Felix E. Müller: Abschied von der Zukunft

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abschied von der zukunft

Die Endzeitstimmung der jungen Generation und was sie bedeutet

felix e. müller

Felix E. Müller

Abschied von der Zukunft

DieEndzeitstimmung der jungen Generationund wassie bedeutet

NZZ Libro

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ISBN E-Book 978-3-907396-10-0

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Inhalt

Die Zukunft in Vergangenheit und Zukunft 7

Die Zukunftsbegeisterung nach 1945 13

Der Wendepunkt: The Limits of Growth des Club of Rome 29

Der Pessimismus breitet sich aus 41

Die Obsession mit der Vergangenheit 53

Der kulturelle Grosstrend heisst Dystopie 61 Umgang mit der Endzeitpanik 75

Weshalb die Zukunft zunehmend düsterer erscheint 89 Kann man ohne Zukunft leben? 105

Über den Autor 111

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Die Zukunft in Vergangenheit und Zukunft

«Ihr stehlt uns unsere Zukunft!», warf Greta Thunberg in den letzten Jahren allen vor, die eine oder zwei Generationen älter sind als sie. Nun gibt es Zukunft, seit sich der Mensch als geschichtliches Wesen versteht;sie wird bis zum Weltuntergang nie verschwinden. Doch die Ikone der Klimabewegung meinte eine Zukunft, die durch unser Handeln in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Sie soll lebenswert sein oder wenigstens noch Leben ermöglichen. In dieser Aussage drückt sich eine Auffassung von Zukunft aus, die ausgesprochen modern ist. Wenn der deutsche Komiker Karl Valentin einst sagte: «Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war», spielte er darauf an, dass sich Zukunftserwartungen im Lauf der Zeit verändern können. Sie sind abhängig vom menschlichen Handeln.

Die Vorstellungen über die Welt von morgen wurden im Lauf der jüngeren Menschheitsgeschichte stark von technologischen Verheissungen geprägt. Manche davon sind Realität geworden, andere Vorhersagen haben sich nicht erfüllt. Die Atomenergie etwa hat nicht das Energieproblem der Menschheit ein für alle Mal gelöst. Wir fliegen nicht alle mit Düsentrieb-Rucksäcken durch die Gegend. Aber auch menschliche Entscheidungen wirken sich auf die Zukunft aus. Ein Diktator kann einen Krieg beginnen oder nicht, die Schweiz kann der EU beitreten oder nicht. Zukunft ist folglich stete Option, aber keine Gegebenheit.

Archaische Gesellschaften dagegen erlebten die Zukunft grundsätzlich als Wiederkehr des Immergleichen:Winter und Sommer, Aussaat und Ernte, Geburt und Tod, Krieg und

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Frieden. Auch das eigene Leben war in diesen ewigen Kreislauf eingebettet. Alle diese Geschehnisse entzogen sich dem Einfluss des Menschen. Sie wurden von den Göttern geregelt und vorbestimmt. Innerhalb eines individuellen Lebens blieb vieles dennoch offen:Starb man früh oder spät?Wurde man reich?Drohte ein Krieg?Fand man den richtigen Lebenspartner?War man als Geschäftsmann, als Herrscher erfolgreich? Die individuelle Zukunft wurde als Schicksalsraum verstanden als der Bereich, der über den Verlauf des persönlichen Lebens bestimmte.

Diese Zukunft zu kennen trieb die Menschen um. Sie suchten Auskunft bei Schamanen oder Sehern, in Sternenkonstellationen oder den Eingeweiden von Tieren, im Vogelflug oder durch Kartenlegen, in Horoskopen oder im Kaffeesatz.

Einen besonderen Aufwand betrieben dabei die alten Griechen. Sie bauten eine eigentliche Vorhersageindustrie auf, die ihr Zentrum im Orakel von Delphi hatte. Fast 1000 Jahre lang, von 600 v. Chr. bis gegen 400 n. Chr., versprach diese Institution, einen Blick in die Zukunft zu ermöglichen. Staatsmänner, Herrscher, aber auch einfache Bürger pilgerten zur Stadt am Fuss des Gebirges Parnass, um Rat im Hinblick auf Künftiges zu suchen. Das Ende kam, wie der spätantike Kirchenhistoriker Philostorgios schildert, zur Zeit des römischen Kaisers Julian. Dieser habe im Jahr 362 einen Vertrauten nach Delphi geschickt, weil er sich von dort eine Wegleitung erhoffte. Doch der Spruch des Orakels war wahrlich orakelhaft:«Kündet dem Kaiser, gestürzt ist die prunkvolle Halle, Phoibos hat nicht mehr sein Haus. Auch nicht den weissagenden Lorbeer noch die sprechende Quelle;verstummt ist auch das redende Wasser.» Dies wurde als Hinweis interpretiert, dass sich die Institution Delphi nun auflösen werde.

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Ein Grund mag gewesen sein, dass mit der Entwicklung neuer religiöser Konzepte im Nahen Osten die Idee eines Lebens nach dem Tod aufkam. Anstelle der steten Wiederkehr des Immergleichen begann sich ein lineares Verständnis der Zeit durchzusetzen, das in der jüdisch-christlichen Tradition besonders ausgeprägt ist. Jedes Leben hat einen Anfang und ein Ende, und mit dem Ende ist eine Bilanz verknüpft, die das Leben nach dem Tod bestimmt. Was für den Einzelnen galt, traf für die Welt insgesamt zu, die an einem bestimmten Zeitpunkt einen historischen Endpunkt erreichen würde. Es ist dies die Apokalypse, meist mit der Vorstellung eines Jüngsten Gerichts verknüpft.

Mit der Renaissance und der Aufklärung nahm dann das Vertrauen der Menschheit zu, nicht einfach auf das Kommende passiv warten zu müssen. Das stetig wachsende Verständnis für die Gesetze der Natur führte zu Überlegungen, wie sich auf dieser Basis allenfalls in den Gang der Dinge eingreifen liesse.

Man begann den Zusammenhang von Handeln und Ergebnis mittels Experimenten zu prüfen und stellte fest, dass unterschiedliche Verhaltensweisen zu unterschiedlichen Resultaten führen konnten. So verlor die Zukunft allmählich ihre Schicksalshaftigkeit und wurde zum Möglichkeitsraum. Bezeichnend ist, dass in dieser Periode zum ersten Mal staatspolitische Utopien publiziert wurden. Die bekannteste stammt vom englischen Staatsmann und Schriftsteller Thomas Morus, erschien im Jahr 1516 und trägt den Titel Vonder besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia. In diesem Roman wird etwas bis anhin Unerhörtes geleistet:Morus entwirft einen idealen Staat, der sich fundamental von allen damaligen Herrschaftssystemen unterscheidet. «Utopia»signalisiert, dass nun auch die gesellschaftlichpolitischen Verhältnisse nicht mehr als schicksalshaft oder

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göttlich gegeben verstanden wurden, sondern als Menschenwerk, das deswegen auch verändert werden konnte.

Wo etwas Besseres nicht nur denkbar ist, sondern dank menschlichen Handelns auch realisierbar, entsteht etwas, was zum prägenden Begriff der westlichen Neuzeit wurde:Fortschritt. Seit der Aufklärung sind Zukunft und Fortschritt im Westen zu siamesischen Zwillingen geworden, primär wegen der starken Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese erlaubten neue Möglichkeiten der Existenz. Sie vereinfachten und bereicherten das Leben der Menschen, sie machten dieses angenehmer und reicher, Krankheiten liessen sich besser bekämpfen, und die Naturgefahren verloren ein Stück weit ihren Schrecken. Parallel dazu begann sich auch die Politik zunehmend als Möglichkeitsraum zu etablieren. Politik hiess, den Bürgerinnen und Bürgern oder wenigstens den eigenen Anhängern eine bessere Zukunft in Aussicht zu stellen.

Zukunft meinte nun eine stete Besserung der Verhältnisse, vorausgesetzt, der Mensch handle richtig. Es war nicht mehr nötig, ihr mit Orakelsprüchen hinter die Kulissen zu gucken und sie so ihrer Unberechenbarkeit zu berauben. Dies geschah nun auf der Basis wissenschaftlicher Methoden. Man strebte an, aufgrund von Erfahrungswerten Abschätzungen über künftige Entwicklungen herzuleiten, also Prognosen zu machen.

Während des Zweiten Weltkriegs entstand daraus eine eigentliche Wissenschaft mit der Bezeichnung Zukunftsforschung oder Futurologie. Sie blühte nach 1945 rasch auf, errang eine grosse Bedeutung in den 1950er- und 1960erJahren und erlitt kurz nach 1970 einen jähen Absturz, was ihren Status als eigene wissenschaftliche Disziplin ruinierte.

Doch der Ansatz, aus dem Gegebenen auf das Mögliche oder auf das wünschbare Mögliche zu schliessen, lebte weiter und findet heute einen Höhepunkt in der datengetriebenen

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Digitalwirtschaft. Diese beruht auf der Überzeugung, dass mit dem Ansteigen der Datenmengen die Präzision der Voraussagen für das Kommende steige. Immer stärker wird deswegen heute aus der Zukunft statt dem bloss Möglichen das, was mit ziemlicher Sicherheit erwartet werden kann.

In diesem Vorstellungsrahmen bewegt sich Greta Thunberg. Ihre Zukunftsvorstellungen stammen aus den Grossrechnern der Klimaforscher, die seit Jahren Millionen von Daten in ihre Computer füttern und daraus Prognosen über die Entwicklung des Weltklimas ableiten. Diese sind düster, um nicht den Begriff apokalyptisch zu verwenden. Paradoxerweise hat gerade das Fortschrittsdenken, das aus dem neuzeitlichen Verständnis von Zukunft resultierte, die Menschheit nach Meinung der Klimajugend an einen Punkt gebracht, an dem sich der Fortschritt in sein absolutes Gegenteil umzukehren droht. «Fridays for Future»meint ja, dass es ohne die von Greta und ihren Anhängern geforderten Massnahmen gar keine Zukunft mehr gäbe. No Future!Der Fortschritt lässt sich nun nicht mehr in der Zukunft suchen und finden, sondern nur noch in der Vergangenheit, in einer Epoche ohne Erdöl und Plastik und Verbrennungsmotoren.

So lässt sich eine Zäsur im bisherigen modernen Verständnis von Zukunft beobachten. Das Begriffspaar Zukunft und Fortschritt beginnt sich zu entkoppeln. Das Kommende wirkt nicht mehr als Verheissung, sondern als Gefahr. Und diese ist nicht mehr bloss möglich, sondern wegen der heute vorherrschenden Methode der Zukunftsabschätzungen mittels Daten und Extrapolationen auch unter Klimaforschern innerhalb gewisser Bandbreiten absehbar. Die Zukunft bekommt eine deterministische Qualität, eine Schicksalshaftigkeit wie in vormodernen Zeiten. Wo die Forschung noch mit gewissen Unschärfen arbeitet, haben etwa die Mitglieder radikaler Klimaschutzbewegungen daraus Sicherheiten gemacht, die sich

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bis in Jahreszahlen festmachen lassen. Der Klimakollaps findet 2048 statt oder 2039!Vergessen geht dabei, dass der «schwarze Schwan»nicht ausgestorben ist, also eine überraschende Entwicklung, mit der niemand gerechnet hat. Auch eine scheinbar berechenbare Zukunft kann nach wie vor unberechenbar sein.

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Die Zukunftsbegeisterung nach 1945

Wenn schon der Krieg der Vater aller Dinge sein soll, wie der griechische Philosoph Heraklit behauptete, dann darf man ihn sicher als Vater des grossen Fortschrittsglaubens bezeichnen, der sich nach dem Friedensschluss von 1945 in den westlichen Gesellschaften ausbreitete. Der Kampf zwischen den Achsenmächten und den Alliierten hatte mit dem Sieg des Guten über das Böse geendet, nicht zuletzt weil die USA schliesslich dank eines grossen Technologieschubs und einer enorm leistungsfähigen Kriegsindustrie eine waffentechnologische Überlegenheit errangen.

Die Beherrschung der Atomkraft eine Folge der Entwicklung der Atombombe gehört zu den spektakulärsten Ergebnissen dieser durch den Krieg vorangetriebenen Entwicklung. Diese sollten nun in den Dienst des gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts gestellt werden. Atomkraftwerke etwa versprachen, das Energieproblem der Menschheit ein für alle Mal zu lösen.

Doch nicht bloss darauf beruhte der verbreitete Optimismus. Hinsichtlich der reinen Forschungsleistung hatte Deutschland während des Kriegs durchaus Schritt mit den USA oder Grossbritannien gehalten. Man arbeitete an der Entwicklung einer Atomwaffe, baute Raketen, erfand das Düsentriebwerk. Die Überlegenheit der USA beruhte letztlich auf der Fähigkeit, die für den Sieg auf den Schlachtfeldern entscheidenden Kräfte wirkungsmächtig zu bündeln. Eine enge Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft, von ziviler Forschung und militärischer Innovation, von Politik und privatem Sektor sollte dies bewerkstelligen.

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Dieser Ansatz wurde in den USA Big Science genannt. Hier arbeiteten angewandte und Grundlagenforschung, Forschungsabteilungen der verschiedenen Universitäten, die Verwaltung und die Wirtschaft eng zusammen, um klar definierte Projekte zu verfolgen, die im Krieg zu einer Überlegenheit gegenüber dem Gegner verhelfen würden. Das Manhattan-Projekt, die Entwicklung der Atombombe, ist das auffälligste Beispiel dieser Kooperation zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor. Innert kurzer Zeit gelang es dank einer konzentrierten Anstrengung, die Waffe zu entwickeln, die dann den Krieg im Osten gegen Japan mit einem Doppelschlag sofort beendete.

Um derartige Grossprojekte in solch kurzer Zeit zum Erfolg führen zu können, waren neue Ansätze der Planung und der Projektsteuerung notwendig. In Grossbritannien und dann vor allem in den USA wurden kurz vor und während des Kriegs Konzepte entwickelt, die für die Bewältigung vielschichtiger Aufgaben, wie sie der Krieg erforderte, geeignet erschienen. Sie trugen Bezeichnungen wie Operations Research, Kybernetik oder Systemanalyse, basierten stark auf mathematischen Ansätzen und glichen sich letztlich darin, dass es um die Organisation von Prozessen in komplexen Systemen ging. Ein solches System stellt etwa der menschliche Organismus dar:Dieser wirkt als ein permanenter Regelkreislauf von unterschiedlichsten Inputs und Rückkoppelungen. Genauso würden, sagt die Kybernetik, auch komplexe Maschinen oder komplexe Organisationen funktionieren.

Derartige Systeme mit zahlreichen Variablen liessen sich aber nur steuern, wenn man über die Fähigkeit verfügte, grosse Datenmengen innert kurzer Zeit aufzuzeichnen, auszuwerten und die Ergebnisse in neue Berechnungen einfliessen zu lassen. Der Aufstieg der Mathematik in der angewandten Forschung, die wachsende Bedeutung von Datenverarbeitung

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und Statistik in der modernen Wissenschaft finden hier ihre Wurzeln. Diese Notwendigkeit führte zur Entwicklung des Computers, der in dieser Zeit in seinen Frühformen erstmals zum Einsatz kam.

Nicht zuletzt waren es solche Grossrechner, die nach dem Krieg die Zuversicht vermittelten, dass die Menschheit dem steigenden globalen Problemdruck Herr werden könne. Auch wenn der wissenschaftliche und technologische Fortschritt enorm war, auch wenn die Komplexität der Probleme rasant zuzunehmen schien:Hier lagen nun die Instrumente bereit, dank denen sich verhindern liess, dass man sich der Zukunft hilflos ausgesetzt fühlte. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell sprach von Kybernetik und Operations Research als einer «intellektuellen Technologie», die nun für die Lösung der vielfältigsten Probleme zur Verfügung stand.

Der Schlüsselbegriff hiess Planung. Die neuen Methoden und Hilfsmittel wie der Computer so die Überzeugung erlaubten es, wie mit einem Autoscheinwerfer ein helles Licht in die dunkle Zukunft zu werfen. Diese erschien nun als analysierbar. Sie präsentierte sich in Möglichkeiten, in Alternativen, aus denen sich erwünschte Entwicklungen herausfiltern und dank der neuen «intellektuellen Technologie»implementieren liessen. Wenn das nicht ein Grund für Optimismus war!

In den USA entwickelten sich in organischer Weiterentwicklung der methodologischen und organisatorischen Kriegswirtschaft spezialisierte Institutionen, in denen künftig diese Planungsarbeit geleistet werden sollte, mittels Analysen, Zieldefinitionen und Umsetzungskonzepten. Sie wurden später Thinktanks genannt. Das Urmodell hiess RAND Corporation (Rand für:Research and Development), 1946 von Generälen der Air Force in Zusammenarbeit mit dem Flugzeugbauer Douglas in Kalifornien gegründet. Es handelte

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sich um Non-Profit-Organisationen, die von staatlichen, aber auch privaten Projektaufträgen lebten. Anfänglich dominierten militärische Themen. Doch das Spektrum weitete sich rasch aus. Stets ging es darum, Tendenzen zu sehen, gewünschte Entwicklungen inhaltlich und organisatorisch in die Wege zu leiten, dem Fortschritt eine Richtung zu geben.

Das Bedürfnis für derartige Institutionen war gross. Sie schossen in den USA nach 1945 fast wie Pilze aus dem Boden, befeuert durch den Kalten Krieg, der eine enorme Nachfrage für Planung und Zukunftsszenarien weckte. So zeichnete sich RAND etwa dadurch aus, dass es das Wargaming, supponierte kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Ost und West, zu einer eigenen Kunst entwickelte. Doch die militärische Komponente des Kalten Kriegs stellte nur einen Aspekt eines viel grösseren Konflikts dar, ging es doch um einen Systemwettbewerb zwischen Kapitalismus und Kommunismus. In den 1950er- und 1960er-Jahren galten primär die wissenschaftlichen und technologischen Erfolge der jeweiligen Blöcke als Gradmesser der Positionierung in diesem Wettstreit. Den US-Thinktanks kam dabei eine zentrale Rolle zu, um den Vorsprung des Westens zu sichern.

Umso stärker fiel deshalb der Schock aus, als die Sowjetunion 1957 den ersten Satelliten ins All schoss und vier Jahre später mit Juri Gagarin den ersten Menschen. Es schien, als ob der Kommunismus die Führung übernommen hätte, was zu einer nochmals verstärkten Anstrengung im Westen führte, den Lead im Systemwettbewerb nicht zu verlieren. Nun erschien es noch wichtiger, die Zukunft besser abschätzen zu können. Je präziser die Kenntnis der möglichen Entwicklungsszenarien, je besser das Wissen um deren wahrscheinliche Vor- und Nachteile, desto grösser die Chancen, die vorhandenen Mittel effizient einzusetzen und so der Konkurrenz zu enteilen. Was für den globalen Wettbewerb zwischen Staa-

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ten zutraf, galt natürlich auch für den Konkurrenzkampf unter Privatfirmen.

Im Jahr 1965 schrieb der amerikanische Soziologe Daniel Bell in einem Aufsatz «Study of the Future»inder Zeitschrift National Interest: «Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Gesellschaft in ihrem Denken zukunftsorientiert geworden ist.» Ein anderer Aufsatz zum gleichen Themenkomplex, verfasst 1963, trug den schönen Titel:«The Future as Zeitgeist». Mochte Bell im engeren Sinn an Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung gedacht haben, so erfasste seine Beobachtung eine generelle gesellschaftliche Stimmung. Gerade die 1960er-Jahre waren ein Zeitalter, das in allen Lebensbereichen von einem unglaublichen Optimismus erfüllt war. Die Populärkultur bildete diese Stimmungslage in vielfältiger Weise ab. In der Musik setzten die Beatles die Tonalität und mit ihnen eine ganze Reihe von Rockbands, die innovative Musik produzierten und einen jugendkulturellen Eskapismus befeuerten. Dieser manifestierte sich etwa an grossen Festivals wie Woodstock, die Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit vermitteln wollten, was durchaus auch sexuell verstanden wurde. In der Malerei etablierte sich damals die Pop Art als affirmativ-hedonistische Kunstrichtung mit Andy Warhol oder David Hockney als Leitfiguren.

Letzterer hatte dem nebligen Grossbritannien den Rücken gekehrt und sich im sonnigen Kalifornien niedergelassen, einem Zukunftslabor par excellence für alle Aspekte des Lebens. Der Sunshine State entwickelte sich damals zum Sehnsuchtsort für die junge Generation, die hier den geeigneten Ort vorfand, um eine neue Zukunft zu verwirklichen. Dazu zählte auch die Rücksicht auf die Umwelt, die durch die Wirtschaft bedenkenlos ausgebeutet und geschädigt wurde. In Kalifornien entstand die moderne Umweltbewegung, für die das Buch Silent Spring,erschienen 1962, ein Auslöser war. Darin schil-

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dert die Autorin Rachel Carson die verheerenden Auswirkungen des Pestizids DDT auf die Umwelt.

Kalifornien wirkte als Ideenlabor für eine zukünftige, bessere Welt. Die Flower-Power-Bewegung versprach «peace and harmony»und testete neue Lebensformen in Grosskommunen, die Beach Boys verbreiteten mit ihrem Surfer-Sound heitere Lebensstimmung, das Musical Hair verkündete die Botschaft einer neuen Spiritualität mit dem Titelsong «Age of Aquarius». Es herrschte ein scheinbar nicht mehr aufzuhaltender Optimismus. Gerade was das Ökonomische betraf, war diese Generation vom Grundgefühl erfüllt, dass der materielle Reichtum unerschöpflich sei und es nie mehr ökonomische Krisen geben würde, nicht zuletzt, weil der technische Fortschritt alles möglich zu machen schien. Und wo sich individuelle Schwierigkeiten auftürmten, liessen sich diese dank verschiedenster Drogen rasch übertönen.

Obwohl diese Jugendkultur stark hedonistische Züge zeigte, zielte sie auf Grundsätzlicheres ab:Esging um die Umgestaltung der Gesellschaft. Der Mensch sollte aus allen Zwängen befreit werden, den sexuellen, den gesellschaftlichen, den wirtschaftlichen. Hunter S. Thompson, als Journalist und Schriftsteller einer der Exponenten dieser Generation, bemerkte in seinem 1971 erschienenen Roman Fear and Loathing in Las Vegas : «There was afantastic universal sense that whatever we were doing was right, that we were winning … And that, Ithink, was the handle that sense of inevitable victory over the forces of Old and Evil.»

Den tiefen Glauben an eine bessere Gesellschaft, der sich in diesen Sätzen ausdrückt, teilten die Wissenschaftler und die Planungstechnokraten in der Welt der Thinktanks, der staatlichen Planungsstäbe und der Universitäten, obwohl diese der neuen Jugendbewegung kritisch begegneten. Hier erhielt das Zukunftsdenken jedoch den Status einer seriösen Disziplin.

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Sie wurde zu einer eigenständigen Sparte der Wissenschaft mit der Bezeichnung Futurologie. Damit löste sich die Beschäftigung mit der Zukunft vom Ruf, bloss fantasievolle Voraussagen abzugeben, gewissermassen einfach das Orakel von Delphi in pseudowissenschaftlicher Verbrämung zu sein. Nein, dank der neuen «intellektuellen Technologie»war die Zukunft wissenschaftlich eingrenzbar und berechenbar geworden. Sie liess sich in Varianten erfassen und benennen. Die Historikerin Elke Seefried, die ein Standardwerk zu diesem Thema geschrieben hat (Zukünfte,DeGruyter, 2015), spricht deswegen davon, dass es der Futurologie nicht einfach um die Zukunft, sondern um «Zukünfte»gegangen sei.

Dass diese Zukünfte dank der Zukunftswissenschaft als gestaltbar galten, verstärkte die Aufbruchstimmung in den westlichen Gesellschaften. Darin drückt sich ein ausgeprägter Glaube an den technologischen Fortschritt aus. Es mutet etwas paradox an, wie sehr sich in diesem Punkt das Denken in West und Ost glich, obwohl ja von der Zukunftsforschung unter anderem auch eine stärkere Abgrenzung vom Kommunismus erwartet wurde. Dem Sozialismus steckt Planung eben in der DNA. In systematischen Fünfjahresplänen wollten die kommunistischen Staaten den Fortschritt ihrer Gesellschaften organisieren. Hier sassen die Futurologen gewissermassen in der staatlichen Bürokratie;imWesten dagegen besetzten sie Lehrstühle an Universitäten oder Direktionsposten in Thinktanks. Die Bürokraten sollten dieses Kräftemessen spätestens 1989 klar verlieren.

Bis in die Schweiz strahlte dieses Denken aus, wenn auch mit der üblichen Verspätung. Wenn der Bundesrat 1972 eine Gesamtverkehrskonzeption in Auftrag gab oder wenig später eine Gesamtkonzeption für die Medienpolitik, dann wurzelt das im Denken und in der Begrifflichkeit dieses intellektuellen Grundstroms jener Jahre. Man dachte in Gesamtsystemen

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Seit Langem sah keine junge Generation die Zukunft düsterer als die heutige. Sie erlebt den Ausbruch unbekannter Seuchen, sie rechnet mit dem Klimakollaps, sie ist schockiert über den Ausbruch eines Kriegs in Europa, sie befürchtet eine Abnahme des Lebensstandards: Dies ist die Weltlage, in die diese Generation hineinwächst. Die apokalyptische Grundstimmung drückt sich in der zeitgenössischen Kultur aus. Ob Film oder Literatur, ob Net ix oder Malerei: überall dominieren das Düstere, die Katastrophe, die Endzeit.

Aus heiterem Himmel kommt diese Stimmungslage nicht. Nach 1945 trat die Welt in eine Phase des Aufbruchs, der Zukunftsfreude, des Optimismus ein. Kurz nach 1970 schlug die Stimmung um. Katalysator war der Bericht «Grenzen des Wachstums», die der Club of Rome vor 50 Jahren publizierte. Nun breitete sich eine pessimistische Grundstimmung aus, die auf die Furcht vor dem ökologischen Kollaps der Erde zurückzuführen ist. Spätestens nach 9/11 begannen sich die schlechten Nachrichten zu häufen. Die Zukunft präsentiert sich so düster, dass man sich eigentlich nur noch von ihr abwenden kann.

Doch die Zukunft kommt auf jeden Fall. Wer sich ihr verweigert, fördert genau das, wovor er sich fürchtet – nämlich, dass alles immer schlimmer wird. Das Buch von Felix E. Müller zeichnet den Weg von der optimistischen zur pessimistischen Weltsicht nach, erklärt die Schlüsselrolle des Club of Rome, gibt einen Überblick über die dystopische Gegenwartskultur und wirft einen Blick in die Zukunft, die einer Generation blüht, die sich von ihr abwendet.

www.nzz-libro.ch ISBN 978-3-907 396-09-4 9 783907 396094

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