weiter: Analysen – Erkenntnisse – Prüf- und Handlungsaufträge – Massnahmen.5 Bundesrätin Doris Leuthard beschrieb dieses rollende Vorgehen schon am 13. März wie folgt: «Selbstverständlich muss analysiert werden, was zum Risiko in Japan geführt hat. Ebenso selbstverständlich ist, dass die schweizerischen Sicherheitskonzepte auf allfällige Erkenntnisse aus dieser Katastrophe angepasst werden müssen. Ergibt sich daraus Handlungsbedarf für die Schweizer Anlagen, würden diese Massnahmen umgesetzt. Sicherheit hat oberste Priorität.»6 Aufsicht durch das Ensi Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) nimmt die Aufsicht über die Kernenergie wahr. Das Ensi ist eine unabhängige, öffentlich-rechtliche Anstalt. Es bewertet laufend die Sicherheit der Kernanlagen und führt Inspektionen vor Ort durch. Es kann jederzeit Massnahmen anordnen, um den sicheren ­Betrieb von Kernanlagen zu gewährleisten. Ähnliche Aufsichtsorgane gibt es zum Beispiel auch für die Sicherheit im Bahn- oder Luftverkehr.

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1.1  Der Fukushima-Effekt

Übersteigerter Aktivismus Und die Politik? Setzte auch sie auf eine sorgfältige Analyse der Ereignisse in Japan, um aus neuen Erkenntnissen Lehren zu ziehen und diese in die Sicherheitskonzepte der Schweizer Kernanlagen einfliessen zu lassen? Oder waren die Bilder und Schlagzeilen aus Japan stärker? Zur Erinnerung: Noch am 13. Februar 2011 hatte das Stimm­volk des Kantons Bern nach einem emotionalen Ab­ stimmungskampf den Bau eines neuen Kernkraftwerks am Standort Mühleberg mit 51,7 Prozent befürwortet. Doch nun, nach Fukushima, witterten die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) und die Grünen – seit Langem grundsätzlich gegen Kernenergie – Morgenluft. Die Grünen hielten am 13. März fest: «Die Grüne Fraktion ist in Gedanken bei der japanischen Bevölkerung, welche eine unvorstellbare Katastrophe miterleben muss: Zuerst ein Erdbeben, dann ein Tsunami und jetzt noch ein atomarer ­Unfall. Die Ereignisse in Japan führen uns vor Augen, dass der Betrieb in einem AKW bei einem grossen Naturereignis ausser Kontrolle geraten kann. Auch ein Terroranschlag auf ein AKW könnte ähnliche Folgen haben. Trotz grössten Sicherheitsbe­ mühungen besteht immer ein atomares Risiko mit verheerenden Folgen.» In der gleichen Medienmitteilung: «Die Grünen Schweiz fordern die Bevölkerung in der Schweiz auf, vom Bundesrat und von den Kantonsregierungen den Atomausstieg zu verlangen. Dazu werden sie eine Postkarten-Aktion lancieren. Der rasche Ausstieg aus der Atomtechnologie ist der einzige Garant, dass sich in der Schweiz kein GAU ereignen kann wie in Japan.»7 In Gedanken bei der japanischen Bevölkerung, am Bürotisch aber bereits bei einer Postkartenaktion für den Ausstieg aus der Kernenergie in der Schweiz – ein schönes Bild. Auch die SPS hielt drei Tage nach den Ereignissen in Japan auf die Schweiz am 14. März fest: «Es geht darum, nach der Katastrophe in Japan die nötigen

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Die sicherheitstechnische Bewältigung der Ereignisse durch die Fachleute des Ensi und die zuständige Departements­ vorsteherin hat von Beginn weg funktioniert. Es gab, so könnte man meinen, keinen Grund zur Panik.


1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Lehren zu ziehen. In diesem Sinne kann eine vorübergehende Sistierung [gemeint: der Rahmenbewilligungen] erst der erste Schritt sein. Es braucht nun den definitiven Verzicht auf neue AKW und den geordneten Rückzug aus der erwiesenermassen unsicheren Atom-Technologie.»8 Auf der links-grünen Seite war also alles klarer denn je. Die SVP hingegen versuchte zu beruhigen und lehnte am 15. März «unüberlegte Schnellschüsse» ab. Die Situation sei nun laufend und sachlich zu beurteilen, dann seien Schlussfolgerungen zu ziehen.9 Auch die FDP behielt am 14. März einen kühlen Kopf, verlangte eine sorgfältige Aufarbeitung der Ereignisse und übte Kritik an der Energieministerin: «Der heutige Entscheid von Bundesrätin Doris Leuthard, die laufenden Verfahren für Rahmenbewilligungen für Ersatzkraftwerke zu sistie­ ren, ist deshalb überhastet. Notwendig ist eine sachliche Debatte. Die Par­teien müssen der Versuchung widerstehen, aus dieser menschlichen Katastrophe politisches Kapital zu schlagen.»10 Nüchtern blieb in den ersten Tagen nach Fukushima auch die CVP, die Partei von Bundesrätin Doris Leuthard. Sie hielt am 15. März fest, nun seien verschiedene Fragen der Sicherheit zu prüfen und zu beantworten.11 Die kleinste Bundesratspartei, die BDP, präsentierte bei der Lancierung ihrer Wahlkampagne vom 14. März folgende Position: «So propagiert sie [die BDP] zwar als einzige rechte Partei den längerfristigen Ausstieg aus der Atomenergie. Aus Angst vor einer Versorgungslücke will die BDP aber wie die bürgerliche Konkurrenz den Bau von einem bis zwei neuen AKW befürworten. De facto würde damit der Atomausstieg um Jahrzehnte hinausgeschoben.»12 Vollbremsung in Deutschland13 Die Ereignisse in Deutschland waren für die Diskus­ sion in der Schweiz von grosser Bedeutung. Im Herbst 2010 hatte die deutsche Regierungskoalition zwischen CDU und FDP ein neues Energiekonzept vorgestellt. Wichtiger Bestandteil davon war die Frage der Kernenergie: Die «gelb-schwarze» Regierung verlängerte die Laufzeit der deutschen Kernkraftwerke und ging

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1.1  Der Fukushima-Effekt

Spätestens eine Woche nach Fukushima gerieten die bürgerlichen Parteien in der Schweiz jedoch mehrheitlich ins Wanken. Gesicherte Erkenntnisse aus Japan, so die FDP in einer Medienmitteilung am 16. März, würden erst in Wochen oder gar Monaten vorliegen. Doch die Diskussion sei schon heute im Gang, die Bevölkerung sei zu Recht bestürzt und verunsichert. Und: «Es zeichnet sich ab, dass der Ersatz von Kernkraftwerken kaum noch mehrheitsfähig ist.»14 Frühere Positionen verblassen schnell, die Fahnen richten sich nach dem Wind. Die SonntagsZeitung konnte sehr bald bekannt geben, woher der Wind weht. Am 20. März veröffentlichte sie auf der Frontseite die Ergebnisse einer Umfrage, wonach 74 Prozent der Befragten den Bau neuer Kernkraftwerke ablehne. Nationalrat Hans Grunder, Präsident der BDP, setzte keine Woche nach dem Auftakt der BDP-Wahlkampagne und dem damaligen Ja zu neuen Kernkraftwerken zur grossen Kehrtwende an. Er gab der Zeitung zu Protokoll: «Der Zeitpunkt, den Ausstieg zu planen, ist endgültig gekommen. Es kann in der Schweiz kein neues AKW mehr geben.» Ins gleiche Horn stiess nun auch CVP-Präsident und Nationalrat Christophe Darbellay: «Ihre Umfrage steht natürlich stark unter dem Eindruck des Unglücks. Die Kernkraft in der Schweiz ist aber nicht mehr mehr-

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damit auf Distanz zum baldigen Ausstieg aus der Kernenergie, den die vorherige «rot-grüne» Regierung beschlossen hatte. Das System von Regierung und Oppo­ sition führte auch zu Pendelbewegungen bei der ­Kern­energie. Bis zu Fukushima. Dieses Ereignis führte in Deutschland zu einer sehr raschen politischen Kehrt­­wende: Drei Tage nach dem Reaktorunfall in Japan, am 14. März 2011, nahm Bundeskanzlerin Angela Merkel die vor einem halben Jahr beschlossene Verlängerung der Laufzeit zurück und stellte acht der 17 Kernkraftwerke mit sofortiger Wirkung ab. Dieser Entscheid war jedoch kein rechtlich verbindlicher Beschluss, sondern in ein dreimonatiges Moratorium verpackt. Während dreier Monate sollte die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke erneut überprüft werden.


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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Politische Kehrtwende So schnell kann es gehen. Eine, spätestens zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima hatte die Politik – dank dem Schwenker grosser Teile der bürgerlichen Parteien – die Kernenergie in der Schweiz politisch ins Offside gestellt. Nachdem sie während etwa 40 Jahren zuverlässig und wesentlich zur Stromversorgung des Landes beigetragen hatte. Die Bevölkerung wolle, so die simple Behauptung, keine neuen Kernkraftwerke mehr. Ernsthaft gefragt hat sie freilich niemand, schon gar nicht unter Einbezug der Konsequenzen, die ja zum damaligen Zeitpunkt noch niemand im Einzelnen abschätzen konnte. Bisher hatte das Schweizer Volk den Ausstieg aus der Kernenergie an der Urne immer abgelehnt. Weshalb haben die bürgerlichen Parteien in der Energiepolitik so schnell zu einer Kehrtwende angesetzt? Die Katastrophe von Fukushima hat, das ist selbstverständlich, Fragen aufgeworfen und zu Verunsicherung geführt. Doch Fukushima an sich hätte kaum binnen weniger Tage ein so radikales politisches Manöver ausgelöst. Die Kehrtwende ist ohne die für den Herbst 2011 angesetzten eidgenössischen Wahlen nicht erklärbar. Die Kernenergie war zum nationalen Wahlkampfthema geworden. In den kommenden Wochen und Monaten deckten die Parlamentarier den Bundesrat mit weit über 100 Vorstössen zum Thema ein.16 Die Grünen und die Sozialdemokraten forderten den Bundesrat bereits am 18. März auf, nun den Ausstieg aus der Kernenergie einzuleiten. Viele bürgerliche Politikerinnen und Politiker folgten bald nach. Andere Vorstösse forderten Szenarien für eine Energieversorgung ohne Kernkraft, Sparprogramme, Expertenkommis­ sionen, Gespräche mit der EU, ein Verbot von Elektroheizungen, die Förderung der Solar- und anderer erneuerbarer Energien und vieles mehr. Für die Sommersession plante das Parlament eine Debatte zum Thema entlang der eingereichten Vorstösse.

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heitsfähig, das muss man feststellen […] Meines Erachtens muss ein schrittweiser und geordneter Ausstieg aus der Atomenergie geplant werden.»15


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1.1  Der Fukushima-Effekt

Der «politische Tsunami» in Deutschland20 Auch die politische Eile der deutschen Regierung ist ohne das Stichwort «Wahlen» kaum erklärbar. Im Jahr 2011 fanden in sieben deutschen Bundesländern ­Landtagswahlen statt (sechs davon nach Fukushima). Am 27. März 2011 fanden die Wahlen in BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz statt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) hielt am gleichen Tag fest: «Fukushima ist allgegenwärtig.» Ob CDU, FDP, SPD, Grüne oder die Linkspartei: Die politischen Meinungsführer waren sich gemäss FAZ einig, dass «Fukushima alles überdeckt» hat (Linkspartei), die Wahlen eine «Volksabstimmung» über die ­Kernenergie gewesen seien (SPD), die Landespolitik bei diesen Landtagswahlen kaum eine Rolle gespielt hätten (FDP) und die Regierung ihr «Moratoriums-Konzept» nicht als «tragfähiges Konzept» habe vermitteln können (CDU). In Baden-Württemberg wurde am 27. März 2011 erstmals in der Geschichte Deutschlands ein Vertreter der Grünen zum Ministerpräsidenten gewählt. Der «politische Tsunami», so die Bezeichnung von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), hatte seine Wirkung getan. Fortan sollte es mit der «Energiewende» in Deutschland sehr schnell gehen.

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Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) nannte die Entwicklung in ihrer Ausgabe vom 27. März den «Fukushima-Effekt»: «Nun haben die Grünen über Nacht ein Wahlkampfthema erhalten.»17 Nationalrat Fulvio Pelli, Präsident der FDP, ortete einen Fuku­ shima-Effekt in Zürich, nachdem seine Partei in den kantonalen Wahlen vom 3. April deutlich verloren hatte.18 Und das Wahlbarometer der SRG kam zum Ergebnis, dass – wäre am 10. April g­ ewählt worden – Grüne, Grünliberale und BDP aufgrund des FukushimaEffekts zugelegt hätten.19


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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Die Zukunft neu durchrechnen Doch in diesem Punkt der Treibhausgase sollte sich Bundesrätin Doris Leuthard irren. Ab dem 23. März beugten sich die Verwaltung und externe Firmen über die Grundlagen der Energiepolitik des Jahres 2007. Die Fachleute der Firma Prognos AG und des Bundesamts für Energie (BFE) rechneten die Zukunft neu durch, aktualisierten die «Ener­gieperspektiven 2035» aus dem Jahre 2007, verlängerten sie auf den Zeithorizont 2050 und verknüpften sie mit verschiedenen Varianten eines zukünftigen Strom­ angebots (mit Kernenergie, schrittweiser Ausstieg, vorzeitiger schrittweiser Ausstieg). So entstand die erste Grundlage für das, was der Bundes­rat fortan die «Energiestrategie 2050» nannte.

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Bundesrat weichgeklopft Die politische Schweiz war im März 2011 aus dem Gleichgewicht geraten. Am 23. März, zwölf Tage nach Fukushima, erteilte der Bundesrat der Verwaltung den Auftrag, die Energiepolitik zu überprüfen. Neue Energieszenarien, Aktions- und Massnahmenpläne waren gefragt.21 Der Bundesrat erwartete erste Ergebnisse vor der Sommersession des Parlaments. Am 26. März – drei Tage nach diesem Beschluss – gab Bundesrätin Doris Leuthard der Zeitung Der Bund ein ausführliches Interview.22 Es liest sich wie ein letztes «Aufbäumen» der Energieministerin gegen die politische Welle, die nun in einem einzigen Sturm die Kernenergie wegzuspülen drohte. Doris Leuthard sagte: «Die Bilder aus Japan lassen niemanden kalt […] Wir sehen Tote, die nichts mit dem Unfall im Kernkraftwerk zu tun haben. Es ist normal, dass man auf solche Bilder emotional reagiert. Umso wichtiger ist es, dass der Bundesrat nüchtern bleibt. Ohne die Konsequenzen genau zu kennen, ist es leichtsinnig zu verlangen, dass die Schweiz auf die Kernenergie verzichten soll.» Die Energieministerin entgegnete auf die Frage, ob nun an die Stelle von Kernkraftwerken grosse Gaskraftwerke treten würden: «Ohne grosse Gaskraftwerke geht es nicht. Man kann nicht den Verzicht auf Kernenergie fordern und gleichzeitig sagen, dass in der Schweiz kein zusätzliches Treibhausgas ausgestossen werden soll.»


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1.2  Der erste Richtungsentscheid

Blitzentscheid in Deutschland Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel angesetzte dreimonatige Moratorium war keine drei Wochen alt, als die Kanzlerin am 4. April 2011 die Ethik-Kommis­ sion Sichere Energieversorgung einsetzte. Am 30. Mai lieferte diese ihren Bericht «Deutschlands Energiewende – ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft» ab. Die Kommission kam unter anderem zur Empfehlung: «Der Ausstieg [aus der Kernenergie] ist nötig und wird empfohlen, um Risiken, die von der Kernkraft in Deutschland ausgehen, in Zukunft auszuschliessen. Er ist möglich, weil es risikoärmere Alternativen gibt. Der Ausstieg soll so gestaltet werden, dass die Wettbewerbs­ fähigkeit der Industrie und des Wirtschaftsstandortes nicht gefährdet wird» (S. 4 des Berichts). Im Juni 2011 nahm der Deutsche Bundestag acht Kernkraftwerke definitiv ausser Betrieb, beschloss in einem umfangreichen Gesetzeswerk die «Energiewende» und damit auch den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022. Am 8. Juli folgte auch der Bundesrat (Länderkammer) diesem Beschluss.

Der Beschluss Am 25. Mai 2011 legte der Bundesrat die zwei Monate zuvor in Auftrag gegebene Arbeit der Verwaltung und von Prognos auf den Tisch. Als Ergänzung kamen eine «Skizze des Aktionsplans Energiestrategie 2050» (enthält 50 einzelne Massnahmen), ein Faktenblatt und eine Medienmitteilung hinzu. An diesem 25. Mai 2011 – knapp zweieinhalb Monate nach Fukushima – beschloss der Bundesrat «im Rahmen der neuen Energiestrategie [den] schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie».23 Was hatte nun der Bundesrat – bei einer etwas näheren Be­ trachtung – in seiner neuen «Energiestrategie 2050» beschlossen? Weshalb hatte sich Bundesrätin Doris Leuthard zwei Monate zuvor mit ihrer Aussage geirrt, wonach man nicht aus der Kern-

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1.2  Der erste Richtungsentscheid


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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Der Bundesrat hat am 25. Mai 2011 in Kürze das Folgende beschlossen: Erstens: Die Schweiz steigt schrittweise aus der Kernenergie aus. Die Schweizer Kernkraftwerke sind zwar sicher, doch nach dem Ende ihrer (sicherheitstechnischen) Betriebszeit werden sie nicht mehr ersetzt. Unter Annahme einer 50-jährigen Betriebszeit geht als erstes Kernkraftwerk Beznau I im Jahr 2019, als letztes das Kernkraftwerk Leibstadt im Jahr 2034 vom Netz. Der Bundesrat ging davon aus, «dass die Schweizer Bevölkerung das mit der Kernenergienutzung verbundene Restrisiko verringern will» (Medienmitteilung 25. Mai 2011). Zweitens: Die Schweiz spart und produziert (anderen) Strom. Mit der Kernenergie fallen rund 40 Prozent des Stroms weg. Deshalb die Doppelstrategie: dank höherer Energieeffizienz weniger Strom verbrauchen, doch zugleich Strom aus anderen Quellen als Kernkraft produzieren. In erster Linie Wasserkraft, Wind- und Solarenergie, Biomasse und Geothermie. Und Strom importieren und/oder – neu für die Schweiz – auch fossilen Strom erzeugen (Gaskraftwerke, Wärme-Kraft-Koppelung). Drittens: Die Schweiz verfolgt eine ehrgeizige Klimapolitik. Dieses Ziel hat der Bundesrat zwar nicht deutlich als solches kom­ muniziert. Doch der gesamte Energieverbrauch, so die aktua­ lisierten Energieperspektiven, soll bis 2050 um etwa 40 Prozent abnehmen, der Stromverbrauch soll um etwa 2 Prozent sinken. Das heisst im Klartext: sehr viel weniger fossile Energie. Die Schwei­ zer sollen bis 2050 etwa 77 Prozent weniger Heizöl, 40 Prozent weniger Erdgas, 85 Prozent weniger Benzin und 60 Pro­zent we­ niger Diesel verbrauchen. Und dies alles bei wachsender ­Wirtschaft und Bevölkerung – pro Kopf soll der Gesamtener­gieverbrauch um 47 Prozent, pro Einheit des Bruttoinlandspro­dukts (BIP) sogar um 54 Prozent abnehmen.25 Viel weniger fossile Energie führt zu viel weniger CO2, also zu einer ehrgeizigen Klima­politik. Der CO2Ausstoss soll mit der neuen Energiestrategie bis 2050 um 50 bis 66 Prozent sinken (je nach Art der Stromproduktion).

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energie aussteigen und gleichzeitig auch weniger Treibhausgase ausstossen könne?24


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1.2  Der erste Richtungsentscheid

Die «historische» Dimension Der Bundesrat sprach bei seinem Entscheid vom 25. Mai 2011 von einem «energiepolitischen Pardigmawechsel», Bundesrätin Doris Leuthard von einem «historischen Tag» und später von einer «grossen Kiste», die nun vor uns allen liege. Der deutsche Umweltminister Peter Altmaier (CDU) bezeichnete die «Energiewende» in Deutschland im August 2012 als «die grösste wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederaufbau und die grösste umweltpolitische Herausforderung überhaupt».26 Zur Erinnerung: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die grossen deutschen Städte eine Trümmerwüste und zu 60 bis 90 Prozent zerstört, die Verkehrs- und Industrieanlagen zu über 50 Prozent. Der im Anschluss daran erfolgte «Wiederaufbau» hat Jahrzehnte gedauert und enorme personelle und finanzielle Ressourcen beansprucht.27 Die «Energiewende» ist also auch in Deutschland eine gewaltige Aufgabe von historischer Dimension. Der Bundesrat hat, zwei Monate nach Fukushima, in der Tat eine grundlegende, radikale Veränderung der Energie- und

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Die «Energiestrategie 2050» enthält also zwei Haupt­ elemente: einerseits den Ausstieg aus der Kernenergie, abgefedert über Stromsparen und Strom aus anderen Quellen, andererseits eine radikale Senkung des Verbrauchs fossiler Ener­gien und somit eine ehrgeizige Klimapolitik. Diese beiden Elemente kann man verknüpfen, muss aber nicht. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist auch möglich ohne ehrgeizige Klimapolitik, sofern man, wie Bundesrätin Doris Leuthard dies im Interview mit Der Bund zwei Monate zuvor noch angedeutet hatte, einen höheren CO2-Ausstoss in Kauf nimmt. Eine ehrgeizige Klimapolitik auf der anderen Seite ist auch mit Kernenergie möglich – ihre Erfolgschancen sind sogar grösser, da Kernenergie eine CO2-arme Stromproduktion darstellt und weniger fossile Energie meistens zu höherem Stromverbrauch führt. Die elektrische Wärmepumpe, welche die Ölheizung ersetzt, ist vielleicht das bekannteste Beispiel dafür. Doch der Bundesrat will den Ausstieg aus der Kernenergie und eine ehrgeizige Klimapolitik gleichzeitig. Das ist sicher eine denkbare, aber ebenso sicher nicht die einfachste Option.


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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Bundesratswahl im Dezember 2011 als treibende Kraft Die eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2011 machten aber noch nicht den ganzen politischen Fukushima-Effekt aus. Das andere und vermutlich nicht minder wichtig für den politischen Sog in Richtung Ausstieg aus der Kernenergie waren die Wahlen in den Bundesrat vom Dezember 2011 – als Folgeprodukt der nationalen Wahlen vom Oktober. Die Ausgangslage für den Bundesrat war rechnerisch einigermassen klar, aber politisch labil: Die beiden Sitze der SPS waren kaum in Gefahr, jener der CVP auch nicht. Die SVP – nur mit einem Sitz vertre­ ten – erhob Anspruch auf einen zweiten Sitz, was rein rechnerisch durchaus nachvollziehbar war. Die FDP – mit zwei Sitzen in der Regierung – war rein rechnerisch übervertreten. Noch mehr galt dies für die BDP als weitaus kleinste Bundesratspartei, die mit einem Sitz im Bundesrat vertreten war. Die Rechenübungen waren einfach: Kämen SVP und FDP neu auf je zwei Sitze, so hätte diese «(Mitte)-Rechts-Allianz» eine

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Klimapolitik eingeleitet: 40 Prozent des Stroms (Anteil Kern­ energie) fallen weg, der Verbrauch von Heizöl und Benzin soll in einer Grössenordnung von etwa 80 Prozent, der Gesamtenergieverbrauch um etwa 40 Prozent abnehmen, und dies bei wachsen­ der Bevölkerung und Wirtschaft. Die Schweiz soll sich damit in Richtung der 2000-Watt-Gesellschaft oder 1-Tonne-CO2-Ge­ sellschaft28 entwickeln – heute produzieren wir pro Kopf etwa 6 Tonnen CO2, also sechsmal zu viel. Der fast revolutionäre Beschluss des Bundesrats vom 25. Mai 2011 für den Ausstieg aus der Kernenergie und eine ehrgeizige Klimapolitik war erst ein Richtungsentscheid. Für die folgenden Monate kündigte der Bundesrat eine weitere Vertiefung des Dossiers und für das Jahr 2012, wie in der Schweiz ­üblich, eine Vernehmlassung an (öffentliche Konsultation). Das Parlament doppelte nach und beauftragte den Bundesrat im Sommer und Herbst 2011 über parlamentarische Vorstösse, den Ausstieg aus der Kernenergie vorzubereiten und eine Vorlage dazu in Vernehmlassung zu geben.29 Vor den nationalen Wahlen vom Herbst 2011 lagen also alle Karten auf dem Tisch.


1.2  Der erste Richtungsentscheid

Mehrheit von vier Sitzen. Kämen hingegen SPS, CVP und BDP zu­ sammen auf vier Sitze, so entstünde eine «Mitte-Links-Allianz». Den Spekulationen und Mutmassungen über Gespräche und Abmachungen hinter den Kulissen waren von Frühjahr bis Herbst 2011 kaum Grenzen gesetzt. Ein wichtiges Thema in diesen Spekulationen bildeten der Ausstieg aus der Kernenergie und die neue «Energiestrategie 2050». Die beiden Vertreterinnen der SPS (Micheline Calmy-Rey, Simonetta Somaruga) waren ein sicherer Wert für den Ausstieg. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) hatte sich frühzeitig für einen längerfristigen Verzicht auf Kernenergie geäussert. Zusammen mit Energieministerin Doris Leuthard (CVP) könnte diese «Mitte-Links-Allianz» im Bundesrat also den Ausstieg schaffen. Der Blick spekulierte bereits am 19. Mai 2011, dass in wenigen Tagen die «Frauenpower gegen Atomenergie» im Bundesrat spielen würde (blick.ch). Nach dem Entscheid des Bundesrats vom 25. Mai 2011 vermuteten viele, dass genau diese Konstellation – vier Frauen gegen drei Männer – gespielt hatte. Der Tages-Anzeiger meinte am 27. Mai 2011, mit sarkastischem Unterton: Viele Leute seien der Auffassung, «die vier Bundesrätinnen votieren gegen die Atomenergie, weil sie an die Umwelt denken, an die Zukunft, an die Sicherheit. Das klingt sehr verantwortungsvoll. Leider stimmt es nicht. In Wirklichkeit haben die bürgerlichen Bundesrätinnen genauso reagiert, wie das erfolgreiche Politiker in einem Wahljahr tun: Sie haben sich umgehört, was beim Volk am besten ankommt. Und dann ihre Meinung justiert» (tagesanzeiger.ch). Protokollarische Schwierigkeiten Am 2. Dezember 2011 sollten die vier Bundesrätinnen in Berlin den europäischen Solarpreis erhalten. Eurosolar schrieb dazu: «Es ist bemerkenswert, dass weit weniger der Druck der Opposition oder der Öffentlichkeit, ­son­dern vielmehr das Engagement einzelner Bundes­­räte/-innen zu dieser weitsichtigen Entschei­ dung [Aus­stieg aus der Kernenergie] geführt haben.»30 Dieser Preis für einen Entscheid, bei dem die vier Bundesrätinnen eine Mehrheit gebildet haben sollen,

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1  Der schnelle Weg in den Ausstieg

Schwerer Gang im Alleingang? Vier Monate nach Fukushima – also in Windeseile – waren die rechtlich verbindlichen Beschlüsse zur «Energiewende» in Deutschland getroffen. In der Schweiz dauern die politischen Verfahren wesentlich länger. Rechtlich verbindliche Beschlüsse wer­ den voraussichtlich erst 2015 oder 2016 vorliegen. Wenn es denn dazu kommt. Denn in der Schweiz ist «der Enthusiasmus für die Energiewende verflogen», so CVP-Präsident Christophe Darbellay am 20. Januar 2013 gegenüber Der Sonntag.31 BDP-Präsident Martin Landolt urteilt in der gleichen Zeitung ähnlich. Der Wille der Ausstiegsallianz sei ungebrochen. «Es stimmt aber, dass es in der damaligen Euphorie einfacher war, den Grundsatzentscheid für den Ausstieg zu treffen. Jetzt gerät die Debatte auf eine rationalere Ebene. Und je mehr man in die Details geht, desto mehr stellt man fest, dass das Ziel ambitiös ist.» Die Ziele sind in der Tat ambitiös, vor allem in Bezug auf die Klimapolitik. Deutschland und die Schweiz streben ungefähr das an, was die Uno an ihren Klimagipfeln immer wieder pro­pa­ giert, um die Erwärmung der Atmosphäre abzubremsen und längerfristig zu begrenzen. Die Schweiz und Deutschland scheinen dabei nicht in breiter Gesellschaft zu sein. Denn die Welt, in der wir leben, war vielleicht noch nie so weit von diesen Zielen entfernt wie heute. Ein Blick in die Welt hinaus – auf die Klimaveränderung und internationale Klimapolitik – drängt sich deshalb in Teil 2 des Buches auf.

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bot nun allerdings protokollarisches Kopfzerbrechen. Denn Preisträger war – wenn schon – der Bundesrat als Ganzes: Für Mehrheitsentscheide des Schweizer Bundes­rats trägt das Kollegium gemeinsam die Verant­ wortung (Kollegialitätsprinzip). Wer für oder gegen etwas gestimmt hat, bleibt geheim. Dies war dann schliesslich auch die offizielle Lesart, als der Schweizer Botschafter in Deutschland den Preis in Berlin (für den gesamten Bundesrat) in Empfang nehmen durfte.


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1.3 Bilanz

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1.3 Bilanz Erstens: Die schweizerische Aufsichtsbehörde über die Kernenergie (Ensi) hat sofort nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima reagiert, den Unfall analysiert und Erkenntnisse in neue Vorgaben für die Schweizer Kernkraftwerke umgelegt. Dieser Prozess entspricht dem üblichen Vorgehen einer Sicherheitsbehörde und ist bis heute im Gang. Ziel: Erhöhung der Sicherheit der Kernkraftwerke. Zweitens: Ganz anders hat die Politik reagiert. Der Bundesrat und die (meisten) politischen Parteien haben sich innert weniger Tage nach Fukushima von der Kernenergie verabschiedet. Die Angst vor einem Fukushima-Effekt bei den nationalen Wahlen im Herbst 2011 war dafür ebenso massgebend wie die Absicht, im Bundesrat eine «Ausstiegsallianz» zu bilden (Bundesratswahlen Dezember 2011). Drittens: Der Beschluss für die «Energiestrategie 2050» vom 25. Mai 2011 umfasst den Ausstieg aus der Kernenergie und eine ehrgeizige Klimapolitik. Die deutsche «Energiewende» liegt ähnlich. Der Paradigmenwechsel wird die gesamte Gesellschaft vor grösste Herausforderungen stellen. Bis jetzt hat kein anderes Land so radikale Entscheide getroffen, schon gar nicht in einem Schnellverfahren.


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Jens Lundsgaard-Hansen, geboren 1959, studierte Ge­ schichte und Volkswirtschaft an der Universität Bern. Von 1987 bis 1992 war er Pressechef der SVP und danach persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Adolf Ogi bis 1995. Von 1995 bis 2010 war er im Bundesamt für Verkehr tätig und leitete zuletzt als Stellvertreter des Direktors die Abteilung Politik. Seit 2010 ist er selbstständig und Inhaber der Firma Wort für Wort AG. Die schweize­ rische Politik kennt er vor und hinter den Kulissen.

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