Martin Meyer (Hrsg.): Multipolare Welt.

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SIAF Bd. 45

Dieser Band enthält die Vorträge, die im Frühjahrs- und Herbstsemester 2018 am Schweizerischen Institut für Auslandforschung gehalten wurden. Eine Reihe von hochkarätigen Gastvortragenden referierte zum Thema «Multipolare Welt». Zur Diskussion standen aktuelle politische Entwicklungen und Herausforderungen sowie die Perspektiven der Demokratie mit Fokus auf Europa. Weitere Themen: Frankreich unter dem neuen Präsidenten, die Rolle Deutschlands und die der Schweiz in Europa.

Jahrbuch 2018

Multipolare Welt Herausgegeben von Martin Meyer

Yoshihiro Francis Fukuyama Populism, Identity and the Future of the Liberal World Order Sigmar Gabriel Europa in einer unbequemen Welt Christian Lindner Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland Andreas Rödder Verwerfungen der Gegenwart: Die Krisen des frühen 21. Jahrhunderts in historischer Perspektive Peter Sloterdijk Politik in Masken – Über das Demokratie-Dilemma Michaela Wiegel Ein Jahr Emmanuel Macron

Martin Meyer (Hrsg.)

Andrzej Sebastian Duda The Future of Europe – The Foundations of Unity of the States of Europe

Multipolare Welt

Ignazio Cassis Die Schweiz in Europa

MIT BEITRÄGEN VON

Ignazio Cassis, Andrzej Sebastian Duda, Yoshihiro Francis Fukuyama, Sigmar Gabriel, Christian Lindner, Andreas Rödder, Peter Sloterdijk, Michaela Wiegel

ISBN 978-3-03810-447-6

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783038

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www.nzz-libro.ch

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NZZ Libro 22.07.19 09:51


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Lektorat: Sigrid Weber (deutsch) und Ashley Curtis (englisch) Umschlaggestaltung: GYSIN [Konzept+Gestaltung], Chur Titelbild: REUTERS, Y   uriko Nakao Gestaltung, Satz: Mediengestaltung Marianne Otte, Konstanz Druck, Einband: Druckhaus Nomos, Sinzheim Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-447-6 ISBN 978-3-03810-459-9 (E-Book) www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.


Inhalt

Vorwort 7 Michaela Wiegel Ein Jahr Emmanuel Macron 9 Peter Sloterdijk Politik in Masken – Über das Demokratie-Dilemma 30 Christian Lindner Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland 50 Andrzej Duda The Future of Europe – The Foundations of Unity of the States of Europe 69 Sigmar Gabriel Europa in einer unbequemen Welt 79 5


Inhalt

Ignazio Cassis Die Schweiz in Europa 102 Andreas RĂśdder Verwerfungen der Gegenwart: Die Krisen des frĂźhen 21. Jahrhunderts in historischer Perspektive 119 Francis Fukuyama Populism, Identity and the Future of the Liberal World Order 139 Autoren und Herausgeber 155

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Vorwort Multipolarität ist das Kennzeichen der heutigen Welt, sowohl in politischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Damit schmelzen auch Vorstellungen und Handlungsmuster ein, die über Jahrzehnte für Orientierung sorgen konnten. Die Verwerfungen und Ausdifferenzierungen im Politischen betreffen insbesondere die labilen Gleichgewichte im Wechselverhältnis zwischen den USA, Europa und China. Aber auch über diesen Fokus hinaus ist zu beobachten, dass die heutige Welt immer mehr von schwer überschaubaren Bündnissen und Konfliktzonen geprägt ist: Man denke etwa an die Regionen des Mittelmeerraums oder auch an den Mittleren Osten. Wie immer war es Aufgabe des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung, auch im Jahr 2018 mit der Einladung kompetenter Rednerinnen und Redner Orientierung über das Weltgeschehen zu vermitteln. Den Auftakt machte die Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Paris, Michaela Wiegel, indem sie eine durchzogene Bilanz des ersten Regierungsjahrs von Emmanuel Macron präsentierte. Mehr ins Grundsätzliche unseres modernen Verständnisses von Demokratie zielte der Vortrag des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Peter Sloterdijk, der sich auch dem zunehmend stärker um sich greifenden Phänomen des Populismus widmete. Die Reporterin der Washington Post und Buchautorin Souad Mekhennet tauchte ein in die Welt des Dschihad, mit der sie als investigative Journalistin bestens vertraut ist. Leider konnte ihr frei gehaltenes Referat aus verschiedenen Gründen und letztlich auch aus Sicherheitsgründen nicht in 7


Vorwort

dieses Jahrbuch aufgenommen werden. Dasselbe gilt mutatis mutandis für den Vortrag des weitherum bekannten und geschätzten Ökonomen Hans-Werner Sinn, der sich dem Thema «Trump, Brexit und Eurokrise» stellte und dabei vor allem mit Blick auf die Europäischen Staatsverschuldungen ein ziemlich düsteres Bild zeichnete. Christian Lindner, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, sprach anschliessend zur aktuellen politischen Lage in Deutschland, das sich zunehmend von divergierenden Kräften und Absichten gekennzeichnet sieht. Auch unser Herbstsemester brachte wieder eine ganze Reihe spannender Gäste, so etwa den ehemaligen deutschen Aussenminister Sigmar Gabriel mit einem Vortrag über Europa in einer unbequemen Welt, den Chef der Schweizerischen Aussenpolitik, Bundesrat Cassis, mit einer ähnlichen Perspektive im Verhältnis unseres Landes zu Europa, sodann den in Mainz lehrenden Historiker Andreas Rödder, der sich die Krisen des 21. Jahrhunderts auch aus historischer Perspektive vornahm, und schliesslich Francis Fukuyama, den berühmten Politphilosophen der Theorie vom Ende der Geschichte mit einem Vortrag über Bedeutung und Wert von Identität in den heute multimobil gewordenen Gesellschaften. Die traditionelle Churchill-Lecture gab in diesem Jahr Andrzej Duda, Präsident der Republik Polen. Alle Veranstaltungen waren hervorragend besucht. Wir danken allen Partnern, den Referierenden und auch einer Öffentlichkeit, die uns nach wie vor die Treue hält. Zürich, im März 2019 Dr. Martin Meyer, Präsident des Vorstands SIAF (Alle Texte geben mündlich gehaltene Vorträge wieder und sind in diesem Sinn als niedergeschriebene Reden zu verstehen.)

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Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland Christian Lindner Vortrag vom 23. Mai 2018

Die Antwort auf die Frage «Wie ist die politische Lage in Deutschland?» ist zunächst ganz einfach: Wir haben eine Regierung. Und das will in diesen Tagen etwas heissen. Die Regierungsbildung hat in Deutschland aus Gründen, auf die ich später noch eingehen werde, eine Zeit gedauert. In dieser Phase konnte man mentalitätsgeschichtlich etwas über die deutsche Seele lernen. Alle haben sich die Frage gestellt, wann es endlich eine Regierung gibt. Die Debatte drehte sich nicht um deren Aufgaben. Die Frage war stets: «Wann gibt es eine Regierung?» Wir wollen regiert werden. Die öffentliche Ordnung ist in Deutschland auch ohne Regierung nicht zusammengebrochen. Dieser Durst danach, endlich regiert zu werden, ist unerklärlich. Ein paar Monate ohne neue Steuern, Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Subventionen haben das öffentliche Leben nicht zum Erliegen gebracht, denn wir haben bereits einige Steuern, Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Subventionen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass sich Belgien am besten in den zwei Jahren entwickelt hat, in denen es überhaupt keine Regierung hatte. Die Deutschen jedoch wollen unbedingt regiert werden. Vielleicht 50


Christian Lindner

sollte das auch eine Lehre sein: Wichtiger als regiert zu werden, ist eigentlich das, was man selbst in dieser Zeit tun kann, was man selbst mit dieser Lebenszeit anfangen kann. Mein Eindruck von der Schweiz ist, dass hierzulande die Mentalität eher auf die Frage der Selbstverantwortung, des Respekts vor privatem Eigentum und der privaten Initiative hindeutet. Deshalb bin ich so gerne hier. Die Schweizer haben den Gesslerhut nicht gegrüsst, die Deutschen hätten salutiert, und das macht mentalitätsgeschichtlich etwas aus. Das beeindruckt mich. Restlos begeistert wäre ich, wenn es hierzulande eine Prise mehr Weltoffenheit und europäischen Geist geben würde. Käme das noch dazu, dann würde ich übersiedeln. Deutschland hat eine Regierung. Eine grosse Koalition, es wurden keine karibischen Experimente gewagt. Das Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen Union, Grünen und FDP hat in Deutschland zu einer Diskussion über Kompromissfähigkeit geführt. Fortwährend wurde zum Ausdruck gebracht, Demokraten müssten kompromissfähig sein. Dem ist grundsätzlich beizupflichten. Der soziale Friede und die politische Kultur einer Gesellschaft erfordern einen Grundkonsens, insbesondere hinsichtlich der Institutionen und Verfahren, denn diese sichern die Legitimität von Regierungshandeln. Dass bestimmte Fragen und Krisen ausgenommen werden, um aus ihnen leichtes politisches Kapital zu schlagen, auch das gehört zum demokratischen Grundkonsens. Nicht darunter fällt jedoch, jede beliebige Regierung zu bilden. Denn aus der Addition von Parlamentssitzen wird noch kein Konzept für die zukünftige Richtung einer Gesellschaft. Das wird in Deutschland aus Gründen der Machtauseinandersetzung gelegentlich unter den Tisch gekehrt. Bei den Gesprächen zwischen Union, FDP und Grünen über eine Zusammenarbeit musste es um Inhalte gehen. Die Grünen in Deutschland sind eine selbsterklärte linke Partei. Das heisst, sie glauben, in die Geheimnisse der Geschichte eingeweiht zu sein, und wissen ganz genau, wie sie ihr Leben zu führen haben. Für diejenigen, die kein Einsehen haben, wird es Gebote geben, die 51


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

sie in die richtige Richtung lenken. Unterschiede in der Gesellschaft werden als Auftrag betrachtet, sie zu nivellieren. Die Idee ist nicht Freiheit, sondern Gleichheit. Was ich leicht karikierend dargestellt habe, kann man wählen und ist ein legitimes politisches Angebot. Die Freien Demokraten sind eine Formation, die angetreten ist, um die Menschen von bürokratischen Fesseln und finanzieller Überforderung zu befreien. Sie wollte die Menschen aufrufen, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, wollte die Hürden reduzieren für unternehmerisches Engagement, für neue Technologien und neue Köpfe und dafür das Land öffnen. Die Grünen sind angetreten, um die Menschen zu erziehen. Die FDP ist angetreten, die Menschen zu befreien. Die CDU wollte gar nichts. Und das ging nicht zusammen. Unter Demokraten gibt es nicht nur die Pflicht zum Kompromiss, sondern auch die Notwendigkeit einer Kontroverse. Demokratie lebt von Unterschieden. Eine freie, gleiche und geheime Wahl wäre entkernt, wenn am Ende immer eine Regierung unter Frau Merkel herauskäme. Demokratie lebt auch davon, den Unterschied respektvoll, ritterlich zu betonen und im Zweifel Nein zu sagen zu einer Regierung, die einen dazu zwingt, wortbrüchig gegenüber den eigenen Wählerinnen und Wählern zu werden. Ich glaube, rechtspopulistische Parteien wurden stark, weil das Spektrum der etablierten Parteien als abgehoben und nicht mehr unterscheidbar wahrgenommen wurde. Wenn also das Scheitern einer Regierungsbildung der Jamaika-Koalition einen Vorteil hat, dann den, dass der Vorwurf, etablierte Parteien interessierten sich nur für Dienstwagen und würden sich nach der Wahl nicht mehr daran erinnern, was sie vor der Wahl gesagt haben, entkräftet wurde. Diese Vorhaltung gegenüber der etablierten Politik ist widerlegt worden, weshalb der Verzicht auf eine Regierungsbildung vielleicht auch eine Investition in die zukünftige Handlungsfähigkeit unserer Demokratie gewesen ist. Sehen wir uns jetzt die verschiedenen politischen Richtungen an, die Fragen, die zur Entscheidung anstehen und die in Deutschland zu 52


Christian Lindner

Konflikten geführt haben. Ich möchte gerne drei Themen hervorheben, weil diese gerade auch für die Schweiz von Bedeutung sind. Zum ersten Thema. Deutschland steht wirtschaftlich hervorragend da. Und so sehen wir uns auch. Wir halten uns für enorm stark und die Zahlen am Arbeitsmarkt und die Situation der öffentlichen Haushalte geben allen, die das so sehen, genügend Belege an die Hand. Der Indikator der Aussenhandelsbilanz trügt. Unser Land hat zwar einen Aussenhandelsüberschuss, doch das auf den Weltmärkten erwirtschaftete Kapital wird nicht mehr hierzulande investiert, sondern fliesst, als Direkt- oder Anlageinvestition, ins Ausland. Und darin liegt der eigentliche Indikator für Wettbewerbsfähigkeit. Wir sind gegenwärtig ökonomisch stark. Aber wie sähe es aus, hätte Deutschland eine Mark, die so stark ist wie der Schweizer Franken, und nicht einen Euro, der bezogen auf die Wirtschaftsleistung zu schwach ist? Wir erleben einen aus politischen Gründen niedrig gehaltenen Zins, die Veränderung des weltwirtschaftlichen Umfelds durch drohende Handelskriege, das selbstbewusst auftretende China, Disruptionen im technologischen Bereich, wie die Digitalisierung, die noch gar nicht vollständig hinsichtlich der Wertschöpfungsketten durchdacht sind, oder auch die Alterung der Gesellschaft. Das heisst, die gegenwärtige wirtschaftliche Stärke könnte sich als eine Wohlstandshalluzination herausstellen, weil sie eben nur gegenwärtig besteht. Ich fürchte, die Lage in der Schweiz ist nicht fundamental anders. Und deshalb bin ich beeindruckt von den Steuersenkungen, die die Regierung beschlossen hat. Ich bin beindruckt von der Liberalisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Ich bin beeindruckt von den Investitionen der Regierung in neue Technologien. In Frankreich. Die Rede ist von Frankreich. In Frankreich hat man die Zeichen der Zeit erkannt und nutzt die Gelegenheit, um das Land zur Öffnung neu aufzustellen. Etwas Vergleichbares gab es in der Politik Gerhard Schröders: die Agenda 2010. Ob man jede Massnahme der französischen Innenpolitik teilt, ist ein anderes Thema, aber in Frankreich gibt es eine Aspiration für V   erän53


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

derung. Während Macron die Steuern senkt, erhöht die grosse Koalition in Deutschland die Steuern. Die Bürokratie, die Macron abbaut, wird in Deutschland gerade aufgebaut. In der gleichen historischen Sekunde wird Frankreich ein Stück deutscher und Deutschland ein Stück französischer. So haben wir uns die deutsch-französische Annäherung nicht vorgestellt. Bei aller Zuneigung zu dieser Grundachse der europäischen Verständigung hätten wir uns als Deutsche inspirieren lassen sollen von dieser vibrierenden Tatkraft unseres Nachbarn, um unsererseits wesentliche Fragen anzugehen. Es gälte, die Flexibilität der Arbeitsmärkte wieder zu erhöhen, das Bildungssystem geländegängig zu machen, auch für lebensbegleitende Lernphasen. Wir hätten die privaten Investitionen in Deutschland stärken müssen, besonders im Mittelstand, der angesichts der Digitalisierung einen enormen Modernisierungsbedarf hat. Ich möchte die innenpolitische Agenda, was in der Sache zu tun ist, hier beim Schweizer Publikum nicht weiter ausdehnen, doch es wäre eine Erneuerungsagenda nötig gewesen. Während Macron ein Digitalisierungsministerium eingerichtet hat, hat Deutschland ein Heimatministerium bekommen. In Deutschland heisst es, die Konsequenz auf die letzte Bundestagswahl müsse ein enormes Ausgabenprogramm sein, insbesondere im sozialen Bereich. Die Mütterrente ist ein deutsches Thema, die nichts an der Altersarmut verändert, weil sie mit der Giesskanne über alle ausgeschüttet wird. Allein bis 2021 soll sie 11 Milliarden Euro kosten. Zum Vergleich: Für die Digitalisierung des Bildungswesens gibt es 3,5 Milliarden Euro. Das treibt einen Keil ins Generationenverhältnis und spielt die Grossmutter gegen ihre Enkel aus. Deshalb wäre ein Moratorium für Sozialleistungen zu beschliessen, bis die bisherigen Leistungen auch in einer älter werdenden Gesellschaft auf Dauer finanziert werden können. Stattdessen: Milliardenausgaben für Soziales als Ergebnis der Bundestagswahl, Milliarden für Soziales, um populär zu werden. Dieses Prinzip, das in der gegenwärtigen Politik in Deutschland verfolgt wird, ist mir aus einem anderen Kontext bekannt. 54


Christian Lindner

Ich komme aus dem Rheinland, aus der Nähe von Köln. Am Rosenmontag fahren Karnevalswagen durchs Rheinland und Süssigkeiten werden von den Wagen geworfen.Vor drei Jahren hatte ich das erste Mal das Privileg, auf einem solchen Wagen mitzufahren. Zu Beginn der Fahrt riss ich also einen solchen Karton mit Bonbons, wir nennen sie Kamellen, auf, nahm einzelne Kamellen heraus, visierte Passanten an und warf sie ihnen zu, sodass sie die Bonbons fangen konnten. Die Passanten haben die Kamellen zwar gefangen, doch ihre Reaktion war Fassungslosigkeit. Mit der Zeit griff ich tiefer in den Karton und warf die Kamellen mit vollen Händen an den Strassenrand.Viele Kamellen sind auf den Boden gefallen, doch es wurde freundlich zurückgeworfen. Auf den letzten Metern riss ich die Kartons auf und schüttete sie über dem Publikum aus. Alle Kamellen fielen auf den Boden, doch die Leute am Strassenrand jubelten. Kommt Ihnen das bekannt vor? Das ist das Prinzip der grossen Koalition. Mit dieser Strategie kann man beim Karneval populär werden, doch die grösste Volkswirtschaft in Europa kann man so auf Dauer nicht führen. Wer glaubt, die Verteilung des einmal erreichten Wohlstands sei die letzte verbliebene Aufgabe der Politik, hat bereits damit begonnen, diesen Wohlstand zu verspielen. Teil einer solchen Politik konnten und wollten wir nicht sein.Wir sind Vertreter einer Agenda 2030. Zum zweiten Thema, zur politischen Lage in Deutschland, muss man vorab etwas begreifen. Auf der internationalen Bühne und in Europa ist Deutschland gegenwärtig bewegungsunfähig und ohne klare Linie. In Europa ist spätestens nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union das eingetreten, was die europäischen Mächte seit ein paar hundert Jahren zu verhindern versuchten: dass die Mittelmacht Deutschland eine zentrale Gelenkfunktion einnimmt. Daraus ergibt sich eine grosse Verantwortung, nicht nur als ökonomisches Powerhaus, sondern auch aufgrund der Softpower, der Bevölkerungsgrösse, allein aufgrund der geostrategischen Position unseres Landes. 55


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

Auf der internationalen Bühne ist ebenfalls eine Zeitenwende eingetreten, mit der wir uns gegenwärtig konfrontiert sehen. Deutschland ist eine Exportnation: Wir profitieren davon, dass wir im Ausland unsere Waren verkaufen können. Doch es droht ein Handelskrieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Herr Trump sagt Verstörendes und entscheidet Verstörendes. Doch das darf nicht zum Anlass genommen werden, einen in unseren Gesellschaften ohnehin latent vorhandenen Antiamerikanismus erst recht so auszulegen. Die Fehler, die im Verhältnis zu Russland gemacht wurden, dürfen jetzt nicht mit den USA wiederholt werden. Denn wenn es grosse Bewertungsunterschiede gibt, dann muss man umso intensiver miteinander sprechen und den Dialog pflegen. In einem Satz gesagt:Was aufgebaut wurde in Jahrzehnten transatlantischer Partnerschaft, darf und kann Herr Trump in vier oder acht Jahren nicht zerstören. Doch in Deutschland gibt es in dieser Zeit der handelspolitischen Auseinandersetzung noch nicht einmal eine Bereitschaft, das CETAFreihandelsabkommen (Comprehensive Economic and Trade Agreement) mit Kanada zu ratifizieren. Mit wem sollen wir denn noch freien Handel treiben, wenn nicht mit den Kanadiern? Die Kanadier haben einen Premierminister, der von sich selbst sagt, er sei ein Feminist, und der im Parlament wegen der Verfolgung von Minderheiten vor 100 Jahren öffentlich glaubwürdig zu Tränen gerührt ist. Was ich damit sagen möchte ist: dass die Kanadier hinsichtlich ökologischer und sozialer Standards die europäischste Nation ausserhalb Europas sind.Wenn wir mit ihnen keinen freien Handel treiben, mit wem dann? Es ist ein spezifisches Problem Deutschlands, der Exportnation Nummer eins in Europa, dass die Skepsis gegenüber dem Freihandel besonders gross ist. Freihandel ist eine Wohlstandschance. Die Linken setzen auf Abschottung, weil sie glauben, die Globalisierung sei ein Programm zur Verarmung. Die Wahrheit ist, dass die Globalisierung ein Programm der weltweiten Arbeitsteilung ist, das auch Schwächeren erlaubt, Schritt für Schritt einen höheren Wohlstand zu erreichen, wenn die Regeln stimmen. 56


Christian Lindner

Freihandelsabkommen sind Chancen, der Globalisierung Regeln zu geben. Wir können nicht darauf warten, bis China, Amerika, Europa und Afrika sich auf Regeln einigen. Also müssen diejenigen, die gleiche Werte und Interessen haben, vorangehen und der Globalisierung Regeln geben. Das heisst, gerade jetzt wäre die Notwendigkeit da, die Öffnung, den Freihandel, die Regeln für den freien Welthandel neu zu definieren. Und stattdessen herrscht in meinem Land eine geschmäcklerische Ablehnung vor. Die Grünen wollten uns als freie Demokraten dazu zwingen, dass CETA nicht ratifiziert wird. Die grosse Koalition hat sich zwar auf einige nebulöse Formulierungen dazu geeinigt, aber die Antwort auf Trump wäre ein offensives Bekenntnis zu freiem Handel, das Aufzeigen von Alternativen mit beispielsweise Japan oder Kanada. Danach könnte das Gespräch über einen Deal mit den USA stattfinden, wenn man zuvor glaubwürdig demonstriert hat, dass man an anderen Stellen für diesen freien Handel Entscheidungen getroffen hat. Im Verhältnis zu Russland hat unsere Regierung leider auch ein Problem. Viele Deutsche glauben, sie stünden in ihrer Mentalität Russland näher als den Vereinigten Staaten. In unserem Land gibt es immer noch die romantische Vorstellung, Deutschland könnte eine neutrale Position zwischen Russland und den USA einnehmen. Eine solche Auffassung entspricht einer Schaukelpolitik des 19. Jahrhunderts. Natürlich haben wir ein Interesse an einem guten, stabilen Verhältnis zu Russland. Aber um die Entspannung eines Verhältnisses bemühen kann sich doch nur jemand, der sich seines eigenen Standorts bewusst ist. Deutschland ist in die transatlantische Partnerschaft und in Europa fest eingebunden. Russland hat seinen Platz in diesem Haus Europa - aber nur dann, wenn es sich an die Hausordnung hält. Konkret heisst das, dass es die Standards des Völkerrechts achtet und nicht bedrohlich gegenüber europäischen Nationen auftritt. Die deutsche Position zu Russland ist alles andere als geklärt. Der ehemalige deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel war der Meinung, dass alle Russlandsanktionen fallen zu lassen seien. Sein Nachfolger, 57


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

ebenfalls ein Sozialdemokrat, forderte keinen zusätzlichen Dialog und mehr Härte. Innerhalb von wenigen Monaten und unter der Führung unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde so eine 180-GradWende vollzogen. Der Ost-West-Gegensatz wurde durch eine Kombination von eisernen Konsequenzen und Dialogbereitschaft überwunden. So hatten der KSZE-Prozess, der Helsinki-Prozess und der NATO-Doppelbeschluss immer beide Komponenten vor Augen. Auf der einen Seite geht es darum, kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen, und auf der anderen Seite um immer neue Angebote des Dialogs und der Entspannung, denn niemand wird einem autoritären Führer wie Putin einen Gesichtsverlust beibringen. Das kann er sich aus innenpolitischen Gründen gar nicht leisten. Deshalb muss man die Möglichkeit schaffen, sukzessive Spannungen abzubauen. Leider hat Deutschland dazu gegenwärtig keine Ideen ins Gespräch mit Europa einzubringen. Und damit bin ich beim letzten Aspekt: der Bewegungslosigkeit dieses Landes in aussenpolitischen Fragen, und das ist der Umgang mit Europa selbst. In den letzten Jahren ist etwas Faszinierendes passiert. Wenn wir uns daran erinnern: 2016 hatte Europa Angst vor einem unaufhaltbaren Siegeszug der autoritären Bewegungen. Der Brexit und Trump hatten gezeigt, wie autoritäre Politiker die Bevölkerung verführt haben. Man mochte glauben, im Jahr 2017 stünde bei den anstehenden drei wesentlichen europäischen Wahlen ebenfalls ein Siegeszug der autoritären Bewegungen an. Diese autoritären Bewegungen versuchten, die Angst vor dem Wandel zu schüren und zu instrumentalisieren, um auf Protestwellen in die Parlamente zu kommen. Das ist nichts anderes als ein Geschäftsmodell, das gut funktioniert hat. Man dachte, dass in Frankreich mit Le Pen und in den Niederlanden mit Wilders Ähnliches anstehen könnte. Doch nun ist das Faszinierende passiert. In den Niederlanden mit Mark Rutte und in Frankreich mit Emmanuel Macron haben Politiker nicht an die Ängste appelliert und auf Abschottung gesetzt. Stattdessen haben sie an den 58


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Mut, die Offenheit und die Veränderungsbereitschaft der Menschen appelliert und mit diesem offensiven Bekenntnis zur Veränderung, zur Reform, zur Offenheit, zur Individualität und Liberalität auch Mehrheiten gewonnen, weil sie nicht ängstlich und zögerlich gewesen sind. Wenn Sie mir eine kurze methodische Fussnote gestatten: Rein psychoanalytisch kann man Parteien und Politiker in drei Kategorien einordnen. Unter die erste Kategorie fällt der Politiker, der die Ängste des Volkes teilt. Er ist nur zu sehr kleinen Schritten in der Lage. In Deutschland hat sich dazu die Metapher von der «Seefahrt auf Sicht» eingebürgert. Ich nenne diese Art von Politiker die Amtsperson oder den Amtsverweser. Die zweite Kategorie von Politikern sind diejenigen, die die Ängste der Bevölkerung nutzen und schüren wollen. Das sind die Demagogen. Die dritte und spannendste Kategorie von Politikern sind diejenigen, die die Ängste der Bevölkerung kennen, sie aber nicht teilen und auch nicht schüren, sondern Versuche unternehmen, die Menschen durch Vision und Mut aus ihrer Verspanntheit und ihren Ängsten zu befreien und ihren Horizont zu weiten. Und das Faszinierende ist, dass der Beweis erbracht ist, zweimal sogar, in Frankreich und in den Niederlanden, dass man mit der Haltung und Einstellung der dritten Kategorie von Politikern Wahlen gewinnen und die innere Temperatur einer Gesellschaft verändern kann. Wir müssen den autoritären und rechtspopulistischen Bewegungen nicht das Feld überlassen. Wenn wir auf sie antworten, kann die Antwort nur auf der anderen Seite, nämlich der Betonung von Offenheit und Dynamik liegen. Es gibt jetzt Herrn Macron und er macht nicht nur für sein Land, sondern auch für Europa Vorschläge, interessante Vorschläge. Er spricht davon, dass wir eine europäische Verteidigungsgemeinschaft brauchen. In den 1950er-Jahren ist ein solches Projekt am Veto eines französischen Präsidenten gescheitert, und jetzt kommt ein französischer Präsident und sagt, Trump habe recht, wir Europäer müssten mehr für unsere Verteidigung tun. Wir erreichen das auch effektiv und mit weniger Einsatz von Finanzmitteln, wenn wir 59


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die Verteidigung gemeinschaftlich organisieren. Und die Antwort aus Deutschland auf dieses Projekt ist: keine. Ich finde, bei den Fragen, bei denen es einen europäischen Mehrwert gibt – und die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik gehört gewiss dazu –, bei denen durch gemeinschaftliches Handeln Mehrwert generiert wird, dort müssen wir diesen Mehrwert auch realisieren. Prosaischer gesagt, nachdem in den 1950er-Jahren diese grosse Gemeinschaftsaufgabe am französischen Veto gescheitert ist, darf der Kontinent sein Rendezvous mit der Geschichte nicht verpassen. Ob es ein drittes Mal geben wird, steht in den Sternen. Macron macht viele solcher Vorschläge und erhält darauf keine Antwort, keine klare Antwort. Er macht Vorschläge zur Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Auch darauf bekommt er keine klare Antwort. Und das veranlasst ihn zu glauben, dass seine Vorschläge Aussicht auf Realisierbarkeit haben. Ich habe mit dem französischen Finanzminister gesprochen, der sagt, dass sie das alles hinkriegen, denn sie seien im Prinzip mit ihren deutschen Verhandlungspartnern handlungseinig. So tut sich die Frage auf: Mit welchen Verhandlungspartnern? Man hätte ihm sagen müssen, dass es keine Aussicht auf die Vergemeinschaftlichung von Finanzen, Schulden und Risiken in Europa gibt und dass man sich deshalb auf die näherliegende erreichbare Verbesserung unserer Wirtschafts- und Währungsunion konzentrieren kann und muss. Die Stärkung privatwirtschaftlicher Investitionen, eine gemeinsame Insolvenzordnung im privaten und im öffentlichen Bereich, das stärkt den Binnenmarkt und diszipliniert öffentliche Kreditnehmer. Man hat ihn im Glauben gelassen, dass das, was er sich vorstellt, vom Investitionsbudget für die Eurozone bis zum europäischen Finanzminister, irgendwie möglich sei. Aus Deutschland kommt keine klare Antwort. Und warum nicht? Weil unsere Bundeskanzlerin zwischen CSU und SPD gefangen ist, die Populisten auf der Strasse fürchtet und sich deshalb gar nicht bewegt. Das ist die schlechteste aller Optionen, weil wir dadurch Zeit 60


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verlieren. Ich habe deshalb bei unserem Parteitag Frau Merkel aufgefordert, mal eine deutsche Position zu formulieren. Herr Macron hat aus französischer Perspektive sein Wunschprogramm aufgeschrieben und wartet auf die deutsche Antwort, um danach über eine Lösung zu diskutieren und in einem zweiten Schritt dann mit anderen in Europa eine gemeinsame Position zu verhandeln. Aber Deutschland ist unter die Trappisten gegangen und hat sich ein Schweigegelübde in dieser Sache auferlegt. Oder anders gesagt: Es gibt mindestens vier Meinungen in einer Regierung, und das schafft nicht die Stabilität, die wir brauchen. Ein letzter Gedanke dazu: Viele in Deutschland glauben, dass die Vergemeinschaftung von Schulden, Risiken und Finanzen in Europa besonders europafreundlich ist. Man müsste Herrn Macron einen Gefallen tun, einen Erfolg gönnen auf der europäischen Ebene, damit er in der Innenpolitik den Rücken frei hat. Angenommen, die Kunden von deutschen Sparkassen und Volksbanken müssten für private Banken in Venedig, die vollgesogen sind mit den Staatsanleihen Italiens, haften. Wer von Ihnen glaubt, dass das ein Beitrag zum europäischen Gemeinschaftsgefühl ist und zu grösserem Institutionenvertrauen führt? Tatsächlich wäre das Gegenteil der Fall: Dies würde die Fliehkraft in Europa politisch erhöhen. Es wäre ökonomisch unklug, die Illusion zu nähren, jeder könne auf Kosten aller wirtschaften. Ein solches Konzept wird uns nicht aus der Krise hinaus-, sondern tiefer in sie hineinführen. Da Sie Hans-Werner Sinn in dieser Veranstaltungsreihe zu Gast hatten, muss ich dieses Thema nicht weiter ausführen. Ich schätze ihn als Analysten sehr, doch anstelle seiner Therapien empfehle ich Alternativen. Ich glaube, dass der stabilitätsorientierte Weg, wie ihn beispielsweise Frankreich geht, auch für andere ein Weg sein wird – das heisst, dass man Institutionen und Regeln stärkt, Schulden langsam abbaut, wirtschaftliches Wachstum durch private Investitionen anregt usw. Herrn Macron ist kein Gefallen getan, wenn man die Illusion nährt, unhaltbare Wahlkampfversprechen könnten auf Pump finan61


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ziert werden und Europa hafte dafür. Man stärkt Macron nicht, sondern ermuntert die Beppe Grillos in Europa. Das wird unsere Wettbewerbsfähigkeit im Konzert mit den USA und China nicht stärken, sondern uns auf der Stelle treten lassen. Das dritte und letzte Thema zur politischen Lage in Deutschland betrifft die Frage, von der ich glaube, dass sie zu jeder Zeit und an jedem Ort auf der Welt Gesellschaften zu spalten vermag. Es ist die Frage der Migration, mit der Verteilungs- und Verdrängungsfragen sowie Fragen der kulturellen Identität verbunden sind und die grösste politische Sprengkraft birgt. 2015 hat die Bundeskanzlerin für Deutschland eine Entscheidung getroffen, die das Land und seine politische Kultur verändert hat. Was wir jetzt brauchen in unserem Land, ist eine Befriedung des Migrationsthemas. Eine solche, so glaube ich, wird nur möglich sein, wenn man die praktische Alltagsvernunft der Menschen zurate zieht. Entscheidungen in der Migration müssen sich an der praktischen Alltagsvernunft messen lassen. Nur so werden sie akzeptiert werden und eine befriedende Wirkung haben. Ich möchte dies anhand von zwei Punkten deutlich machen. Deutschland lebt die Lebenslüge, man sei kein Einwanderungsland, und betreibt deshalb keine Einwanderungspolitik. Diese Lebenslüge hat zwei Komponenten. Die politische Linke in Deutschland glaubt, aufgrund der Würde des Menschen und der deutschen Geschichte dürften wir uns nicht aussuchen, wer kommt. Wir dürften keine Erwartungen an diejenigen stellen, die kommen, sondern müssten sie integrieren. Und diese Integration erfolgt dann mehr oder weniger von allein, und jede Form von anderer Kultur und Religion wird als Bereicherung betrachtet. Das war die Lebenslüge der politischen Linken. Diese Politik hat dazu geführt, dass es in unserem Land blickdichte Parallelwelten gibt. Parallelwelten von Migranten, die Sozialleistungen beziehen, aber keine Verbindung zur deutschen Gesellschaft oder Wirtschaft haben. Menschen, die teilweise in dritter Generation bei uns leben und enthusiastisch Herrn Erdoğan feiern, denn er gibt 62


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ihnen, als türkischstämmigen Inhabern eines deutschen Passes, das Gefühl, jemand zu sein. Dies führte zu einer aufgeheizten Situation in unserem Land − teilweise mit hysterischen Reaktionen von allen Seiten und falschen Schlussfolgerungen. Integration ist die Erwartung der aufnehmenden Gesellschaft gegenüber denjenigen, die kommen. Dazu zählen: Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt, Akzeptanz des Rechts, Rücksichtnahme auf bürgerliche Umgangsformen. Das sind Erwartungen, die man an jemanden, der kommt, stellen darf. Anders geht es nicht. Jede Form sozialer Sicherheit und öffentlicher Ordnung würde zusammenbrechen, wenn es diese grundlegenden Erwartungen nicht gäbe. Aber die Integration bezieht sich nur auf den äusseren Bereich, das heisst auf das Verhalten innerhalb einer Gemeinschaft, und nicht auf die jeweils individuelle persönliche Grundüberzeugung. Es geht um Integration und nicht Assimilation. Ich sage das, weil wir in Deutschland auf diese Lebenslüge der Integrationspolitik nur dadurch geantwortet haben, dass in Bayern Kreuze an die Wand genagelt werden. Um zu verhindern, dass die Leute ihr Kreuzchen bei der falschen Partei machen, nagelt die CSU im Landeswahlkampf in öffentlichen Gebäuden Kreuze an die Wand. Und diese Reaktion ist genau die falsche. Mit solchen Reaktionen machen wir aus einem säkularen weltoffenen Land mit einem weltanschaulich neutralen Recht plötzlich einen Staat mit christlicher Leitkultur und Staatsreligion. In seiner Not rechtfertigt sich der bayerische Ministerpräsident damit, dass das Kreuz nicht als Symbol des Christentums, sondern des liberal geprägten Bayerischen Freistaats sei. Ich bin kein schadenfroher Mensch, aber dass dieser Wahlkampfcoup danebengegangen ist, finde ich gut. Jetzt streitet die CSU mit der katholischen Bischofskonferenz einerseits und mit den säkularen Bürgerinnen und Bürgern andererseits. Das ging daneben, doch solche Aktionen sind trotzdem brandgefährlich. Wie will man jemanden integrieren, der nicht gläubig ist oder an einen anderen als unseren christlichen Gott glaubt, wenn man sagt, bei uns ist das Kreuz Symbol 63


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

des Staates? Das dürfen wir nicht von Einwanderern verlangen. Wir dürfen von ihnen verlangen, dass sie republikanische Werte akzeptieren, aber in ihren Grundüberzeugungen bleiben sie, was ihre Identität, kulturelle, religiöse, ethnische Herkunft bedeutet. Das allein ist in der Lage, einen Grundkonsens zu stiften. Gerade heute, am 70. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, muss man sich daran erinnern, dass unsere Verfassung nicht getauft ist und keine Konfession hat, sondern offen ist gegenüber allen religiösen Bekenntnissen, jedoch unter der Klammer gemeinsamer Werte und Regeln. So viel zur Lebenslüge der politischen Linken. Auf der anderen Seite gibt es eine Lebenslüge der politischen Rechten. Nicht nur in Deutschland, auch hier in der Schweiz. Die politische Rechte ist der Auffassung, dass wir keine Zuwanderung brauchen. Wozu sollten wir eine solche brauchen? Gelegentlich hört man bei uns, wir bräuchten mehr Kinder aus deutschen Familien, um die Alterung der Gesellschaft und den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Nach dem Pillenknick von 1965 fehlen uns jetzt als potenzielle Mütter die Frauen, die damals nicht geboren worden sind. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Kinder eine Frau im gebärfähigen Alter im Durchschnitt bekommen müsste, damit die Struktur der Bevölkerung so bleibt, wie sie ist? In der Schweiz ist die Zahl eher höher als in Deutschland. Es sind sieben Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter, um die Bevölkerungsschrumpfung und -alterung aufzuhalten. Die Lebenslüge der politisch Konservativen, zu glauben, wir seien eine ethnische, kulturelle oder religiöse Einheit, deren Homogenität und Gleichheit wir nicht durch Zuwanderung gefährden sollten, wird rein mathematisch nicht funktionieren. Wir brauchen Einwanderung, dafür ist der gerade genannte Grundkonsens jenseits von Ethnie, Religion und kultureller Identität erforderlich, damit man sich auch mit republikanischen Tugenden integrieren kann. Und vor allem braucht man ein Recht, das Einwanderung ermöglicht, und zwar gezielt, gesteuert und an den Arbeitsmarktinteressen orientiert. 64


Christian Lindner

Eine Fussnote zur deutschen Innenpolitik gestatten Sie mir. Wir haben in Deutschland das falsche Recht. Dabei müsste man nach praktischer Alltagsvernunft nur drei Fallgruppen von Asylsuchenden bilden, die zu uns kommen. Erste Gruppe: Jemand ist individuell als Person verfolgt, weil sie oder er in einem Land verfolgt wird, beispielsweise als Homosexueller von Todesstrafe bedroht ist. Eine solche individuell verfolgte Person sollte Asyl erhalten. Zweite Gruppe: Diese Menschen sind als Gruppe auf der Flucht vor Bürgerkrieg, Naturkatastrophen, Dürre, Hunger oder Wasserknappheit. Sie sind als Gruppe verfolgt, nicht als Individuum. Das heisst, diese Personen müssten eigentlich gar nicht durch dieses extrem aufwendige individuelle Asylverfahren, das in Deutschland viel länger dauert als bei Ihnen in der Schweiz. Man müsste ein System einrichten, in dem Identität und Herkunft festgestellt werden. Stammt die Person aus einem bedrohten Gebiet, sollte sie sofort Aufenthaltsstatus, Arbeitserlaubnis, Fördermassnahmen in der Sprache usw. erhalten. Aber der Aufenthalt ist strikt begrenzt bis zu dem Zeitpunkt, zu dem in der alten Heimat wieder Stabilität und Sicherheit herrschen. Danach ist die Ausreise dorthin die Regel. Dritte Gruppe: Das sind diejenigen, die eingeladen werden aufgrund ihrer Qualifikation, die sich bewerben, egal von wo, egal ob verfolgt oder nicht, die sich mit Qualifikation und Leumund bewerben und dann auch ohne Arbeitsvertrag jeweils in der Grössenordnung ins Land eingeladen werden, die der Arbeitsmarkt im jeweiligen Jahr aufnehmen kann und je nach Erfordernissen aufnehmen will. Stellen Sie sich vor, einem jungen Mann, der als Flüchtling in ein Land kommt, wird gesagt: Du bist willkommen, solange du in der Heimat bedroht bist. Danach gehst du zurück. Wenn du aber bleiben willst, hast du eine Chance. Du musst dich dann aber bewerben. Wir wollen wissen, ob du rechtstreu warst, etwas gelernt hast, die Sprache beherrschst und ob du für den Lebensunterhalt für dich und deine Familie aufkommen kannst. Wenn wir viermal Ja sagen können, bist 65


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

du als aktives Mitglied dieser Gesellschaft willkommen und wir fragen nicht danach, woher du kommst. Aber das darf kein Automatismus sein, weil sonst Migration in der Lage ist, Gesellschaften zu sprengen, und es auch falsche Anreize gibt. Damit bin ich bei meinem Schlusspunkt. Ich habe über Ängste gesprochen, auf die mit Wohlfahrtsstaatlichkeit reagiert wird, obwohl die wirtschaftliche Stärke gar nicht so entwickelt ist. Ich habe über eine gewisse institutionelle Sklerose oder Bewegungslosigkeit in Europa gesprochen in Anbetracht dessen, was gerade populär ist und was man gegenüber der Bevölkerung verkaufen kann. Des Weiteren habe ich über die Migration gesprochen, die in unserem Land ungelöst und vielleicht die explosivste Frage ist. Wenn ich unter diese drei Entwicklungen einen Summenstrich ziehe, dann haben Sie eine Erklärung dafür, warum es zum ersten Mal in unserer Geschichte mit der Alternative für Deutschland im Deutschen Bundestag eine Protestpartei gibt, die völkisch denkt und die Anti-Establishment-Politik macht. Die AfD hat das Gespräch im deutschen Bundestag verändert. Sie wissen, ich bin mit der FDP der Schweiz freundschaftlich verbunden und deshalb keiner Freundlichkeit gegenüber der SVP verpflichtet, was ich auch nicht tun werde. Aber zu glauben, die AfD in Deutschland wäre so etwas wie die SVP, ist ein grober Irrtum. Die AfD ist noch etwas ganz anderes als die SVP: eine völkische Partei, die autoritärer Politik nahesteht. Da ist nichts von wirtschaftlicher Liberalität zu sehen, konservativer Gesellschaftspolitik. Es ist eine autoritäre Fraktion. Wenn man dazu Nähen und Fernen suchen wollte, dann eher zu Frau Le Pen oder Putin, nicht zu Herrn Blocher. Die AfD im Bundestag ist eine Herausforderung für die Demokraten. Die einen reagieren darauf so, dass sie versuchen, das Mitwirkungsrecht dieser Partei im Parlament zu beschneiden. Permanent gibt es eine Debatte darüber, ob Mitglieder der AfD Ausschussvorsitze führen dürfen, ob sie von anderen Parteien gewählt werden sollten, um Ausschussvorsitze innezuhaben. Auch die Abgeordneten der AfD 66


Christian Lindner

sind gewählt und haben demokratische Beteiligungsrechte.Wer sie ihnen beschneidet, gibt ihnen ein weiteres Argument auf der Strasse an die Hand, nämlich, dass sie von den etablierten Parteien in ihren Mitwirkungsrechten beschnitten werden. Man eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich als Opfer oder gar Märtyrer hinzustellen. Es gibt keine AfD-Politiker, die mich in der Sache als Persönlichkeit überzeugen. Dennoch habe ich sie in jeden Ausschussvorsitz gewählt, damit sie viele Möglichkeiten haben, sich auf die Knochen zu blamieren, und weil es ihnen zusteht. Die zweite Form des Umgangs ist die Moralisierung. Natürlich geben die AfD-Politiker fortwährend dummes Zeug von sich und machen mit Tabubrüchen Politik. Dann kommt immer ein Vertreter der staatstragenden Parteien des demokratischen Zentrums und echauffiert sich darüber. Er appelliert an das christliche Menschenbild und bezeichnet AfD-Politiker als Rassisten. Herr Özdemir von der Grünen Partei meinte letztlich, die AfD sei aus dem gleichen Holz geschnitzt wir Herr Erdoğan. Das führt ihr Energie zu, ähnlich wie bei Herrn Trump. Wer sich über die Politiker der AfD echauffiert und sie beschimpft, tut ihnen einen Gefallen. Die Energie der Etablierten wird wie nach dem Energieerhaltungssatz der Physik umgewandelt in Verzückung von Anhängern: Wenn du den Mainstream hasst und der Mainstream hasst plötzlich einen Politiker. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Mit diesem Mechanismus ist Donald Trump ins Amt gekommen. Das Flyover Country, das sich an Ost- und Westküste nicht mehr repräsentiert gesehen hat, hat Herrn Trump gewählt, weil sich Ost- und Westküste über ihn echauffiert haben. Die Energie hat sich umgewandelt in Unterstützung und Verzückung. Deshalb sollte man denen keine Energie zuführen, indem man sich moralisch erhebt. Die rechtspopulistischen Bewegungen sind wegen ungelöster Probleme gross geworden. Wenn man sie klein machen will, dann muss man die Probleme klein machen, die zu ihrer Grösse geführt haben. Ganz nüchtern, seriös, ohne ihre Parolen zu übernehmen, ohne 67


Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland

Kreuze an die Wand zu h채ngen, sondern indem man die Menschen zu Tatkraft auffordert. Denn wir sind nicht machtlos gegen체ber Tendenzen und Trends wie Digitalisierung, Migration, Protektionismus und Autoritarismus. Wir sind nicht machtlos, sondern haben es in der Hand, in Deutschland und in der Schweiz einen anderen Weg zu gehen. Wir m체ssen uns nur daf체r entscheiden und zu unseren Entscheidungen stehen.

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Autoren und Herausgeber Ignazio Cassis übernahm am 1. November 2017 als Bundesrat das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Er wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte seit 2015 die FDP-Liberale Fraktion im Bundeshaus. Zwischen 2008 und 2012 war Cassis Vizepräsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und amtete zuvor als Kantonsarzt des Kantons Tessin. Ab 2001 war er auch Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und stand an der Spitze der Verbände CURAVIVA und Curafutura. Ignazio Cassis wurde 1961 in Malcantone (TI) geboren und ist verheiratet. Andrzej Duda, geboren 1972 in Krakau, ist seit August 2015 Präsident der Republik Polen. Der studierte Verwaltungsjurist war von 2011 bis 2014 Abgeordneter der Kammer Sejm des Polnischen Nationalrats und von 2014 bis 2015 Mitglied des Europäischen Parlaments in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, nachdem er zuvor für Jarosław und Lech Kaczy ński gearbeitet hatte. Im Vorfeld war Duda 2005 Rechtsberater der Fraktion der Partei Prawo ´´ (PiS) im Sejm gewesen, später stellvertretender Jusi Sprawiedliwosc tizminister und dann Mitglied des polnischen Staatsgerichtshofs sowie ab 2008 Unterstaatssekretär. Yoshihiro Francis Fukuyama, geboren 1952, ist US-amerikanischer Politikwissenschaftler und gilt als intellektuell bedeutendster Schüler 155


Autoren und Herausgeber

von Allan Bloom. Nach seinen Studien in Politik und Literatur an der Cornell- sowie an der Yale-Universität arbeitete er für die USamerikanische Denkfabrik RAND Corporation sowie für die USRegierung, lehrte ab 1996 an Universitäten in Washington und ist nun Olivier Nomellini Senior Fellow am Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford-Universität. Berühmt wurde er durch seinen Bestseller The End of History (1992). 2018 erschien Identity:The Demand for Dignity and the Politics of Resentment. Sigmar Gabriel, geboren 1959, ist Mitglied des Deutschen Bundestags und war zuletzt bis 2018 Bundesaussenminister, zuvor von 2005 bis 2009 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie von 2013 bis 2017 Bundesminister für Wirtschaft und Energie sowie Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Schon früh in der SPD-nahen Jugendorganisation «Sozialistische Jugend Deutschlands − Die Falken» engagiert, trat er 1977 der SPD bei und begann seine politische Karriere in der Kommunalpolitik seiner Heimatstadt Goslar. Gabriel wurde 1990 in den Niedersächsischen Landtag gewählt, später Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen und 1999 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. 2009 bis 2017 war Gabriel ausserdem Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Christian Lindner, geboren 1978, ist Bundesvorsitzender der Freien Demokraten und Vorsitzender der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag. Im Dezember 2013 wurde er zum Bundesvorsitzenden der Freien Demokraten gewählt. Bei der Bundestagswahl im September 2017 führte er die FDP nach vier Jahren in der ausserparlamentarischen Opposition zurück in den Deutschen Bundestag. Christian Lindner gehört der FDP seit 1995 an. 2000 wurde er als Abgeordneter erstmals in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt. Von 2012 bis 2017 war er Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion NRW. 156


Autoren und Herausgeber

Martin Meyer, geboren 1951, ist Journalist, Publizist und Buchautor. Von 1974 bis 2016 war er Redaktor am Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, von 1992 bis 2016 war er dessen Chef. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte, deutsche Literatur und Philosophie und promovierte 1976 mit einer Dissertation über Schiller und die deutsche Romantik. Weitere Bücher folgten über Ernst Jünger, zum Thema des Endes der Geschichte, zu Thomas Manns Tagebüchern und zum Krieg der Werte. Zuletzt sind im Carl-Hanser-Verlag erschienen: Piranesis Zukunft – Essays zu Literatur und Kunst (2009), die grosse Monografie Albert Camus – Die Freiheit leben (2013) sowie Gerade gestern. Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten (2018). 2003 erhielt Meyer den renommierten Europäischen Essaypreis der CharlesVeillon-Stiftung, 2015 den Kythera-Preis, 2016 in der Frankfurter Paulskirche den Ludwig-Börne-Preis. Meyer ist u. a. korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Mitglied der Zürcher Gelehrten Gesellschaft. Seit 2008 ist er auch Delegierter, seit 2013 Präsident des Vorstands des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung. 2011 erhielt er für sein publizistischwissenschaftliches Werk den Ehrendoktor der Universität St. Gallen. Andreas Rödder, geboren 1967 in Wissen/Sieg, ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er war Stipendiat am Historischen Kolleg in München und Gastprofessor an der Brandeis University sowie an der London School of Economics. Rödder hat sechs grosse Bücher verfasst, darunter Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung (2009), 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart (2015) und Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems (2018). Zugleich nimmt er pointiert zu gesellschaftlich-politischen Fragen Stellung. Peter Sloterdijk, geb. 1947, ist einer der renommiertesten Philosophen und Essayisten deutscher Sprache. Von 1992 bis 2016 war er Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hoch157


Autoren und Herausgeber

schule für Gestaltung Karlsruhe, deren Rektor er auch von 2001 bis 2015 war. Gemeinsam mit Rüdiger Safranski moderierte er von 2002 bis 2012 die Sendung Das Philosophische Quartett im ZDF. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik (2009), Zeilen und Tage (2012), Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (2014), Das Schellingprojekt sowie Was geschah im 20. Jahrhundert (2016) und Nach Gott (2017). Peter Sloterdijk erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Ludwig-Börne-Preis (2013) sowie den Helmuth-Plessner-Preis 2017. Michaela Wiegel, geboren 1968, verfolgt seit 1998 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung das politische Geschehen in Frankreich. Der Korrespondentenposten in Paris war selten so spannend wie während des zurückliegenden, an überraschenden Volten reichen Präsidentenwahlkampfs. Dem Wahlsieger Emmanuel Macron hat Wiegel die im März 2018 im Europa-Verlag veröffentlichte Biografie Ein europäischer Visionär – eine Herausforderung für Deutschland? gewidmet. Sie hat an Sciences Po in Paris und an der John F. Kennedy School der Harvard University studiert.

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SIAF Bd. 45

Dieser Band enthält die Vorträge, die im Frühjahrs- und Herbstsemester 2018 am Schweizerischen Institut für Auslandforschung gehalten wurden. Eine Reihe von hochkarätigen Gastvortragenden referierte zum Thema «Multipolare Welt». Zur Diskussion standen aktuelle politische Entwicklungen und Herausforderungen sowie die Perspektiven der Demokratie mit Fokus auf Europa. Weitere Themen: Frankreich unter dem neuen Präsidenten, die Rolle Deutschlands und die der Schweiz in Europa.

Jahrbuch 2018

Multipolare Welt Herausgegeben von Martin Meyer

Yoshihiro Francis Fukuyama Populism, Identity and the Future of the Liberal World Order Sigmar Gabriel Europa in einer unbequemen Welt Christian Lindner Zur aktuellen politischen Lage in Deutschland Andreas Rödder Verwerfungen der Gegenwart: Die Krisen des frühen 21. Jahrhunderts in historischer Perspektive Peter Sloterdijk Politik in Masken – Über das Demokratie-Dilemma Michaela Wiegel Ein Jahr Emmanuel Macron

Martin Meyer (Hrsg.)

Andrzej Sebastian Duda The Future of Europe – The Foundations of Unity of the States of Europe

Multipolare Welt

Ignazio Cassis Die Schweiz in Europa

MIT BEITRÄGEN VON

Ignazio Cassis, Andrzej Sebastian Duda, Yoshihiro Francis Fukuyama, Sigmar Gabriel, Christian Lindner, Andreas Rödder, Peter Sloterdijk, Michaela Wiegel

ISBN 978-3-03810-447-6

9

783038

104476

www.nzz-libro.ch

nzz_UG_SIAF45_mulitpolare_welt_kompl_abz3_druck.indd 1

NZZ Libro 22.07.19 09:51


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