Markus Maeder, Regula Jaeger: Fussgang. Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz

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M. Maeder, R. Jaeger

fuss gang Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz

ISBN 978-3-03810-346-2

www.nzz-libro.ch

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NZZ Libro

Fussgang

In Text und Bildern halten Markus Maeder und Regula Jaeger fest, was sie zu Fuss in sieben Etappen und vier Jahreszeiten erleben. Dem nörd­ lichen Alpenkamm entlang überqueren sie auf Bergwegen und Saumpfaden rund ein Dutzend Pässe vom Zürichsee bis nach Genf. Dabei erkunden die beiden Fussgänger in beiläufigen Gesprächen und Beobachtungen am Wegrand, wie die Leute abseits der Städte ihren Alltag erleben. Eine Momentaufnahme der Schweiz, wie sie in keinem Wanderbuch steht.

Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz

«Heute ist mein Geburtstag, und den wollen wir feiern, rund ums Jahr, gut und gern, hin und her, auf und ab, über alle Berge bis nach Genf. Nichts als den Himmel über uns und festen Boden unter den Füssen.»

Markus Maeder  Regula Jaeger

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2. Auflage 2018 © 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich Lektorat: Simon Wernly, Langenthal Umschlag, Gestaltung, Satz: Katarina Lang, Zürich Fotografien: Markus Maeder, Rapperswil SG Lithografie: Fred Braune, Bern Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-346-2 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung.

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Le menu : 7 Gänge in 49 Schritten

Amuse Bouche 1  7 Amuse Bouche 2  9

Erster Gang: Von Rapperswil nach Seelisberg (Februar/März) 1. Schritt: Von Uerikon und Rapperswil zum Sankt Meinrad  14 2. Schritt: Vom Sankt Meinrad nach Einsiedeln  19 Leergang: Fussgang und Bussgang  26 3. Schritt: Von Einsiedeln auf die Haggenegg  27 4. Schritt: Von der Haggenegg nach Illgau  36 Leergang: Serendipity  45 5. Schritt: Von Illgau nach Morschach  48 6. Schritt: Von Morschach nach Flüelen  51 7. Schritt: Von Flüelen nach Seelisberg  68 Leergang: Ockhams Rasiermesser  73 Zweiter Gang: Von Seelisberg nach Engelberg (Mai) 8. Schritt: Von Seelisberg ins Tannibüel  78 9. Schritt: Vom Tannibüel nach Oberrickenbach  85 10. Schritt: Von Oberrickenbach nach Engelberg  92 11. Schritt: Am End der Welt  99 Leergang: Wozu?  101 Dritter Gang: Von Engelberg nach Grindelwald (Juni) 12. Schritt: Von Engelberg auf den Jochpass  106 13. Schritt: Vom Jochpass nach Wagenkehr  112 14. Schritt: Von Wagenkehr nach Meiringen  122 15. Schritt: Von Meiringen auf die Grosse Scheidegg  131 Leergang: Rund ums Wetterhorn  140 16. Schritt: Von der Grossen Scheidegg nach Grindelwald  141 Leergang: Gehen und schreiben  145 Hauptgang: Von Grindelwald nach Kandersteg (August) 17. Schritt: Von Grindelwald nach Alpiglen  152 18. Schritt: Von Alpiglen auf die Kleine Scheidegg  158 19. Schritt: Von der Kleinen Scheidegg nach Stechelberg  164 20. Schritt: Von Stechelberg nach Gimmelwald  174 Geländegang: Über Fussgängerzonen  180 21. Schritt: Von Gimmelwald auf die Rotstockhütte  183 22. Schritt: Von der Rotstockhütte über die Sefinenfurgge auf die Griesalp  190 23. Schritt: Müssiggang im Kiental  193 24. Schritt: Von der Griesalp zum Hohtürli  195 25. Schritt: Vom Hohtürli zum Oeschinensee  208 26. Schritt: Vom Oeschinensee nach Kandersteg  213

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Inhalt

Fünfter Gang: Von Kandersteg nach Gsteig (September) 27. Schritt: Von Kandersteg zum Berghotel Schwarenbach  218 28. Schritt: Vom Berghotel Schwarenbach auf die Engstligenalp  227 29. Schritt: Ein Tag auf der Engstligenalp  234 30. Schritt: Von der Engstligenalp nach Siebenbrünnen  242 31. Schritt: Von Siebenbrünnen über die Langermatte auf die Iffigenalp  247 32. Schritt: Von der Iffigenalp an den Lauenensee  254 33. Schritt: Am Lauenensee  256 34. Schritt: Vom Lauenensee nach Gsteig  259 Sechster Gang: Von Gsteig nach Montreux (Oktober) 35. Schritt: Von Gsteig nach Rougemont  264 36. Schritt: Von Rougemont nach Rossinière  272 37. Schritt: Von Rossinière nach Les Allières  278 38. Schritt: Von Les Allières auf die Rochers de Naye  282 39. Schritt: Von den Rochers de Naye nach Montreux  288 40. Schritt: Müssiggang in Montreux  291 Leergang: Heimweh  294 Nachgang: Von Montreux nach Genf (November) 41. Schritt: Von Montreux nach Blonay  298 42. Schritt: Von Blonay nach Cully  301 43. Schritt: Von Cully nach St-Sulpice  307 44. Schritt: Von St-Sulpice nach Aubonne  314 45. Schritt: Von Aubonne nach Begnins  322 46. Schritt: Von Begnins nach Céligny  327 47. Schritt: Von Céligny nach Versoix  336 48. Schritt: Von Versoix nach Genf  339 49. Schritt: Schlussgang in Genf  342 Zu guter Letzt  348 Wo wir übernachtet haben  350

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Amuse Bouche 1 Meinem Herz lasse ich freien Lauf Inmitten der Berge und Ströme, Vergessen die Fesseln In der endlosen Leere der Landschaft. Wang Huizhi (321–379)

So viele sagen, das möchte ich auch. Warum tun sie es nicht? Zu Fuss gehen kann fast jeder, zum Glück. Also tu den ersten Schritt. Warum, das kann ich nicht in einem Satz sagen. Man weiss es erst, wenn man ankommt. Vielleicht wollte ich etwas finden, das ich nicht gesucht habe. Aber ich ging nicht, um etwas zu finden, von dem ich nicht wusste, was es ist. Ich war nicht auf der Suche. Es hat sich einfach so ergeben. Alles hinter mir lassen. Einfach gehen, damit ich wieder alles vor mir hatte. Erst nachher weiss man, was man gibt und was man bekommt. Es ist alles, was danach im Rucksack ist. Wir fingen gleich zu Hause an. Von woanders geht es ja gar nicht. Eine Heldentat ist das nicht. Das muss es auch nicht sein. Aber offen für die Ungewissheit draussen sollte man schon sein. Ich war mir auch sicher, dass mich draussen, auch ganz in der Nähe, viel Neues erwartete und dass ich mit Geschenken heimkommen würde … Etwa mit Alpenrosen, mit Hagebutten, einem Stein, und manchmal auch mit Leuten, mit Bildern, Tönen und Düften. Wenn der Schnee so schön ist wie am ersten Tag, als wir zum Sankt Meinrad hinaufwanderten, dürfen wir stolz darauf sein, dass wir uns Zeit gaben und es uns leicht machten. Dafür waren wir mitten drin in kleinen Sensationen des Alltags. Zum Beispiel beim Zmorge nach einer Nacht im Kloster Einsiedeln. «Heute ist Sonntag», sagte Bruder Raphael, «heute gibt es Honig.» Eigentlich schade, dass es das sonst

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Amuse Bouche 1

jeden Tag gibt. An neuen Orten hat man Zeit, neue Wurzeln zu schlagen. Wenn man einen so grossen Steinpilz findet wie wir dort unter der Föhre beim Lauenensee, muss man nicht auf den Gipfel. Wir gönnen uns bloss das Privileg, dem Alltag ein paar Schritte davonzulaufen. Es ist noch halb dunkel, als ich in Uerikon aus dem Haus gehe. Ein letzter Blick zurück auf die Gerbi, zum Stubenfenster hinauf, von wo Thomas herunterwinkt. Gleich um die Ecke kommt mir Andrea entgegen und sagt: «Oh, Regula. So ein schöner Tag, wohin gehst du?» Sicher, das war so. «Was häsch, warum lachsch?» Ich strahle und sage: «Andrea, ich gehe nach Genf.» «Ja was, z’Fuess?» «Ja, z’Fuess.» Ich kann es selber noch nicht ganz glauben. Andrea ist noch das ganze Jahr drangeblieben und fragte, wo seid ihr, was ist der nächste Ort? Das hat mich beflügelt, jedesmal, wenn sie wieder fragte. Aber jetzt gehts los. Richtig los. Schon das erste Stücklein, das ich alleine gehe, ist Neuland. Ich merke, ich habe keine Ahnung, wie lange ich brauche, um von Uerikon nach Rapperswil zu gehen. Ich gehe doch sonst von Uerikon nach Rapperswil nicht zu Fuss. Ist das eine halbe Stunde, eine Stunde, komme ich am Ende gar zu spät? Es gibt einem schon zu denken, die Entfernungen vor der eigenen Haustüre nicht einschätzen zu können. Aber es ist vielleich auch die Unsicherheit am Anfang eines Projekts. Es kommt auch nicht so drauf an. Wir haben ja Zeit. Und Markus ist ein Meister der Unpünktlichkeit. Regula Jaeger

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Amuse Bouche 2 Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur von Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Joseph von Eichendorff

Als ob wir frisch von den Bäumen kämen. Auftreten und nichts wie los. Fussgänger kann man nicht werden. Man ist es von Kindsbeinen auf. Manche werden es früher, andere ein bisschen später. Machts einen Unterschied? Wie viele Zehntausend Jahre hat es gedauert, bis der erste Mensch in der Bucht von Rapperswil den ersten Pfahl für seine Hütte einschlug? Na also. Wir nehmen es leicht. Wir brauchen nicht mehr, als wir tragen können, sagt Regula, die mit mir geht. Sind wir uns nicht Bürde genug? Loslassen, besser jetzt als am Ende von allem, sage ich, Markus Maeder, zu meinem Siebzigsten und packe mein Bündel. Mit siebzig gehts bergab, Schritt für Schritt zum Orkus hinab. Das Ende mag noch länger auf sich warten lassen, aber lange nicht mehr. Rundum fallen Leute um. Leute von da und von dort, Bekannte und Unbekannte, Dichter und Denker und Popstars, unsere Jugendidole, als hätten sie ihren Treibstoff etwas rascher verbrannt. Herzinfarkt. Hirnschlag. Unfall. Und immer wieder Krebs. Dieser schleichende Feind des schleichenden Alters. «Die Siebzigjährigen sterben langsam aus», sagte Regula kürzlich, als sie in der Zürichsee Zeitung an den Todesanzeigen hängen blieb. «Die meisten Menschen sind tot», sagte ich, «langfristig sind wir alle tot. Totsein ist der Normalzustand. Tot sind wir ewig. Warum machst du dir um die Siebzigjährigen besonders Gedanken? So lange ich kann, laufe ich meinem Geburtstag davon.»

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Amuse Bouche 2

Siebzig ist die Schwelle, da holt er uns ein. Es ist mir, als ob ich es spüre. Nicht, dass ich mich schlechter fühle als gestern, aber ich frage mich, ob ich mich morgen noch so gut fühlen darf. Jetzt ist hier oben noch ein Alpenglühen, aber im Tal unten dunkelt es schon. Ist da nicht so ein verstohlenes Kräuseln im Nacken, ein heimliches Knicken in den Knien und Grummeln im Magen? Ich lasse mich nicht behindern. So lange trug ich den Gedanken mit mir herum: mein Bündel ­packen und gehen. Wohin auch immer, einfach weiter, jeden Tag ein Stück, ein grosses oder ein kleines. Am Ende bis ans Meer. Bis ans Ende der Welt. Aber so weit muss es ja nicht gleich sein. «Auch Zwerge haben klein angefangen.» So lautet seit einem halben Jahrhundert mein Motto, das mir Gerhard Zwerenz in Casanova oder Der Kleine Herr in Krieg und Frieden mit auf den Lebensweg gab. Vielleicht reicht es ja noch bis nach Genf. Über alle Berge, Pass auf und Pass ab. Ja, pass auf! Jetzt bloss keine Zweifel. Für manchen werden seine Träume erst wahr, wenn er sie nicht mehr hat. Muss ich das heute noch, über alle diese Höhen, durch alle diese Tiefen? Zu Fuss gehen, wo wir doch zu Rad und Sattel fahren könnten? «Was willst du dir beweisen», fragte mich die Mutter meiner jüngeren Tochter. «Nichts», sagte ich. Aber vielleicht stimmt das nicht ganz. Einmal müssen den Worten Taten folgen. Heute ist dieser Tag. Ich habe nichts zu verlieren, es sei denn Gewicht. Schön, mit Regula zusammen zu gehen. Auf sie kann ich mich seit bald zwanzig Jahren verlassen. Gewiss, Gehen ist wie Essen und Trinken. Niemand kann einem wirklich helfen dabei. Und doch macht es einen Unterschied, die Gänge einer Mahlzeit und den Gang der Dinge miteinander zu teilen. Was uns unser Fussgang bringt? Der Frage wollen wir bis Genf nachgehen. Markus Maeder

Dieses Buch hat Regula Jaeger möglich gemacht. Sie führt als Haupt­ figur durch die Geschichte, die Markus Maeder erzählt. Sie hat den Weg erkundet, mit den Leuten gesprochen, Tagebuch geführt, den kleinen Dingen in der Natur Bedeutung gegeben und rundum ihren guten Geist walten lassen. Die Verantwortung für den Inhalt trägt Markus Maeder.

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Zweiter Gang : Von Seelisberg nach Engelberg Mai

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Ein Maienmorgen ob Seelisberg NW.

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8.  Schritt : Von Seelisberg ins Tannibüel Und weiter gehts, durch fette, grasgrüne und gäggeligääli Maienwiesen. Ja, jetzt ist es Mai. Das Gras steht schon so hoch, dass die Sauerampfern ausgeschossen sind. Ich muss immer wieder auf Regula warten. Sie zupft an den Rispen, bis ihr Sammelsäcklein voll von Samen ist. «Ich muss es nehmen, wenn es da ist», sagt sie, «auch wenn ich es dann bis Engelberg tragen muss.» Dasselbe sage ich, wenn Regula auf mich warten muss. Meistens wegen Fotos: «Ich muss sie machen, wenn sich ein Bild ergibt.» Totentänzchen Wir sind gut unterwegs. Die Maienpracht gibt uns Schub. Wir möchten wissen, was noch alles kommt. Den ersten Halt machen wir erst zur Mittagszeit. Die Heiligkreuz-Kapelle auf dem Weg nach Emmetten hin­unter lädt zu Rast und Ruh. Die Maiensonne hat die Mauersteine erwärmt, die Luft ist rein, der Boden sauber. «Zitischda, Zitischda, singts uf em Nussbaum scho, Guggu.» Die Wiese strotzt bis zum Horizont von Blumen in allen Frühlingsdüften. Vom frisch gemähten Gras der Nachbarwiese weht ein Hauch Cumarin herüber zu uns. Blumenwiesen, gelb von Hahnenfuss, Huflattich, Butterblumen. Regula sammelt und sammelt. «Da, versuch mal.» Die Blütendolde einer Rapunzel. Nussig, süss, aromatisch. Eine Delikatesse der wilderen Art. Wir packen Käse und Rauchwürste fürs Picknick aus. Aber vorher müssen wir noch in diese Kapelle. Unglaublich, was die Wände erzählen. Es tötelet. Knochen, Skelette und eine Sense, die Männer und Frauen, Alte und Kinder, Fürsten und Pfaffen und Verbrecher ohne Unterschied niedermäht. In den dunklen Farben des Barocks holt mich der Geburtstag wieder ein. Ein Totentanz in dreiundzwanzig Bildern – oder ein ­Totentänzchen eher, angesichts der Kleinheit der Bilder. Hier legt

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Von Seelisberg ins Tannibüel

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der Sensenmann einen Bauer mit seinem eigenen Werkzeug, der Sense um, dort hat er sein wahres Wesen mit den Attributen des Arztes kaschiert und kuriert einen Patienten zu Tode. Jeder kriegt sein Fett weg. Dem Jäger geht der Schuss mit der Flinte ins Herz, dem Herrn hoch zu Ross nimmt der Sensenmann das Schwert aus der Hand, und gerade vor vierzehn Tagen hat Franziska mit zweiundsiebzig eben eine Streifung gehabt. Ronny, der rauchte bis fünfzig, kam vor ein paar Tagen mit der Diagnose Lungenkrebs heim. Wenn er Silvester erlebe, sei das ein medizinisches Wunder, sagen die Ärzte. Und hier auf einem der ­Bilder hält der Knochenmann einer Jungfer den Spiegel vor, in dem sie sich mit ihrem putzigen Hütchen als Totenschädel erkennt. Und wenn ich in den Spiegel schaue? Wie gesagt, ich bin auf dem Abgang. Weiter unten warten Gebresten. Wenn ich mich draussen hinsetze, setze ich mich lieber auf einen Stein als auf den flachen Boden. «Das sind deine altersverkürzten Sehnen im Rücken», sagt der Spiegel. Der Spiegel heisst Bettina und ist eine Zufallsbekanntschaft, die uns gestern für eine Weile begleitet hat. Die dumme Kuh! Sagt, sie sei Therapeutin, und kommt vor der Anamnese mit der Diagnose. Will sie mich trösten, beruhigen? «Altersverkürzt.» Warum sagt sie das? «Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh, wie dies stirbt, so stirbt er auch.» Grauslich geht mir die Zeile des ersten von Johannes Brahms vier ernsten Gesängen durch den Kopf. Draussen vor der Tür könnte die Welt vor lauter Leben zerspringen. Drüben am Sonnenhang spriesst schon der Majoran. Dost, sagt man bei uns, wenn er wild auf den Wiesen und Weiden wuchert. Der Huflattich macht Blüten wie Laternchen. Für alle Fälle eines grossen Geschäfts sammeln wir ein Bündel Blätter in den Rucksack. Im Frühling sind sie besonders zart. Zu Hause blühten die Schlüsselblümchen vor Ostern. Hier sind sie erst kurz vor Pfingsten so weit. Der Kuckuck hält es genau so. Bei uns im Joner Wald eilte er seinem Ruf hier oben ebenfalls über einen Monat voraus. So gehen wir zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf und ab. An Pfingsten feiern wir ein zweites Mal Ostern. Zeit für Regula, oben beim Bach, kurz vor dem Tannibüel, zum ersten Mal dieses Jahr ins eisige Wasser zu steigen. Bachbumbelen leuchten in voller Pracht.

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8. Schritt

Im Bogenpark «Schau dort, ein Hirsch, drüben, an der Felswand, keine hundert Schritte von hier.» Regula zeigt mit der Hand durchs Geäst auf dem Weg in den Wald zwischen Stockhütte und Tannibüel. «Tatsächlich. Ein Prachtsexemplar. Blick starr auf uns gerichtet. Wie angewurzelt steht er da. Und dort gleich auch noch ein Fuchs.» Dann raschelts im Unterholz. Äste knacken, zwei Männer mit Pfeilbogen brechen sich Bahn. Hightech-Objekte in blau und rot eloxiertem Edeldesign. Gleich am Wegrand vor uns haben die beiden ihre Rucksäcke ­abgestellt. «Sie haben aber einen schönen Rucksack», sagt Regula, entzückt über das uralte Segeltuchmodell, wie auch ich gerne eins möchte. «Seit vierzig Jahren habe ich den schon und lasse ihn immer wieder reparieren.» «Ein neuer wäre billiger.» Und schon sind wir mitten im Gespräch über die Kunst des Bogenschiessens. Der Hirsch steht immer noch unverwandt da. Schwer verwundet, an mehreren Stellen, aber in unerschütterlicher Ruhe. Er ist aus Schaumgummi, wie sich auf den zweiten Blick zeigt. Wir sind in einem Bogenpark. In einem offiziellen Pfeilbogenpark. Hier geniessen unsere Tellensöhne die Freiheit, nach Lust und Laune zu wildern. «Der da», sagt der jüngere der beiden Männer und zeigt auf den älteren: «Der da hat an Weltmeisterschaften eine Bronzemedaille geschossen.» «Und der da», sagt der ältere und zeigt auf den jüngeren: «Der da ist Weltmeister.» «Ich war Weltmeister», sagt der Weltmeister. «Du bist es immer noch. Weltmeister bleibst du für immer, wie du für immer der Hausi bleibst.» Zu uns gewandt sagt Hausi: «Im Toggenburg wars. Vor acht Jahren. Vier Tage lang hats geregnet. Einige flogen wieder nach Hause. Aber ich dachte, jetzt ziehe ichs durch. Vier Tage Regen für Gold. Das war es wohl wert.» Nach einer Pause fügt er hinzu: «Aber olympisch war es nicht.» «Aber wir schiessen höher», gibt Severin, der Bronzegewinner, zu bedenken.

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Von Seelisberg ins Tannibüel

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«Jawohl, bis fünfundfünfzig Meter», bestätigt Hausi. Das ist nur mit so einem Compound-Bogen zu schaffen. Regula und ich fragen uns … und fragen Severin und Hausi: «Wie könnt ihr als erwachsene Männer eure Zeit mit der Jagd auf Gummitiere verbringen! Kurz: Warum schiesst ihr nicht auf Scheiben?» «Ein Schiessstand ist mit einem 3D-Bogenpark nicht zu vergleichen», sagt Hausi. «Auf Scheiben gewinnt, wer am besten stillhalten kann. Die Scheiben sind immer gleich gross und gleich weit weg. Bei uns ist das anders. Wir können unsere Ziele nur schätzen. Das heisst, wir müssen nach Augenmass vorhalten. Auf fünfzig Meter wird da auch ein Platzhirsch so klein, dass wir sehr genau schätzen müssen, um zu treffen.» «Sucht bei Google nach ‹Eine einzige Wirklichkeit›», sagt Severin zum Abschied, «und ihr wisst Bescheid.» Zzzssssssssp! Fast lautlos, aber unüberhörbar für jeden, der es einmal gehört hat, gehen die Pfeile von den Kohlenstoff-Sehnen. Gummitiere, schiesst es uns durch den Kopf. Bis Seelisberg haben wir lauter bekannte Wege beschritten. Schau dort, diese Hütte, und dort drüben der Grat, da gingen wir doch damals von dort und dort her hinauf. Aber hier, auf der Klewenalp, waren wir beide noch nie. Endlich Neuland. Der Vierwaldstättersee, das Rütli, der Niederbauenchulm, der Oberbauenstock und die Allerhandstöcke trennen uns von zu Hause. Auf die Klewenalp fährt man nicht hin für einen Sonntagsausflug, wenn man am oberen Zürichsee wohnt, und noch viel weniger für Ferien, wo fernere Ziele zum Fliegen verführen. Allein die Mythen sind uns noch von allen Seiten vertraut. Seit dem Sankt Meinrad stehen sie zackig als Wahrzeichen stramm neben oder hinter uns. Acht gute, lange Tagesschritte lang. Erst eine kleine Krete kurz vor dem Tannibüel lässt sie verschwinden – für wie lange? Wer weiss, wann sie uns wieder zuwinken. Fredi auf dem Tannibüel Der Himmel rund um die Klewenalp hängt voller Drähte. Seilbahnen, Sesselbahnen, Skilifte, Schwebebahnen, Zahnradbahnen. Über hundert sinds alles in allem im Kanton Nidwalden, sagt Fredi im Tannibüel, die Transportbähnchen auf die Einzelhöfe, Maiensässen und Alpen nicht mitgezählt. Wo man anderswo Strassen baute, baute man in Nidwalden Bahnen. So fuhr man besser im steilen, labyrinthischen,

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Auf dem Säumerweg von Meiringen zur Grossen Scheidegg.

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Leergang : Rund ums Wetterhorn Wie konnten wir bloss das Wetterhorn verwechseln? Kaum zufällig hing am urberühmten Wetterhorn der Wetterhorn-Aufzug: die erste Luftseilbahn der Schweiz (1908). Ist das Wetterhorn nicht der Inbegriff eines Schweizer Bergs in der Zeit der sportlichen und ästhetischen ­Eroberung der Alpen, der Prüfstein für die Kletterkünstler wie für die Alpenmaler gleichermassen. Schon auf den idyllischen Veduten, welche die Berner Rokoko-Kleinmeister um die Wette malten, um ihre Werklein den ersten Touristen anzudienen, posiert das Wetterhorn als Alpenstar. Es wurde gemalt, bevor es erklettert wurde. Caspar Wolf war der Erste, der in seinen «Merkwürdigen Prospekten aus den Schweizer-Gebürgen und derselben Beschreibung» (1779) nicht nach dem Hübschen der Veduten, sondern nach dem Charakteristischen suchte. Joseph Anton Koch gab den ersten Schuss Romantik dazu, François Diday und Alexandre Calame überhöhten unser Wetterhorn zum romantisch-dramatisch erhabenen Helden. Bei keinem Alpenmaler aber kam der Rosenlaui-Gletscher grösser heraus als 1873 bei Johann Gottfried Steffen: gute drei Quadratmeter Leinwand. Ferdinand Hodler schliesslich, der Schweizer Nationalmaler schlechthin, unterwarf sein Wetterhorn der Wucht und den geometrischen Regeln seiner Bildgestaltung. Da strotzt jeder Fels voll Kraft und Selbstbewusstsein, nicht anders als die Muskulatur seiner Turner und Krieger. Bestimmt glaubte Hodler an Wilhelm Tell.

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16.  Schritt : Von der Grossen Scheidegg nach Grindelwald An Wochenenden dient die Grosse Scheidegg als Sportplatz. Die autofreie Postauto-Passstrasse ist ein Paradies für Biker, Gümmeler und Läufer. Slow up rund ums Jahr, solange der Asphalt aper ist. Jetzt, am frühen Samstagmorgengrauen, während wir aus Bilderund Blütensammelfreude im nächsten Ried umherstapfen, stecken die Männer der Modellfluggruppe von Gunten am Thunersee die Flügel an die Rümpfe, um ihre Träume steigen zu lassen. Kaum sind sie ausgeflogen, gehts richtig los. Auf dem Parkplatz purzelt eine Fuhre Sportler in allen Grössen und Farben aus dem Postauto. Andere überlassen das Postauto den Weicheiern. Sie kommen strampelnd, keuchend und hechelnd in den Pedalen oder zu Fuss auf dem Fahrweg von unten herauf. Regula hält sich mit der Hand den Mund zu: «Ou händ die en Chrampf!» Ein zappeliges Völklein. Kaum sind sie oben, stoppen sie ihre Uhren, vergleichen ihre Zeiten von Meiringen oder Grindelwald und wieder hinunter. Das sind, je nachdem, tausend oder tausenddreihundert Höhenmeter. Zum Trinken hängt ein Rucksäcklein am Rücken, und am Rucksäcklein ein Schläuchlein zum Dran-Saugen. Die Modellfluggruppe von Gunten steht unterdessen schon oben auf einem Hügel. Über ihren Köpfen kreisen ihre Geräte in Gelb, in Rot, in Tuttifrutti­ kunterbunt. Welche Farbe hat dein Traum? Ach, wir lassen es laufen. Einfach bergab. Bergab gehts leicht. Das weiss jeder. Es gibt weiche Knie, das ist alles. Ob es im Leben ebenso ist? Dann finge das Leben mit siebzig erst an. Sich einfach gehen lassen, solange es geht, bis ganz unten, bis achtzig vielleicht, wie Hanspeter auf dem Jochpass, oder neunzig, oder sich irgendwo vorher hinsetzen und liegen bleiben. Die Zeit stoppt dann der Arzt. Bergab auf dem alten Saumpfad läuft uns eine Athletin in Vollmontur entgegen, drahtig, grazil, sehr flink und locker trippelnd über

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Abend im Kiental: die Wilde Frau vom Naturfreundehaus Gorneren aus.

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22.  Schritt : Von der Rotstockhütte über die Sefinenfurgge auf die Griesalp Sefinenfurgge. Was das sein mag? Furgge ist klar: eine Furche, ein Einschnitt, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Tälern. Aber eine Sefine? Josephine vielleicht? Geheimnisvoll verlockend auf jeden Fall. Beim Gehen erhält sie eine Gestalt und ein Gesicht. Im Morgengrauen verliert sich der Blick im Diffusen. Das Gras am Boden ist nass vom Nebel. Kaltes Wasser aus der Röhre, im Waschraum keine Dusche. ­Bevor es tagt, sind wir unterwegs. Noch ein letztes Stück, eine steile Halde aus schwarzem, rutschigem Schiefer bergauf, und wie das oft ist auf Pässen: Von einem Schritt zum nächsten öffnet sich der Blick in eine andere Welt, in ein anderes Wetter. Der Himmel reisst auf, blau in blau, so weit das Auge reicht. Vor uns liegt das Kiental. Nach Jochpass, Grosser Scheidegg und Kleiner Scheidegg wandert der Blick einmal mehr in die Runde. Seit zehn Tagen dient uns das Wetterhorn täglich als Markstein. Heute vielleicht zum letzten Mal. Gleich unterhalb der Furgge gurgelt schon wieder Wasser durch den Schiefer. Es ist ein Gleiten und Rutschen ins Grüne hinunter, an Hütten und Wasserfällen vorbei, hinab auf die Griesalp. Schon wieder so ein Wagenkehr. Hier endet die angeblich steilste Postautostrecke Europas. Für Private ist die Weiterfahrt höher ins Tal gebührenpflichtig und beschränkt auf die kurze Alpweidesaison. Auch an diesem Wagenkehr steht ein Gasthaus, bloss wieder etwas anders als die beiden zuvor: Das Grand Hotel ist nicht wirklich gross, sondern eher ein grossartig ­gepflegtes Chalet aus der Jahrhundertwende. Mit Panoramablick kann es nicht glänzen. Dafür mit Stil und eben einem Wagenkehr. Doch das Hemdsärmlige liegt uns näher. «Geht bloss nicht ins ‹Golderli›», sagten uns Gäste gestern in der Rotstockhütte am Tisch. Die neuen Wirte dort seien so unfreundlich, als möchten sie keine G ­ äste. «Geht ins Naturfreundehaus, es ist sehr schön gelegen, Geranien auf

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Von der Rotstockhütte über die Sefinenfurgge auf die Griesalp

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der grossen Sonnenterrasse, dort seid ihr herzlich willkommen.» Also, Ziel klar: Naturfreundehaus und ein Tag Pause vom Fussgang. An der hundertjährigen Holzwand des Hauses an erhöhter Lage auf der Gorneren verkündet der Spruch von Weitem lesbar: «Hand in Hand durch Berg und Land». Die Botschaft der Solidarität seit über hundert Jahren. Im Naturfreundehaus Griesalp hat die Schweizer Arbeiterbewegung 1913 zum ersten Mal in der Schweiz ihrem naturfreundlichen Flügel ein Denkmal gesetzt. Es duftet rundum nach warmem, sonnengegerbtem Holz. «Soso, für zwei Tage», sagt die Wirtin und presst die Lippen zusammen. «Wieso, ist das nicht gut?» Sie verzieht keine Miene: «Seid ihr angemeldet?» «Nein, warum?» «Warum habt ihr euch nicht angemeldet?» «Hm, äääh …» «Wenn ihr euch angemeldet hättet, wäre jetzt ein Zimmer bereit. Jetzt habe ich keins … hm, äääh, mit bezogenen Betten.» «Ja, sollen wir gleich wieder gehen?», fragen wir, um sie nicht länger belästigen zu müssen. «Dort, unterhalb des Wegs, ist das ‹Golderli› …», sagt Regula. Sie hat dort zuvor von freundlichen Leuten ein Päcklein Mary Long gekauft. Es ist, als löse das «Golderli» einen Ruck in der Wirtin aus: «Ja, nein, ja doch, ich meine ja nur, ich brauche jetzt einfach Zeit, von wegen der Wäsche und so.» Schon recht. «Hand in Hand durch Berg und Land», denken wir – und bleiben bei Margreth. Ihre herzliche Ruppigkeit haben wir schätzen gelernt. «Vegi, Fleisch oder Allergien?», fragt sie später auf der Terrasse. «Uns ist alles recht», sagen wir, «Hauptsache, es schmeckt.» «Um halb sieben müsst ihr da sein.» Punkt. Gut zu wissen. In den Bergen weht da und dort ein besonderer Wind. Reizklima, sagen die Ärzte. Das sei gesund. Genau so sind Margreths Älplermagronen. «Im Driiizähni», erzählt sie zwischen zwei Gängen, «haben wir das Hundertjährige gefeiert.» Das Feuer im Holzherd riecht noch immer wie damals, wenn sie kocht. Wir mögen die rauchigen Düfte und

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die hundert Jahre lang ausgetretenen Riemenböden. Eine Art Xylophon, das unermüdlich seine gleichen Melodien knarren lässt, wenn man es betritt. Einzelzimmer, Zweierzimmer, Schlafsäle. So hatten sich die naturfreundlichen Arbeiter die Solidarität in internationalen Dimensionen erträumt. Im Jahr darauf wurden sie zu den Waffen an die Grenze gerufen. An was man sich nicht alles erinnert, wenn die Beine müde sind und der Kopf umso heisser. Vergessen hat die Linke das Kiental bis heute nicht. Im Saal des Hotel Bären im Tal unten sass 1916 Wladimir Iljitsch Lenin in geheimer Mission mit dem Schweizer Sozialdemokraten Robert Grimm und über drei Dutzend Ornithologen zusammen. Genossen mit einem Alibi waren es. Wie wir wissen. Erfolg hat ihnen die Camouflage nicht gebracht. Die zweite Konferenz der Zimmerwalder Bewegung blieb ohne Folgen für das Kiental, die Macht des Kapitals und für den Rest der Welt. Immerhin, für Lenin gehörte es zu einem Anfang von etwas.

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23.  Schritt : Müssiggang im Kiental Lass es la bambele. Einen ganzen Tag lang auf der Terrasse des Naturfreundehauses, das ist heute die Idee. In der Ferne rauscht ein Wasserfall im stillen Tal. Einzig der Dreiklang des Postautos tönt immer mal wieder von der Pochtenschlucht unten herauf, nicht minder heim- und fernwehsüchtig als an der Grossen Scheidegg und als das Posthorn einst in den Versen romantischer Dichter. Einiges ändert, anderes bleibt. Alpakas sind die neuen Kühe, allenthalben auf den Weiden rundum, und der Dudelsack ist das neue Alphorn. Den ganzen Morgen dudelt es von unbestimmbarer Ferne durchs Tal, nur hie und da übertönt vom Glöcklein einer Kapelle, so oft und so unüberhörbar, als wären Ziereremiten für Lohn in einem von Lancelot Capability Browns englischen Gärten am Werk. Aber wir sollten es mit eigenen Augen sehen: Es ziehen echte Betschwestern am Strick. Sie lassen es la bimbele. Wie lange müssen wir noch Beine baumeln lassen? Ein Ausflug lockt. Oder Ausgang eher. Aber vorher noch Thomas für ein gemein­ sames Wochenende vom Postauto beim Wagenkehr abholen. Dann wollen wir den Nachmittag dem Gamchibach entlang bergab bis zum Tschingelsee verbummeln. Regula und ich sind dem Bach bereits von seiner Sickerquelle an der Sefinenfurgge oben gefolgt. Wir sprangen über die Seitenbäche, die von beiden Flanken her das Rinnsal zum Bergbach anschwellen lassen, wir schauten hinunter in die Runsen, durch die sich der Gletscher einst zwängte – und jetzt, weiter hinunter durch die Griesschlucht zum Tschingelsee. Thomas steckt uns mit seiner Begeisterung an. Alles ist neu für ihn, und alles auf dem Weg den Wald hinunter wird auch für uns wieder neu: das Moos auf Stämmen und Steinen, die stiebenden, stürzenden Wassermassen, die Regenbögen in der Gischt, wenn die Sonne vom Rücken her einfällt.

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Jetzt, in diesem trockenen Sommer hat der Kalk im Wasserstaub manche Stege und Brücken, Farne und Moose grau in grau verfärbt. Kein Regen wäscht den Staub wieder weg, bis hinunter zum Tschingelsee, diesem See, der keiner mehr ist. Das reissende Wasser eines Unwetters hat ihn in den siebziger Jahren mit Schotter aufgefüllt. Seen gibt es manche, aber nicht manches so grosses, flaches, graues Schotterbett, durch das viel graues Kalkwasser mäandriert. Wir werden mit Schauen nicht fertig, das Geröll klirrt unter den Schuhen, bis wir vom letzten Postauto gerade noch den Dieselruss riechen. Schön, nun dürfen wir die Kaskaden gleich nochmals zu Fuss erleben. Diesmal von unten nach oben. Spät wirds Abend im Juli. Wir sitzen auf der Terrasse hinter den Geranien und schauen, wie sich die Berge röten. Südlich des Gamchigletschers, zur rechten Seite der Wilden Frau – eines dunklen Felsklotzes im Gegenlicht –, ist über einem Schneefeld die Blüemlisalphütte zu erkennen. Morgen wollen wir hin. Hoch oben sitzt sie im Sattel, fast tausendvierhundert Meter höher als wir, auf dem grauen Schiefer, den wir nun schon so gut kennen. Beim Spiegeln lässt sich sogar das Gerüst eines Windrads erkennen. Diesen Sattel müssen wir nehmen, wenn der Fussgang weitergehen soll. Ach, könnten sich mit dem Feldstecher Windrad und Hütte nicht nur für einen Augenblick, sondern auch für die Füsse näher heran­ holen lassen. Jetzt leuchtet die Fassade im Abendlicht, heller als zwei Tage zuvor die Wengernalp. Und jetzt, da sich die Wolken auflösen, gleisst darüber die Spitze der Blüemlisalp in blendendem Weiss. Warum die so heisst? Dieses tief vereiste Felsmassiv? Ein Euphemismus sei es, sagt man, wie an der Südspitze Afrikas das Kap der Guten Hoffnung, vor dem sich die Seeleute fürchten. Nicht dass uns Margreth eingeschüchtert hätte. Aber jetzt, am Wochenende, möchten wir auf dem Hohtürli nicht draussen vor der Tür sitzen bleiben. Die Frau am Telefon auf der Blüemlisalphütte will wissen, ob wir Wanderer oder Bergsteiger sind. Wir sind Fussgänger. Sie teilt uns bei den Wanderern ein. Welch ein Unterschied.

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24.  Schritt : Von der Griesalp zum Hohtürli Das ist «le plat de résistance». Man freut sich drauf, ist sich aber gar nicht sicher, ob der Hunger noch reicht, es zu geniessen. Erst geht es leichter als erwartet. Sich bloss keine Gedanken machen. Schritt für Schritt bis zu den Vogelnestern und dem Kaffee auf der Bundalp, und weiter und höher hinauf bis in den Schiefer, steiler und rutschiger als auf der Sefinenfurgge vorgestern. Hinein in die Schneefelder, die schon von der Griesalp aus in der Sonne gleissten. Bloss immer langsam bleiben. Fussgang ist kein Sport, das sagen wir uns gerne, besonders wenn er dazu ausarten könnte. Langsam. Oft werden wir wohl nicht wieder Gelegenheit haben, nochmals zu kommen. Die Gipfel rundum werden mit jedem Schritt etwas niedriger, und mit dem Horizont sinkt auch das Kiental tiefer und tiefer hinab. Siehst du das Naturfreundehaus noch? Roger und Sonja haben gestern Abend am Tisch auf der Terrasse versprochen, uns zu spiegeln und zu winken. Thomas hat eine neue Uhr. Wie spät es ist, brauchen wir nicht zu wissen, aber die neue Uhr weiss auch, wie hoch wir sind. 1920 Meter sagt er, mitten in einer Bergwiese drin. Klar. Dann haben wir noch 920 Meter über uns. Je höher wir steigen, umso schwerer tue ich mich mit Zahlen. Wo haben wir die Hälfte zwischen 1450 und 2840? Also. 1390 Meter Höhenunterschied, geteilt in zwei sind 695. Ob das schon die Hälfte ist? Rechnen wird so schwierig, wenn der Atem kürzer, die Luft dünner und der Mensch älter wird. Also haben wir nun schon die ­Hälfte? … Egal. «Wie hoch, Thomas, hast du gesagt, sind wir?» «Schon wieder etwas höher. Moment, ich schaue nach … 2480.» «Und Thomas, wie heiss hat deine Uhr?» «Moment. 28,4 Grad.» «Danke.» Einfach weitergehen. Schritt für Schritt, jenseits von Zahlen, zurück in die Steinzeit. Irgendwo über der Waldgrenze haben wir das Rad abgeschafft. Je höher hinauf in die nackten Felsen wir

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Auf den Rochers de Naye an der Wasserscheide zwischen Nordsee und Mittelmeer.

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Zu guter Letzt Unser Fussgang verpflichtet zu nichts. Aber er lässt die Freiheit, es nicht zu lassen. Wir sind nicht im Namen von jemandem oder etwas unterwegs. Wir retten kein Korallenriff, wir sammeln nicht für Seepferdchen und kämpfen nicht für oder gegen Bananen. Wir setzen ­unser Leben nicht für Red Bull aufs Spiel und überlassen es Ihnen, ob Micky Maus oder Superman Präsident werden soll. Wir schreiben, was wir erlebt und gehört haben, übernehmen aber keine Gewähr für alternative Passagen durch die parapsychologische Welt. Wir machen niemandem nichts vor und haben auch keine Botschaft. Wir gehen einzig und allein zu Fuss, weil wir es uns wert sind, und weil wir die Welt zu nehmen versuchen, wie sie ist, bis wir eine bessere haben. Hoppla, war das nicht doch eine Botschaft? Gut, auch wir haben einen Stein abzulegen. Jeder den seinen. Falls wir unterwegs nach Santiago de Compos­ tela in Foncebadón dem Cruz de Ferro begegnen, denken wir dran. So mancher kommt nach einem weiten Weg ein bisschen als ein anderer heim. Wir haben uns nicht mehr als ein paar Schritte von zu Hause entfernt und haben doch ein Gefühl, als hätten wir die Welt umrundet.

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M. Maeder, R. Jaeger

fuss gang Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz

ISBN 978-3-03810-346-2

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NZZ Libro

Fussgang

In Text und Bildern halten Markus Maeder und Regula Jaeger fest, was sie zu Fuss in sieben Etappen und vier Jahreszeiten erleben. Dem nörd­ lichen Alpenkamm entlang überqueren sie auf Bergwegen und Saumpfaden rund ein Dutzend Pässe vom Zürichsee bis nach Genf. Dabei erkunden die beiden Fussgänger in beiläufigen Gesprächen und Beobachtungen am Wegrand, wie die Leute abseits der Städte ihren Alltag erleben. Eine Momentaufnahme der Schweiz, wie sie in keinem Wanderbuch steht.

Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz

«Heute ist mein Geburtstag, und den wollen wir feiern, rund ums Jahr, gut und gern, hin und her, auf und ab, über alle Berge bis nach Genf. Nichts als den Himmel über uns und festen Boden unter den Füssen.»

Markus Maeder  Regula Jaeger

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