Philipp Lutz (Hrsg.): Neuland

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Neuland

Neuland

Die Schweiz ist ein Migrationsland, global vernetzt und mit einer erstaunlichen gesellschaftlichen Vielfalt. Diese Modernität hat noch nicht Eingang gefunden ins helvetische Selbstverständnis. Noch wird Migration als ein zu lösendes Problem betrachtet. Dabei stellt sie keinen Störfaktor der helvetischen Gemütlichkeit dar, sondern ist Ausdruck einer erfolgreichen Schweiz, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einzigartige Freiheiten und Perspektiven ermöglicht. Die Autorinnen und Autoren liefern ein komplett neues Narrativ für die Schweiz und formulieren konkrete migrationspolitische Reformideen, mit denen die Schweiz ein chancenreiches Land wird, das sich nicht vor der Welt fürchtet.

Philipp Lutz (Hrsg.)

Philipp Lutz ( Hrsg.)

Schweizer Migrationspolitik im 21. Jahrhundert

ISBN 978-3-03810-245-8

www.nzz-libro.ch

foraus – Forum Aussenpolitik

NZZ Libro


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen Umschlag: Katarina Lang, Zürich Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-245-8 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


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Inhalt

Prolog: Auch das ist die Schweiz  Aufbruch ins Neuland!

Back to the Future  Auf der Suche nach einer gemeinsamen Vision  Die Migration und wir

Einleitung  Wer sind wir?  Und wie hast du’s mit dem Fremden?  Die Schweiz im Identitätsdilemma

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Thesen zum Migrationsland Schweiz: Der diskursive Test als Teil der Narrationsentwicklung

Einleitung  Geschichte(n) des Migrationsdiskurses: Schlagworte, Frames und Argumentationsmuster  Resultate der linguistischen Diskursanalyse: Thesen für eine neue Migrationserzählung im Test  Schlussfolgerungen und Ausblick  Vision Migrationsland Schweiz

Einleitung  20 Thesen für die Schweizer Migrationspolitik  Migration als Realität  Migration gestalten  Migration ist Entwicklung  Humanitäre Schweiz  Chancenland Schweiz

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Inhalt

Regulierte Offenheit

Einleitung  Zielsetzungen einer Liberalisierung von Migration  Mögliche Wege der Liberalisierung  Schlussfolgerungen

Wie weiter? Zivilgesellschaftliche Impulse für die Migrationspolitik

PoliTisch: Dialog statt Polarisierung  Neuland: Wahre Geschichten statt Angst vor Massen  Crowd-Innovation: Schwarmintelligenz statt Polemik  Crowd-Thinking Migration: Die besten Ideen

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Epilog: Heimat ist Neuland

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Abbildungsnachweis  Danksagung  Autorinnen und Autoren

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Aufbruch ins Neuland! Nicola Forster, Johan Rochel

«Das Internet ist für uns alle Neuland!» Es war der Satz des Jahres 2013. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte ihn gesagt, an einer Pressekonferenz mit US-Präsident Barack Obama. 20 Jahre nach der Erfindung des Internets hatte die Kanzlerin die Digitalisierung nun also auch noch entdeckt – viele junge Menschen in Deutschland reagierten verständlicherweise entsetzt. Neuland, das klingt verheissungsvoll, kann aber auch der längst fällige Nachvollzug einer bestehenden Realität sein. In diesem Buch soll es um ein Neuland gehen, das in seinen Auswirkungen auf unsere Lebensrealität mindestens ebensolche Sprengkraft besitzt wie die Digitalisierung: die Migration. Als Phänomen so alt wie die Menschheit, spätestens seit den grossen Auswanderungsbewegungen im 18. und 19. Jahrhundert prägend für die Schweiz, seit der Industrialisierung mitverantwortlich für die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte unseres Landes: Die Migration ist ein konstituierender Faktor der Schweiz, ja gar der eigentliche Schweizer Normalzustand. Wir leben in einem ausgeprägten Migrationsland! Absurderweise debattieren wir heute aber nicht selten über Migration, als ob wir diese mit genügend starker Gegenwehr einfach aus der Welt schaffen und verbieten könnten, um dann endlich wieder zum migrationslosen Normalzustand zurückzukehren und so unseren Frieden zu haben. Genau wie bei der Digitalisierung ist dieser Ansatz der Realitätsverweigerung jedoch kaum erfolgversprechend … Wir haben die absolut un-digitale Form eines Lesebuchs gewählt, um die heutige gesellschaftliche Realität eines Migrationslands zu erzählen und nebenbei auf unerwartete Fakten aufmerksam zu machen – wussten Sie beispielsweise, dass im Land des stolzen Innovationsweltmeisters Schweiz mehr als 75 Prozent der HightechStart-ups von Ausländerinnen und Ausländern gegründet wurden? Als Think-Tank verfolgen wir mit diesem Buch aber auch die Absicht,


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gemeinsam mit den Menschen in diesem Land eine inklusive Vision der Schweiz zu entwickeln. Einer Schweiz, die eine eigene Identität als Migrationsland hat und daraus Stärke und Zuversicht zieht. Einer Schweiz, die eine herausfordernde, aber prosperierende Zukunft vor sich hat. Lassen wir uns gemeinsam darauf ein, und öffnen wir die Augen für diese Realität. Diese sich verändernde Identität der Schweiz ist Neuland für uns alle! Als partizipativer Think-Tank sind wir aus den Studierstuben hinausgegangen und haben die besten Ideen «crowdgesourced» und bei zahlreichen Veranstaltungen mit der Schweizer Bevölkerung debattiert, um eine inklusive Vision zu entwickeln.

Back to the Future Eine Vision? Brauchen wir das? Bekanntlich werden Visionen in der Schweizer Politik als eher unnötig wahrgenommen. Getreu dem Bonmot des früheren deutschen Bundeskanzlers Helmut ­Schmidt: «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.» Trotzdem hat sich in den letzten Jahrzehnten ganz unbemerkt eine ungeheuer wirkungsmächtige Vision in unser kollektives Gedächtnis eingeschlichen und prägt unser Denken: das Bild der selbstgewählt isolierten Heidi-Schweiz, des Freilichtmuseums, des wehrhaften Reduits. Eine Underdog-­ Schweiz, in der Wohlstand, Freiheit und Unabhängigkeit ständig von aussen bedroht sind. Ja, die Projektion einer idealisierten Vergangenheit auf die Zukunft: Früher war alles besser! Make Switzerland great again! Diese Vorstellung basiert auf einer Geschichtserzählung, die im Jahr 1291 beginnt, Wilhelm Tell und seinem Armbrust-Mord am bösen EU-Vogt Gessler huldigt und zahlreiche weitere heilige Kühe umfasst. Im Rahmen des grossen Jubiläumsjahres 2015 – die Schlachten von Morgarten und Marignano jährten sich, wie auch der Wiener Kongress – wurde die Schweizer Vergangenheit von Historikern wie Thomas Maissen und André Holenstein umfassend aufgearbeitet, und wir erkannten plötzlich, dass wir nicht den ewigen Sonderfall verkörpern, sondern auf eine jahrhundertelange erfolgreiche Vernetzung mit dem europäischen Umland zu­­ rückblicken können. Eine alternative, wissenschaftsbasierte Deutung der Vergangenheit – ein neues «Framing» – war entstanden und prägt heute unsere Diskussionen.


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Im Gegensatz zu dieser gelungenen, wissenschaftsbasierten Neuinterpretation unserer Vergangenheit haben wir die Schaffung einer konstruktiven Vision für die Zukunft bisher allerdings sträflich vernachlässigt. In einer Zeit der grossen Globalisierungsschübe ist der verklärte Rückblick auf vergangene Zeiten und deren – natürlich unrealistische – «Wiederherstellung» entsprechend populär: Die Masseneinwanderungsinitiative, der Brexit oder auch die Wahl von Donald Trump in den USA zeigen, dass eine grosse gesellschaftliche Verunsicherung herrscht und rückwärtsgewandten Kräften am ehesten der herbeigesehnte Wandel zugetraut wird. Plötzlich erringen extreme Positionen Mehrheiten, und progressive und weltoffene Kräfte sind in der Defensive. Sie haben bis heute keine gleich stark wirkende, plastische Vision, die die laufende Veränderung unserer Gesellschaften positiv beschreibt und Hoffnung macht auf eine gemeinsame Zukunft. In dieser Situation der Zukunftsangst dominiert eine gefährliche Politik die Agenda, die sich das Ernstnehmen sämtlicher Ängste auf die Fahne geschrieben hat, statt eine mutige Agenda und aktive Massnahmen für eine bessere Zukunft zu definieren. Eine konstruktive Vision ist aber eine Notwendigkeit in der Politik, genauso wie Ankunftsziel und Kompass notwendig für den Schiffskapitän sind!

Auf der Suche nach einer gemeinsamen Vision Auf der Suche nach einem neuen Verständnis des Neulands haben wir uns deshalb in den letzten zwei Jahren als Entdeckerinnen und Entdecker in unbekannte Gewässer gewagt, um gemeinsam mit diversen Partnern die heutige, durch Migration geprägte Schweiz und die vorhandenen Abwehrreflexe besser zu verstehen. Und zwar gemeinsam mit allen am «Projekt Schweiz» Beteiligten: Wir suchten politische Partizipation jenseits der Abstimmungssonntage und der formellen politischen Rechte. Wer sich mit konstruktiven Gedanken und Ideen beteiligen wollte, war willkommen und konnte seine Stimme einbringen – digital oder an Live-Veranstaltungen im ganzen Land. Als Crowdsourcing-Think-Tank versuchten wir die «logistischen» Rahmenbedingungen für diese neuen und inklusiven Spielarten der Demokratie zu schaffen. Denn wir wünschen uns eine partizipative Demokratie, in der die Einwohnerinnen und Einwohner Lust haben, aktiver Teil der öffentlichen Debatte zu sein, und mit neuen Beteili-

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gungsinstrumenten arbeiten wollen. Die ausprobierten Formate waren äusserst divers: Wir organisierten sogenannte PoliTische in allen Sprachregionen der Schweiz, um mit Menschen aus sämtlichen Bereichen der Gesellschaft bei informellen Abendessen Inputs und Ideen für eine Vision der Schweiz als Migrationsland zu erhalten. Dann haben wir die Storytelling-Veranstaltungsserie Wahre Geschichten: Neuland organisiert, um Zugewanderten eine Bühne für ihre Geschichten zu bieten und so das gegenseitige Verständnis zu fördern. Dazu kamen unzählige öffentliche Veranstaltungen und Expertentreffen im In- und Ausland. Um die Möglichkeiten der Digitalisierung auszuschöpfen, lancierten wir schliesslich eine Ideencrowdsourcing-­ Plattform, um online auf die Suche zu gehen nach konstruktiven Inputs, wie das Migrationsland Schweiz gestaltet werden könnte. Aus Hunderten von der Bevölkerung eingereichten Ideen wurden die besten an einem grossen Ideenmarkt mit Entscheidungsträgern diskutiert, um eine tatsächliche Umsetzung zu initiieren. Die Ergebnisse all dieser partizipativen Formate stellten die Grundlage für den Schreibprozess durch die Mitglieder unserer Denkfabrik dar. Dieses unter der umsichtigen Leitung von Philipp Lutz (Senior Policy Fellow Migration bei foraus) entstandene Buch liefert entsprechend sowohl eine Einführung in die partizipative Demokratie und ihre Instrumente als auch einen Überblick über den aktuellen Migrationsdiskurs in der Schweiz sowie eine darauf basierende Vision für die öffentliche Diskussion. Im ersten Teil des Buchs wird der aktuelle Diskurs über Migration mittels wissenschaftlicher Quellen verständlich aufbereitet. Unsere Partnerinnen von GENTINETTA*SCHOLTEN präsentieren danach exklusiv die Resultate einer linguistischen Diskursanalyse, der vier der von uns geführten PoliTische unterzogen wurden. Auf diese Weise konnten in einem partizipativen Prozess Meinungen, Rückmeldungen und Erkenntnisse zu Topoi und Frames im Migrationsdiskurs in den Arbeitsprozess zurückfliessen. Ausgehend von diesem ersten Teil des Buchs, der eine Diagnose des aktuellen Diskurses vornimmt, schlagen unsere Autoren in einem zweiten Teil eine innovative Vision für dieses «Neuland» vor. Sie zeigen, wie die Schweiz eine Pionierrolle für eine zukunftsgerichtete Migrationspolitik einnehmen kann, die Wohlstand und Lebensqualität für alle realisiert und gleichzeitig eine inklusive Gesellschaft mit freiheitlichen und demokratischen Werten gestaltet. Der dritte Teil des Buchs ist konkreten Ideen zur Umsetzung der entwickelten Vision


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gewidmet. Er entwirft das Konzept einer regulierten Offenheit als Politikziel und präsentiert eine Übersicht der möglichen Mittel und Wege, wie eine fortschrittliche Migrationspolitik gestaltet werden kann. Im letzten Teil des Buchs schliesslich erfahren neugierige Leserinnen und Leser mehr über die zivilgesellschaftlichen Formate, die wir im Rahmen des Projekts angewendet haben. Es kann als Anleitung und Inspiration für neue Formen der politischen Partizipation dienen und über die Thematik der Migration hinaus zur demokratischen Meinungsbildung beitragen. Während des gesamten Projekts haben wir mit Tausenden Menschen debattiert und den Austausch gesucht; wir haben das Land in all seinen Winkeln besucht und die von der Migration geprägte Schweizer Wirklichkeit von heute beschrieben. Überall haben wir Ansätze des Neulands Schweiz gefunden, die wir nun in diesem Buch präsentieren. Es gibt viele Herausforderungen, unzählige Chancen und vieles zu entdecken. Wir sind schon unterwegs in Richtung Neuland! Wir brauchen Mut, Zuversicht und politische Vista. Das dafür notwendige Engagement fällt nicht vom Himmel – es erfordert die Mitarbeit von uns allen. Dieses Buch ist eine Einladung, dieser progressiven Schweiz ein Gesicht zu geben und gemeinsam ihre Zukunft zu gestalten. Wir schaffen das!

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Vision Migrationsland Schweiz David Kaufmann, Philipp Lutz

Einleitung

«Migration is an expression of the

Die Schweiz ist ein Migrationsland. Um diese gesellschaftliche human aspiration for Realität politisch nachzuvollziehen, braucht die Schweiz eine dignity, safety and a neue Erzählung für das, was es bedeutet, ein Migrationsland better future. It is part zu sein. Fundierte Kenntnisse über das Phänomen der Migra- of the social fabric, tion sind nötig, um eine effektive Migrationspolitik zu gestal- part of our very ten, um die Öffentlichkeit zu informieren und um populären make-up as a human Irrtümern zu begegnen. Basierend auf dem aktuellen Stand der family.» Wissenschaft, stellt die vorliegende Vision deshalb die Bedeu- Ban Ki Moon1 tung der Migration für die heutige Schweiz dar und liefert eine neue evidenzbasierte Erzählung für das Migrationsland Schweiz. Die Vision ist informiert durch die Diskursanalysen und getragen vom Wunsch nach mehr Hintergrundinformationen. Wir stellen die verbreitete Wahrnehmung von Migration als Problem infrage und entwickeln ein Narrativ eines erfolgreichen Migrationslands. Die Vision enthält viele unterschiedliche Themenfelder und formuliert 20 Thesen. Sie sollen überraschen, etablierte Vorstellungen infrage stellen, zentrale Erkenntnisse der Migrationsforschung zugänglich machen und so einen frischen Blick auf das Migrationsland Schweiz eröffnen. Die Thesen stellen eine Auswahl wichtiger Zusammenhänge und Befunde dar, anhand derer die moderne Migrationsrealität der Schweiz zugänglich gemacht wird. Die Thesen sind in fünf grosse Themenblöcke gruppiert. Im ersten Teil wird das Phänomen der Migration charakterisiert und ihre Bedeutung für die Schweiz in der Vergangenheit, der Gegenwart und in der Zukunft beleuchtet. Der zweite Block widmet sich der politischen Gestaltung der Migration und deren Möglichkeiten sowie Limi­ tationen. Im dritten Teil thematisieren wir das Entwicklungspotenzial von Migration für Migrantinnen und Migranten sowie für deren Ziel-


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und Herkunftsländer. Danach bildet die humanitäre Migrationspolitik den nächsten Block, wo wir die Hintergründe der Fluchtmigration und der aktuellen Asylpolitik diskutieren. Im letzten Abschnitt entwickeln wir Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und der politischen Identität im Migrationsland Schweiz.

20 Thesen für die Schweizer Migrationspolitik Migration als Realität   1. Die Migration von Menschen ist eine historische Normalität.   2. Migration hat einen freiheitlichen Wert und ist daher politisch schützenswert.   3. Die Schweiz ist ein klassisches Migrationsland mit hoher Mobilität in alle Richtungen.   4. Die Bedeutung der Migration für die Schweiz wird in Zukunft weiter zunehmen. Migration gestalten   5. Die Ursachen von Migration sind struktureller Natur und entziehen sich der Migrationspolitik weitgehend.   6. Der politische Versuch, Migration zu verhindern, führt systematisch zu Umgehungsstrategien.   7. Zäune und Mauern gegen Migrierende sind Symptom und Ursache eines politischen Kontrollverlusts.   8. Durchlässige Grenzen wirken als Drehtüren und begünstigen Mobilität in alle Richtungen. Migration als Entwicklung   9. Migration ist Folge und Katalysator wirtschaftlicher Entwicklung. 10. Herkunftsländer profitieren von Migration durch wertvolle Rückflüsse an Geld, Kenntnissen und Ideen. 11. Migration ist ein effektives Mittel, um die persönlichen Lebens­ chancen zu verbessern. 12. Migration ist der Wohlstandsmotor der Schweiz und begünstigt Investitionen in die Zukunft.


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Humanitäre Schweiz 13. Zum Schutz verfolgter Menschen sind sichere Fluchtwege er­­ forderlich. 14. Fluchtursachen sind vielschichtig und multidimensional. 15. Geflüchtete Menschen suchen neben Schutz auch eine neue Lebensperspektive. 16. Die Gewährung von Asyl für verfolgte Menschen ist ein Beitrag für eine freiere und sicherere Welt. Chancenland Schweiz 17. Die gleichberechtigte Teilhabe der Migrationsbevölkerung stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 18. Kulturelle Vielfalt schafft Werte für Gesellschaft und Wirtschaft. 19. Die Schweizer Identität als Willensnation kann durch Migrantinnen und Migranten gestärkt werden. 20. Mit dem politischen Selbstverständnis als Migrationsland ist die Schweiz bereit für die Zukunft.

Migration als Realität Migration ist weder per se positiv noch per se negativ, sondern in erster Linie eine soziale Realität, die die Geschichte der Menschheit begleitet. Die Schweiz ist dabei keine Ausnahme: Seit Beginn des modernen Bundesstaats prägt Migration die Entwicklung des Landes. Uns Bürgerinnen und Bürgern erweitert Migration die Freiheitsräume, und für die Schweiz als Ganzes ist Migration zu einem wichtigen Garant für Wohlstand und Lebensqualität geworden.

Menschen migrieren

Die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist eine Ge­­ 3 Prozent ist der Anteil schichte der Migration. Seit Tausenden von Jahren verlassen der Migrantinnen und Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen den Ort Migranten an der Weltihrer Geburt auf der Suche nach besseren Lebensperspek­ bevölkerung zwischen tiven. Migration ist als nützliche An­­passungsstrategie an die 1960 und 2013.2 Umweltbedingungen eine tief verwurzelte Eigenschaft des Menschen und ein wirkungsvolles Mittel zur Verbesserung seiner Lebensumstände. In der historischen Betrachtung bildete Migration


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eine wichtige Überlebensstrategie und hat zur Ausbreitung der Menschheit über die ganze Welt geführt. Unsere Zivilisation wurde durch Migration ermöglicht und zu dem geformt, was sie heute ist. Im Vergleich zu früheren Bevölkerungswanderungen ist die heutige Vorstellung von Migration an den Nationalstaat geknüpft: Wir verstehen darunter eine spezifische Form von Mobilität, bei der eine internationale Grenze zum Zweck der vorübergehenden, dauerhaften oder wiederholten Verlegung des Lebensmittelpunkts überquert wird.3 Migration ist meist eine wohlüberlegte Entscheidung von Individuen oder Familien, bei der Kosten und Risiken der Migration gegen deren Möglichkeiten und Nutzen abgewogen werden. Es ist eine Entscheidung unter Unsicherheit und geht einher mit bestimmten Erwartungen an die Zukunft. Das Verlassen der Heimat wird für die Migrantin und den Migranten so zu einer Investition in ein besseres Leben für sich und die eigene Familie. Es migrieren daher in erster Linie diejenigen, für die eine Auswanderung die beste Möglichkeit darstellt, ihr Leben zu verbessern: So stammen Migrantinnen und Migranten grösstenteils aus Entwicklungsländern, haben ein überdurchschnittliches Bildungsniveau und befinden sich meist im jungen Erwachsenenalter.4 Doch wie haben sich die internationalen Wanderungsbewegungen in jüngster Zeit entwickelt? Leben wir tatsächlich in einem Zeitalter oder einer Krise der Migration, wie gerne angenommen wird? In der Tat hat mit dem Wachstum der Weltbevölkerung auch die Zahl der internationalen Migrantinnen und Migranten deutlich zugenommen – aktuell sind es 244 Millionen.5 Deren prozentualer Anteil an der Weltbevölkerung blieb im Laufe der Zeit jedoch bemerkenswert stabil und lag in den vergangenen 50 Jahren immer um die 3 Prozent.6 Obwohl die Möglichkeiten und Bedürfnisse nach Mobilität aufgrund des technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts stark angestiegen sind, leben 97 Prozent der Weltbevölkerung nach wie vor im Land ihrer Geburt. In einer globalen Perspektive hat die Migration nicht zugenommen, auch wenn man aus Schweizer Perspektive gerne den gegenteiligen Eindruck gewinnt. Migration ist eine Konstante moderner Gesellschaften, ihr globaler Bevölkerungsanteil hat sich kaum verändert. Dennoch hat die Globalisierung zu Veränderungen in der Struktur von Migrationsbewegungen geführt.7 Durch die günstigere und einfachere Mobilität findet Migration zunehmend nur vorüber-


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gehend und auch wiederholt statt anstelle einer dauerhaften Verlagerung des Lebensmittelpunkts vom Herkunfts- ins Zielland. Ebenso hat sich die Migration verstärkt zu einem globalen Phänomen entwickelt, sodass heute Menschen auf allen Kontinenten und in alle Richtungen unterwegs sind. Gegenwärtig sind die meisten Länder zur gleichen Zeit Herkunfts-, Transit- als auch Zielland von Migration. Die medial im Fokus stehenden Wanderungen vom globalen Süden in den globalen Norden bilden dabei nur ein Drittel der weltweiten Migration – der Grossteil der Wanderungen findet innerhalb der Weltregionen statt.8 Wirtschaftliche Globalisierung und internationale Migration sind zwei ineinandergreifende Prozesse. Grenzüberschreitende Mobilität ist eine wichtige Dimension einer vernetzten Welt, und die Globalisierung hat zu komplexeren und vielfältigeren Formen von Migration geführt. Da gibt es zum Beispiel den polnischen Saisonarbeiter, der die Schweizer Spargeln sticht; die koreanische Studentin, die zwei Semester an einer Privatuni am Genfersee verbringt; den Berner Pensionär, der die Hälfte des Jahres in Spanien verbringt; den griechi-

Globale Migrationsbewegungen

Nord

23 %

35 %

Süd

Nord

6%

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Süd

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schen Ehemann, der seiner Frau in die Schweiz folgt; den Zürcher Versicherungsberater, der in New York einen neuen Ableger seines Unternehmens aufbaut; die afghanische Familie, die vor den Taliban zu ihren Verwandten in der Schweiz flieht; die österreichische Serviererin, die als Grenzgängerin im St. Galler Rheintal arbeitet; den britischen Pharmaberater, der zwischen London und Basel pendelt, oder das mittelständische Aargauer Unternehmen, dessen Mitarbeiter in Baden-Württemberg Maschinen montieren. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass Migration keine homogene Kategorie ist, sondern aus den unterschiedlichsten Menschen besteht, die grenzüberschreitende Mobilität zu ihrer Lebensgestaltung nutzen. Die gegenwärtigen Wanderungsbewegungen werden folglich durch die Globalisierung geformt, stellen aber kein neues Phänomen dar. Dass Menschen migrieren, ist in der Geschichte der Menschheit der Normalfall – diese Perspektive bildet die erste These unserer Vision:

Die Migration von Menschen ist eine historische Normalität.

Migration ist Freiheit

Die Verbesserung der eigenen Lebenslage durch persönliche Anstrengung ist eine sehr starke Motivation für die meisten und Schweizer leben von uns. Die Möglichkeit, mobil zu sein und territoriale Grenim Ausland.9 zen zu überschreiten, stärkt diese persönliche Autonomie und erweitert den Bereich individueller Freiheit. Migrationsbeschränkungen stellen daher immer einen Eingriff in unsere Bewegungsfreiheit dar und verlangen nach einer legitimen Begründung. Für die meisten Schweizerinnen und Schweizer gehört Mobilität innerhalb und ausserhalb der Landesgrenzen zum Alltag und ist als hoch geschätzte Freiheit ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Lebensgestaltung. Das Recht auf Bewegungsfreiheit und auf freie Niederlassung (im Inland) sowie das Recht auf Auswanderung sind denn auch in der Schweizer Bundesverfassung verankert und unterstellen die Mobilität dem Grundrechtsschutz.10 Ebenso machen Schweizerinnen und Schweizer häufig Gebrauch von der Freiheit, sich für kürzere oder längere Zeit in einem anderen Land niederzulassen. So gehören Schweizer Bürgerinnen und Bürger zu den Spitzen­ reitern grenzüberschreitender Reisen,11 und die Anzahl von Aus-

761 930 oder 10 Prozent der Schweizerinnen


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landschweizerinnen und Auslandschweizern weist eine höhere Wachstumsrate auf als die Gesamtbevölkerung.12 Im Jahr 2014 allein sind über 28 000 Schweizerinnen und Schweizer ausgewandert.13 Viele davon ziehen in die europäischen Nachbarländer: Mehr als 400 000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger machen vom Recht auf Personenfreizügigkeit in Europa Gebrauch.14 Diese Zahlen zeigen: Die Schweizer Bevölkerung nutzt intensiv die Möglichkeit grenz­ überschreitender Mobilität, die ihr eine freie Lebensgestaltung und persönliche Entfaltung erlaubt. Dieser Wert von grenzüberschreitender Mobilität lässt sich verallgemeinern: Die Freiheit, dort zu leben, wo man möchte, gehört zu einem selbstbestimmten Leben. Migration enthält deshalb einen freiheitlichen Wert von universeller Gültigkeit.15 Sowohl die Bewegungsfreiheit im Innern eines Landes als auch internationale Migration ermöglichen eine grössere Autonomie in der Lebensgestaltung und erweitern die Möglichkeiten, die eigenen Lebenspläne zu verfolgen. Die Bewegungsfreiheit ist somit ein wichtiger Bestandteil unserer Freiheit insgesamt. Sie erlaubt uns, fundamentale Lebensziele zu verfolgen, wie eine Partnerschaft einzugehen oder sich beruflich zu entfalten. Migration stellt für viele Menschen ein effektives Mittel bereit, um aus Armut und Perspektivlosigkeit zu entfliehen, indem man dorthin wandert, wo die individuellen Fähigkeiten nützlich eingesetzt werden können. Migration erweitert so die persönliche Freiheit insbesondere dann, wenn die Freiheiten am Geburtsort eingeschränkt sind. Für Menschen, die politischer Verfolgung ausgesetzt sind oder deren Leben durch Krieg oder Katastrophen bedroht ist, bedeutet Migration gar oft der einzige Weg, zu überleben und sich ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen. Somit stellt Migration gerade für jene Menschen einen Weg zu mehr Freiheit dar, die unter Zwang ihre Heimat verlassen müssen und deren Existenz bedroht ist. Wenn wir Freiheit zur Migration geniessen, dann sind wir alle potenzielle Migrantinnen und Migranten und haben die freie Wahl, entweder zu bleiben, zu gehen, zurückzukehren oder weiterzumigrieren. Dank dieser Freiheit haben Bürgerinnen und Bürger nebst der Möglichkeit, mit den Händen abzustimmen, auch die Möglichkeit, mit den Füssen abzustimmen – indem sie durch eine Auswanderung ihre Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen ausdrücken können. Die Freiheit zu migrieren gibt damit jenen Menschen

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Rückendeckung, die sich gegen unfreie politische Verhältnisse an ihrem Aufenthaltsort auflehnen. Migration kann so einerseits die Demokratisierung in den Herkunftsstaaten fördern16 und bedeutet andererseits die ultimative Demokratisierung des eigenen Lebens, indem man selbst entscheidet, wer man sein möchte und wie man sein Leben gestaltet. Der Schritt zur Migration ist dadurch ein ­freiheitlicher Akt eines selbstgewählten Lebens. Die formalen Möglichkeiten und Grenzen individueller Mobilität über internationale Grenzen hinweg werden durch staatliche Migrationspolitik bestimmt. Weil die Lebenschancen sehr stark mit dem Zufall unserer Staatsbürgerschaft zusammenhängen, stellt die Beschränkung von Migration eine folgenreiche Diskriminierung des Staates gegenüber Personen dar, die nichts anderes taten, als in einem anderen Land geboren zu werden. Die gegenwärtigen Migrationsbeschränkungen können folglich in ihrer Wirkung mit feudalen Privilegien verglichen werden: Aufgrund von künstlichen Schranken geniessen bestimmte Gruppen von Menschen von Geburt an massiv bessere Lebensperspektiven als andere.17 Beschränkt der Staat meine individuelle Freiheit, dann ist dies eine staatliche Zwangsmassnahme, die in einem liberalen Staatswesen zumindest nach einer Rechtfertigung verlangt. Ein staatlicher Ein-

Das Haus Häufig wird im Zusammenhang mit Migration die Nation als Familie beschrieben und der Staat als ein Haus. Beide Metaphern stehen für Identität, Sicherheit und Glück. Ein Haus ist etwas Privates und Intimes, das man nur ausnahmsweise mit Fremden teilen möchte und deren familiäre Harmonie man beschützen möchte. Die Gleichsetzung eines Landes mit einem Haus ist deshalb problematisch, weil es ein Land als etwas Privates beschreibt. Denn dadurch findet eine Vermischung von privat und öffentlich statt: Während im privaten Raum Dritte ohne Be­­ gründung ausgeschlossen werden dürfen, gilt im öffentlichen Raum grundsätzlich Bewegungsfreiheit. Mit der Hausmetapher wird suggeriert, dass Migration einen Hausfriedensbruch darstellt und zu einem Verlust an Intimität führen muss. Migrantinnen und Migranten werden da­­durch zu Gästen, die an die Tür klopfen und um Einlass bitten. Die Hausmetapher suggeriert zudem, dass man staatliche Grenzen wie eine Tür verriegeln kann und dass das Betreten des Landes durch Unbekannte eine Gefahr darstellt, die abgewehrt werden muss. Dadurch er­­ scheint Migration als ein Eindringen in eine intime Sphäre und eine Störung der natürlichen Ordnung – anstatt als gesellschaftlicher Normalfall.


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griff in die persönliche Freiheit sollte daher nie unbegründet oder unverhältnismässig erfolgen und bedarf der Legitimierung durch ein übergeordnetes öffentliches Interesse.18 Eine solche liberaldemokratische Begründungskultur bei Eingriffen in die individuelle Freiheit fehlt in der Migrationspolitik weitgehend. Werden die Interessen der Betroffenen ignoriert, erschwert dies jedoch einen verantwortungsvollen Umgang mit den Folgen politischen Handelns. Aus diesen Überlegungen zum freiheitlichen Wert der Migration ergibt sich die zweite These der Vision: Migration hat einen freiheitlichen Wert und ist daher politisch schützenswert.

Die Schweiz als Migrationsland

Die Schweiz war immer schon ein Land in Bewegung: Viele 33,8 Prozent der Wohnwollten rein, viele wollten raus. Wie jede moderne Nation ist bevölkerung in der auch die Schweiz das Produkt von Migration. Migrantinnen Stadt Zürich im Jahr und Migranten haben seit Beginn die Entwicklung des schwei- 1910 waren ausländizerischen Bundesstaats mitgeprägt. Lange galt dies als unpro- scher Herkunft.19 blematisch: So garantierte die Schweiz vor dem Ersten Welt31,9 Prozent der Wohnkrieg Ausländerinnen und Ausländern durch internationale bevölkerung in der Verträge die freie Niederlassung.21 Im 19. Jahrhundert be­­ Stadt Zürich im Jahr nötigte die Schweiz im Zuge der Industrialisierung viele Ar­­ 2014 waren ausländibeitskräfte aus dem Ausland. Dies führte dazu, dass der Aus­ scher Herkunft.20 länderanteil sowohl in Städten wie auch in Grenz- und Industrieregionen vor über hundert Jahren höher war als heute. Abgesehen von den politischen Rechten waren Zugewanderte den Schweizerinnen und Schweizern weitgehend gleichgestellt und konnten bereits nach einem Aufenthalt von zwei Jahren das Schweizer Bürgerrecht beantragen. Auch ein Grenzregime zur Kontrolle der Ein- und Ausreise war damals noch unbekannt. Wir empfinden heutzutage den Schweizer Pass und die Schweizer Grenzwache als etwas Natürliches und Selbstverständliches. Doch bis 1915 existierten keinerlei Schweizer Passdokumente, und die heutigen Zuwanderungsbeschränkungen in Form von Kontingenten wurden erst 1970 ein­ geführt. Die moderne Schweiz war folglich von Anfang an durch Migrantinnen und Migranten geprägt, und bis zum Ersten Weltkrieg galt der freie Personenverkehr als Selbstverständlichkeit.


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Vision Migrationsland Schweiz

Doch nicht nur die Einwanderung war zentral für die Entwicklung der Schweiz. Auch die Auswanderung prägte die Schweizer Geschichte. Viele Schweizerinnen und Schweizer emigrierten vom 16. bis 19. Jahrhundert nach Süd- und Nordamerika, um der Armut zu entfliehen und eine bessere Lebensperspektive zu suchen. Erst durch die erfolgreiche Industrialisierung registrierte die Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts erstmals mehr Zuwanderung als Auswanderung. Doch auch heute verfügt die Schweiz über eine im internationalen Vergleich besonders hohe Auswanderungsrate.22 So lebten von den im Jahr 1998 in die Schweiz eingewanderten Ausländerinnen und Ausländern im Jahr 2010 nur noch 40 Prozent in der Schweiz.23 Und jedes Jahr wandern mehr Schweizerinnen und Schweizer aus als ein.24 Beeindruckend ist auch die tagtägliche grenzüberschreitende Mobilität: Jeden Tag passieren rund 1,3 Millionen Personen und 700 000 Fahrzeuge die Schweizer Grenze.25 Die Schweiz von heute ist daher ein klassisches Migrationsland mit hoher Mobilität in alle Richtungen und einer engen Vernetzung mit der Welt. Der Blick auf die Migrationsraten der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt einerseits, dass die Schweiz während der letzten 70 Jahre immer substan-

Migrationsraten der Schweiz 1950–2014

Migrationsrate in % der Bevölkerung

4% Einwanderungsrate Auswanderungsrate

Netto-Einwanderung Netto-Auswanderung

3%

Ölkrise

2%

1%

0 1950

1960

1970

1980 Zeitverlauf

Abb. 2

1990

2000

2010


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Wie weiter? Zivilgesellschaftliche Impulse für die Migrationspolitik Jonas Nakonz

Migrationspolitik unterscheidet sich von vielen anderen Themen in der Politik, weil sich die Debatte nicht auf das Abwägen unterschiedlicher Interessen und technischer Lösungen beschränkt – sie betrifft die fundamentale Ebene der Identität und der Grundwerte, wie vorne bereits erläutert wurde. Eine gemeinsame Erzählung für das Migra­ tionsland Schweiz zu finden und eine konstruktive Migrationspolitik für dieses Land zu gestalten ist eine Aufgabe, die nicht einfach an Expertinnen und Experten, Parlament und Bundesrat delegiert werden kann. Sie betrifft alle, die hier leben, unmittelbar. In dieser Frage ist das zivilgesellschaftliche Engagement von zentraler Bedeutung, die öffentliche Auseinandersetzung, der Dialog. Das wie in der Migrationspolitik ist mindestens so bedeutend wie das was. Deshalb beschränkt sich foraus nicht nur auf die traditionelle Aufgabe einer Denkfabrik – das Entwickeln und Publizieren von faktenbasierten Entscheidungsgrundlagen. Als «Grassroots ThinkTank» bietet foraus zudem eine einzigartige Plattform für diesen wichtigen zivilgesellschaftlichen Prozess, als ein inklusives, landesweites Forum, als offene Ideenküche, als Labor für demokratische Innovation. Seit Sommer 2015 führt foraus ein Projekt, das seine inhaltliche Arbeit an migrationspolitischen Herausforderungen mit innovativen politischen Formaten ergänzt. Das Projekt folgt einem agilen Designansatz: Neue Formate werden früh als Prototypen umgesetzt, schnell evaluiert und laufend verbessert. Während gut eines Jahres wurden so zahlreiche Formate an über 60 Anlässen mit mehr als 2300 Teilnehmenden getestet. Im Folgenden wird eine Auswahl von drei Formaten präsentiert, die als zivilgesellschaftliche Impulse für die Politik besonderes Potenzial aufweisen: PoliTisch setzt auf schweizweiten Dialog gegen die Polarisierung. Die Story-


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Wie weiter? Zivilgesellschaftliche Impulse für die Migrationspolitik

telling-Serie Neuland setzt auf wahre Geschichten statt Angst vor Massen. Und Crowd-Innovation bringt Schwarmintelligenz in die Politik.

PoliTisch: Dialog statt Polarisierung Das wohl wichtigste Instrument zur Verhinderung einer fortschreitenden politischen Spaltung im Migrationsdossier ist der Dialog. Und zwar nicht nur zwischen unterschiedlichen politischen Positionen, sondern auch zwischen Entscheidungsträgern und Betroffenen, zwischen Politik, Wirtschaft, Behörden, Kultur, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, zwischen den Generationen und zwischen Stadt und Land. Politik betrifft uns alle, und niemand soll aus der Diskussion ausgeschlossen werden – vor allem nicht die Migrationsbevölkerung selbst. Dazu hat foraus ein neues Format entwickelt – den PoliTisch: Persönlichkeiten aus der ganzen Schweiz laden Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Sektoren zum vertraulichen Gespräch an ihren privaten Esstisch. In diesem persönlichen Rahmen werden Brücken geschlagen und Visionen jenseits der Tagespolitik entwickelt. Zusätzlich gefördert wird die Konsensfindung durch Anwendung der «Chatham House Rule»: Alles Gesagte darf nach aussen getragen werden, jedoch ohne Zuschreibung an bestimmte Personen. Diese Regel befreit die Teilnehmenden von dem Druck, sich in ihrer öffentlichen Rolle anstatt als Privatpersonen zu äussern. Die Diskussion wird von foraus mit einem kurzen Input ange­ stossen, moderiert und protokolliert. Diskutiert wird – zur Vorspeise – über eine gemeinsame Vision. In diesem Teil geht es darum, auf der grundsätzlichen Ebene der Werte, Identitäten und Einstellungen auf einen Konsens hinzuarbeiten: Welche Rolle spielt Migration im Schweizer Alltag? Ist Migration eine Bedrohung oder eine Stütze der «Schweizer Identität»? Wie wirkt sich Migration auf Wirtschaft und Gesellschaft aus? Schaffen wir es, eine gemeinsame Erzählung für das Migrationsland Schweiz zu finden? In einem zweiten Teil – zur Hauptspeise – fokussiert sich das Gespräch auf konkrete Lösungsvorschläge für konkrete Herausforderungen. Hier werden Ideen eingebracht, debattiert, verbessert oder gänzlich neu gedacht. Während die grossen Fragen der ersten Runde


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PoliTisch: Dialog statt Polarisierung

konstant bleiben, sind die im zweiten Teil diskutierten Inhalte dynamisch anpassbar. Die Tischrunde dient dabei insbesondere als Resonanzraum für migrationspolitische Ideen, die in den unterschiedlichen Formaten von foraus entwickelt wurden. Zum Dessert folgt ein Ausklang ohne formellen Rahmen. Manchmal kommt eine zündende Idee nämlich auch erst mit dem gemütlichen Digestif. Im ersten Jahr hat foraus bereits 30 PoliTische mit 316 Teilnehmenden vom Bodensee bis zum Genfersee veranstaltet; in allen grösseren Städten der Schweiz, in ländlichen Gemeinden, in Berlin, Rom und Paris. Zu den Gastgeberinnen und Gastgebern gehörten Persönlichkeiten wie Alt-Bundesrat Pascal Couchepin, IKRK-Vizepräsidentin Christine Beerli, Botschafterin Christine Schraner Burgener, Politgeograf Michael Hermann oder Unternehmer Jobst Wagner genauso wie junge Mitglieder unseres Grassroots Think-Tanks. Die Resultate dieses Formats sind dreierlei: Erstens ist PoliTisch der vielleicht inklusivste systematische Dialog zur Migrationspolitik in der Schweiz. In diesem Rahmen hat die Stimme einer geflüchteten Person gleich viel Gewicht wie die von Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Wirtschaft. Es entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft über politische Gräben hinweg, und es entsteht ein Raum für das Ausloten von Konsens zwischen unterschiedlichsten Akteuren. Zweitens entsteht durch PoliTisch ein grosses Netzwerk von Multiplikatoren jenseits von geografischen und gesellschaftlichen Grenzen. Dadurch kann verhindert werden, dass der politische Diskurs zunehmend in isolierten sozialen «Blasen» stattfindet. Und drittens kann anhand der anonymisierten Protokolle ein tiefer Einblick in die unterschiedlichen Meinungen und Argumente gewonnen werden. Viele Ideen und Erkenntnisse aus den PoliTischen sind in dieses Buch eingeflossen und bildeten die Grundlage der linguistischen Analyse des Migrationsdiskurses. PoliTisch hat viel positives Feedback von Teilnehmenden erhalten, sodass der nächste Schritt für foraus die Skalierung des Formats als Franchise sein wird: Jeder und jede hat einen Tisch zu Hause, der zum Kristallisationspunkt für diesen wichtigen Dialog werden kann. Das Format eignet sich selbstverständlich auch für jedes weitere Thema, das breite gesellschaftliche Relevanz besitzt. Wir hoffen, mit PoliTisch einen Beitrag zur politischen Kultur des Dialogs in der Schweiz zu leisten und die Zukunft der partizipativen Demokratie und einer aktiven Zivilgesellschaft mitzugestalten.

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Wie weiter? Zivilgesellschaftliche Impulse für die Migrationspolitik

Neuland: Wahre Geschichten statt Angst vor Massen Die Hirnforschung sagt uns, dass unsere Entscheidungen kaum je auf reiner Logik basieren, sondern meist auf einer Mischung aus Verstand und Emotion. Die emotionale Komponente spielt eine grosse Rolle im sogenannten Framing-Effekt: Unser Verhalten wird davon beeinflusst, wie etwas präsentiert (eingerahmt) wird. Unser Gehirn findet es zum Beispiel viel attraktiver, von 50 Franken 20 zu behalten, als 30 zu verlieren, obwohl die beiden Optionen für das Portemonnaie identisch sind.1 Der Unterschied ist ein positives Framing im ersten und ein negatives Framing im zweiten Fall. Dies richtet unser Augenmerk auf Framing-Effekte in der Migrationspolitik. Wenn der Begriff «Migration» vorwiegend in negativen Frames wie «Massen», «Krise» und «Bedrohung» kommuniziert wird, ist es wenig verwunderlich, wenn Migration vielen als Gefahr erscheint und migrationskritische Initiativen Mehrheiten finden, obwohl die meisten faktisch von der Migration profitieren. Dies ist der Hintergrund der Storytelling-Serie Neuland, die in Zusammenarbeit mit unseren Partnern Wahre Geschichten und Impact Hub entwickelt wurde: Um den Begriff der Migration aus seinem kognitiven Korsett zu befreien, die Vielfalt der Migrationsrealitäten erlebbar zu machen und das Thema mit positiven Emotionen und Erfahrungen zu besetzen, rücken wir die vielfältigen persön­ lichen Geschichten von Migrantinnen und Migranten ins Scheinwer­ ferlicht. Neuland verzichtet vollständig auf intellektuellen Ballast und folgt einem ganz einfachen Format: Bühne, Publikum. Fünf Personen erzählen ihre persönliche Migrationsgeschichte: Upul berichtet, wie ihn die Liebe vom tamilischen Kleinbauern zum Tourismusunternehmer in Bern gemacht hat. Für Christina war schon der Umzug aus dem Tessin nach Genf eine Grenzerfahrung. Ali ist zu Fuss aus Syrien nach Berlin gekommen – die Stadt, aus der Christian 1945 geflohen ist, als dort die Bomben fielen. Paul hingegen ist als Sohn polnischer Einwanderer in Australien aufgewachsen – er hat auf vier Kontinenten gelebt und leistet heute einen wichtigen Beitrag im internationalen Genf … Applaus! Die Schweiz bietet einen riesigen Schatz positiver Migrationsgeschichten. Sie werden nicht gehört, weil ihnen die Bühne fehlt. Die gesellschaftlichen Realitäten zu repräsentieren und Minderheiten Gehör zu verschaffen gehört zu einer starken Demokratie


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Autorinnen und Autoren

Martina von Arx Projektleiterin beim Verband der Schweizer Studierendenschaften, Studium in Islamwissenschaften und interkulturellem Management und Mitglied des foraus-Programms Migration. Stefan Egli Junior Policy Fellow Migration bei foraus. Bachelor in Internationalen Beziehungen an der Universität Genf, Master in politischer Philosophie und Geschlechterforschung an der Universität Bern. Nicola Forster Gründer und Präsident von foraus, Ashoka Fellow, Gründer Global Diplomacy Lab & staatslabor, Advisory Board WEF Open Forum Davos, Partner Innovationsberatung crstl.io. David Kaufmann Post-Doc am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern, ehemaliger Senior Policy Fellow Migration bei foraus und langjähriges Mitglied des foraus-Programms Migration. Walter Leimgruber Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission. Philipp Lutz Senior Policy Fellow Migration bei foraus, Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.


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Autorinnen und Autoren

Joanna Menet Doktorandin am Laboratoire d’études transnationales der Universität Neuchâtel und langjähriges Mitglied des foraus-Programms Migration. Jonas Nakonz Projektleiter Migration bei foraus. Verantwortlich für neue politische Formate wie PoliTisch, Crowd-Innovation, Policy Hacks usw. Johan Rochel Vizepräsident foraus, Associate Member am Ethik-Zentrum der Universität Zürich, Post-Doc FNS «The law and ethics of innovation», Gründer «Ethik in Action». Seraina Rohrer Direktorin Solothurner Filmtage. Stiftungsrätin Erbprozent Kultur so­­wie freie Autorin. Stefan Schlegel Gründungsmitglied von foraus, ehem. Leiter des foraus-Programms Migration, Post-Doc am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen. Heike Scholten Politik- und Kommunikationsberaterin, Co-Geschäftsführerin von GENTINETTA*SCHOLTEN Wirtschaft Politik Gesellschaft GmbH und Vorstandsmitglied foraus. Fabienne Tissot Linguistin und Projektleiterin bei GENTINETTA*SCHOLTEN Wirtschaft Politik Gesellschaft GmbH; forscht diskurs- und gesprächsanalytisch zum Thema Politik und Sprache.


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205 foraus – Forum Aussenpolitik Der Think-Tank foraus entwickelt Ideen und wissenschaftlich fundierte Empfehlungen für aussenpolitische Entscheidungsträger und die breite Öffentlichkeit. Damit schliesst foraus die Lücke zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Der Think-Tank stützt sich als Grassroots-Organisation auf ein internationales Netzwerk von über 1000 Mitgliedern und ist damit das Sprachrohr für junge Denkerinnen und Denker, die die Aussenpolitik von morgen prägen wollen.


Neuland

Neuland

Die Schweiz ist ein Migrationsland, global vernetzt und mit einer erstaunlichen gesellschaftlichen Vielfalt. Diese Modernität hat noch nicht Eingang gefunden ins helvetische Selbstverständnis. Noch wird Migration als ein zu lösendes Problem betrachtet. Dabei stellt sie keinen Störfaktor der helvetischen Gemütlichkeit dar, sondern ist Ausdruck einer erfolgreichen Schweiz, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einzigartige Freiheiten und Perspektiven ermöglicht. Die Autorinnen und Autoren liefern ein komplett neues Narrativ für die Schweiz und formulieren konkrete migrationspolitische Reformideen, mit denen die Schweiz ein chancenreiches Land wird, das sich nicht vor der Welt fürchtet.

Philipp Lutz (Hrsg.)

Philipp Lutz ( Hrsg.)

Schweizer Migrationspolitik im 21. Jahrhundert

ISBN 978-3-03810-245-8

www.nzz-libro.ch

foraus – Forum Aussenpolitik

NZZ Libro


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