Ignaz Miller: 1918 – Der Weg zum Frieden Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs

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Ignaz Miller (*1953), Dr. phil., studierte in Aachen und Köln und schrieb eine Dissert­ation über den Trierer Kurfürsten und Erzbischof Jakob von Sierck. Er arbeitete für Die Weltwoche und die Neue Zürcher Zeitung und betreibt ein eigenes Redaktionsbüro in Zürich. Der Autor schrieb u. a. für Hans J. Bär die Erinnerungen Seid umschlungen, Millionen (2004). Zuletzt von ihm erschienen bei NZZ Libro: Mit vollem Risiko in den Krieg. Deutschland 1914 und 1918 (Zürich 2014).

«Das Buch verdeutlicht in schmerzhafter, aber unmissverständlicher Weise, wie notwendig – nach nun 100 Jahren (!) – eine Neu­ bewertung des Versailler Vertrags aus deutscher Sicht ist; und dann sollten die Deutschen endlich damit aufhören, Versailles für Hitler verantwortlich zu machen …» Carl Dietmar, Historiker und Publizist

«Von einem Krieg weiss man immer nur, wie er anfängt», meinte Charles de Gaulle einmal. Ignaz Miller konzentriert sich darauf, das Ende des Grossen Kriegs zu erklären. Eine seiner Thesen lautet: Das parlamentarisch-demokratische System, wie es etwa Frankreich und England kannten, war dem Kaiserreich in dieser Krisenzeit überlegen. Als Opfer seiner eigenen Propaganda war Deutschland in den Krieg gezogen, und als solches beendete es den Krieg: Das Angebot der Alliierten zum ersehnten Waffenstillstand ersparte dem Reich die Kapitulation. Keine vier Wochen später begrüsste jedoch der nachmalige Reichspräsident Friedrich Ebert die paradierenden Truppen mit den Worten «Unbesiegt im Felde!». Ignaz Miller dekon­struiert auf anschauliche Weise verschiedene Mythen, die seit 1918 aufgebaut wurden und noch heute zirkulieren.

Ignaz Miller 1918 – Der Weg zum Frieden

Der Autor

1918 Der Weg  Ignaz Miller

zum Frieden Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs

ISBN 978-3-03810-372-1 ISBN 978-3-03810-372-1

9 783038 103721

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

Liquidiert wurde der Krieg erst mit der Firmierung des Friedensvertrags im Spiegelsaal des Schlosses Versailles am 28. Juni 1919. Bis dahin galt das mehrfach verlängerte Waffenstillstandsabkommen. Was der Auftakt zu einer neuen Ära sein sollte, wurde zum Vorwand, den Krieg am Schreibtisch weiterzu­führen. Es rächte sich, die Spitzen der Verwaltung nicht ausgewechselt zu haben, wiewohl an ihrer Mitver­antwortung kein Zweifel bestand. Entsprechend wenig interessiert waren sie an einem Vertrag, der ihrem Handeln sicher kein Kompliment ausstellte. Indem sie die Niederlage nach Kräften zu ignorieren versuchten, blockierten sie Politiker und Diplomaten in Berlin für alles andere. Angesichts der festen Überzeugung, den Krieg nicht verursacht, aber insgeheim gewonnen zu haben, blieb für Deutschland eine unvoreingenommene Prüfung des Versailler Vertrags kein Platz. Alles andere als einen Sieg liess das Narrativ des Kriegs gar nicht zu. Selbst­redend auch alle Bestimmungen nicht, die Deutschland hätten infrage stellen können – bei der Aburteilung der Kriegsverbrecher angefangen. Diese mangelnde Einsicht in die Kompromissqualitäten des Vertrags verführte alle deutschen Regierungen nach 1919 dazu, mit den alten Grossmacht­ spielen weiterzumachen, den Vertrag nach Kräften zu ignorieren und damit dem Dritten Reich den Weg zu bereiten.


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© 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Lektorat: Thomas Heuer, Basel Umschlag: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikro­ver­fil­mung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der S ­ peicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils ­gel­tenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Z ­ uwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-372-1 ISBN 978-3-03810-411-7 (E-Book)

www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG

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Inhalt

1 Das lange Ende und ein bekannter Anfang  17 2 Die menschenopfernden Generäle auf der Suche nach einem Sieg  24 3 Die alternden Egoisten, die Tausende opferten  45 4 Midinettes und Industrielle retten den Krieg  60 5 1917: das Jahr, in dem Deutschland (fast) alles gelang  85 6 Torpedierung der Schifffahrt und die Folgen  107 7 Die unterschätzten USA und ein ausserordentlicher ­Präsident  122 8 Wenn rumänische Zöllner einen Wanderzirkus kontrollieren  130 9 Lenins Reise von Zürich nach St. Petersburg  136

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10 Ein Klima der Unaufrichtigkeit: Hindenburg, Ludendorff, die Presse und die Meinungssteuerung  143 11 Der deutsche Traum vom Osten  167 12 Der Friedensvertrag der Illusionen: Brest-Litowsk  179 13 Kräfte und Versorgung  197 14 Die Industrialisierung des Kriegs  205 15 Die Parlamentarier werden wach  210 16 Unter dem Diktat der OHL  221 17 Anläufe zur Besinnung  229 18 Die Meutereien in der französischen Armee und deren ­Erneuerung  237 19 Ein gemeinsames Oberkommando und ein beratender ­G eneralstabschef für die Regierung  252 20 Keine Niederlage, sondern ein Generalstreik: ­ Caporetto  275

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21 Zwei überragende Staatsmänner  281 22 Nach dem Ausstieg Russlands: im Vorfeld der deutschen ­ Offensive 1918  295 23 Eine Entscheidungsoffensive mit vielversprechendem Anfang und unerwünschtem Ausgang  302 24 Ein Finale mit amerikanischer Hilfe und Ludendorffs ­Nervenzusammenbruch  357 25 Die Attacke auf den weichen Teil der deutschen Front im Süden  371 26 Österreich-Ungarn am Ende  374 27 Die unbelasteten Kräfte der Demokratie  378 28 Die Stunde der Liquidierer  392 29 Der Erfolg des Waffenstillstands  403 30 Besser als sein Ruf: Der Friedensvertrag von Versailles  407 Anhang Anmerkungen  417 Quellen und Literatur  454

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1  Der Waffenstillstand. Aquarell von André Fraye, 1918. Fraye war selber Soldat gewesen und hinterliess zahlreiche Skizzenbücher. © Coll. La contemporaine.

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2  75-mm-Geschütz in Feuerstellung. Die Pferde waren bereits in Deckung. In der

fahrenden Artillerie war es immer der Ehrgeiz, den ersten Schuss bereits auszulösen, bevor die Fahrer mit den Rössern in Deckung waren. © Maurice-Louis Branger/ Roger-Violett/Keystone.

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3  Georges Clemenceau: Ungeachtet seiner bald 80 Jahre machte der Minister­

präsident und Kriegsminister es sich zur Pflicht, die Front intensiv zu bereisen und die Soldaten in den Schützengräben aufzusuchen. Rechts von ihm General Henri Mordacq, sein Kabinettschef. Mordacq publizierte seine Aufzeichnungen über die Jahre mit dem Regierungschef unter dem Titel: Le Ministère Clemenceau. © Roger-Violett 4  Der Kölner Erzbischof Felix Kardinal von Hartmann läuft mit einem Schleppen­ träger eine Ehrenkompanie ab. Den Einwohnern von Laon blieb der Kardinal nach seiner Predigt in nachhaltiger Erinnerung: «Die Franzosen, dieses gottlose Volk, muss man alle umbringen.» Hist. Archiv d. Erzbistums Köln.

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9  Die Unterzeichnung des Friedenvertrags im Spiegelsaal in Versailles. Im Vorder­

grund im Stuhl Johannes Bell, deutscher Minister für Verkehr und Bau. Gegenüber Woodrow Wilson, Georges Clemenceau, Lloyd George. Links weiter Colonel House und Jan Smuts in Uniform. Bild von William Orpen © Imperial War Museum.

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1 Das lange Ende und ein bekannter Anfang

«Von einem Krieg weiss man immer nur, wie er anfängt», meinte Charles de Gaulle einmal. Manchmal weiss man nicht einmal das. In Deutschland spezialisierte sich eine organisierte, regierungsamtlich geförderte Geschichtsschreibung darauf, den Nachweis zu führen, nicht für den Ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen zu sein. Mit dem australischen Historiker Christopher Clark findet sie ihre bejubelte Fortsetzung. Diese Tradition reicht zurück bis zur organisierten Meinung durch das Auswärtige Amt in der Weimarer Republik. Dass sie von Staats wegen herbeigeführt wurde, macht sie nicht glaubwürdiger. Zur Erklärung des Ersten Weltkriegs könnte man mit dem grossen britischen Historiker Eric Hobsbawm die Ursachen in einem unverdauten Imperialismus orten. Das war auf höherem Niveau die deutsche Meinung, alle Staaten seien verantwortlich gewesen. Da bliebe aber noch die Frage nach der Sonderstellung des deutschen Kaiserreichs in einer liberalen Staatenwelt, dem Modell des 19. Jahrhunderts. Giuseppe Mazzini und Victor Hugo waren die beiden grossen Vorläufer. In mehr als gewisser Weise knüpft die heutige EU an diese Staatenwelt des 19. Jahrhunderts an. Sie integriert beiläufig auch das grosse Deutschland. Dass es sich die längste Zeit des 20. Jahrhunderts nicht hat integrieren lassen, sondern lieber auf seinem Gewaltweg beharrte, ist unübersehbar. Gab es womöglich eine unterschiedliche Einstellung zur Gewalt? Waren der Frankreichfeldzug und der Beschuss von Paris 1871 nicht gewissermassen symptomatisch? Während Victor Hugo mit Giuseppe Mazzini noch an ein Vereintes Europa mit Paris als Hauptstadt glaubte? Das lange Ende und ein bekannter Anfang

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Erklärungsversuche weisen gerne zurück. In den vorhergehenden Generationen die Gründe für die späteren zu suchen und zu finden, ist gern geübte Eigenart der Gewohnheit der Historiker. Erklärungsversuche bleiben mit Vorliebe am 19. Jahrhundert hängen, an seinem Historismus, seiner Angst vor der Dekadenz, seiner plakativen Schreckensvision eines untergehenden Roms, am liebsten ledergebunden und mehrbändig in üppiger Ausstattung. Dazu eine tiefe Sorge der »beati possidentes« vor einer sozialen Bedrohung. Dieses 19. Jahrhundert verlief im Blick zurück weitgehend parallel von Bordeaux bis Frankfurt a. O. Insofern gibt ein historistisch angehauchter Imperialismus zur Erklärung für den Ersten Weltkrieg nur bedingt verwertbare Motive her. Sicher auch nicht ein Viollet-le-Duc oder eine allenthalben aufschies­ sende Burgenromantik. Die Erklärungen zielen gerne auf den Nationalismus. Aber litten alle darunter? Jakob Buckhardt (1818 – 1897) hatte die Grossstaaten alle im Verdacht, zu einer Gewaltpolitik fähig zu sein, um innenpolitische Ambitionen zu befriedigen. Wie schaut es neben dem artverwandten Imperialismus mit dem Liberalismus aus? Das Rote Kreuz war sicher kein Ausweis einer militanten Tendenz. Ebenso wenig die Haager Friedensordnung. Oder andere Anläufe, das Staatensystem sicherer zu machen. In Deutschland wurde ihnen nie wirklich applaudiert. Wie Staatssekretär (Aus­ sen­ minister) von Jagow dem amerikanischen Botschafter erklärte, «war Deutschlands bestes Asset in einem Krieg die Bereitschaft zu einem plötzlichen, überwältigenden Schlag».1 Genau deswegen hütete sich das Reich davor, die Bryan-Friedensverträge zu unterschreiben, die sich der amerikanische Aus­senminister zur Konfliktvermeidung ausgedacht hatte. Es hätte sonst sein «bestes Asset» preisgegeben. Wenn der Spiritus Rector der deutschen Liberalen, Friedrich Naumann, meinte: «Jede substantielle Revision des Globus zum deutschen Vorteil ergibt sich wahrscheinlich durch einen Friedensvertrag nach einem erfolgreichen Krieg»,2 deutet dies mehr auf ein latentes Kriegsklima hin als auf den Ehrgeiz, den Frieden sicherer zu machen. In gewisser Weise war der Friede nicht populär. Die politische 18

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Selbst­ isolierung Deutschlands in Europa wurde innenpolitisch als «auf­gezwungen» verkauft – und war immer nur militärisch. Die multilateralen Versuche zur Friedenssicherung wie die Bryan-­Frie­dens­ver­ träge ignorierte Berlin nach Kräften. Das Reich sah sein Heil auch nie in derAbrüstung. Die war nun wirklich nicht populär, sondern immer nur in seiner Aufrüstung. Bezeichnenderweise wissen heute nicht einmal mehr Historiker in Deutschland, dass mit dem Reichstagsakten-Forscher Ludwig Quidde, einer der ihren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Dass Deutschland es lieber mit dem Militarismus hielt, ist nicht besonders neu. Für diesen Sonderweg hat das Land schwer bezahlt. Und Europa ebenso. 1918 – der Weg zum Frieden beleuchtet eine kurze Etappe auf dem langen Weg Deutschlands. Das Buch zeigt, dass das Kaiserreich den west­lichen Demokratien insgesamt deutlich unterlegen war. Es zeigt weiter, dass erst die demokratischen Kräfte die Energie auf­ brachten, sich aus dem Bann der Autokraten zu lösen (am Hof wie im Militär) und über den Waffenstillstand vom 11. November 1918 zum Frieden zu kommen. «Revolutionen träfen nur besiegte Völker», mein­­te Marschall Ferdinand Foch zu Matthias Erzberger während der Waffenstillstandsverhandlungen.3 Diese Beobachtung hat etwas für sich. Siehe Russland, aber auch Deutschland oder Österreich-Ungarn. Die Demokratien nahmen Rücksicht auf die Bevölkerung; und sie hinterfragten die Leistungen der militärischen Führung. Erst die Parlamentarier wagten, an der alles kommandierenden OHL (Obersten Heeresleitung) zu zweifeln. Die Regierungen in Paris und London setzten den gemeinsamen Oberbefehl durch und nahmen im Zweifelsfall selbst auf dem Schlachtfeld ihren Einfluss wahr. Georges Clemenceau – der fliessend Englisch sprach – besuchte zur Freude der britischen Einheiten auch deren Frontabschnitte und «gerne unter Gefahr»,4 wie Kabinettschef Henri Mordacq notierte. David Lloyd George dagegen machte um Schützengräben einen weiten Bogen. Er konzentrierte sich lieber auf seine Generäle. Angefangen bei dem mit Intrigen vertrauten Field Marshal Douglas Haig (aus der gleichnamigen Whisky-Dynastie). Das lange Ende und ein bekannter Anfang

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Die Generäle vom Wert eines gemeinsamen Oberkommandos zu überzeugen war harte politische Arbeit. Der Krieg fing militärisch an und hörte politisch auf. Aber unter Philippe Pétain kamen die französischen Streitkräfte auch taktisch weiter. Einschliesslich der vorangetriebenen «Mechanisierung des Krieges» und der maximal möglichen Substituierung der Infanterie durch die Mechanik. Dazu gehörte aber auch, die schwere Artillerie mit Traktoren zu ziehen. Alles in Erwartung der amerikanischen Einheiten. Dass sie französisches Material er­hielten (75-mm-Feldgeschütz, Breguet-14-Flugzeuge, Panzer und ge­zogene Artillerie), überstieg die Kalkulationen der torpedierfreudigen deutschen Marineleitung. Die Heeresleitung wiederum erhoffte sich dank der U-Boote ein verhandungswilliges Grossbritannien. Heer und Marine erhofften sich mehr, als die Realität hergab. Die OHL und Erich Ludendorff waren grösste Hoffer. Am Ende fing sich Italien und die Alliierten standen am Brenner. Sicher nicht zur Freude Bayerns. München musste sich in Berlin energisch wehren gegen den unbegründeten Verdacht, einen Separatfriedensvertrag auszuhandeln und vom Reich abzufallen. So hatten sich der Kaiser und sein Kronrat das Ende sicher nicht ausgemalt, als sie sich 1914 zum Krieg entschlossen. Wie auch das unzeremonielle Ende der Monarchie, die Abdankung des Kaisers und die Flucht nach Holland ausserhalb aller Überlegungen standen. Dabei war es mehr eine Flucht nach vorne gewesen. Am Anfang – vor 1914 – forderten Überrüstung, Überschuldung und Übermut ihren Tribut. Jacob Burckhardts Verdacht einer Aus­senpolitik aus innenpolitischen Motiven wird davon sicher nicht widerlegt. Dass sich die Bevölkerung einwickeln liess, steht auf einem anderen Blatt. Als Winston Churchill und Charles de Gaulle von einem dreissigjährigen Krieg sprachen, steckte der Zweite Weltkrieg noch in seinen Anfängen. Er wurde das lange Schlusskapitel des 1914 ausgelösten Kon­ flikts. 25 Jahre nach den Kriegserklärungen an Russland und Frankreich im Jahr 1914 folgte 1939 der Überfall auf Polen. Bis zur be­din­ gungs­­ losen Kapitulation Deutschlands sollte es schliesslich knapp 31 Jah­­re dauern. Diese drohende Aussicht einer bedingungslosen Kapitulation 20

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schwebte bereits 1918 über Deutschland. Die politischen Führer der USA, einflussreiche Republikaner im Senat wie Henry Cabot Lodge und weite Teile der Presse in den USA verlangten nichts anderes. Auf deutscher Seite waren im November 1918 Heeresleitung, Parlamentarier und Regierung willens zu kapitulieren. So verzweifelt war die Lage. Einzig die in letzter Sekunde signalisierte Bereitschaft der Alliierten zum ersehnten Waffenstillstand ersparte dem Reich diesen Schritt. Dass der Versailler Vertrag tel quel auf den Waffenstillstandsbedingungen aufbaute, wissen höchstens einige Spezialisten. Keine vier Wochen später begrüsste jedoch der SPD-Führer und nachmalige Reichspräsident Friedrich Ebert die paradierenden Truppen in Berlin mit seinem «Unbesiegt im Felde!» Der Feldmarschall Paul von Hindenburg fing den Ball dankbar auf und monierte vor dem Reichstag seine Dolchstosslegende. Kein Parlamentarier kam auf die Idee, dass der vormalige Generalstabschef mit dieser Erklärung nur vom eigenen Versagen ablenkte. Die Oberste Heeresleitung hatte die politische Führung ahnungslos gehalten. Das Notgeständnis des drohenden Zusammenbruchs hatte die Politiker komplett überrumpelt. Als Opfer seiner eigenen Propaganda war Deutschland in den Krieg gezogen im Glauben, neidische Nachbarn hätten sich gegen das Reich verschworen. Um aus dem Krieg mit der Überzeugung zurückzukehren, den Sieg und zumindest Belgien verdient zu haben. Lieber noch Fürstenkronen. Das Baltikum dachte sich Berlin monarchisch und unter deutscher Kontrolle. Gefangen in ihrer Verantwortlichkeitsleugnung vergab die Weimarer Republik die Möglichkeit für einen Neuanfang. Statt Frieden und Abrüstung dominierten Revision und heimliche Aufrüstung. Ohne die gründliche Vorarbeit der Weimarer Republik hätte das Dritte Reich nicht schon fünf Jahre später über eine kriegsbereite Armee verfügen können. Der britische, leider früh verstorbene Historiker Tony Judt schrieb in seinem Buch Postwar, dass der Versailler Friedensvertrag kaum so schrecklich gewesen sein könne, wenn das Reich 20 Jahre später wieder Europa überfallen konnte.5 Der schlechte Ruf des Vertrags ist eine Das lange Ende und ein bekannter Anfang

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der bleibenden deutschen Propagandaleistungen. Wie auch die Betonung einer alliierten Verantwortung für den Kriegsbeginn von 1914. Dieser Doppelmythos – nicht für den Krieg verantwortlich gewesen und im Felde unbesiegt zu sein – bildete den Humus für die alldeutsche Vaterlandspartei des Kaiserreichs und deren nationalsozialistischen Sprösslinge. Dies gilt auch für die finanzielle Seite des Vertrags. Im Sinn Jacob Burckhardts spielten sicher die labilen Finanzen eine Rolle. Das Reich hatte sich vor dem Krieg schwer verschuldet. Die Wirtschaft steckte in einer scharfen Konjunkturkrise. Die Vorstellung einer fetten französischen Kriegskontribution hatte entschieden ihren Reiz. Die Wurzeln der NS-Bewegung im Friedensvertrag von Versailles zu orten, ist bis heute ein intensiv gepflegter Nachkriegsmythos. Er bietet den grossen Vorteil der moralischen Entlastung vom Krieg und von der unglaublichen Verbrechensorgie bis hin zur Massenversklavung und zur industriell betriebenen Vernichtung missliebiger Minderheiten. Das beliebte Frankreichfeindbild und ein unübersehbarer Hass auf Georges Clemenceau erleichtern die Vorstellung, dass die NS-Bewegung mit allen ihren Folgen im Grunde eine – weitere böse – Erfindung des französischen Ministerpräsidenten war. Quasi im Sinn einer Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Die Praxis sah anders aus. Paris ging immer wieder auf Berlin zu. Bis zur Akzeptierung der Militarisierung des Rheinlands. Aber für diesen Nachkriegsmythos gib es einen prominenten Zeugen: John Maynard Keynes. Der Beamte der Treasury schrieb 1919 sein in Deutschland viel zitiertes Pamphlet The Economic Consequences of the Peace, eine Kombination von manifester Germanophilie, Antisemitismus, verletzter Eitelkeit (Keynes wurde in Paris wegen Illoyalität aus der britischen Verhandlungsdelegation geworfen), vor allem aber mit deutschem Propagandazahlenmaterial. Was seinem Erfolg höchstens entgegenkam. Am 5. Oktober 2010 schrieb Le Monde: «La guerre de 1914 est en­ fin terminée …». Am 3. Oktober 2010 zahlte Deutschland die letzten Schulden: 95 Millionen Euro. Das waren die Zinsen für Anleihen, die 22

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Berlin in den 1920er-Jahren aufgenommen hatte, um die Repara­tio­ nen zu finanzieren. Die Pariser Friedenskonferenz war aus europäischer Sicht ein erster wichtiger Anlauf zu Gewaltfreiheit und Selbstbestimmung. Die Gründung des Völkerbunds bildete den zentralen Teil des Versailler Vertrags. Für die Schweiz, der die Missachtung der belgischen Neutralität alles andere als gleichgültig gewesen war, boten sich neue Sicherheitsperspektiven. Sie trat dem Völkerbund bei. Sicher nicht nur deswegen, weil die Idee einer Zukunft ohne Krieg schlecht war, sondern auch um Gelegenheiten wie dem Attentat von Sarajevo vorbeugen zu können. Das Deutsche Reich entschloss sich 1914, sie zu nutzen. Wie der britische Diplomat Eyre Crowe bereits im Juli 1914 formulierte: «Es geht in diesem Kampf nicht um den Besitz Serbiens, sondern um Deutschland, das auf eine politische Diktatur in Europa zielt, und die Mächte, die ihre individuelle Freiheit zu erhalten wünschen.» Auch Wilhelm II. sah die Ursache für den Krieg nicht im Attentat. In seiner Thronrede vom 6. August 1914 führte der Kaiser aus: «Die gegenwärtige Lage ging nicht aus vorübergehenden Interessenkonflikten oder diplomatischen Konstellationen hervor, sie ist das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reichs […].» Eyre Crowe sah seine Freiheit gefährdet. Der Kaiser fand, man habe etwas gegen Deutschland. Damit widersprachen sie sich nicht einmal. Dem Mediävisten Hermann Heimpel ist das Wort zu verdanken: «Die vornehmste Aufgabe der Geschichte ist die Gegenwart.» Er sagte es 1941 in seiner Strassburger Antrittsrede mit bemerkenswerter Offenheit. Insofern können andere Zeiten andere Akzente setzen, bis hin zu den demokratischen Leistungen der «Roten Marine». Den Kriegsbeginn betreffend wird es im Zweifelsfall heissen: «[…] weiss nur, wie er anfängt». Dieses Buch konzentriert sich darauf, zu zeigen, wie er aufhört. Und dass sich die Demokratien im Krieg deutlich überlegen zeigten.

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30 Besser als sein Ruf: Der Friedensvertrag von Versailles

Liquidiert wurde der Krieg erst mit der Firmierung des Friedensvertrags im Spiegelsaal des Schlosses Versailles am 28. Juni 1919. Bis dahin galt das mehrfach verlängerte Waffenstillstandsabkommen. Es war bis zuletzt praktisch täglich kündbar. Der Vertrag baute auf dem Waffenstillstandsabkommen auf, das Matthias Erzberger im Namen der deutschen Regierung unterschrieben hatte. Darin waren auch die Auslieferung der Kriegsflotte und eine weitgehende Abrüstung eingeschlossen. Zudem die Retournierung Elsass-Lothringens, die Überlassung der polnisch besiedelten Gebiete Preussens und Reparationszahlungen für die kriegsverwüsteten Gebiete, die Ausplünderung Belgiens und andere Kriegsschäden. Auch über die Höhe dieser Zahlungen machte man sich keine Illusionen. Ein Industrieller wie Walter Rathenau oder der Hamburger Bankier Max Warburg rechneten approximativ mit 50 Milliarden Goldmark. Beide gingen sie in den Berliner Regierungskreisen ein und aus. Parlament und Regierung war also klar, was auf das Land zukam. Es war aber auch klar, dass niemand ein Bedürfnis danach hatte, den Krieg auf eigenem Boden fortzusetzen. Selbst Erich Ludendorff schreckte vor dieser Vorstellung zurück. Damit blieb nur der Friedensvertrag, den die Alliierten ab Mitte März unterschriftsreif ausgearbeitet hatten. Mit diesem tat sich Deutsch­land unendlich schwer. Philipp Scheidemann trat zurück, Präsident Ebert bildete mit viel Mühe am 21. Juni das Kabinett Bauer und die Nationalversammlung rang sich erst in letzter Minute zu einer Mehrheit durch. Die Parlamentarier erhitzten sich insbesondere an einer Verurteilung des Kaisers und der Kriegsverbrecher. Die alliierten Staatsmänner in Paris waren sich nicht sicher, ob Deutschland Besser als sein Ruf: Der Friedensvertrag von Versailles

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auch unterschreiben werde. Es kam zu einer mehrfachen Verlängerung des Waffenstillstands, zuletzt mit knappen Fristen. Auf Lloyd Georges Frage, wann denn die Parlamentarier den Vertrag approbieren würden, meinte Georges Clemenceau als erfahrener Parlamentarier: «Morgen Abend zwischen 17.30 und 18.00 Uhr. Sie warten darauf, gezwungen zu werden. Sie werden es.» Gleichzeitig machte sich Georges Clemenceau keine Illusionen über den Wert der deutschen Unterschrift. Zu Wilson und Lloyd George meinte er: «Deutschland unterzeichnet den Vertrag mit der festen Absicht, ihn nicht auszuführen. Es überlädt uns mit Noten und Erklärungen. Es wird eine ewige Kontroverse sein.»1 So war es auch. Bis heute leidet der Vertrag unter seinem schlechten Ruf. Möglich war die verzerrte Wahrnehmung nur dank einer intensiven, regierungsamtlich geförderten und bis heute nachgebeteten Propaganda in der festen Überzeugung, eigentlich den Krieg gewonnen zu haben. In einem Brief an Thomas Lamont insistierte Max Warburg, dass es nicht «alliiertes Können war, sondern schiere Überlegenheit an Sol­ daten und Kriegsmaterial, und die rohe Waffe des Aushungerns», das den alliierten Sieg ermöglicht hatte.2 So dachten sie in Berlin alle. In dieses Bild fügte sich der Vertrag mit seinen Auflagen nicht eigentlich. Was der Auftakt zu einer neuen Ära sein sollte, wurde zum Vorwand, den Krieg am Schreibtisch weiterzuführen. Es rächte sich, die Spitzen der Verwaltung nicht ausgewechselt zu haben, wiewohl an ­ihrer Mitverantwortung kein Zweifel bestand. Entsprechend wenig ­in­teressiert waren sie an einem Vertrag, der ihrem Handeln sicher kein Kompliment ausstellte. Indem sie die Niederlage nach Kräften zu igno­rieren versuchten, blockierten sie Politiker und Diplomaten in Berlin für alles andere. Woodrow Wilson konnte so den Traum eines jeden Politologen ausleben und eine neue Weltordnung verwirk­ lichen. Entsprechend widmete der Versailler Vertrag der Errichtung des Völkerbunds einen prominenten Platz. Erst danach kamen die unverzichtbaren Auflagen, um nicht wieder Opfer einer deutschen Aggression zu werden. Wie Lord Milner, der britische Kriegsminister, sagte: «Jeder Kompromissfrieden würde Deutschland mächtiger wer408

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den lassen, als es bei Kriegsbeginn war.»3 Damit sei in zehn Jahren der nächste Krieg zu erwarten. Dagegen lasen die Beamten in der Berliner Wilhelmstrasse aus dem Versailler Vertrag nur, wie furchtbar, wie demütigend, wie ungerecht und obendrein noch erzwungen dieser sei. Dass nach vier Jahren erbitterten Kriegs die Neigung der Alliierten nicht besonders ausgeprägt war, ob der empfindsamen deutschen Psyche besonderes Zart­gefühl walten zu lassen, mochte kein deutscher Diplomat wahrhaben. Dieser Vertrag sei ein «Diktat». Dass Deutschland nach Artikel 5 des Protokolls zum Vertrag eingeladen war, für die Reparationen eigene Vorschläge zu unterbreiten, die die Alliierten innert Monaten zu beantworten hatten, ignorierten die Beamten des Auswärtigen Amts. Lieber hielt man sich darüber auf, dass die Reparationsforderungen unerfüllbar und überhaupt ungerecht seien. Anstelle eines konstruktiven Ansatzes suchten die Beamten der Auswärtigen Amts fieberhaft nach einem Vorwand, der es ermöglichte, die Emotionen zu steigern und den Vertrag zu refüsieren. Oder wenigstens zu unterlaufen. Vertragstreue ist keine deutsche Eigenschaft. Wie Georges Clemenceau bereits während der Verhandlungen einmal feststelle: «Die deutsche Idee von Recht ist nicht unsere.» In seinem Roman Wolf unter Wölfen zeichnete Hans Fallada nach, wie man sich in Deutschland einen Sport daraus machte, sich um die Auflagen des Versailler Vertrags zu foutieren – und auf solche nationalen Helden­ taten auch noch stolz war. Ein «Diktat»: Politiker und Beamte im Auswärtigen Amt hatten sich so etwas wie mit der Sowjetunion in Brest-Litowsk erträumt, einen fetten Beutevertrag mit Belgien als Morgengabe. Das war das grosse Kriegsziel. Davon war der Friedensvertrag von Versailles zweifellos weit entfernt. Dass Versailles einen Neuanfang und mit dem Völkerbund ein kollektives Vertragssystem ermöglichte, darüber ging Deutschland diskussionslos hinweg. Lieber imitierten die Beamten der Wilhelmstrasse das Beispiel Leo Trotzkis in Brest-Litowsk und überschütteten die Welt mit ihren Propagandameldungen. Ihr vornehmstes Opfer wurde John Maynard Keynes. Der britische Ökonom stützte sich für sein Pamphlet The EcoBesser als sein Ruf: Der Friedensvertrag von Versailles

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nomic Consequences of the Peace auf Zahlenmaterial, das die deutsche Propaganda in der Presse der neutralen Niederlande platziert hatte. Keynes hat sein Opusculum zwar post festum bereut, aber da war es schon zu spät. Auch die amerikanische Presse berieselte die ­Propagandaabteilung des Auswärtigen Amts nach Kräften, was in Paris nicht verborgen bliebt, wie Clemenceaus Kabinettschef General Mordacq in seinen Memoiren festhielt.4 Dass Karl Renner, der österreichische Regierungschef, in Paris einen ganz anderen Eindruck hinterliess als der arrogante Graf von Brockdorff-Rantzau, wurde in Paris aber ebenso registriert. Der Aussenminister und deutsche Delegierte bei den Friedensverhandlungen mochte bei seiner Ansprache nicht einmal auf­ stehen. Woodrow Wilson fand ihn und seine Ansprache unmöglich. Dass sich die revolutionäre Regierung in Berlin nicht von den Beamten aus dem Kaiserreich verabschiedet hatte, stellten Georges Cle­ menceau, David Lloyd George und Woodrow Wilson mit gerunzelter Stirn fest. Deutschland hatte sich im Auftakt der Waffenstillstandsverhandlungen vom Kaiser getrennt, aber nicht von seinen Beamten. Die vom Aussenminister Brockdorff-Rantzau eingeleitete und einfach nur masslose emotionale Übersteigerung – koordiniert in einem eigenen «Kriegsschuldreferat» des Auswärtiges Amts – führte einzig dazu, dass Deutschland seine Chancen ignorierte und auf seinem Sonderweg verharrte. Mit dem bekannten Ende. Dass der Vertrag eine fundamentale Chance war, endlich Anschluss an die europäische Moderne zu finden, ging im Propagandagetöse unter. Stattdessen rutschte Deutschland geradewegs ins tiefste Mittelalter. Das Land erkannte erst nach dramatischen Interventionen und langer Besetzung seinem Irrtum und fand dann doch zurück zur Völkergemeinschaft. Dass es die Schuld für seinen Irrweg bis heute gerne dem Versailler Vertrag anlastet, den nicht zu respektieren zur zweiten Gewohnheit geworden war, bis dann mit dem Dritten Reich alle Dämme brachen, ist zwar nicht sehr logisch, bietet aber den Vorteil der Selbstexkulpierung und lenkt von der ursächlichen Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ab. Industrie und die (in Militär und Verwaltung) versorgungsbedürf410

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Besser als sein Ruf: Der Friedensvertrag von Versailles

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tigen Grossagrarier hatten über das preussische Dreiklassenwahlrecht ihre Interessen in Deutschland ungebremst wahrnehmen können. Dieses Interesse lief auf eine Hegemonie Deutschlands in Europa ­hinaus. Die Regelung der Spesen – fein säuberlich in einem Sonderhaushalt ausgewiesen und über Kriegsanleihen zwischenfinanziert – war nach allgemeiner Auffassung Frankreich zugedacht. Die Erinnerung an die saftige Kriegskontribution von 1871 war keineswegs verblasst. So hatten sich das die steuerscheuen Junker vorgestellt. Sie verkauften den Krieg als «aufgezwungen», was bereits der Kaiser in seiner Thronrede im August 1914 getan hatte. Von dieser Linie wich das Land so wenig ab wie von der Überzeugung, den Krieg gewonnen zu haben. Die fundamentale Bedeutung der verlorenen (aber verheimlichten) Marneschlacht zum Auftakt des Kriegs ging ebenso unter wie die kriegsentscheidenden Offensiven der Alliierten im Juli/August 1918. Das Land hielt sich lieber an das Wort Friedrich Eberts, «unbesiegt im Felde» zu sein, und an Hindenburgs «Dolchstosslegende», die er vor dem Reichstag montiert hatte. Dass der Feldmarschall mit dieser frei erfundenen Legende nur vom eigenen Versagen ablenkte, griff niemand auf. Hindenburg war ebenso sakrosankt wie der dogmatisch begriffene Krieg, der nach allgemeinem Dafürhalten «aufgezwungen», aber siegreich durchgefochten war. Daran war ebenso wenig zu zweifeln wie in der katholischen Kirche an der Transsubstantiation. Dass die Industrie den Kaiser in der Hand hatte, wie der bayerische Kronprinz Rupprecht notierte, und die preussischen Junker eo ipso auf ihn zählen konnten, wurde nach dem Krieg nie gross thematisiert. Ebenso wenig wie das «kalkulierte Risiko», das der Kanzlerberater Kurt Riezler seinem Chef Theobald von Bethmann Hollweg schmackhaft gemacht hatte. Österreich-Ungarn auf Serbien zu hetzen, begann als «kalkuliertes Risiko», und wuchs buchstäblich über Nacht zum Weltkrieg aus. Selten desavouierte die Realität ein Kalkül so dramatisch wie das deutsche in der Julikrise 1914. Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich erforscht worden. Aber es findet sich immer ein verwegener Autor mit einer kühnen These, die die preussischen Autokraten Besser als sein Ruf: Der Friedensvertrag von Versailles

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Ignaz Miller (*1953), Dr. phil., studierte in Aachen und Köln und schrieb eine Dissert­ation über den Trierer Kurfürsten und Erzbischof Jakob von Sierck. Er arbeitete für Die Weltwoche und die Neue Zürcher Zeitung und betreibt ein eigenes Redaktionsbüro in Zürich. Der Autor schrieb u. a. für Hans J. Bär die Erinnerungen Seid umschlungen, Millionen (2004). Zuletzt von ihm erschienen bei NZZ Libro: Mit vollem Risiko in den Krieg. Deutschland 1914 und 1918 (Zürich 2014).

«Das Buch verdeutlicht in schmerzhafter, aber unmissverständlicher Weise, wie notwendig – nach nun 100 Jahren (!) – eine Neu­ bewertung des Versailler Vertrags aus deutscher Sicht ist; und dann sollten die Deutschen endlich damit aufhören, Versailles für Hitler verantwortlich zu machen …» Carl Dietmar, Historiker und Publizist

«Von einem Krieg weiss man immer nur, wie er anfängt», meinte Charles de Gaulle einmal. Ignaz Miller konzentriert sich darauf, das Ende des Grossen Kriegs zu erklären. Eine seiner Thesen lautet: Das parlamentarisch-demokratische System, wie es etwa Frankreich und England kannten, war dem Kaiserreich in dieser Krisenzeit überlegen. Als Opfer seiner eigenen Propaganda war Deutschland in den Krieg gezogen, und als solches beendete es den Krieg: Das Angebot der Alliierten zum ersehnten Waffenstillstand ersparte dem Reich die Kapitulation. Keine vier Wochen später begrüsste jedoch der nachmalige Reichspräsident Friedrich Ebert die paradierenden Truppen mit den Worten «Unbesiegt im Felde!». Ignaz Miller dekon­struiert auf anschauliche Weise verschiedene Mythen, die seit 1918 aufgebaut wurden und noch heute zirkulieren.

Ignaz Miller 1918 – Der Weg zum Frieden

Der Autor

1918 Der Weg  Ignaz Miller

zum Frieden Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs

ISBN 978-3-03810-372-1 ISBN 978-3-03810-372-1

9 783038 103721

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro

Liquidiert wurde der Krieg erst mit der Firmierung des Friedensvertrags im Spiegelsaal des Schlosses Versailles am 28. Juni 1919. Bis dahin galt das mehrfach verlängerte Waffenstillstandsabkommen. Was der Auftakt zu einer neuen Ära sein sollte, wurde zum Vorwand, den Krieg am Schreibtisch weiterzu­führen. Es rächte sich, die Spitzen der Verwaltung nicht ausgewechselt zu haben, wiewohl an ihrer Mitver­antwortung kein Zweifel bestand. Entsprechend wenig interessiert waren sie an einem Vertrag, der ihrem Handeln sicher kein Kompliment ausstellte. Indem sie die Niederlage nach Kräften zu ignorieren versuchten, blockierten sie Politiker und Diplomaten in Berlin für alles andere. Angesichts der festen Überzeugung, den Krieg nicht verursacht, aber insgeheim gewonnen zu haben, blieb für Deutschland eine unvoreingenommene Prüfung des Versailler Vertrags kein Platz. Alles andere als einen Sieg liess das Narrativ des Kriegs gar nicht zu. Selbst­redend auch alle Bestimmungen nicht, die Deutschland hätten infrage stellen können – bei der Aburteilung der Kriegsverbrecher angefangen. Diese mangelnde Einsicht in die Kompromissqualitäten des Vertrags verführte alle deutschen Regierungen nach 1919 dazu, mit den alten Grossmacht­ spielen weiterzumachen, den Vertrag nach Kräften zu ignorieren und damit dem Dritten Reich den Weg zu bereiten.


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