Urs Altermatt: Der lange Weg zum historischen Kompromiss. Der schweizerische Bundesrat 1874–1900.

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Die neue Bundesverfassung von 1874 beendete die Periode der ­repräsentativen Demokratie und bildete mit der Einführung direktdemokra­tischer Instrumente wie dem Referendum eine Zäsur in der Schweizer Geschichte. Um eine Blockade der Gesetzespolitik im Bundesstaat zu verhindern, erhielt die  katholisch-konservative ­Opposition 1891 einen ersten Sitz im Bundesrat. Durch die Ausweitung der Bundeskompetenzen konzentrierten sich die einzelnen ­Bundesräte trotz Kollegialregierung immer stärker auf ihre eigenen Ressorts. Der Versuch, ein Aussenministerium zu errichten, schei­ terte an Eifersüchteleien im Kollegium. Dafür etablierte sich das ­Anciennitätsprinzip für den jährlichen Wechsel im Bundespräsidium. Anekdotisch und aufschlussreich schildert Urs Altermatt konkrete Umstände und Ereignisse im damaligen Bundesrat. So kam es zu mehreren Todesfällen im Amt – etwa zum tödlichen Unfall von Bundesrat Carl Schenk, der nach über 31 Amts­jahren auf seinem ­Arbeitsweg von einer Kutsche angefahren wurde. Oder zum tragischen Selbstmord des designierten Bundespräsidenten Fridolin ­Anderwert, der von den Medien diffamiert wurde. Für Bundesräte war damals noch keine Ruhepension vorgesehen, deshalb blieben zahlreiche Magistraten so lange als möglich im Amt, manche bis zum Tod.

Bundesrats— wahlen

Urs Altermatt Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Nach dem ersten Band zum jungen Bundesstaat 1848 –1874/75 legt Bundesratsexperte Urs Altermatt nun den zweiten Band zu den ­Entwicklungen im Bundesrat von 1874 bis 1900 vor.

Urs Altermatt

Der lange Weg zum historischen Kompromiss Der schweizerische Bundesrat 1874 –1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle

Urs Altermatt ist Historiker und emeritierter Professor für Zeit­ geschichte an der Universität Freiburg i. Ü., deren Rektor er war. Er ist Herausgeber des Bundesratslexikons ( NZZ Libro, 2019 ).

ISBN 978-3-907291-49-8

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Urs Altermatt

Der lange Weg zum historischen Kompromiss Der schweizerische Bundesrat 1874 –1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle

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Umschlagabbildung : Bundeshauskuppel im Bau, aufgenommen am 11. April 1900 © Burgerbibliothek Bern/FN.G.F.15 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Lektorat : Ingrid Kunz Graf, Stein am Rhein Umschlag, Gestaltung, Satz : icona basel Lithografie : Fred Braune, FDB – Für das Bild, Bern Druck, Einband : CPI books GmbH, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-907291-49-8 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG. ®

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Inhaltsverzeichnis

9 Vorwort 15 I Einführung 16 Die Schweiz auf dem Weg zum modernen Nationalstaat 19 Der Kulturkampf als Integrations- und Mobilisationsfaktor 24 Das Referendum als Vetomacht 28 Transformationen in der Parteienlandschaft 33 II  Die Mitte-Liberalen auf dem Höhepunkt der Macht 1875 –1885 34 Polarisierung bei den eidgenössischen Wahlen 36 Neue Bundesratsformel 38 Schwerer Verlust für das Kollegium 41 Geschickte Wahl eines Eisenbahnfachmanns in der Gotthard-Krise 44 Erster katholisch-konservativer Bundesrichter 45 Unerwarteter Tod eines Bundesrats nach einer Blinddarmoperation 47 Auf der verworrenen Suche nach einem « dritten Kriegsfürsten » 51 Der tragische Selbstmord des designierten Bundespräsidenten 54 « Krähwinkelpolitik » der Waadtländer 57 Volksplebiszit 60 Putschversuch der Radikalen gegen das « System Welti » 64 Neue Regel : keine weiteren Abwahlen von bisherigen Bundesräten 65 Überstürzte Flucht eines Bundesrats auf einen Gesandtenposten 68 Die Exklusionsstrategie bröckelt 71 Die Rückeroberung der radikalen Bundesratsmehrheit oder die « Bundesherrenwirthschaft » 73 « Ich habe im Bundesrat Niemand, dem ich mich vertrauen könnte … » 75 Katholisch-konservative Kampfkandidaturen als Konsequenz der Referendumserfolge


Der lange Weg zum historischen Kompromiss

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79 III  Der historische Kompromiss von 1891 80 Eine neue Politikergeneration 82 Die politische Bombe vom 6. Juni 1884 84 Die Schaffung eines eigenständigen Aussenministeriums 87 Fundamentaler Systemwechsel 89 Abwertung des Bundespräsidenten 90 Aufrichtige Volkstrauer um den populären Militärminister 92 Der Wechsel des Zürcher Sitzes zu den Radikal-Demokraten 94 Weiterer Sitzverlust des liberalen Zentrums 96 Tessiner Wirren mit Mordanschlag auf einen katholisch-konservativen Regierungsrat 98 Vom Offizier im amerikanischen Sezessionskrieg zum Bundesratskandidaten 100 Letztes Aufbäumen der radikalen Exklusivherrschaft 102 Ein Pyrrhussieg 104 Vom katholischen Milieu, von unzuverlässigen Patrioten und vom « Schutt des konfessionellen Haders » 107 Der Rücktritt des « schweizerischen Bismarck » 111 Der historische Kompromiss : erster katholisch-konservativer Bundesrat 113 Streit in der katholisch-konservativen Partei 115 Im Hochgefühl der alteidgenössischen Jubiläen 119 IV  Nationaler Schulterschluss 120 Die Belle Époque in der bürgerlichen Schweiz 122 Von Büromaschinen, rasch zunehmendem Bundespersonal und umgestellten Departementen 126 Das Scheitern des « Systems Droz » wegen Missgunst unter den Bundesräten 128 Kurzes Zwischenspiel eines in Bundesbern unglücklichen Genfers 132 Plötzlicher Herztod des « Grand Louis » 133 Pfiffe und Pfuirufe von der Tribüne bei einer Bundesratswahl 137 Tragischer Verkehrstod des Altersdoyens


Inhaltsverzeichnis

138 Die längste Amtszeit 140 Drei feste Bundesratssitze für Bern, Zürich und die Waadt 142 « Fort aus der Hölle » 144 Deutlicher Sieg des Freisinns über das liberale Zentrum 147 Murrende Presse nach der « Fahnenflucht » von zwei Bundesräten aus dem Amt 149 Welsche Doppel-Ersatzwahl ohne Ränkespiele 152 Die Krux des Ruhegehalts 154 Das Ende der « Huldigungs » - oder « Komplimentswahlen » 158 Malaise im Volk gegen die Vorherrschaft des Freisinns 160 Die Doppelinitiative von 1900 : Volkswahl des Bundesrats und Nationalratsproporz 167 V Schlussbilanz 168 Das Schlüsselereignis 170 Die Pazifikation der Bundesratswahlen 174 Langsames Ende des Zweiklassensystems im Bundesrat 177 Die Anciennitätsregel setzt sich endgültig durch 178 Der letzte Bundesratskönig 181 Die beschleunigte Departementalisierung 183 Minireformen 185 Routinierte Regierungsmannschaft trotz starker personeller Fluktuationen 188 « Durchschnittsholz »

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Anmerkungen

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Bildnachweis

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Bibliografie

259 Über den Autor

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Vorwort


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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Die Schweiz befand sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in fundamentalen Transformationen. Als Land in der Mitte Westeuropas war sie auf dem Weg zum stabilen und prosperierenden Nationalstaat und fand dank ihrer Neutralität ihre Rolle innerhalb des europäischen und globalen Staaten­systems. Dass sich in diesem Prozess auch die Funktionsweise des Bundesrats wandelte, versteht sich von selbst. Dieses Buch stellt die Fortsetzung des 2020 erschienenen ersten Bands meiner Bundesrats( wahl )-Geschichte dar und befasst sich mit der Zeitperiode von der Verfassungsrevision 1874 bis zur Jahrhundertwende von 1900. Wiederum stelle ich die Bundesratswahlen als Seismografen in den Mittelpunkt und zeige in einer chronologisch-komparativen Längsstudie Veränderungen im Bundesratskollegium auf. In der Geschichte des schweizerischen Bundesstaats bildete die Bundesverfassung von 1874 eine Zäsur, denn sie gab dem lockeren Bund von 1848 erweiterte Kompetenzen und stiess in zahlreichen Bereichen nationale Vereinheitlichungen an, die vorher kantonal geregelt waren. Hinzu ­kamen die neuen Volksrechte wie das Referendum und 1891 die Volksinitiative, die das politische System zu grundlegenden Anpassungen zwangen. Mit der Einführung des direktdemokratischen Gesetzesreferendums ging die Periode zu Ende, die durch die repräsentative und parlamentarische Demokratie mit Regierung und Opposition geprägt war. Das Regierungssystem bewegte sich auf die Konkordanz zu, die im 20. Jahrhundert nach der erstmaligen Durchführung von Proporzwahlen im Nationalrat 1919 etappenweise geschaffen wurde. Das Referendum gab der bisher marginalen konservativen Opposi­ tionspartei ein Mittel in die Hand, die Gesetzesmaschinerie der von den Radikalen und Liberalen dominierten Parlaments- und Bundesratsmehrheit zu beeinflussen. Um eine obstruktionistische Totalblockade zu verhindern, erhielt die katholisch-konservative Opposition 1891 einen ersten Sitz im Bundesrat. Fortan waren die Katholisch-Konservativen und nicht mehr die Zentrums-Liberalen Juniorpartner in dem von den Freisinnigen dominierten Bundesrat. Ein erster wichtiger Meilenstein auf dem langen Weg zur Konkordanzdemokratie. Die Ausweitung der Bundeskompetenzen vergrösserte die Bundesverwaltung und steigerte deren Bedeutung im Regierungsbetrieb. Die Departementalisierung prägte nun zunehmend die Arbeitsweise des Bundesrats.


Vorwort

Die Kollegialregierung blieb zwar bestehen, in der Praxis zerfiel sie aber in vielerlei Hinsicht in einzelne Ministerien. Um die dichter gewordenen internationalen Beziehungen – denken wir an die Handelsverträge, an die Aus- und Einwanderungen usw. – effizienter und kohärenter leiten zu können, schuf der Bundesrat 1888 ein eigenes Aussenministerium, kehrte aber wegen Rivalitäten unter den gleichgestellten Kollegen rasch wieder zum alten System des mit den auswärtigen Beziehungen verbundenen Bundespräsidiums zurück. Erst während und nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Aussenministerium endgültig geschaffen. Wie ich im Vorwort zum ersten Band ausführlich geschildert habe, hat meine Bundesrats( wahl )-Geschichte einen langen Entstehungsprozess, der in die 1980er-Jahre meiner Freiburger Professorenzeit zurückreicht. Was ich im Vorwort des ersten Bands geschrieben habe, gilt auch für das vorliegende Buch. Die Einzelporträts im Bundesratslexikon von 2019 stellen für mich die Grundlage für die biografische Darstellung dar. Da ich mich in diesem Band auf die Zeitperiode von 1874 bis zur Jahrhundertwende von 1900 fokussiere, nenne ich speziell folgende Bundesratsporträts : das Porträt von Jürg Simonett über Simeon Bavier, von Otto Sigg über ­Wilhelm Friedrich Hertenstein, Olivier Meuwly über Louis Ruchonnet, Urs Paul Engeler über Adolf Deucher, Peter Ziegler über Walter Hauser, Fritz Grieder über Emil Frey, Urs Altermatt über Josef Zemp, Irène Herrmann über Adrien Lachenal, Urs Altermatt / Elisabeth Salvi über Eugène Ruffy, Peter Martig über Eduard Müller, Georg Kreis über Ernst Brenner, Marc Perrenoud über Robert Comtesse, Urs Altermatt über Marc Ruchet. Dazu kommen die Bundesräte, die zwar vor 1875 gewählt worden waren, aber noch amtierten : Carl Schenk, porträtiert von Urs Altermatt / Hermann Böschenstein, Emil Welti von Urs Altermatt / Heinrich Staehelin, Johann Jakob Scherer von Bruno Wägli, Joachim Heer von Carlo Moos, Fridolin Anderwert von Roger Blum, Bernhard Hammer von Urs Altermatt, Numa Droz von Marc Perrenoud / Jean-Marc Barrelet. Dass sich der seit dem ­Erscheinen des ersten Bundesratslexikons ( 1991 ) feststellbare Trend zur Erarbeitung von neuen Bundesratsbiografien fortsetzt, freut mich. Ich nenne die für diesen Band einschlägigen Biografien von Claudia Aufdermauer und Heinrich Staehelin über Emil Welti und von Urs Kramer / Thomas Zaugg über Numa Droz, wobei mir das letztere, sich im Druck befindende Buch nicht zur Verfügung stand.

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Während das Lexikon ein Sammelwerk von Einzelporträts aus der ­Feder von verschiedenen Autorinnen und Autoren ist, beleuchte ich in diesem Buch komparativ und synthetisch ausgewählte Themen der Bundesratsgeschichte in der chronologischen Längsperspektive, was zu überraschenden Erkenntnissen führt. Damit ich mir ein konkretes Bild von den zeitgenössischen Ereignissen rund um die Vakanzen und Wahlen machen konnte, habe ich eine enorme Fülle von zeitgenössischen Quellen wie Zeitungen, Memoiren, Briefwechsel, Protokolle der Bundesversammlung usw. durchgesehen und Vergleichstabellen erstellt. Bei dieser Gelegenheit danke ich nochmals den Studierenden und Mitarbeitenden, die mich in den 30 Jahren meiner Freiburger Professur in Lehrveranstaltungen und Forschungsarbeiten zum Thema Bundesrat unterstützt haben. Selbstverständlich habe ich weitere Literatur benutzt, die in der Auswahlbibliografie und in den Fussnoten aufgeführt ist. Speziell hebe ich nochmals die wegweisenden Werke von Erich Gruner hervor, auf dessen Vorarbeiten ich mich stützen kann, ohne alle seine Einschätzungen zu teilen. Im Weiteren erwähne ich das von Marco Jorio geleitete Historische Lexikon der Schweiz, die von Bruno Wägli und mir erstellte Datenbank und als politikwissenschaftliches Werk das neue Buch von Adrian Vatter über den Bundesrat. Von besonderem Wert waren für mich die Tabellen der Departementsleitungen, die ich seinerzeit für den Anhang des Bundesratslexikons zusammenstellte. Da ich in die Chronologie immer wieder komparative Hinweise einbaue, sind gewisse Wiederholungen nicht zu vermeiden, sofern ich den Wandel und die Zäsuren in der Bundesratsgeschichte deutlich machen will. Durch das Prisma der Bundesratswahlen lassen sich auch neue Aspekte der schweizerischen Parteiengeschichte besser zur Darstellung bringen, die bisher vernachlässigt worden sind. So ergibt sich aus meinen Forschungen eine Revision der parteipolitischen Bundesratsstatistik. Standen im ersten Band die beiden Regierungsparteien, die Radikaldemokraten ( später FDP ) und die Liberalen ( auch Mitte und Zentrum, später Liberal-Demokratische Partei LDP ) im Zentrum, so widme ich diesmal dem steinigen, ein halbes Jahrhundert dauernden Aufstieg der katholisch-konservativen Opposition zum Juniorpartner das Hauptaugenmerk. Von da her stammt der Buchtitel Der lange Weg zum historischen Kompromiss. Da das Frauenstimmrecht erst 1971 auf Bundesebene eingeführt wurde, verwende ich in diesem Buch über das 19. Jahrhundert die männliche Form.


Vorwort

Wie nach jedem Buch habe ich über den Kreis meiner ehemaligen Studierenden und Mitarbeitenden hinaus vielen guten Geistern zu danken. Ohne die Mitwirkung zahlreicher Personen in Dokumentationszentren, Bibliotheken und Archiven auf Bundes- und Kantonsebene hätte ich dieses Buch nicht vorbereiten und verfassen können. Für die Erstellung des Manuskripts bin ich Claudia Dahinden und in einem früheren Stadium Marisa Thöni zu Dank verpflichtet. Besonders danke ich meinem Sohn Bernhard Altermatt, der sich die Zeit genommen hat, Text, Bibliografie und Anmerkungsapparat durchzusehen und den Fussnotenapparat zu vereinheitlichen. Meine Frau Martha Altermatt-Joller hat mich bei der mühseligen Kontrollarbeit der Zitate, Namen und Zahlen mit sicherem Auge unterstützt. Im Verlag NZZ Libro begleiteten Helmut Stalder, Ingrid Kunz Graf, Ruth Rybi sowie Simon Rüttimann und Nadja Borer das Projekt mit Professionalität. Speziell danke ich der Projektleiterin Tamara Ulrich für die fachkundige und stets freundliche Zusammenarbeit.­ ­Katharina Marti, vom Grafikatelier icona basel, danke ich für die Gestaltung des Buches. Als letztes Jahr der erste Band erschien, beherrschte die Corona-Pandemie die Welt. Seither steht der Bundesrat im Mittelpunkt des öffent­ lichen Interesses wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Während die Schweiz im 20. Jahrhundert mit ihrer flexiblen Neutralitätspolitik Kriegskatastrophen im eigenen Land ausweichen konnte, hält sich die Covid-19-Pandemie nicht an Ländergrenzen. Ob die Corona-Pandemie deshalb am helvetischen Sonderfall-Denken stärker rüttelt, bleibt offen. Solothurn, im Sommer 2021 Urs Altermatt

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Einführung


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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Die Schweiz auf dem Weg zum modernen Nationalstaat Nach der revolutionären Dekade der 1840er-Jahre, die in einem Bürgerkrieg und 1848 in einer neuen Bundesverfassung endete, bildete die Verfassungsrevision von 1874 einen zweiten Meilenstein auf dem Weg zur ­modernen Schweiz.1 Die schweizerische Politik machte epochale Paradigmenwechsel durch. Unter Beibehaltung der Grundarchitektur des Bundesstaats von 1848 erweiterte die revidierte Verfassung die Befugnisse des Bunds in Armee und Rechtswesen, in Wirtschaft und Handel sowie bei der Niederlassungsfreiheit und im Zivilstandswesen und so weiter. Die neue Bundesverfassung bekannte sich zur Religions- und Kultusfreiheit ( allerdings 1848 nur für Christen ) und betonte die Suprematie des Staats über die Kirchen in weltlichen Angelegenheiten, womit die Säkularisierung der Gesellschaft vorangetrieben wurde. Das erste Revisionsprojekt war 1872 wegen der zu weit gehenden Zentralisierung am Widerstand der Föderalisten, namentlich aus den ehemaligen Sonderbundskantonen und aus der Romandie, der romtreuen Katho­ liken und der Französischsprachigen gescheitert. In der Folge kam die zweite Revisionsvorlage mit dem Schlagwort « Il nous faut les Welsches » den Romands entgegen und erlangte 1874 mit dieser Strategie die notwendige doppelte Mehrheit von Volk und Ständen ( Kantonen ). Um der Revisionsvorlage zum Erfolg zu verhelfen, schürten Radikale antikatholische Ressentiments, die sich im erneut aufkommenden Kulturkampf leicht ­mobilisieren liessen, und schreckten nicht davor zurück, in der Bundesverfassung die diskriminierenden « Ausnahmeartikel » gegen die katholische Kirche und deren Klöster und Bistümer zu verschärfen. Neben der Zentralisierung brachte die neue Bundesverfassung erweiterte Volksrechte, die mit der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums 1874 zu Prunkstücken des politischen Systems der Schweiz wurden, 1891 ergänzt durch die Verfassungsinitiative und 1921 durch das Staats­ vertragsreferendum. Damit ging in der Schweiz die Periode der repräsentativen Demokratie zu Ende, wobei der Anstoss zur Reform von den ­Kantonen ausging. Im monarchistischen Europa war der Ausbau der Volksrechte einzigartig. Allerdings waren nicht alle Revisionsbefürworter von der Erweiterung der Volksrechte überzeugt. Das mag erstaunen, weil die allgemeine Mei-


I Einführung

nung heute « liberal » und « demokratisch » als Zwillinge betrachtet und ­dabei übersieht, dass prominente Liberale wie Bundesrat Emil Welti den erweiterten Volksrechten skeptisch gegenüberstanden.2 Oft geht die Opinio communis davon aus, dass die Katholisch-Konservativen reaktionärkonservative Gegner der direkten Demokratie gewesen seien. Dies stimmt pauschalisierend nicht, da der schweizerische politische Katholizismus ( im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche ) dank der alten Tradition der Landsgemeinden und der basisdemokratischen Vereins- und Partei­ bewegungen die Mitwirkung des Volks praktizierte.3 Im Konflikt mit Altliberalen, die das Repräsentativsystem vertraten, waren die Konservativen vielerorts Anhänger der erweiterten demokratischen Volksrechte wie Volkswahl der Regierung und Vetorechte. Die Geschichte ist in Bezug auf die Demokratie in der Schweiz vielfältig, was in internationalen und europäischen Debatten oft Verwirrung stiftet, weil diese von einem ideologisch geprägten Links-rechts-Schema ausgehen. Die Katholisch-Konservativen waren 1872/1874 nicht aus mangelnder Sympathie für mehr Demokratie gegen die Bundesrevision, sondern weil sie als Konservative die Autonomie der Kantone und als Katholiken die Rechte und Privilegien ihrer Kirche bedroht sahen. Die totalrevidierte Bundesverfassung von 1874 blieb trotz des Abbaus des Kantonalismus im Bundesstaat beim Zweikammersystem mit Nationalund Ständerat und beim Bundesrat als tragende Säulen des bestehenden politischen Systems. Die rasante demografische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung sprengte den Handlungsspielraum der Kantone und erforderte regulatorische Eingriffe, die das politische Machtgefüge zur Bundesebene verschoben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Schweiz zu einem « Laboratorium des Fortschritts » mit den Antriebsmotoren Wirtschaft und Wissenschaft, wie dies der Historiker Joseph Jung anschaulich beschreibt.4 Erst im letzten Vierteljahrhundert vor 1900 wurden aus Zürchern und Solothurnern, aus Urschweizern, Tessinern und Waadtländern Schweizer. Vorher war die Lebenswelt der meisten Bewohner des Landes hauptsächlich auf ihre Region und ihren Kanton ausgerichtet. Im Zug des Wirtschaftswachstums und der Industrialisierung mussten immer weniger Schweizer ihre Heimat verlassen. Die Volkszählung von 1900 zählte bereits 11,6 Prozent Ausländer, 1850 waren es 3 Prozent

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gewesen. In den 1880er-Jahren wurde die Schweiz vom Auswanderungszum Einwanderungsland. Der Wirtschaftsboom brachte neue Industriezweige, Fabriken und Handelshäuser hervor, schuf Strassen- und Bahn­ netze und liess die Städte wachsen. Der 1882 vollendete Gotthardtunnel in den Alpen rückte die Schweiz auf der Nord-Süd-Achse in die Mitte ( West-)Europas und stellte ein international bejubeltes Meisterwerk moderner Ingenieurskunst dar. Die Schweizer Berge zogen in der Belle Époque gut betuchte Touristen aus ganz Europa und Übersee an. Damals wurden die Grundlagen für den internationalisierten Finanzplatz gelegt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden die Bundesbahnen und die Nationalbank. In Europa entwickelte sich ein neues Staatensystem und der DeutschFranzösische Krieg von 1870/71 veränderte die geopolitische Lage der kleinen Alpenrepublik.5 Mit Glück und Geschick vermochte sich die Schweiz aus den europäischen Kriegen herauszuhalten, übernahm die 1815 international anerkannte Neutralität als aussenpolitische Maxime und fand ihre spezifische Rolle auf dem internationalen Parkett, die für ihre Aussenpolitik bis heute kennzeichnend ist. Die Tradition der Guten Dienste, die internationalen Vermittlungstätigkeiten und die humanitäre Diplomatie führten 1864 in Genf zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK und zur Ansiedlung internationaler Organisationen wie des 1874 gegründeten Weltpostvereins in Bern. Aus dem suspekten Revolu­ tionsnest der 1840er-Jahre war eine stabile, wirtschaftlich erfolgreiche und politisch verlässliche Republik geworden. Zu fragen ist in diesem zweiten Band zur Geschichte des schweizerischen Bundesrats, wie sich diese Wandlungen und der Übergang von der repräsentativen zur ( semi-)direkten Demokratie auf die Regierungsebene des Bundesstaats ausgewirkt haben. Veränderte sich der Bundesrat als ­Landesregierung und, wenn ja, wie ? Konnte sich die exklusive Herrschaft der Siegerparteien von 1847, die Koalition der Radikalen und der Liberalen, halten und die ( katholisch-)konservative Opposition dauerhaft ausschliessen ? Veränderte die Zentralisierung die Funktionsweise des Bundesrats ? Wandelte sich der Durchschnittstypus der Bundesräte ? Solchen und weiteren Fragen gehe ich in diesem Buch nach, das eine Fortsetzung des ersten Bands Vom Unruheherd zur stabilen Republik ( 2020 ) bildet. Für den Zeithorizont bis zur Jahrhundertwende von 1900 versuche


I Einführung

ich, Veränderungen und Transformationen des Bundesrats in einer synthetisierenden und komparativen Perspektive herauszuarbeiten. Dabei stütze ich mich auf die Porträts des Bundesratslexikons von 2019, die Tabellen im Anhang des Lexikons und die einschlägige Literatur ( Adrian Vatter u. a. ).6 In historischen Längsschnitten mache ich Zusammenhänge, Kontinuitäten und Brüche deutlich, die in den Einzelporträts der Bundesräte per se ­unvollständig zur Darstellung kommen können und in den allgemeinen Werken zur Schweizer Geschichte oft wenig beachtet werden. Zahlreiche ungeschriebene Regeln, die wir heute als sakrosankt ansehen, haben sich langsam und leise nach 1848 entwickelt, sodass ihre Veränderung kaum bemerkt wurde. Auch die Parteigeschichte erhält Präzisierungen und neue Konturen. In Ergänzung zum ersten Band, der die Entstehung des Bundesstaats im Widerstreit der beiden Regierungsparteien, das heisst der Liberalen und der Radikalen, in den Mittelpunkt gerückt hat, lege ich hier den Fokus auf den steinigen Weg der katholisch-konservativen Opposition in den Bundesrat 1891. Mit den Bundesratswahlen lassen sich in der chronologischen Längsperspektive parteipolitische Entwicklungen aufzeigen, die oft überraschend und wenig bekannt sind.

Der Kulturkampf als Integrations- und Mobilisationsfaktor Der Ausgang der Verfassungsabstimmung von 1874 wurde in hohem Mass durch den wieder aufgeflammten Kulturkampf entschieden.7 Im 19. und 20. Jahrhundert war der konfessionelle Graben im Land nie so gross wie damals. Werner Seitz hält dies in seiner Studie über die Resultate der schweizerischen Volksabstimmungen deutlich fest.8 Während der Kulturkampf in Bismarcks Deutschem Reich auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts datiert wird, setzte der schweizerische Kulturkampf bereits in den 1840er-Jahren ein, als die Verfassungskonflikte in der Eidgenossenschaft zu einer Verkonfessionalisierung der Politik führten. Man spricht deshalb auch von einem « Kulturkampf avant la lettre », dessen spätere Phasen als Fortsetzung interpretiert werden können. Auf internationaler Ebene bildeten die Enzyklika Quanta Cura und der Syllabus Errorum von Papst Pius IX. 1864 wichtige Etappenpunkte. Sie fassten die Offensive der römischen Kirche gegen die Moderne und gegen die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft mit der geballten Kraft der

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päpstlichen Autorität zusammen. Papst Pio Nono verurteilte aufs Schärfste alle zeitgenössischen Ideologien als schädliche Irrtümer, vom Indifferentismus und Relativismus über den Liberalismus bis zum Sozialismus und Kommunismus, und beanspruchte die Suprematie der Kirche über den Staat. Unter Pius IX. ging die damalige Kirche von der Voraussetzung aus, dass nur die katholische Lehre wahrhaftig und daher allein gültig sei. Daraus folgerte sie, dass die liberalen Grundrechte und die Demokratie ­abzulehnen seien, womit sich die katholische Kirche an die Spitze der reaktionären Mächte in Europa stellte. Dies nährte den Antipapismus und Antiklerikalismus der liberalen Kräfte, deren Vorurteile in Verschwörungstheorien über den Ultramontanismus umschlagen konnten. Die pauschale Anwendung des pejorativen Begriffs « Ultramontane » auf alle kirchen­ treuen Katholiken als von Rom in allen Lebensbereichen gesteuerte und daher national unzuverlässige Bürger bestärkte – und darin bestand der Teufelskreis – die gleichen Katholiken in ihrem Widerstand gegen Entwicklungen der modernen Welt und motivierte sie, sich in eine Sonderoder Parallelgesellschaft zurückzuziehen.9 Der Kulturkampf der 1870er-Jahre prägte die Gestalt des « politischen Katholizismus » stärker als der Sonderbundskrieg von 1847/48. Seit den 1870er-Jahren war die Ausrichtung des Klerus und der Katholiken nach Rom ausgeprägter. Die kirchentreue katholische Bewegung übernahm in vielen Bereichen die antimodernistische Doktrin und Strategie des Papsttums, verwendete aber im praktischen Alltag der Schweiz die Mittel der modernen Gesellschaft und des liberalen Verfassungsstaats wie Vereine, Zeitungen und Parteien und passte sich bewusst oder unbewusst, freiwillig oder gezwungenermassen an die faktischen Realitäten an. Ohne dass dies von der Amtskirche beabsichtigt war, trug diese Modernisierung dazu bei, dass sich der schweizerische Katholizismus über die Jahrzehnte hinweg in seinen Wertvorstellungen veränderte und sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die liberale Gesellschaft eingliederte – teilweise im harten Konflikt mit Rom und der Amtskirche. Ein Paradoxon der Geschichte.10 Als das Erste Vatikanische Konzil 1870 die Infallibilität des Papsts verkündete, eskalierten die Kulturkämpfe zwischen dem liberalen Staat und der katholischen Kirche in einzelnen Kantonen und auf Bundesebene. Deutlicher als bisher spalteten sich die Katholiken in eine kirchen- und romtreue konservative Mehrheit und eine kirchenkritische und liberale


I Einführung

Minderheit. Weil auch prominente Katholikenführer wie der St. Galler ­Bischof Carl Johann Greith11 und der Führer der katholisch-konservativen Fraktion in der Bundesversammlung, der Luzerner Nationalrat Philipp ­Anton von Segesser, zu den Kritikern des Unfehlbarkeitsdogmas gehörten, war die Lage am Anfang verwirrend. Aufgrund seiner romkritischen Publikationen wird Segesser in der internationalen Literatur als « liberaler » ­Katholik bezeichnet, was die Vieldeutigkeiten und Widersprüche der damaligen Zeit illustrativ aufzeigt.12 Für den Ausgang des innerkatholischen Konflikts spielte eine Rolle, dass « freisinnige » Politiker katholischer Konfession mit Unterstützung von romkritischen Geistlichen eine « christ­ katholische » Nationalkirche aufbauen wollten.13 Was die Kulturkämpfe so komplex machte, war die verworrene Gemengelage von weltanschaulichen und philosophischen, von kirchen-, staats- und verfassungsrechtlichen Streitfragen. In den 1840er-Jahren lautete die zentrale Frage, wie die Eidgenossenschaft als nationales Staats­ gebilde konstruiert werden soll : als Staatenbund oder als Bundesstaat. Da die Religionsangelegenheiten in der Schweiz föderalistisch durch die Kantone geregelt wurden, waren Politik und Religion auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Zwei Geschichtsphilosophien, zwei Staats- und Kirchenauffassungen, zwei Konfessionskulturen prallten aufeinander. Laizistisch orientierte Freisinnige, darunter auch viele politisch und kirchlich liberale Katholiken, kämpften für den Primat des Staats über die Kirchen und traten für Religionsfreiheit ( auch für die Juden ) und einen säkularen Bundesstaat ein. Auf der Gegenseite sahen romtreue und konservative Katholiken, unterstützt von konservativen Protestanten, die Religion und die Rolle der Kirchen durch den säkularen Staat und durch die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft bedroht. Segesser plädierte für eine « freie Kirche in einem freien Staat ». Da diese Katholiken dem Bundesstaat misstrauten, traten sie für eine möglichst weitgehende Autonomie der Kantone ein. So überlagerten sich Verfassungskonflikte mit Kirchenkämpfen, die Opposition gegen die Zentralisierung des Bundesstaats vermischte sich mit der Verteidigung von Religion und Kirche. In radikal-liberal regierten Kantonen wie etwa Solothurn, Aargau und Bern, aber auch auf Bundesebene kam es zu schweren Konflikten mit ­Eingriffen des Staats in das innerkirchliche Leben : 1873 die Absetzung des Bischofs von Basel Eugène Lachat durch die Diözesanstände, im gleichen

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Jahr die Ausweisung des Genfer Weihbischofs Mermillod aus der Schweiz und der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl. Im Kanton Solothurn wurde 1874 das populäre Wallfahrtskloster Maria­ stein faktisch aufgehoben.14 Vor dem Hintergrund dieser verkonfessionalisierten Konflikte fand die zweite Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung statt, die am 19. April 1874 für die katholisch-konservativen Schweizer in einer deutlichen Niederlage endete. 1878 starb Papst Pius IX., der mit seinem reaktionär-antimodernistischen Kurs die Mehrheit der Katholiken gegen den Liberalismus und andere angebliche Irrtümer inspiriert und angetrieben hatte. Mitte der 1880erJahre suchten der Bundesrat und der Heilige Stuhl einen Kompromiss und legten vorerst den Streit um die Bistümer provisorisch bei. 1920 nahm der Heilige Stuhl mit der Eidgenossenschaft, vorerst einseitig, wieder diplomatische Kontakte auf ; erst 1991 bestimmte die Schweiz einen Sonderbotschafter, der im Vatikan akkreditiert war. Die gegen den Jesuitenorden und die Neugründung von Klöstern gerichteten Ausnahmebestimmungen wurden 1973 aus der Bundesverfassung gestrichen, diejenigen gegen die autonome Errichtung von Bistümern durch die Kirche im Jahr 2001. Insgesamt war das Ergebnis des zweiten schweizerischen Kulturkampfs mehrdeutig, der Konflikt hatte teilweise widersprüchliche Folgen. Zum Ersten : Die radikal-liberale Allianz für die Verfassungsrevision gewann 1874 den Abstimmungskampf für eine neue Bundesverfassung, die bisherige Privilegien der Kirchen sowie ihre Zuständigkeiten im Zivilstandswesen, in Ehe und Schule zugunsten des Staats einschränkten. Im katholischen Kirchenvolk trug die konfessionspolitische und antirömische bzw. antiklerikal gefärbte Polarisierung im Kulturkampf – und das ist der zweite Punkt – dazu bei, dass die kirchentreuen Katholiken ihre Reihen schlossen und die Grundsteine für ihre spätere Sondergesellschaft von der Wiege bis zur Bahre legten. Mit anderen Worten mobilisierte die Verkonfessionalisierung der Politik die konservativen Katholiken in einem bisher unbekannten Ausmass in lokalen, kantonalen und nationalen Vereinen und Parteien. Und schliesslich drittens : Die christkatholische Kirche blieb als « Kirche ohne Rom » eine Kleinkirche. Die Gründung einer grossen romfreien Nationalkirche misslang, wie sie radikale Politiker mit katholischem Taufschein, wie der Aargauer Augustin Keller, der Solothurner Wilhelm Vigier, der Berner Constant Bodenheimer und andere in Zusammenarbeit


I Einführung

mit dissidenten Kirchenmännern angestrebt hatten. Wie der Historiker ­Josef Lang zutreffend festhält, scheiterten die freisinnig-radikalen Politiker in der Frage der Kirchenreform.15 Dagegen siegten sie auf politischer Ebene bei der Verfassungsabstimmung und waren von den 1880er-Jahren bis zur Einführung des Proporzwahlrechts nach dem Ersten Weltkrieg die prädominante Macht auf Bundesebene. Auf eine kurze Formel gebracht aktivierte der zweite Kulturkampf mit dem Spaltungsversuch der römischen Kirche die Mehrheit des katholischen Kirchenvolks für Papst und Rom. In der Folge ultramontanisierten sich romtreue Katholiken und bauten den Milieukatholizismus auf, der nun seinerseits die liberalen Katholiken ausschloss und diese als « Taufscheinkatholiken » diskreditierte. Darin besteht das Kulturkampf-Para­ doxon : Der Kulturkampf gegen die reaktionär-konservative Kirche in Rom trug indirekt dazu bei, dass die liberalen Katholiken jahrzehntelang an den Rand gedrängt und marginalisiert wurden und weitgehend in Vergessenheit gerieten. Bis in die Zeit des Zweiten Vatikanums 1962–1965 fand der liberale Katholizismus in der Historiografie wenig Beachtung, weil der konservativ orientierte politische Katholizismus die Vertretung für sich ­allein beanspruchte.16 Die Verdienste des liberalen Katholizismus im Bundesstaat – erinnern wir an die Bundesräte Josef Munzinger und Stefano Franscini, nicht zu vergessen Melchior Diethelm, den Schwyzer Vertreter in der Revisionskommission für die Bundesverfassung von 1848 – gingen grösstenteils vergessen.17 Erst die Erneuerungsbewegung des Zweiten ­Vatikanums 1962–1965, die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die römische Kirche 1965, die Verurteilung des Antisemitismus durch Papst Johannes Paul II. und die rapide Säkularisierung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liessen die Bollwerke des katho­lischen Milieus einbrechen und befreiten die Katholiken von ihrer inneren Selbst­ isolation. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts implodierten die klassischen Sozialmilieus der Katholiken, der Sozialisten und der Freisinnigen mit ihren Erinnerungskulturen. Der Zusammenbruch des katholischen Milieus und die Reformen der römischen Kirche ermöglichten die Renaissance und die Rehabilitation des liberalen Katholizismus. Die katholische Konfessionslandschaft pluralisierte sich in einem ungeahnten Tempo und in erstaunlicher Tiefe. In der Historiografie begannen neue Narrative bisherige

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Geschichtsbilder abzulösen. Die Geschichte des Katholizismus erhielt auch in ihrer öffentlichen Wahrnehmung ursprüngliche Grautöne zurück und das von der Kulturkampfzeit geprägte binäre Geschichtsverständnis begann sich hüben und drüben aufzulösen. Da diese Identitätsdebatten auch den Bundesrat als oberste Repräsentanz der Nation berühren, widme ich in diesem Band dem Aufstieg der katholisch-konservativen Minderheit zur Regierungspartei, dem Kulturkampf-Paradigma und damit dem Ende der politischen Diskriminierung der konservativen Katholiken im historischen Kompromiss von 1891 besondere Aufmerksamkeit und Raum.

Das Referendum als Vetomacht Die Schöpfer der Bundesverfassung von 1848 dachten in den Kategorien der repräsentativen Demokratie und damit des parlamentarischen Systems mit Regierung und Opposition. Um ihren Erfolg von 1847/48 im neuen Bundesstaat zu sichern, verwendeten die Sieger für die Wahlen in die Volkskammer das Majorzwahlsystem, wobei sie mit einfach zu manipulierenden kantonalen Wahlkreisen die Wahlerfolge der Mehrheitspartei ­absicherten und die Stimmen der Opposition benachteiligten.18 Solange die dominierende Parlamentsmehrheit von 1848 an diesem Wahlsystem festhalten konnte, waren die Konservativen und später die Sozialdemokraten als parlamentarische Minderheiten im Nationalrat zur Marginalität verurteilt. Wegen des föderalistischen Aufbaus des Bundesstaats konzentrierten sich die Katholisch-Konservativen deshalb nach 1848 auf ihre Stammlande und versuchten die im Bürgerkrieg mit Waffengewalt verlorene kantonale Herrschaft zurückzugewinnen. Da die Konservativen in den Innerschweizer Landsgemeinde-Kantonen von den Siegern im Bürgerkrieg nie ganz unterdrückt werden konnten, kamen diese rasch wieder unter deren ­Einfluss. In den anderen Hochburgen erfolgte die Rückeroberung der politischen Macht in Etappen : in Zug 1850, in Freiburg 1856, im Wallis 1857 und in Luzern 1871.19 Die Rückgewinnung der politischen Herrschaft in den alten Sonderbundskantonen erklärt, weshalb sich die Katholisch-Konservativen in der Bundesrevision so dezidiert gegen die weitergehende Stärkung des Bundesstaats wehrten. Sie taten dies 1872 erfolgreich – gemeinsam mit den


I Einführung

Konservativen protestantischer Konfession und den um ihre sprachlichkulturelle Identität fürchtenden Romands. In der zweiten Abstimmung 1874 blieben sie isoliert, da die Revisionisten unter Führung des liberalen Bundesrats Welti und des radikalen Waadtländer Nationalrats Ruchonnet den föderalistischen Ängsten in der protestantischen Westschweiz mit ­einer gemässigteren Vorlage entgegenkamen. Mit der Verstärkung der antiklerikalen und antikatholischen Argumente während des Kulturkampfs gelang es den Revisionsbefürwortern, den Abstimmungskampf zu emotionalisieren und die katholisch-konservative Opposition geschickt von ihren protestantisch-konservativen Allianzpartnern zu separieren. Politisch hatte die Niederlage für die Katholisch-Konservativen 1874 weitreichendere Folgen als diejenige von 1847, weil die Revisionisten ihren Sieg dieses Mal auf demokratischem Weg und nicht mit militärischer Macht erlangt hatten. Doch die gleichzeitige Ausweitung der Volksrechte hatte eine von den Revisionsbefürwortern unbeabsichtigte Wirkung. Das neue Instrument des 1874 eingeführten Gesetzesreferendums veränderte die politische Ausgangslage völlig und erwies sich als äusserst effektives Mittel für die konservative Opposition, um den Gesetzgebungsprozess im Bund zu stören.20 Das Referendum gab der bisher in der Bundesversammlung weitgehend machtlosen und meistens minorisierten katholisch-konservativen Fraktion ein Instrument in die Hand, das perfekt geeignet war, um die eigenen ­Anhänger zu mobilisieren und zusammenzuschweissen. Wie Leonhard Neidhart festhielt, vermochte die variabel zusammengesetzte Veto-Koalition von ultramontanen und konservativen Katholiken, von protestan­ tischen Liberal-Konservativen und von Föderalisten aus der welschen und deutschen Schweiz die Regierungskoalition der Radikalen und des liberalen Zentrums wirkungsvoll zu beeinträchtigen. Die ersten grossen Erfolge erlebte die direktdemokratische Oppositionspolitik bereits in den Jahren von 1875 bis 1877. Im Jahrzehnt nach 1875 kam es zu eigentlichen « Referendumsstürmen » der im Modernisierungsprozess abgehängten und unzufriedenen Regionen und Bevölkerungsschichten gegen das regierende Bundessystem. « Getrennt marschieren, vereint schlagen », lautete die Formel Segessers, des langjährigen Führers der katholisch-konservativen Fraktion. Aus taktischen Gründen führte meist der protestantisch-konservative Eidgenössische Verein die Opposition an ; die Katholisch-Konservativen schlossen sich an und stellten den

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Hauptharst der Neinsager. Innerhalb der drei Jahre von 1875 bis 1877 wurden fünf von sieben Gesetzesvorlagen abgelehnt ( siehe die Tabelle der Volksabstimmungsresultate 1875–1900 am Ende des Unterkapitels ). Einen eigentlichen Höhepunkt erreichte die konservative Veto-Allianz am Konraditag, dem 26. November 1882, als sie Bundesrat und Parlament in der sogenannten Schulvogt-Vorlage eine krachende und schmerzhafte Niederlage zufügte. Die Regierungsmehrheit war geschockt. Die Sieger stellten ihr wuchtiges Nein unmittelbar in den Kontext der fehlenden Vertretung der Opposition im Bundesrat. So erklärten die Katholisch-Konservativen, dass ihre Partei die Oppositionspolitik erst aufgeben würde, wenn man sie auch im Bundesrat als Partner einbeziehen werde. Der unerwartet deutliche Sieg gegen den « Schulvogt » ermunterte die Opposition zwei Jahre später, am 11. Mai 1884, vier verhältnismässig unbedeutende Vorlagen mit dem populistischen Schlagwort « Vierhöckeriges Kamel » bachab zu schicken. Damit bekamen die konservativen Abstimmungserfolge eindeutig fundamentalistisch-obstruktionistische Züge. Die herrschende Klasse in Bern geriet in Schrecken und befürchtete eine Blockade der Gesetz­ gebungsmaschine. In der Folge sah sich die im Bundesrat und im Parlament dominierende Regierungskoalition gezwungen, der Opposition entgegenzukommen. Nach einem Vierteljahrhundert mussten die bis anhin selbstherrlichen ­Siegerparteien von 1847/48 eine Strategieänderung vornehmen, um zu verhindern, dass die eidgenössische Politik in die Unregierbarkeit abglitt. Wie beeinflussten die Referendumsstürme die Bundesratswahlen ? Und wie wirkte sich die Strategieänderung der Regierungsparteien aus ? Das sind Fragen, die ich in diesem zweiten Band zu beantworten versuche. Wann und wie wurde die Exklusion der seit 1847 ausgegrenzten Sonderbundsgegner korrigiert ? Welche Veränderungen machte das politische ­System dabei durch ?


I Einführung

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Volksabstimmungen ( Referenden und Initiativen ) 1875 –1900 23. 5.1875

Bundesgesetz betr. Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes und der Ehe Bundesgesetz über die politische Stimmberechtigung der Schweizerbürger

Ja – 51,0 % Nein – 50,6 %

23. 4.1876

Bundesgesetz über die Ausgabe und Einlösung von Banknoten

Nein – 61,7 %

Bundesgesez betreffend die Militärpflichtersatzsteuer

Nein – 54,2 %

Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken Bundesgesetz betreffend den Militärpflichtersatz Bundesgesetz betreffend die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter und den Verlust der politischen Rechte der Schweizerbürger

Ja – 51,5 % Nein – 51,6 % Nein – 61,8 %

19.1.1879

Bundesgesetz betreffend Gewährung von Subsidien für Alpenbahnen

Ja – 70,7 %

18. 5.1879

Bundesbeschluss betreffend Abänderung von Artikel 65 der Bundesverfassung ( Todesstrafe )

Ja – 52,5 %

Bundesbeschluss betreffend den durch das Volksbegehren vom 3. August 1880 gestellten Antrag auf Revision der Bundesverfassung

Nein – 68,2 %

Bundesbeschluss betreffend den Erfindungsschutz Bundesgesez betreffend Massnahmen gegen gemeingefährliche Epidemien

Nein – 52,5 % Nein – 78,9 %

Bundesbeschluss betreffend die Vollziehung des Artikels 27 der Bundes­ verfassung ( Unterrichtswesen )

Nein – 64,9 %

Bundesgesetz betreffend die Organisation des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements Bundesbeschluss betreffend die Patenttaxen der Handelsreisenden

Nein – 58,9 %

Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853 Bundesbeschluss betreffend Gewährung eines Beitrags von 10 000 Franken an die Kanzleikosten der schweizerischen Gesandtschaft in Washington

Nein – 56,0 %

Bundesbeschluss betreffend teilweise Änderung der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft ( Wirtschaftswesen und Alkoholfrage )

Ja – 59,4 %

15. 5.1887

Bundesgesetz betreffend gebrannte Wasser

Ja – 65,9 %

10. 7.1887

Bundesbeschluss betreffend Ergänzung des Artikels 64 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874

Ja – 77,9 %

17.11.1889

Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

Ja – 52,9 %

Bundesbeschluss betreffend Ergänzung der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 durch einen Zusatz bezüglich des Gesetzgebungsrechtes über Unfall- und Kranken­ versicherung

Ja – 75,4 %

Bundesgesetz betreffend die arbeitsunfähig gewordenen eidgenössischen Beamten und Angestellten

Nein – 79,4 %

9. 7.1876 21.10.1877

31.10.1880 30.7.1882

26.11.1882 11.5.1884

25.10.1885

26.10.1890

15. 3.1891 5. 7.1891

Nein – 52,1 %

Nein – 61,5 %

Bundesbeschluss betreffend Revision der Bundesverfassung

Ja – 60,3 %

Bundesbeschluss betreffend Revision von Art. 39 der Bundesverfassung Bundesgesetz betreffend den schweizerischen Zolltarif

Ja – 59,3 % Ja – 58,1 %

6.12.1891

Bundesbeschluss betreffend den Ankauf der schweizerischen Centralbahn

Nein – 68,9 %

20. 8.1893

Eidgenössische Volksinitiative « für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung »

Ja – 60,1 %

18.10.1891


Der lange Weg zum historischen Kompromiss

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4. 3.1894

Bundesbeschluss vom 20. Dezember 1893 betreffend Ergänzung der Bundes­ verfassung durch einen Zusatz bezüglich des Rechts der Gesetzgebung über das Gewerbewesen

Nein – 53,9 %

3. 6.1894

Eidgenössische Volksinitiative « zur Gewährleistung des Rechts auf Arbeit »

Nein – 80,2 %

4.11.1894

Eidgenössische Volksinitiative « zur Abgabe eines Teils der Zolleinnahmen an die Kantone »

Nein – 70,7 %

Bundesgesetz betreffend die Vertretung der Schweiz im Auslande

Nein – 58,8 %

Bundesbeschluss über die Ergänzung der Bundesverfassung durch Zusatz­ bestimmungen betreffend die Einführung des Zündhölzchenmonopols

Nein – 56,8 %

3. 2.1895 29. 9.1895 3.11.1895

Bundesbeschluss über die Revision der Militärartikel der Bundesverfassung

Nein – 58,0 %

4.10.1896

Bundesgesetz betreffend die Gewährleistung beim Viehhandel Bundesgesetz über das Rechnungswesen der Eisenbahnen

Nein – 54,5 % Ja – 55,8 %

Bundesgesetz betreffend die Disciplinarstrafordnung für die eidgenössische Armee

Nein – 80,1 %

28. 2.1897

Bundesgesetz über die Errichtung der schweizerischen Bundesbank

Nein – 56,7 %

11.7.1897

Bundesbeschluss über die Revision des Art. 24 der Bundesverfassung Bundesbeschluss betreffend Bundesgesetzgebung über den Verkehr mit Nahrungsund Genussmitteln und mit solchen Gebrauchs- und Verbrauchsgegenständen, welche das Leben oder die Gesundheit gefährden können

Ja – 63,5 % Ja – 65,1 %

20. 2.1898

Bundesgesetz betreffend die Erwerbung und den Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung des Bundes und die Organisation der Verwaltung der schweizerischen Bundesbahnen

Ja – 67,9 %

13.11.1898

Bundesbeschluss betreffend Revision des Artikels 64 der Bundesverfassung Ja – 72,2 % Bundesbeschluss betreffend Aufnahme eines Artikels 64 bis in die Bundesverfassung Ja – 72,4 %

20. 5.1900

Bundesgesetz betreffend die Kranken- und Unfallversicherung mit Einschluss der Militärversicherung

Nein – 69,8 %

4.11.1900

Eidgenössische Volksinitiative « für die Proporzwahl des Nationalrates » Eidgenössische Volksinitiative « für die Volkswahl des Bundesrates und die Vermehrung der Mitgliederzahl »

Nein – 59,1 % Nein – 65,0 %

Quelle : Bundeskanzlei ( online ).

Transformationen in der Parteienlandschaft Hatte es 1848 einen Bürgerkrieg gebraucht, um die staatliche Neuordnung in die Wege zu leiten, war die Schweiz ein Vierteljahrhundert später so gefestigt, dass 1872 und 1874 zwei demokratische Volksabstimmungen ausreichten, um die Entscheidung herbeizuführen. Der Staat und seine politischen Spielregeln waren stabil genug, damit das Land nicht erneut in einen gewaltsamen Bürgerkrieg abstürzte. Allerdings spaltete die zweite Volksabstimmung die Schweiz 1874 erneut in zwei « familles spirituelles », in die revisionsfreudige radikal-liberale und die oppositionelle katholischkonservative Parteienfamilie.


I Einführung

Mit dem Abstimmungserfolg von 1874 vollendete der Freisinn als weltanschauliche Sammelbewegung die Mission der Gründerväter von 1848, nämlich die nationale Vereinheitlichung der modernen Schweiz.21 Als gesellschaftspolitische Bewegung hatte die « freisinnige Grossfamilie » 1874 ihr Ziel erreicht. Als sich die polarisierenden Kulturkämpfe abkühlten, ­näherten sich die einstigen Protagonisten einander und fanden schliesslich einen historischen Kompromiss. Der Antiklerikalismus, « der bis zum Übergang ins 20. Jahrhundert das Ferment des Schweizer Freisinns darstellt[ e ] » ( so der freisinnige Parteihistoriker Olivier Meuwly ), mässigte sich. Für die weitere Entwicklung der Parteienlandschaft bildeten die 1870er- und 1880er-Jahre wegweisende Schlüsselzeiten.22 Während in den meisten westeuropäischen Ländern die nationalen Parteien aus Honoratiorenklubs der ersten Parlamente herauswuchsen, waren in der Schweiz die Volksrechte die Motoren und Katalysatoren der nationalen Parteibildung. Dies gilt bis heute, wie der Aufstieg der SVP und der Grünen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts belegt. Die Anfangsjahre der neuen Referendumsdemokratie hatten zur Folge, dass sich die Radikalen in der Bundesversammlung 1878 mit den Demokraten zur « radikal-demokratischen Fraktion » vereinigten, um den ­konservativen Referendumsstürmen einen geordneten, von Bern aus dirigierten Widerstand zu leisten.23 Bemerkenswert ist, dass der gewählte Fraktionsname bis in die 1970er-Jahre erhalten blieb. Die organisatorische und programmatische Straffung brachte den Radikal-Demokraten in Kombination mit der von ihnen durchgesetzten Wahlkreisgeometrie bei den Nationalratswahlen von 1881 die absolute Mehrheit zurück – eine Mehrheit, die sie bis 1919 behalten sollten. In den 1880er-Jahren absorbierten in verschiedenen Kantonen die sich mässigenden und in die Mitte rückenden Radikalen die Mehrzahl der ehemaligen Wirtschaftsliberalen um Escher. 1894 wurde die Freisinnig-demokratische Partei ( FDP ) gegründet, die zur prädominierenden Partei in Parlament und Bundesrat wurde. Besonders stark waren die neuen Freisinnigen in den Nordwestschweizer Kantonen Bern, Solothurn, Aargau, Basel-Landschaft und im Waadtland. Auch im Grosskanton Zürich vereinten die Liberalen unter Ulrich Meister und die Demokraten unter Ludwig Forrer ihre Kräfte in der FDP, die fortan als Zürcher Freisinn mit der Neuen Zürcher Zeitung als journalistischem

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Aushängeschild die Ausrichtung des Deutschschweizer Freisinns mitprägte. In der Ostschweiz, wie im Thurgau, in St. Gallen, Glarus und Graubünden, bestanden die Demokraten weiterhin als eigene Parteien. Obwohl die Linksfreisinnigen für sozialpolitische Anliegen und die frankophonen Radicaux ( so weiterhin der Name in der Welschschweiz ) für staatliche Interventionen offen waren, vermochte die FDP die Abspaltung der sozialistischen und sozialdemokratischen Linken nicht zu verhindern. Schon 1888 war ausserhalb des Bundesparlaments die Sozialdemokra­ tische Partei ( SPS ) gegründet worden.24 1896 schloss sich eine kleine Gruppe aus der Ostschweiz zur Äusseren Linken zusammen, die sich danach Sozialpolitische Gruppe nannte, was man als Anfang der sozialdemo­ kratischen Fraktion betrachten kann. Zahlenmässige Bedeutung erlangten die Sozialdemokraten in der Bundesversammlung erst nach der ersten Proporzwahl des Nationalrats im Jahr 1919. Die im Kulturkampf erstarkte Gruppe der katholisch-konservativen Parlamentarier sammelte ihre Kräfte in den Stammlanden und in der Dia­ spora und gab sich 1882/83 ein Fraktionsstatut mit eigenem Programm und formeller Organisation.25 Der Name Katholisch-Konservative ( abgekürzt KK ) bürgerte sich im 20. Jahrhundert ein, in der Presse war aber lange Zeit noch die Bezeichnung « Rechte » gebräuchlich. Mit antirömischem Unterton benutzten die Gegner oft den Begriff Ultramontane. Unter der Leitung des Fraktionspräsidenten Nationalrat Louis Weck-Reynold aus Freiburg wurden erste Versuche zur Gründung einer Landesorganisation schon 1878 unternommen. Doch die damals geschaffene Katholisch-konservative Partei kam wegen innerparteilichen Spannungen zwischen den in der Fraktion der Bundesversammlung starken Stammlanden und den Katholiken in den paritätischen und reformierten Diasporakantonen nicht zum Leben. Der Luzerner Nationalrat Josef Zemp unternahm 1880 unter dem Namen Konservative Union einen neuerlichen, ebenfalls erfolg­losen Versuch. Vorderhand blieb die katholisch-konservative Opposition auf nationaler Ebene eine lose, aber äusserst effektive Referendumsmaschine, die sich bei eidgenössischen Volksabstimmungen formierte und ähnlich wie die Radikalen auf die Unterstützung kantonaler Parteien, Vereine und Presseorgane zählen konnte. 1894 kam die Katholische Volkspartei ­zustande und schlief nach 1900 wieder ein. 1912 konstituierte sich die Konservative Volkspartei, die eine dauerhafte Existenz erlangte.


I Einführung

Auf reformiert-konservativer Seite entstand 1875 der Eidgenössische Verein als lose organisierter Abstimmungsverein, der von Honoratiorenpolitikern aus dem liberal-konservativen Bürgertum der Städte Basel, Zürich, Bern, Lausanne und Genf seine zahlreichen Parteianhänger mithilfe der Basler Allgemeinen Schweizer Zeitung, der Gazette de Lausanne und der ­Tribune de Genève von Fall zu Fall bei Referendumskämpfen mobilisierte.26 Wegen des Majorzwahlsystems und dessen Wahlkreisgeometrie konnten die konservativen Protestanten bei den eidgenössischen Wahlen in den protestantisch geprägten Grosskantonen trotz beachtlicher Stärke nicht ihrer Zahl entsprechend Fuss fassen. 1882 erhielten die Reformiert-Konservativen mit der Bernischen Volkspartei von Ulrich Dürrenmatt einen zahlenmässig ins Gewicht fallenden Verbündeten, der aber auf den Kanton Bern begrenzt blieb.27 Nach einer kurzen Blütezeit von 1875 bis 1885 verschwand der protestantisch-konservative Eidgenössische Verein in den 1890er-Jahren sang- und klanglos von der politischen Bühne. In der Bundesversammlung blieb der in die 1850er-Jahre zurückgehende lockere Klub der Mitte-Liberalen bestehen, nach 1874 nannte er sich Zentrum.28 Als wirtschaftsliberal orientierte Gruppierung hatte sich das Zentrum für die Bundesrevision eingesetzt und politisierte als mässigende Kraft zwischen den Radikal-Demokraten und den Konservativen. Da zahlreiche Anhänger in der deutschen Schweiz nach 1874 zur neuen FDP überliefen, gründete der Rest 1893 die Liberal-demokratische Fraktion, die sich rechts der FDP positionierte und ihre Schwerpunkte in der protestantischen Welschschweiz und in Basel-Stadt besass. 2003 verloren die Liberaldemokraten ihre Fraktionsstärke in der Bundesversammlung und schlossen sich der freisinnigen Fraktion an. 2009 entstand aus der Fusion der zwei Parteien die FDP.Die Liberalen. Trotz verschiedener Versuche, die bis in die Frühzeit des Bundesstaats zurückreichten, gelang es den Katholisch-Konservativen nicht, mit den Protestantisch-Konservativen eine gemeinsame überkonfessionelle Parteiorganisation zu bilden. Obwohl die liberal-konservativen Eliten in den reformierten Städten Bern, Basel und Zürich sowie in den Kantonen Graubünden und Glarus einem solchen Projekt grundsätzlich positiv gegenüberstanden, wagten sie es in den Kulturkampfjahren der 1870erund 1880er-Jahre nicht, ihre zum Teil von antikatholischen Ressentiments geprägte Anhängerschaft in eine feste Parteienorganisation mit den kon-

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

servativen Katholiken zu führen. Das konfessionspolitische Misstrauen verhinderte die engere Kooperation auf konservativer Seite, während sich die Radikal-Demokraten dank ihrer säkularen Weltanschauung überkonfessionell zu sammeln vermochten. Erst ein volles Jahrhundert nach dem Ende des Kulturkampfs sollte es der SVP in den 1990er-Jahren gelingen, auf konservativer Seite die konfessionellen Hürden zu überspringen.29 Die Fusion der CVP mit der BDP 2021 unter dem Namen Die Mitte stellt einen neuen Fusionsversuch einer überkonfessionellen Mitte-Partei dar. Wie bei den Liberalen eineinhalb Jahrzehnte zuvor war auch in diesem Fall der finale Auslöser, dass die von der SVP abgespaltene BDP nach den Nationalratswahlen von 2019 ihre Fraktionsstärke verlor.30


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II

Die Mitte-Liberalen auf dem Höhepunkt der Macht 1875 –1885


34

Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Polarisierung bei den eidgenössischen Wahlen Anderthalb Jahre nach der Verfassungsabstimmung von 1874 fanden im Oktober 1875 die ordentlichen eidgenössischen Wahlen statt, deren ­Ausgang die Öffentlichkeit mit Spannung entgegensah.1 Konnte sich die Volksmehrheit von 1874 auch in den eidgenössischen Räten abbilden ? Es war zu erwarten, dass die Kulturkampfstimmung und die unvorhergesehenen Referendumserfolge der Konservativen im Wahljahr 1875 Spuren hinterlassen würden. Das noch lose katholisch-konservative Parteilager war ­optimistisch. Eine katholische Freiburger Zeitung forderte : « Il faut que l’élection [ … ] soit un véritable plébiscite, une levée en masse. »2 Tatsächlich nahmen bei den eidgenössischen Wahlen die beiden Parteien am rechten und am linken Rand zu. Die Radikalen profitierten von ihrem Sieg in der Verfassungsabstimmung, in der sich Teile der in einigen Kantonen mit den Radikal-Demokraten bisher zerstrittenen Altliberalen im Hinblick auf die Verfassungsrevision versöhnt hatten und nun bereit waren, eine neue radikal-liberale Einheitspartei zu bilden. Die KatholischKonservativen machten sich die Mobilisierung ihrer Anhänger zunutze, die sich wegen der Verfassungsabstimmung und den Kulturkämpfen stärker geeint hatten. Nach Mandaten erhöhten die Radikal-Demokraten 1875 ihre Nationalratssitze von 73 auf 76, die katholisch-konservative Rechte von 28 auf 31.3 Da in den Kantonen St. Gallen und Tessin die Katholisch-Konservativen hinzugewannen, erlangten die militanten Katholiken der Kulturkampfkantone mehr Gewicht und setzten die in der eidgenössischen Politik selbstgenügsam gewordenen katholischen Stammlande unter Druck. Hinzu kam, dass die Stammlande angesichts der Stimmenstärke der paritätischen, das heisst von der Bikonfessionalität geprägten Kantone bei Referendums­ abstimmungen an Bedeutung verloren, was auf die Dauer nicht spurlos an der schweizerischen Parteifamilie vorbeigehen konnte. Während die eidgenössischen Wahlen von 1875 den Trend der Verfassungsabstimmung in der Stärkung der Parteipole bestätigten, führten diejenigen von 1878 zu einem eigentlichen Rechtsrutsch, wie Roswitha Feusi Widmer darlegt.4 Was waren die Gründe ? Die wirtschaftliche Depression erzeugte eine Malaise gegen die herrschende Klasse in Bern, eine Grundstimmung, die den Konservativen zugutekam. Die Referendums-


II  Die Mitte-Liberalen auf dem Höhepunkt der Macht 1875 –1885

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stürme aktivierten unzufriedene Volksmassen und brachten den KK bei den Wahlen Mandatsgewinne – ähnlich wie Ende des 20. Jahrhunderts der SVP. Die Katholisch-Konservativen waren 1878 eindeutig die Wahlsieger, sie besassen nun 33 Mandate im Nationalrat, zu denen zwei ProtestantischKonservative kamen. Im Ständerat zogen sie sogar mit 17 Sitzen an den 16 Radikalen vorbei. Insgesamt kam die konservative Opposition so auf 52 Sitze und erreichte in der Vereinigten Bundesversammlung 29,1 Prozent der Mandate.5 Die Radikalen sanken im Nationalrat auf 67 Mandate ab. ­Fazit : ein eindeutiger Rechtsrutsch im Parlament. Wegen der Polarisierung erlitt die liberal-konservative Mitte Einbussen. Die Wahlerfolge bestärkten die Katholisch-Konservativen in ihrer Erwartung, endlich einen Bundesratssitz zu erhalten. Wie wir aus dem ersten Band wissen, blieben diese Erwartungen bei der Bundesratswahl von 1875 unerfüllt, weil die l­ iberale Mitte an ihren Sitzen festhielt und dem katholisch-konservativen Allianzpartner keinen Sitz abgeben wollte.6 Sitze im National- und Ständerat nach Parteien 1872–1878 Partei

Linke Radikale / Demokraten In % Liberales Zentrum In % Katholisch-Kons. Rechte In % Reformiert-Konservative In % Wilde In % Total

1872

1875

1878

NR

SR

Total NR

SR

Total NR

SR

Total

73

19

76

19

16

9

26

9

28

10

28

16

31

16

35

17

3

0

2

0

5

0

95 53,1 35 19,6 47 26,3  2  1,1 –

67

31

92 51,4 40 22,3 44 24,6  3  1,7 –

1

83 46,4 38 21,2 52 29,1  5  2,8  1  0,6

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Quelle : Gruner, Bundesversammlung 1848 –1920, Bd. 2, S. 195 und 200. NR = Nationalrat, SR = Ständerat. In verschiedenen Statistiken differieren die Zahlen leicht.

Wenn man von rund 14 Prozent für einen Bundesratssitz ausgeht, bedeutete dies 1878 ein Anrecht auf zwei Sitze für die konservative Opposition, die schon 1875 die magische 30-Prozent-Marke fast erreicht hatte. Trotz dieser arithmetischen Ansprüche ging die katholisch-konservative Fraktion


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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

e­ rneut leer aus und errang keinen Bundesratssitz, ja nicht einmal einen Bundesrichter. Das liberale Zentrum klammerte sich an seine Sitze. Von Jahr zu Jahr stellte sich die Frage drängender. Wie lange konnten die beiden Regierungsparteien, die Radikalen und die Liberalen, die Exklusion der starken konservativen Opposition aufrechterhalten ? Etwas resigniert schrieb das Vaterland Ende Oktober 1878 : « Nicht als ob wir nun für die Katholiken eine Ära voller und unverkürzter Gerechtigkeit heranbrechen sähen, aber wir leben der Hoffnung, dass nun der h. Bundesrath zum Theile aus gemässigteren Persönlichkeiten zusammengesetzt und der grosse Krach über den Kulturkampf und dessen getreue Schildknappen hereinbrechen werde. »7 Die Katholisch-Konservativen trösteten sich, dass sie am 10. Dezember 1875 mit ihrer Stimmkraft die Mitte-Liberalen gestärkt und in der Bundesratszusammensetzung eine neue Regierungsformel durchgesetzt hatten.

Neue Bundesratsformel Seit 1876 sassen im Bundesrat drei Magistraten der liberalen Mitte und drei Radikale ( heute FDP ) sowie ein Zürcher Demokrat, der damals zur Mitte ( Zentrum ) gezählt wurde. Der Zentrums-Liberale Welti ( gewählt 1866 ) und der Radikale Carl Schenk ( 1863 ) waren nicht nur nach Amtsjahren die Senioren, sondern auch die Chefs der beiden Regierungsfraktionen. Die vier im Dezember 1875 neu gewählten Bundesräte vertraten in einem Konkordanzsystem « avant la lettre » die beiden bundesrätlichen Parteien : Der Glarner Joachim Heer und der Solothurner Bernhard Hammer waren beide liberal(-konservativ ) und der Thurgauer Fridolin Anderwert und der Neuenburger Numa Droz radikal. Im Verlauf der Jahre rückte Droz zunehmend nach rechts. Da der Zürcher Scherer 1872 als Ersatz für den liberalkonserva­tiven Dubs mit dem Plazet von Welti zum Bundesrat gewählt worden war, stand er den Zentrums-Bundesräten nahe. Alles in allem durfte man von einer liberal( -konservativ )en Mehrheit unter der Führung Emil Weltis sprechen. Hammer kann sogar als Ersatzbundesrat für die immer noch aus­ geschlossene katholisch-konservative Opposition angesehen werden. In den Kampfwahlen von 1875 hatten die Katholisch-Konservativen ihren


II  Die Mitte-Liberalen auf dem Höhepunkt der Macht 1875 –1885

Kandidaten im zweitletzten Wahlgang aus taktischen Gründen zurückgezogen, um die Wahl Vigiers und damit eine radikale Mehrheit im ­Bundesrat zu verhindern. Der Glarner Heer verstand sich von Anfang an als Mann des Ausgleichs und pflegte mit dem katholisch-konservativen Oppositionsführer Philipp Anton von Segesser einen freundschaftlichen Briefwechsel. Die Wahlgänge von 1875 und 1878 zeigten, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Katholisch-Konservativen in die obersten Bundes­ behörden einziehen konnten. Mit dem Freiburger Staats- und Nationalrat Louis de Weck-Reynold hatten sie seit 1872 einen äusserst überlegenen Fraktionspräsidenten, der vom ganzen Naturell her ein Mann des JusteMilieu war. In der Gotthardfrage 1879 setzte er sich aus eisenbahn- und ­finanzpolitischen Erwägungen für einen Kompromiss und damit auch für die Rettung des escherschen Gotthardtunnels ein.8 Da 1875 zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesrats die Mehrheit der Landesväter ausgewechselt wurde, kann man von einem personellen Neuanfang sprechen. Wie 1848 vereinigte der 1875er-Bundesrat Regierungsexpertise, Fachwissen und Reputation. Sieht man genauer hin, besassen sechs der Bundesräte Erfahrung in der kantonalen Exekutive und hatten somit die wichtigste Lehre für das Bundesratsamt hinter sich. Droz, ursprünglich Graveur, dann Lehrer, Journalist und Regierungsrat, war der einzige Romand im Bundesrat. Wie schon ihre Vorgänger stammten fast alle Bundesräte aus der breiten Mittelschicht. Droz’ Vater war Uhrenarbeiter, Schenks Mechanikus, Hammer war der Sohn eines reichen Oltner Wirts, Anderwerts Vater war Bezirksstatthalter. Heer, aus einem bedeutenden Glarner Geschlecht stammend, gehörte zur ländlichen Oberschicht, sein Vater war Landammann. Der Glarner Gutsbesitzer sah auf eine breite politische Erfahrung zurück : Landammann in Glarus und 1867/68 sogar ausserordentlicher Gesandter in Berlin. Als liberal-konservativer Protestant war er in der eidgenössischen Politik ein vermittelnder Brückenbauer.9 Der Thurgauer Jurist Anderwert besass kantonale Regierungserfahrung und war massgebend am neuen Verfassungswerk beteiligt gewesen. Der Solothurner Hammer gehörte nicht den eidgenössischen Räten an, denn er hatte im Kanton Solothurn bei den sogenannten Altliberalen, den « Grauen », politisiert, die durch die Radikalen unter Wilhelm Vigier gestürzt worden waren, weswegen Hammer Karriere ausserhalb

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

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Joachim Heer (   1825  – 1879 )

Fridolin Anderwert (   1828  – 1880 )

1876  – 1878  GL, Zentrum ( Lib. )

1876  – 1880  TG, Rad.

10. Dezember 1875  31. Dezember 1878 1876

10. Dezember 1875  25. Dezember 1880 1876  – 1880

1877 1878 1877

Wahl in den Bundesrat Rücktritt Post- und Telegraphendepartement Politisches Departement Eisenbahn- und Handelsdepartement Bundespräsident

Wahl in den Bundesrat Verstorben im Amt Justiz- und Polizeidepartement

Solothurns machte : Oberinstruktor der Artillerie, seit 1868 Gesandter in Deutschland ( 1871 Deutsches Reich ). Er brachte Expertise in Militärund Diplomatiefragen ins Amt, was nach dem Deutsch-Französischen Krieg von enormem Vorteil war. Der Schaffhauser Wirtschaftsbaron und Nationalrat Peyer Im Hof bezeichnet ihn als « noch konservativer als den liberal-konservativen Cérésole ».10

Schwerer Verlust für das Kollegium Bereits drei Jahre später überraschte 1878 eine Meldung aus dem Bundesrat die Schweiz. Bundesrat Joachim Heer musste aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten.11 Damit verlor das Kollegium eine Persönlichkeit,


II  Die Mitte-Liberalen auf dem Höhepunkt der Macht 1875 –1885

Bernhard Hammer (   1822 – 1907 )

Numa Droz (   1844  – 1899 )

1876  – 1890  SO, Zentrum ( Lib. )

1876  – 1892  NE, Rad.

10. Dezember 1875  31. Dezember 1890 1876 – 1878, 1880  – 1890 1879 1879, 1889

18. Dezember 1875  31. Dezember 1892 1876  – 1878 1879   – 1880, 1882 – 1886 1881, 1887 – 1892

Wahl in den Bundesrat Rücktritt Finanz- und Zolldepartement Politisches Departement Bundespräsident

1881, 1887

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Wahl in den Bundesrat Rücktritt Departement des Innern Handels- und Landwirtschaftsdepartement Politisches Departement ( ab 1888 Departement des Äussern ) Bundespräsident

die als Mediator, auch bei der katholisch-konservativen Opposition, hohes Ansehen besass. Der liberal-konservative Zentrumspolitiker Heer kränkelte schon länger und reichte im verhältnismässig jungen Alter von 53 Jahren nach nur dreijähriger Amtszeit seine Demission ein. In der Landesregierung hatte der Glarner Bundesrat nacheinander drei Departemente geleitet. 1876 übernahm er vom zurückgetretenen Borel zunächst das Post- und Telegrafendepartement und amtete gleichzeitig als Vizepräsident, was für einen neu gewählten Bundesrat eine ausserordentliche Anerkennungsgeste war. 1877 rückte er ins Bundespräsidium mit dem EPD, und nach dem Präsidialjahr wechselte er ins politisch schwierige Eisenbahnund Handelsdepartement, und dies zu einem Zeitpunkt, als sich das


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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

­ rojekt des Gotthardbaus in Schieflage befand. Es brauchte Heers VerP handlungs- und Überzeugungskunst, um die Nachsubventionen mithilfe des katholisch-konservativen Fraktionsführers de Weck durchzubringen. Eine Meisterleistung, die viel Kraft verlangt hatte, wie Carlo Moos im Porträt schreibt. Eigentlich stand Joachim Heer, der mit vielen Vorschusslorbeeren ­gewählt worden war, am Anfang einer grossen Bundesratskarriere, doch es sollte anders kommen. Wegen einer schweren Brustfellentzündung, von der er sich nicht mehr vollständig erholte, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so sehr, dass er am 10. Dezember 1878 auf Ende ­Dezember nach nur dreijähriger Amtszeit seine Demission einreichte. Zwei Monate später erlitt er einen tödlichen Schlaganfall. Wenn Joachim Heer gewürdigt wird, fällt auf, dass er stets als herausragende Vermittlerfigur bezeichnet wird, die sich bereits als Parlamentarier in heiklen Geschäften bewährt habe. Dies bezeugen auch zeitgenössische Stimmen. Er war ein politisches Multitalent, das es als Landammann in Glarus gewohnt war, ziemlich eigenmächtig entscheiden zu können – was in der wachsenden Administration der Bundesverwaltung unmöglich war. Im Bundesratsamt fühlte sich der nicht nur geistig, sondern auch wirtschaftlich unabhängige Politiker mit seiner ebenso sensiblen wie eitlen Psyche unwohl. Im Tagebuch schrieb er von « Bürolisten-Existenz ».12 Der promovierte Jurist verfasste nebenbei als Publizist bemerkenswerte Analysen. So konstatierte er 1870 im Hinblick auf die Bundesrevision, « dass unsere eigenartige Stellung als kleine Republik inmitten der monarchischen Grossstaaten des Welttheils nur möglich & haltbar ist, wenn wir in jedem Betracht auf der Höhe der Zeit bleiben u. nicht [ … ] auf die Be­ deutung einer Sammlung von interessanten Antiquitäten herabsinken ».13 Ich gewinne den Eindruck, dass Heer im steigenden Verwaltungskram des Exekutivamts nicht glücklich wurde. Die Stellung als Bundesrat zwischen den politischen Fronten verbrauchte seine fragilen Kräfte, die er wie sein katholisch-konservativer Briefpartner Segesser lieber als Privatgelehrter eingesetzt hätte. Nach Heers unerwartetem Rücktritt machten sich die Katholisch-Konservativen erneut Hoffnungen, endlich einen Bundesratssitz zu erobern. Mit ihrem angesehenen Fraktionspräsidenten Louis Weck-Reynold be­


II  Die Mitte-Liberalen auf dem Höhepunkt der Macht 1875 –1885

sassen sie einen für die Modernisierung des Bundesstaats aufgeschlossenen Spitzenpolitiker, der sich als Finanzdirektor des Kantons Freiburg ­bewährt hatte und während der Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs in die Bundesexekutive gepasst hätte.14 Da sich der Westschweizer erfolgreich für den Gotthard-Kompromiss eingesetzt hatte, war er im Parlament bei den Regierungsparteien anerkannt. Im Vorfeld der Bundesratswahlen befürwortete die liberale Neue Zürcher Zeitung – und hinter ihr wahrscheinlich Alfred Escher – dieses Mal einen « ultramontanen » ( so wörtlich ) Bundesratssitz. « Wir gestehen, dass wir es nicht für ein Unglück ansehen würden, wenn einmal die Ultramontanen einen Vertreter im Bundesrathe erhielten, zumal einen Mann wie Herrn Weck, den Vertreter einer Kantonsregierung, unter welcher der protestantischen Minderheit vollste Unabhängigkeit in Lehre und Kultus gesichert gewesen ist und dazu ein Mann, der in der Gotthardfrage eine höchst ehrenwerte Rolle gespielt und sich überdies in seinem Heimatkantone besonders befähigt für die Heilung kranker Staatsfinanzen erwiesen hat. »15 War die Zeit für den ersten katholisch-konservativen Bundesrat reif ?

Geschickte Wahl eines Eisenbahnfachmanns in der Gotthard-Krise Im liberalen Zentrum, auf dessen Stimmen die katholisch-konservative Rechte angewiesen war, machte sich Zweifel, ja Widerstand bemerkbar.16 Die Liberalen wollten ihren 1875 mithilfe der Katholisch-Konservativen eroberten Sitz behalten, obwohl ihnen bewusst war, dass ihre zwei Sitze eine Übervertretung darstellten. Diese Rivalitäten innerhalb der Mitte-rechtsAllianz nützten die Radikalen aus und stellten in einem ebenso raschen wie geschickten Schachzug den Ingenieur und Eisenbahnfachmann Simeon Bavier auf, der in den Tessiner Wirren ( Stabio-Handel 1876 ) als eidgenössischer Kommissär erfolgreich vermittelt hatte. Weil die Radikalen zu schwach für einen eigenen radikalen Kandidaten gewesen seien, hätten sie einen « Gegenkandidaten aus dem Lager des Zentrums, wenn auch Gesinnungsgenossen Aeplis » vorgeschlagen, schrieb die NZZ.17 Der Bündner Bavier wurde der liberalen Mitte zugerechnet, legte aber Wert auf seine Unabhängigkeit und bezeichnete sich selbst als « Wilden » im Sinn von « ungebunden », in heutiger Terminologie « fraktionslos ».

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Der lange Weg zum historischen Kompromiss

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Simeon Bavier (   1825  – 1896 ) 1879  – 1883  GR, Zentrum 10. Dezember 1878  5. Januar 1883 1879 1880 –1881 1882 1882

Wahl in den Bundesrat Rücktrittserklärung Finanz- und Zolldepartement Post- und Eisenbahndepartement Politisches Departement Bundespräsident

Mit der Kandidatur dieses unabhängigen Nationalrats aus Graubünden, der mit Heer befreundet war, tricksten die Radikalen die Katholisch-Konservativen listig aus und übernahmen die Initiative und das zögernde liberale Zentrum wurde entlastet. Im Gespräch war auch der tüchtige St. Galler ­Regierungs- und Nationalrat Arnold Otto Aepli, der indessen den linken Radikalen zu liberal war.18 Wie Jürg Simonett in seinem Porträt betont, spielte ebenfalls eine Rolle, dass sich Bavier als Ostalpenanhänger für die Gotthardbahn-Subventionen ausgesprochen hatte. Ähnlich wie die Sozialdemokraten in der Zwischenkriegszeit von 1920 bis 1940 gaben die Katholisch-Konservativen nicht auf und schickten in den gleichzeitig stattfindenden Gesamterneuerungswahlen ihren Frak­ tionspräsidenten Weck demonstrativ gegen die radikalen Amtsinhaber Anderwert, Droz und Schenk ins Rennen, die aber am 10. Dezember 1878 alle im ersten Wahlgang bestätigt wurden. Dabei rückte der radikale Berner Schenk mit einer Stimme über dem absoluten Mehr auf den Ehrenrang des ersten Bunderatssitzes. Bundesrat Welti, der mit Escher die liberale Mitte anführte, musste mit dem zweiten Rang vorliebnehmen – eine Demütigung des stolzen Welti. Bundesrat Droz schaffte die Wiederwahl klar, obwohl er wegen eines internen Streits unter den Neuenburger Radikalen die « Komplimentswahl » in den Nationalrat nicht absolviert hatte.19 Der Luzerner Nationalrat und Publizist Segesser meinte in einem Privatbrief


Die neue Bundesverfassung von 1874 beendete die Periode der ­repräsentativen Demokratie und bildete mit der Einführung direktdemokra­tischer Instrumente wie dem Referendum eine Zäsur in der Schweizer Geschichte. Um eine Blockade der Gesetzespolitik im Bundesstaat zu verhindern, erhielt die  katholisch-konservative ­Opposition 1891 einen ersten Sitz im Bundesrat. Durch die Ausweitung der Bundeskompetenzen konzentrierten sich die einzelnen ­Bundesräte trotz Kollegialregierung immer stärker auf ihre eigenen Ressorts. Der Versuch, ein Aussenministerium zu errichten, schei­ terte an Eifersüchteleien im Kollegium. Dafür etablierte sich das ­Anciennitätsprinzip für den jährlichen Wechsel im Bundespräsidium. Anekdotisch und aufschlussreich schildert Urs Altermatt konkrete Umstände und Ereignisse im damaligen Bundesrat. So kam es zu mehreren Todesfällen im Amt – etwa zum tödlichen Unfall von Bundesrat Carl Schenk, der nach über 31 Amts­jahren auf seinem ­Arbeitsweg von einer Kutsche angefahren wurde. Oder zum tragischen Selbstmord des designierten Bundespräsidenten Fridolin ­Anderwert, der von den Medien diffamiert wurde. Für Bundesräte war damals noch keine Ruhepension vorgesehen, deshalb blieben zahlreiche Magistraten so lange als möglich im Amt, manche bis zum Tod.

Bundesrats— wahlen

Urs Altermatt Der lange Weg zum historischen Kompromiss

Nach dem ersten Band zum jungen Bundesstaat 1848 –1874/75 legt Bundesratsexperte Urs Altermatt nun den zweiten Band zu den ­Entwicklungen im Bundesrat von 1874 bis 1900 vor.

Urs Altermatt

Der lange Weg zum historischen Kompromiss Der schweizerische Bundesrat 1874 –1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle

Urs Altermatt ist Historiker und emeritierter Professor für Zeit­ geschichte an der Universität Freiburg i. Ü., deren Rektor er war. Er ist Herausgeber des Bundesratslexikons ( NZZ Libro, 2019 ).

ISBN 978-3-907291-49-8

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro


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