Pelli, Acklin, Grandjean (Hrsg.): Was heisst denn heute liberal?

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Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean Herausgeber / Editeurs

Was heisst denn heute liberal?

Liberale Antworten auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Que veut dire être libéral aujourd’hui ? Les réponses libérales aux défis du 21e siècle

Mit Zeichnungen von / Avec des illustrations de Cornelia Ziegler

Verlag Neue Zürcher Zeitung Editions Neue Zürcher Zeitung


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Inhalt / Table des matières Vorwort........................................................... 7 Die Herausgeber / Les éditeurs.............................. 12 Einleitung. . ...................................................... 13 Introduction.. ................................................... 16 1. Soziale Verantwortung .. ................................... 21 2. Migration..................................................... 33 3. Privatsphäre / Digitale Welten. . .......................... 53 4. Gesundheit................................................... 76 5. Famille......................................................... 95 6. Religion und Religionsgemeinschaften................ 119 7. Droit et démocratie........................................ 131 8. Umwelt ...................................................... 151 Anmerkungen / Notes....................................... 166 Dank / Remerciements. . ..................................... 168



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Vorwort

Eric Gujer Journalist, seit März 2015 Chef­ redaktor der Neuen Zürcher Zeitung, Buchpubli­kationen über Nachrichtendienste (2006) und die deutsche Aussenpolitik (2007).

Liberalismus ist eine politische Position, die heute nicht mehr selbstverständlich Anhänger findet. In den meisten kontinentaleuropäischen Staaten dominiert ein milder, um nationale Besonderheiten angereicherter Sozialdemokratismus. Linke wie Rechte verteidigen die manchmal recht zweifelhaften Errungenschaften des seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten Sozialstaats, der für Freiheit und Wettbewerb nur beschränkt Raum lässt. Der Sozialstaat umsorgt den Einzelnen in fürsorglicher Belagerung, und er hat hierzu eine Bürokratie aufgebaut, die beständig nach neuen Aufgaben sucht. So ist es beispielsweise in Deutschland längst gleichgültig, wer regiert. Die Leistungen wachsen beständig, je nach politischer Konjunktur werden Familien, Rentner oder Arbeitnehmer beglückt.


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In solch einem Klima muss sich tatsächlich derjenige rechtfertigen, der für Selbstverantwortung der Individuen plädiert. Der Rauswurf der FDP aus dem Deutschen Bundestag ist ein Warnzeichen, wie schnell auch eine seit Jahrzehnten im Parlament verankerte liberale Partei den notwendigen Rückhalt bei den Wählern verlieren kann. Zwar hat die FDP zahlreiche eigene Fehler begangen. Ihre gänzlich auf das Thema Steuern reduzierte Programmatik wurde spätestens dann zum Handicap, als sie die lauthals versprochenen fiskalischen Erleichterungen nicht liefern konnte. Hinzu kamen personelle Probleme und seit der Griechenland-Krise die Spaltung ihrer Klientel in Anhänger und Gegner einer Euro-Rettungspolitik. Doch dies allein vermag den mindestens vorläufigen Niedergang der Freidemokraten nicht zu erklären. Die Häme und die Verachtung, die der Partei im Bundestagswahlkampf 2013 in den Medien und grossen Teilen der Öffentlichkeit entgegenschlugen, deuten vielmehr darauf hin, dass liberale Positionen ganz grundsätzlich zu einem Fremdkörper in der politischen Kultur der Bundesrepublik geworden sind. Die Schweiz entzieht sich wenigstens partiell den europäischen Grosstrends, doch auch hier befanden sich Liberale lange Zeit in der Defensive. Der Niedergang verlief schleichend, er zog sich seit Anfang der 1990er-Jahre fast über zwei Jahrzehnte hin. Auch in der Schweiz haben die Verluste an den Urnen mit einer Spaltung der potenziellen Anhängerschaft in einen linksliberalen, einen bürgerlich-staatskritischen sowie in einen konservativen Flügel zu tun – mit anderen Worten in Grünliberale, FDP und SVP . In den jüngsten Wahlen geht es allerdings für die FDP wieder aufwärts, und viel spricht dafür, dass es sich dabei nicht nur um eine blosse Momentaufnahme handelt. Liberale Ansichten haben es zwar auch in der Schweiz zunehmend schwer. Auch hier wollen die Menschen die Früchte des Sozialstaats geniessen und fügen sich deshalb nicht ungern der Bevormundung durch staatliche Institutionen. Der Steuerstaat ist zwar noch nicht so gefrässig wie andernorts, auch hat das Individuum noch mehr Freiräume, doch Eingriffe ins Wirtschaftsleben werden populärer, und die Regulierung schreitet wie im übrigen Europa voran.


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Vorwort

Wenn sich Freisinnige in diesem ebenfalls ungünstiger werdenden Klima behaupten können, so liegt dies vorrangig darin, dass es ihnen gelungen ist, aus der Defensive herauszufinden und sich zu emanzipieren. Spätestens seit Christoph Blocher das Grounding der Swissair zum Anlass nahm, gegen den angeblichen FDP -Filz vom Leder zu ziehen, haftete Liberalen der Ruf an, nur Vertreter von Wirtschaftsinteressen zu sein. Diese mitunter tatsächlich ungesunde Nähe wurde beendet. Zwar setzt sich die FDP nach wie vor für Belange der Wirtschaft ein und profiliert sich als Stimme der ökonomischen Vernunft, zugleich aber markiert sie Eigenständigkeit. Sie übte beispielsweise Kritik an Fehlentwicklungen in Unternehmen und Branchen. Die Wirtschafts- und ­Finanzkrise 2008/09 sowie die Debatte über «Exzesse» bei Ge­ hältern, Abfindungen oder Boni haben dem Freisinn langfristig vermutlich sogar genützt, weil dies den notwendigen Emanzipationsprozess förderte. Die in ihren Vorschlägen überflüssige bis schädliche Minder-Initiative fungierte als Blitzableiter und Ventil für einen verbreiteten Unmut und erleichterte es so, einen Schlussstrich unter diese Diskussionen zu setzen, welche die Wirtschaft und damit alle wirtschaftsfreundlichen Kräfte an den Pranger stellten. Liberale bekämpften zu Recht die Minder-Initiative, profitieren aber wegen des Schlussstrich-Effekts ironischerweise indirekt von ihr. Heute sind SP (Gewerkschaften, Staatsangestellte) und SVP (Bauern, Gewerbe) klassische Klientelparteien, aber gewiss nicht die Freisinnigen. Eigenständigkeit praktiziert die FDP unterdessen auch gegenüber der SVP . Die Masseneinwanderungsinitiative zeigt «ex negativo», was Liberale auszeichnet. Sie setzen keine falschen Hoffnungen in die EU, verteufeln diese aber auch nicht, sondern versuchen, von der Union zu profitieren, ohne die schweizerische Unabhängigkeit aufzugeben. Die für das Jahr 2017 absehbare Abstimmung über die Zukunft der bilateralen Verträge mit der EU ist damit mehr als nur ein wichtiges sachpolitisches Geschäft, sie wird identitätsbildend für die unterschiedlichen politischen Lager. Die Freisinnigen haben die einmalige Chance, sich als Kraft zu positionieren, die mit Realitäten Politik macht und nicht mit Schreckensvorstellungen.


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Ein Kurs der klaren Abgrenzung, der sachpolitische Zusammenarbeit und einzelne Wahlbündnisse – sogenannte Schulterschlüsse – nicht ausschliesst, hat das Profil der FDP geschärft. Sie ist sich zudem wieder stärker ihrer privilegierten Stellung im Parteiengefüge bewusst geworden. Trotz allem Gerede über die «neue Mitte» von Exponenten der SP, der CVP oder der BDP ist es ­der Freisinn, der eine Schlüsselstellung im Zentrum der Parteienlandschaft einnimmt. Kooperiert er nicht mit der SVP , vermag die stärkste Schweizer Partei ihre Anliegen nur selten durchzusetzen. Die SVP ist also, wenn sie nicht nur dogmatisch eine reine Lehre vertreten, sondern ihre Postulate in die Praxis umsetzen will, sehr viel mehr auf die FDP angewiesen als umgekehrt. Zugleich ist die FDP gegenüber der imaginierten «Mitte» in Sachfragen anschlussfähig, immer unter der Voraussetzung, dass der Freisinn seine Unabhängigkeit nach allen Seiten unterstreicht. Ein Kurs der Abgrenzung nach rechts erfordert daher komplementär auch eine Abgrenzung nach links. Der Begriff der Mitte ist zwar bei Freisinnigen verpönt, weil von anderer Seite usurpiert, doch nimmt die FDP faktisch genau diese Position ein. Sie ist die Mitte der Vernunft, die weder mit überrissenen Initiativen – ob 1:12-Initiative von links oder Masseneinwanderungsinitiative von rechts – noch anderen wirtschaftsfeindlichen Vorstössen das Wohlergehen der Schweiz gefährdet. Sie verfolgt eine pragmatische, unaufgeregte Politik und agiert nicht ideologisch-marktschreierisch wie ihre Wettbewerber zur Rechten wie zur Linken. Sie ist damit das Sammelbecken für Menschen, die von der Politik Lösungen für ihre Probleme statt weltanschauliche Erbauung erwarten. Sie widersetzt sich damit konsequent der seit einigen Jahren zu beobachtenden Reideologisierung der eidgenössischen Politik. Der schweizerische Freisinn vermeidet zugleich genau die Fehler, die den deutschen Vettern zum Verhängnis wurden. Er gibt sich nicht elitär, während sich die deutsche FDP als «Partei der Besser­ verdienenden» anpries, sondern steht allen offen, die sich der Mitte der Vernunft anschliessen wollen. Und er hat ein umfassendes Programm anstatt der Engführung auf die Steuerthematik. Liberalismus ist zunächst eine politische Idee von der Freiheit.


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Vorwort

Der vorliegende Band setzt sich mit zentralen Bereichen auseinander, die für diese Idee konstitutiv sind. Damit aus einer Idee praktische Politik wird, braucht es aber mehr als Werte und eine feste Grundüberzeugung. Taktisches und strategisches Geschick, eine breitenwirksame Kommunikation, Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein sind Tugenden, ohne die man im politischen Alltag nicht weit kommt. Der schweizerische Freisinn hat diese in den letzten Jahren an den Tag gelegt und damit bewiesen, dass sich der Liberalismus auch heute noch in einem sozialdemokratisch und sozialstaatlich gefärbten Umfeld zu behaupten vermag. So stehen Theorie und Praxis in einem permanenten Rückkopplungsverhältnis. Ohne die Reflexion der eigenen Grundlagen wird jede Politik doktrinär; sie verliert über kurz oder lang an ­Anziehungskraft auf die Wähler und Stimmbürger. Ohne eine kraftvolle Praxis verkommen alle normativen Höhenflüge jedoch zu einem sterilen Glasperlenspiel. Hier die richtige Balance zu finden, ist eine Aufgabe, der sich Liberale aller Schattierungen stellen sollten.


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Die Herausgeber / Les éditeurs Fulvio Pelli Dr. iur., Anwalt und Politiker; ehemaliger Grossrat und National­ rat; Präsident der FreisinnigDemokratischen Partei (FDP) 2005 bis 2009 und der FDP. Die Liberalen 2009 bis 2012.

Béatrice Acklin Dr. habil. theol., Theologin; FDPAbgeordnete im Freiburger Parlament und im Freiburger Agglomerationsrat; Autorin zahlreicher Bücher zum Thema Politik und Religion.

Yann Grandjean Juriste, titulaire d’un MPA (IDHEAP) ; chercheur en droit public (droit constitutionnel, droit comparé et analyse des politiques publiques) ; ancien vice-président du PLR.Les Libéraux-Radicaux du Canton de Fribourg.


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Einleitung Der Liberalismus ist unter Druck, der Zeitgeist bläst dieser politischen Idee kalt ins Gesicht. Während in Ländern wie der Ukraine oder Türkei Menschen für die Freiheit auf die Strasse gehen, scheint der politische Liberalismus in vielen liberalen Demokratien Westeuropas an Anziehungskraft verloren zu haben. Die in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte, die errungenen politischen und individuellen Freiheiten haben zur Gewöhnung an die Freiheit und gleichzeitig zu ihrer Entwertung geführt. «Unfrei weiss man um den Wert der Freiheit, freigesetzt verliert man ihn aus den Augen», sagt der Soziologe Gerhard Schulze 1. Dass der Begriff des Liberalismus sich einer klaren Definition entzieht, macht die Sache nicht einfacher: Nicht nur sind die Vorstellungen vieler Bürgerinnen und Bürger vom Liberalismus recht diffus, sondern auch unterschiedlichste politische Bewegungen und Parteien reklamieren für sich, liberal zu sein. Wenn aber das, was Liberalismus bedeutet, nicht in zunehmendem Mass mit Beliebigkeit verwechselt werden soll, dann ist eine minimale Begriffsschärfe erforderlich. Eine kritische Reflexion über das, was mit dem Begriff «Liberalismus» gemeint ist, drängt sich aber auch deshalb auf, weil der Liberalismus in jüngster Zeit für fast alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht worden ist: Unter Missbrauch der Flagge «Liberalismus» segelten zügellose Gier und schamlose eigene Bereicherung. Angesichts dessen, dass das Feuer für die Idee der Freiheit derzeit auf kleiner Flamme brennt, ist umso mehr in Rechnung zu stellen, dass der Liberalismus wie jede andere politische Idee im Kolorit seiner Zeit schattiert ist. Auch der Liberalismus ist zeitlichen Veränderungen unterworfen und muss deshalb immer wieder neu nach Wegen suchen, um sein gleichbleibendes Ziel, nämlich die Freiheit in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, zu erreichen und zu bewahren. Die Herausforderungen, denen wir heute ausgesetzt sind, sind grösstenteils andere als jene, auf die die Vordenker des Liberalismus im 19. Jahrhundert reagiert haben.


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Während gewisse Bedrohungen der Freiheit kleiner geworden oder gar nicht mehr vorhanden sind, erwachsen der Freiheit heute andere Gefahren, etwa durch den Zugriff von Staaten und Unternehmen auf virtuelle Datensammlungen. Wenn Freiheit «ein nie erledigter Auftrag» (Guy Kirsch2) ist, dann muss auch die politische Idee des Liberalismus, die sich am Prinzip Freiheit ausrichtet, immer wieder neu unter den besonderen Voraussetzungen der jeweiligen Zeit durchdekliniert werden. Ein vitaler Liberalismus fällt nicht einfach vom Himmel, sondern muss stets von Neuem erkämpft, verteidigt, entwickelt und gefördert werden. Weil uns von den Vordenkern des Liberalismus historische Welten trennen, bleibt es heutigen freiheitsliebenden Köpfen nicht erspart, Denkmühen darauf zu verwenden und sich zu fragen, was heute, im 21. Jahrhundert, «liberal» heisst: Innerhalb welcher Koordinaten muss ein zeitgemässer Liberalismus, der sich den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts stellt, verlaufen, und was sind «liberale» Antworten auf die wesentlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Diesen Fragen geht die vorliegende, zweisprachige Pu­ blikation nach. Sie versammelt die Gespräche, die Béatrice Acklin, Yann Grandjean und Fulvio Pelli mit freiheitsliebenden Köpfen aus der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und den Medien zu den aktuellen Herausforderungen Privatsphäre / Digitale Welt, Migration, Demokratie und Recht, Religion / Religionsgemeinschaften, Soziale Verantwortung, Gesundheit, Familie und Umwelt geführt haben. Im Gespräch, in dem die Moderatoren gelegentlich die Funktion eines Advocatus Diaboli wahrnehmen, legen die aus unterschiedlichen Landesteilen der Schweiz stammenden liberalen Persönlichkeiten ihr Verständnis von Liberalismus dar und loten liberale Antworten auf wesentliche Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aus. In der Diskussion mit ihrem Gegenüber werden sie dazu angehalten, ihr liberales Selbstverständnis an einem konkreten Thema durchzudeklinieren. Weil liberales Gedankengut sich im Einklang und noch öfter in Reibung mit der praktizierten Politik entwickelt, und weil umgekehrt liberale Politik sich immer wieder ihrer geistigen Grundlagen zu vergewis-


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Einleitung

sern hat, werden Exponenten aus der politischen Theorie und Praxis miteinander ins Gespräch gebracht. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie mit dem jeweiligen, in der öffentlichen Debatte gewichtigen Thema vertraut und für ihre pointierte Meinung dazu bekannt sind. Aus den Gesprächen geht hervor, dass die Antworten, die Liberale auf wesentliche Herausforderungen des 21. Jahrhunderts haben, sich in einzelnen Punkten durchaus unterscheiden können, etwa bezüglich des Freiheits- oder des Staatsverständnisses. Genauso wenig, wie Liberale auf einen Nenner gebracht werden können, genauso wenig gibt es auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur eine liberale Antwort; stattdessen sind es vielfältige, aus liberaler Warte verantwortete Lösungsansätze, die in den Gesprächen vorgebracht und gelegentlich kontrovers diskutiert werden. Die Gespräche machen nicht nur die Vielfalt liberalen Gedankenguts ersichtlich, sondern sie zeigen auch, dass die Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen ihre Haltung an einem klaren Kompass ausrichten. Der liberale «fil rouge», dem sie folgen, durchzieht ihre Argumentation und ihre Gedankengänge und schliesst Beliebigkeit im Sinne eines Sowohl-als-auch aus. Das Eigenkapital an liberalem Gedankengut, das von den Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen einmal leiser und einmal lauter, aber stets engagiert und mit Leidenschaft in die Waagschale der Diskussion geworfen wird, lässt auf ein breites Spektrum an freiheitsliebenden Köpfen schliessen. Ihnen allen gemeinsam ist ein gewisser rebellischer Geist, Skepsis bezüglich politischer Heilsversprechen aller Art, eine grundsätzliche Abneigung gegenüber einem Schwarz-Weiss-Denken und die Überzeugung, dass nicht alles und jedes erkennbar und planbar ist. Lugano / Freiburg / St. Gallen, im Juni 2015 Fulvio Pelli Béatrice Acklin Yann Grandjean


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Introduction Aujourd’hui la confusion est totale. Si l’on en croit l’opinion presque générale, le libéralisme est la cause de tous les maux de notre temps. Comme si John Locke et Benjamin Constant étaient responsables de Bernard Madoff et des dérives du capitalisme financier…  Comment expliquer cette injustice faite au libéralisme ? Le mot « libéralisme » est très connu, mais rares sont ceux qui peuvent en donner une définition qui va au-delà des clichés. Parmi ceux qui se disent libéraux, certains ne le sont donc pas vraiment et d’autres peinent à agir « jusqu’au bout » dans le respect des valeurs libérales. Nous vivons par conséquent dans un monde moins libéral que l’on ne le pense souvent. L’Etat vote sans arrêt de nouvelles lois au nom d’un indéfinissable bien commun. Et les effets pervers de son intervention rendent souvent nécessaire une nouvelle action de sa part, accélérant la spirale de la réglementation et de la taxation. La société devient en elle-même une menace pour les libertés individuelles quand les nouvelles technologies brisent la frontière entre le public et le privé ou encore quand ce qui est « politiquement correct » nous conduit à rejeter nous-mêmes les opinions dissidentes ou minoritaires de nos contemporains. Dans ces conditions, face aux crises, à la fatigue et au doute, le libéralisme devient un bouc émissaire commode et un repoussoir à l’image de ce qu’a pu être le communisme il n’y a pas si longtemps. Pourtant, le libéralisme cherche avant tout l’épanouissement de l’individu et s’en prend à toutes les contraintes que l’on fait peser sur lui. On lui doit la démocratie. On lui doit le libre commerce, la liberté de mœurs et tant d’autres choses. Si ce livre existe, ce n’est pas pour défendre sans réserve le libéralisme. On peut évidemment lui faire un certain nombre de critiques légitimes. Mais on n’a pas le droit de faire porter à la pensée libérale toutes les responsabilités et d’exonérer les vrais responsables des malheurs de notre temps : la censure de la part de ceux qui pensent avoir le monopole de la définition de ce qui est bien, l’étatisme, les immobilismes de gauche comme de droite,


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Introduction

le patriotisme galvaudé, la démagogie et le populisme ou encore l’arbitraire, qu’il soit politique, économique, social ou culturel. Il est donc temps de clarifier les choses et de rappeler ce qu’un libéralisme, bien défini, fait de raison et de mesure, peut et doit apporter à notre époque. C’est ce que se proposent de faire Fulvio Pelli, Béatrice Acklin et Yann Grandjean dans ce livre. Cet ouvrage, bilingue, poursuit une démarche originale : en présence des éditeurs, jouant un peu les « advocati diaboli », deux intellectuels, universitaires ou politiciens, qui peuvent se dire libéraux dans un sens ou dans un autre, se confrontent, sans s’affronter, afin de faire ressortir les points communs et les divergences qui structurent aujourd’hui la pensée libérale en Suisse. Il ne s’agit pas d’opposer, mais d’enrichir. Il ne s’agit pas de souligner les différences, mais de mettre en valeur la vivacité que la pensée libérale peut apporter aux défis du 21e siècle. Les éditeurs ont choisi les intervenants en fonction, d’une part, de leur appartenance à l’une ou l’autre des différentes sensibilités de la famille libérale et, d’autre part, de leur expérience dans le sujet abordé. Lors des entretiens, tous ont d’abord eu l’occasion de définir ce qu’est, selon eux, le libéralisme, puis de décliner cette définition dans le domaine discuté. Après cela, la discussion s’est déroulée, les éditeurs intervenant pour modérer et relancer le débat. Les éditeurs assument conjointement les questions posées aux intervenants. Leurs interventions ne reflètent pas nécessairement leur pensée intime ; elles ont pour but d’animer et de modérer le débat ou de permettre aux intervenants de préciser leurs positions. Les propos des intervenants ont été transcrits en tenant compte de la forme orale. Cet exercice se décline dans huit différents domaines : la responsabilité sociale, la migration, la sphère privée et le monde digital, la santé, la famille et les autres formes de vie en commun, la religion et les communautés religieuses, le droit et la démocratie, enfin l’environnement. Pourquoi ces thèmes ? Parce qu’il fallait faire des choix. Il a fallu identifier quels étaient, du point de vue des éditeurs, les grands thèmes du débat public au cours de ce siècle qui commence encore, avec un accent particulier sur le


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cas suisse. L’ambition était aussi de privilégier des thèmes pour lesquels les libéraux ont des choses intéressantes et parfois divergentes à dire. L’enthousiasme de tous les participants et l’excellente ambiance qui a régné, tant entre les éditeurs que durant les huit entretiens, prouvent la force de la pensée libérale, faite de tolérance et de respect. La lecture de ces entretiens démontre, par la sensibilité et la modération de chacun des intervenants, que toutes les caricatures faites de la pensée libérale ont quelque chose de profondément faux. Parmi les intervenants, on trouve des libéraux « classiques » qui pensent que, pour assurer le bon fonctionnement de la société, il faut défendre les institutions issues du droit naturel ou celles dont l’expérience a prouvé l’efficacité. D’autres, plus « progressistes », insistent davantage sur la protection et la réalisation des droits individuels et préfèrent les options que le marché distingue, fût-ce au détriment des institutions traditionnelles. On voit aussi les libéraux diverger dans leur relation à l’Etat, tantôt régulateur, voire protecteur, tantôt moins. Certains libéraux estiment que la réduction du rôle de l’Etat implique nécessairement une augmentation dans la même proportion de la liberté des individus ; d’autres en doutent, pour jouir effectivement de cette liberté, il faut encore que les individus disposent des moyens intellectuels et matériels nécessaires. Tous se rejoignent sur bien des points, dont un en particulier : les libéraux ont des réponses à apporter. Ces réponses ne disent jamais a priori quelle est la solution à un problème donné, car elles ne sont jamais dirigées d’emblée vers un but déterminé. Le libéralisme soutient l’idée du rôle subsidiaire de l’Etat et de la loi. L’ordre libéral se construit spontanément, par l’expérience, au plus près des singularités et de la vie quotidienne, par la validation des solutions efficaces et la réfutation des autres. Face à l’immensité des défis que notre siècle lance à l’humanité, le libéralisme ne place pas sa confiance dans des solutions artificielles qui sont nées dans les esprits sans doute les plus intelligents, mais pas les plus humbles. Aucun être humain, faillible par nature, ne dispose des connaissances et des capacités suffi-


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Introduction

santes pour saisir et comprendre toutes les relations qui existent dans la société et donc pour anticiper les conséquences d’une action généralisée et imposée par l’Etat. Le libéralisme rejette tout autant les dogmes passés et présents qui, parce qu’ils sont figés et donc inadaptés à notre époque si changeante, offrent une sécurité trompeuse. Pourtant, l’érection de l’ordre libéral a besoin de ces forces qui l’interrogent et le remettent en cause. A mi-chemin entre le socialisme et le conservatisme, il y a le libéralisme. De cette rhétorique, naît l’équilibre libéral. Lugano / Fribourg /St-Gall, juin 2015 Fulvio Pelli Béatrice Acklin Yann Grandjean


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6. Religion und Religionsgemeinschaften

Martine Brunschwig Graf Ökonomin; ehemalige Genfer Staatsrätin; ehemalige National­ rätin; seit 2011 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.

Andrea Caroni Anwalt; Lehrbeauftragter für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen; Nationalrat.

Wie würden Sie Liberalismus definieren und weshalb verstehen Sie sich als Liberale? Andrea Caroni: Der Liberalismus ist die politische Grundhaltung, die von der Freiheit und Selbstverantwortung des Einzelnen ausgeht, in der persönlichen Lebensgestaltung (Gesellschaftsliberalismus) wie in der wirtschaftlichen (Wirtschaftsliberalismus). Der Liberalismus will den Staat nur dort, wo der Einzelne oder seine freiwillig organisierte Gemeinschaft (Familie, Freunde, Vereine usw.) es nicht ausreichend schaffen, das Zusammenleben zu gestalten. Hierfür ist seine ideale Staatsform der föderale, demokratische Rechtsstaat; seine Gegenbilder sind Zwangsherrschaft durch Aristokratie oder Diktatur sowie konservativer oder sozialistischer Interventionismus. Ich bin ein Li-


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beraler, weil jeder Mensch für sich am besten weiss, welcher Weg ihn zum Glück führt. Martine Brunschwig Graf: Liberalismus heisst für mich, sich an drei zentrale Werte zu halten: Verantwortung, Freiheit, Respekt. Diese drei sind voneinander nicht zu trennen. Ist Religion Privatsache? Martine Brunschwig Graf: Ja, ganz klar: Religion ist privat und muss privat bleiben. Andrea Caroni: Religion ist eindeutig Privatsache. Was ich glaube oder nicht glaube, geht niemanden etwas an. Der Staat muss weder wissen, ob ich eine Religion und welche Religion ich habe, noch soll er mir eine vorschreiben. Religion ist privat bis zum Punkt, wo ich beginne, andere mit meiner Religion zu belästigen. Wenn Sie Religion als reine Privatsache betrachten – was bedeutet das dann für die Rolle der Religion in der Gesellschaft? Andrea Caroni: Wenn ich von der Religion als Privatsache spreche, dann meine ich damit, dass Religion den Staat nichts angeht. Das heisst aber nicht, dass Religion sich nur auf den privaten Bereich beschränkt und sich nicht auch auf die Gesellschaft auswirken würde. Inwiefern? Andrea Caroni: Indem Religion sinnstiftend ist, indem sie Wertvorstellungen und Normen vermittelt, indem sie zur Wohltätigkeit animieren kann und Gemeinschaften bildet, geht sie natürlich auch die Gesellschaft etwas an. Martine Brunschwig Graf: Genau. Religion ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur und deshalb mit der Gesellschaft unlösbar verknüpft. In der Stadt Genf, wo ich wohne, ist der indirekte Einfluss des Calvinismus noch immer spürbar, auch wenn die Calvinisten nur noch eine religiöse Minderheit sind. Manche sehen die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft primär darin, Werte zu vermitteln. Ist Religion vor allem eine Wertevermittlungsinstanz?


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Religion und Religionsgemeinschaften

Martine Brunschwig Graf: Nicht eine Instanz, auch wenn die römisch-katholische Kirche es vielleicht so sehen mag. Aber die Religionen – wenn auch nicht sie alleine – spielen bei der Vermittlung von gemeinsamen Werten wie Solidarität, Respekt und Verantwortung, Werten also, auf die eine freiheitliche Gesellschaft fundamental angewiesen ist, eine eminent wichtige Rolle. Andrea Caroni: Ich sehe Religion als Gedankensystem, welches das Verhalten vieler Menschen prägt und sich entsprechend auch auf die Kultur auswirkt. Religion und Freiheit Ist Religion eher förderlich oder erschwerend für die Entwicklung einer liberalen Gesellschaft? Andrea Caroni: Das hängt von der Religion ab, es gibt Religionen mit einem starken Kollektivismus und andere, bei denen das Individuum im Vordergrund steht. Nehmen wir die jüdisch-christliche Religion, die das westliche Europa am meisten geprägt hat …  Andrea Caroni: Es gibt grosse Unterschiede. Wenn eine Religion, wie es im Protestantismus der Fall ist, die Dimension des ganz persönlichen Glaubens des Einzelnen betont, dann stärkt dies das Individuum und wirkt sich günstig auf die Entwicklung des Liberalismus aus. Hat eine Religion jedoch einen gottesstaatlichen Überbau mit einer klaren Hierarchie, Dogmen und strikten Verhaltensregeln, so empfinde ich dies als nicht sehr freiheitsfördernd. Martine Brunschwig Graf: Grundsätzlich würde ich sagen, dass Religionen, welche die Verantwortung des Einzelnen für sich und für andere hochhalten, der Entwicklung des Liberalismus tendenziell dienlich sind. Entsprechend war es ja nicht zufällig, dass die protestantischen Kantone in der Vergangenheit mehr dem Liberalismus zugetan waren als die katholischen. Andrea Caroni: Wenn man das Institutionelle betrachtet, dann kann Religion sehr wohl eine hinderliche Wirkung haben: Ein erklärtes Ziel des Liberalismus war ja auch die Überwindung einer Ständegesellschaft. Insofern scheint die katholische


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Kirche mit ihrer klerikalen Struktur, mit Papst und Bischöfen, einer gleichberechtigten Gesellschaft entgegenzustehen und der Entwicklung des Liberalismus hinderlich zu sein. Wieweit ist Religion dadurch, dass sie eben nicht von einem allmächtigen Staat den Himmel auf Erden erhofft, sondern tendenziell staatskritisch ist, anschlussfähig für den Liberalismus? Andrea Caroni: Aus liberaler Sicht ist die Skepsis gegenüber dem Staat sehr zu begrüssen. Die Frage ist allerdings, was mit dieser ultimativen Skepsis gegenüber dem Staat, die der Christ aufgrund seines Glaubens an die Souveränität Gottes hat, geschieht: Führt das dazu, dass für ihn der Rechtsstaat nicht mehr gilt bzw. sich einem göttlichen Naturrecht unterordnen muss? Ich verlange von einem Christen, dass er seine Skepsis dem Staat gegenüber quasi im frühchristlichen Sinne versteht und dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, also weltlich im System bleibt. Würden Sie so weit gehen und von der Religion als einem kritischen Korrektiv gegenüber dem Staat sprechen? Martine Brunschwig Graf: Religion kann als Korrektiv auftreten, wie wir das zum Beispiel in Polen gesehen haben, wo der Katholizismus wesentlich zum Sturz eines totalitären Regimes beigetragen hat. Andrea Caroni: Es kann eben beides sein: Die Religion kann als Korrektiv auftreten, sie kann aber auch Handlanger oder Verstärker eines Regimes sein. Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft? Martine Brunschwig Graf: Da religiöse Angelegenheiten in der Zuständigkeit der Kantone liegen, kann diese Frage letztlich nur von jedem einzelnen Kanton beantwortet werden. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass eine Gesellschaft beliebig viel Religion verträgt, sofern diese den Rechtsstaat respektiert. Andrea Caroni: Ich stimme dem zu: Eine offene Gesellschaft verträgt an sich beliebig viel Religion, nur der Staat selber darf nicht durchtränkt sein von einer Religion. Sofern sich die Religionen an die Spielregeln des Staates halten, sehe ich kein Problem.


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Religion und Religionsgemeinschaften

Die Religionslandschaft der Schweiz Kommen wir auf die Situation in der Schweiz zu sprechen. Wir haben eine religiös imprägnierte Verfassung mit Gottesbezug in der Präambel, das gesellschaftliche und politische Leben nimmt Rücksicht auf die grossen christlichen Feiertage, es gibt Kantone, in denen am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag ein Regierungsvertreter das sogenannte Bettagsmandat von der Kanzel verliest. Hand aufs Herz: Ist der religiös neutrale Staat in der Schweiz nicht eine Fiktion? Martine Brunschwig Graf: Es geht sogar noch weiter, in der Laienrepublik Genf legen die Staatsräte zu Beginn der Legislatur den Eid auf die Bibel ab oder aber sie entscheiden sich für das Gelübde. Andrea Caroni: Auf die Schweiz bezogen könnte man vielleicht von einer Teilfiktion sprechen. Tatsächlich ist die Feiertagsordnung christlich geprägt. Aber ich sehe dies vor allem unter dem kulturellen Aspekt: Es wird niemand aufgefordert, an Weihnachten zu beten. Martine Brunschwig Graf: Die religiöse Imprägnierung der Verfassung hat mehr zu tun mit der Kultur als mit der Religion. Die Werte, die unser Zusammensein ordnen und bestimmen, sind wesentlich geprägt durch die jüdisch-christliche Religion. Ist die heutige Regelung von Religionsgemeinschaften, die hauptsächlich in die Kompetenz der Kantone fällt und daher sehr unterschiedlich ist, befriedigend? Andrea Caroni: Ich finde die gegenwärtige Situation unbefriedigend. Es geht nicht auf, dass man die Landeskirchen öffentlich-rechtlich anerkennt und andere Religionsgemeinschaften nicht. In meinem Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden haben die beiden Landeskirchen, die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte, spezielle Privilegien. Entweder müsste man diese mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung verbundenen Sonderrechte abschaffen oder sie sämtlichen Religionsgemeinschaften gewähren. Eigentlich kann es nicht Aufgabe des Staates sein, für die Kirchen Steuergelder einzutreiben. Martine Brunschwig Graf: Mir ist sehr am föderalistischen Prinzip gelegen, und nur schon deshalb möchte ich die kan-


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tonale Regelung beibehalten. Aber weil Religion nicht nur Privatsache ist, sondern weil es auch darauf ankommt, wo und in welchem Kontext sie gelebt wird – in der Stadt Genf anders als in Appenzell Innerrhoden –, müssen Glaubensangelegenheiten weiterhin Sache der Kantone sein. Und was heisst das nun in Bezug auf die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaften? Martine Brunschwig Graf: Weil die öffentlich-rechtliche Anerkennung einer Religionsgemeinschaft durch den Staat immer mit Sonderrechten für diese Religionsgemeinschaft verbunden ist, geht es nicht an, dass einfach jede Religionsgemeinschaft anerkannt wird. Die Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften ist an gewisse Bedingungen geknüpft. Eine heikle Sache. Was sind die Kriterien, damit eine Reli­ gionsgemeinschaft öffentlich-rechtlich anerkannt wird, und wer bestimmt diese? Andrea Caroni: Eben. Deshalb würde ich vorziehen, dass die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaften abgeschafft wird. Es ist nicht am Staat zu prüfen, was eine gute Religion ist. Nun erhalten die Landeskirchen ihre Unterstützung durch den Staat aber auch aufgrund ihrer bewährten und breit anerkannten so­ zialen Tätigkeiten … Andrea Caroni: Der Staat kann und soll Organisationen, die karitativ tätig sind, unterstützen. Gewisse soziale Organisa­ tionen kommen ja bereits in den Genuss von Steuererleichterungen oder Steuerbefreiungen. Das sollte man aber nicht an der Religion aufhängen bzw. man sollte nicht einer karitativen Organisation, nur weil sie auch noch eine Religion vertritt, besondere Privilegien erteilen. Grenzen der Religionsfreiheit Machen wir den liberalen Lackmustest: Erlaubt ist, was nicht stört. Wo sind die Grenzen der Religionsfreiheit?


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Andrea Caroni: Kurz und bündig: Dort, wo aus religiöser Motivation die Schwelle zur Gewalt überschritten wird, ist fertig lustig! An ihre Grenzen kommt die Religionsfreiheit aber auch dort, wo sich jemand aus religiösen Gründen Pflichten, die der Staat von einem erwartet, verweigert. Martine Brunschwig Graf: Das Grundrecht der Reli­ gionsfreiheit, die Freiheit, zu glauben, was man will, oder eben nicht zu glauben, ist ein unschätzbares Gut. Grenzen erfährt dieses Grundrecht allerdings dort, wo ich mit der Ausübung meiner Religion die Freiheit der anderen einschränke oder gar beschneide. Es gelten, so würde ich sagen, auch hier die Spielregeln der liberalen Gesellschaft: Meine Freiheit in Sachen Religion hat dort ihre Grenzen, wo andere dadurch in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Was heisst das konkret? Ist Schluss mit der Religionsfreiheit, wenn Einzelne sich durch das kirchliche Glockengeläut gestört fühlen? Andrea Caroni: Kirchliches Geläut muss sich ebenso wie andere Lärmquellen an die allgemeinen Regeln (namentlich die Lärmschutzverordnung) halten. Wendet man diese mit Blick auf die Religionsfreiheit grosszügig an, müsste man fairerweise dem muslimischen Gebetsruf des Muezzins das gleiche Recht einräumen wie dem kirchlichen Glockengeläut. Nach dem Minarettverbot haben zwei Staatsrechtler empfohlen, einen sogenannten Toleranzartikel in der Bundesverfassung zu verankern, der die Religionen zu diskretem Auftreten verpflichtet. Wäre ein solcher Verfassungsartikel aus liberaler Sicht wünschenswert? Martine Brunschwig Graf: Ich halte nichts von einem solchen Toleranzartikel. Wir haben schon genügend Bestimmungen, die das religiöse Leben regeln. Im Übrigen spreche ich lieber von Respekt anstatt von Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften. Andrea Caroni: Inhaltlich bräuchte man tatsächlich keine zusätzlichen Bestimmungen. Aber die Idee, die hinter dem Toleranzartikel stand, war diese: Das Minarettverbot ist diskriminierend und geht zu weit. Heben wir es auf und verlangen wir


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dafür von allen Religionen eine minimale Zurückhaltung im Aussenauftritt. Martine Brunschwig Graf: Ja, aber man kann einen Verfassungsartikel, über den abgestimmt worden ist, nicht mit einem Gegenartikel reparieren, auch nicht im Fall des Minarettverbots. Ein Knackpunkt in der gegenwärtigen Diskussion über die Her­ ausforderungen des freiheitlichen Staates ist die Frage, wie aus liberaler Optik mit der Spannung von Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter umzugehen ist. Oder anders gefragt: Ist der Eingriff des liberalen Staates in religiöse Belange gerechtfertigt, wenn ein Grundrecht wie die Gleichstellung der Geschlechter verletzt wird? Andrea Caroni: Wenn eine Religionsgemeinschaft, die für mich eine rein private Organisation darstellt, beschliesst, dass die einen rechts und die anderen links gehen, vor oder hinter dem Vorhang sitzen müssen, dann soll sie das dürfen. Das Gleichstellungsprinzip wird ja nicht nur durch einzelne Religionsgemeinschaften, sondern gelegentlich auch durch andere private Organisationen geritzt, wie zum Beispiel durch die Rotarier, die oftmals nur Männer aufnehmen. Ich kann das falsch finden. Aber es rechtfertigt dennoch nicht, dass der Staat eingreift. Im Übrigen wird hierzulande niemand gezwungen, in einer Religionsgemeinschaft zu bleiben, man kann jederzeit austreten. Aber gibt es nicht auch Fälle, wo eine Beschränkung von religiösen Praktiken zum Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen angezeigt ist? Martine Brunschwig Graf: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass der Staat den Religionsgemeinschaften auch dann nicht hineinreden darf, wenn diese den Frauen nicht die gleichen Rechte einräumen wie den Männern. Wenn die katholische Kirche Frauen nicht zum Priesteramt zulässt, dann ist das ihr Pro­ blem, aber nicht das des Staates. Aber es gibt Fälle, wo der Staat tatsächlich handeln muss: Vor ein paar Jahren hatten wir einen solchen in Genf, als ein Imam, der zugleich als Lehrer im öffentlichen Dienst stand, unbehelligt die Steinigung von Frauen verteidigte. Da musste der Staat eingreifen und den Lehrer entlassen.


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Es gibt Stimmen, auch liberale, die sagen, es grenze an «repressive Toleranz», wenn mit Verweis auf die Religionsfreiheit geduldet würde, dass Mädchen aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürften …  Andrea Caroni: Das Bundesgericht hat mittlerweile seine Praxis geändert und sagt, die Integration dieser Mädchen ginge vor dem religiösen Bestimmungsrecht der Eltern. Man muss sehen, dass es in diesem Fall ja nicht um einen Erwachsenen geht, der seine eigene Religion wahrnimmt, sondern um einen Erwachsenen, der über die Religion seines Kindes bestimmt. Eine religiös motivierte Dispensation von Schülerinnen vom Schwimmunterricht kommt meiner Meinung nach nicht infrage, aber muslimische Mädchen sollen die Möglichkeit haben, sich zum Beispiel in Burkinis am Schwimmunterricht zu beteiligen. Man findet immer eine Lösung. Religiöse Symbole in der Öffentlichkeit Stichwort religiöse Symbole in der Öffentlichkeit: Sind Weihnachtsfeiern an öffentlichen Schulen zulässig? Martine Brunschwig Graf: Darin sehe ich überhaupt kein Problem. Weihnachten gehört untrennbar zu unserer Kultur. Man muss allerdings den Andersgläubigen den Brauch erklären und den Schülern und Schülerinnen deutlich machen, dass es nicht um ein Glaubensbekenntnis geht. Andrea Caroni: Ich sehe zwar das Spannungsfeld, aber Weihnachten läuft für mich unter dem Stichwort Kultur. Dass in öffentlichen Schulen die Weihnachtsgeschichte aufgeführt wird, ist an sich kein Problem. Die Frage ist allerdings, was passieren würde, wenn es einmal hiesse: Dieses Jahr inszenieren wir nicht die Weihnachtsgeschichte, sondern wir führen etwas aus dem Koran auf, zum Beispiel den Auszug Mohammeds aus Mekka. Streng genommen müsste man das ebenso akzeptieren. Wie ist aus liberaler Sicht der Beschluss des Bundesrates bezüglich des Tessiner Burkaverbots zu beurteilen? Martine Brunschwig Graf: Man muss wissen, dass der ursprüngliche Text sich zuerst nur gegen Vermummungen an De-


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monstrationen richtete und erst später auf religiös motivierte Gesichtsverhüllungen ausgedehnt worden ist. Grundsätzlich finde ich, dass das Tessiner Burkaverbot ein schlechtes Gesetz ist, da unanwendbar. Ein Verbot der Burka wäre nur dann gerechtfertigt, wenn mit dem Tragen der Burka ein echtes Sicherheitsrisiko verknüpft wäre, was bei den wenigen Touristinnen, die eine Burka tragen, nicht der Fall ist. Nun wird aber auch aus liberaler Sicht argumentiert, ein offener Diskurs in einer freien Gesellschaft habe ein Gesicht. Ein Burkaverbot sei gerechtfertigt, um die zwischenmenschliche Kommunikation in einer Demokratie zu sichern. Andrea Caroni: Ich habe dieses Argument nie verstanden. Ich habe doch keinen Anspruch darauf, dass jemand das Gespräch mit mir sucht, und ich kann niemanden dazu zwingen, mit jemand anderem zu kommunizieren. Wenn sich jemand abschotten will, muss er einfach die Nachteile selber tragen. Politik und Justiz befassen sich zunehmend mit religiösen Kleidervorschriften: Ausser dem Burkaverbot gibt auch die Frage, ob muslimische Schülerinnen an einer öffentlichen Schule ein Kopftuch tragen dürften, zu reden. Ja zum Kopftuch, nein zum Kruzifix im Schulzimmer – wäre so etwas akzeptabel? Martine Brunschwig Graf: Ja, durchaus, denn beim Kruzifix handelt es sich eindeutig um ein religiöses Bekenntnis, und von daher ist es nur stimmig, wenn der liberale Staat in öffentlichen Räumen auf das Kruzifix verzichtet. Zusammenfassung Religionsfreiheit gilt nicht nur als wichtige Errungenschaft der Aufklärung, sondern sie gerät auch regelmässig mit anderen Grundrechten in Konflikt. Angesichts der veränderten religiösen Landschaft sieht sich der Rechtsstaat in zunehmendem Masse mit den Wahrheitsansprüchen der verschiedenen Reli­ gionen konfrontiert. Wie hat der freiheitliche Staat darauf zu reagieren, wo liegen die Grenzen der Religionsfreiheit und wie verhalten sich Freiheit und Religion zueinander?


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Im Gespräch wird die eminent wichtige Rolle der Religion in der Vermittlung von Werten, die nicht nur jenseits von Angebot und Nachfrage entstanden sind und gepflegt werden, sondern auf die eine freiheitliche Gesellschaft auch fundamental angewiesen ist, hervorgehoben. Ob Religion sich letztlich eher förderlich oder hinderlich auf die Entwicklung einer liberalen Gesellschaft auswirkt, hängt nach Meinung der Gesprächspartner wesentlich davon ab, welche Rolle sie dem Einzelnen und dessen persönlichem Glauben einräumt. Zusätzliche Anknüpfungspunkte für den Liberalismus bieten Religionen auch dadurch, dass sie tendenziell eher staatskritisch sind und eben nicht von einem allmächtigen Staat den Himmel auf Erden erhoffen. Von der Religion als kritischem Korrektiv gegenüber dem Staat zu sprechen, ginge indessen eindeutig zu weit, insofern Reli­ gionen bzw. deren Vertreter in der Geschichte nicht nur zum Sturz von totalitären Regimen beitrugen, sondern sich gelegentlich auch zu deren Handlangern und Verstärkern machten. Während man sich darin einig ist, dass eine offene Gesellschaft beliebig viel Religion verträgt, sofern sich die entsprechenden Religionsgemeinschaften an die Spielregeln des Rechtsstaates halten, sind die Meinungen über die heutige Regelung von Reli­ gionsgemeinschaften, die hauptsächlich in die Kompetenz der Kantone fällt und die öffentlich-rechtliche Anerkennung betrifft, geteilt. Aus der Debatte geht ferner hervor, dass auch bezüglich der Religionsfreiheit die Maxime der liberalen Gesellschaft zu gelten hat, insofern die Freiheit, eine Religion auszuüben oder eben nicht auszuüben, dort ihre Grenzen hat, wo andere dadurch in ihrer Freiheit beeinträchtigt oder sogar beschnitten werden. Indessen lehnen Liberale die Einmischung des Staates in religiöse Belange grundsätzlich ab, und zwar selbst dort, wo das Gleichstellungsprinzip durch einzelne Religionsgemeinschaften geritzt wird. Résumé Bien que la liberté de religion soit l’une des plus importantes conquêtes des Lumières, elle se trouve régulièrement en conflit avec d’autres droits fondamentaux. Devant un paysage religieux changeant, l’Etat de droit se voit de plus en plus souvent


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confronté aux revendications des différentes religions. Comment un Etat respectueux des libertés doit-il réagir ? Où passent les frontières de la liberté de religion et comment la liberté et la religion s’influencent-elles l’une l’autre ? L’entretien met en évidence le rôle éminemment important de la religion dans la transmission des valeurs qui, non seulement doivent aller au-delà de la loi de l’offre et de demande, mais dont dépend fondamentalement la construction d’une société libérale. L’appréciation positive ou négative de l’influence de la religion sur le développement d’une société libérale dépend, selon les intervenants, essentiellement du rôle que la religion accorde à l’individu et à sa foi personelle. Les autres points de contact entre les religions et le libéralisme se situent dans l’attitude plutôt critique des religions à l’égard des Etats, et pas seulement de ceux, tout-puissants, qui promettent le Ciel sur la Terre. Parler de la religion comme un correctif à l’égard de l’Etat irait en revanche trop loin, dans la mesure où les religions, respectivement leurs représentants, ont, dans l’histoire, certes contribué à la chute des régimes totalitaires, mais se sont aussi faits parfois leurs complices, voire leurs promoteurs. Alors que l’on s’accorde pour dire qu’une société ouverte doive tolérer n’importe quelle religion à condition que les communautés religieuses en question se conforment à l’Etat de droit, les opinions sont plus partagées sur la question, qui relève essentiellement des cantons, de la réglementation des communautés religieuses et sur celle de savoir si les communautés religieuses doivent être reconnues par le droit public. Il ressort du débat en outre que la maxime libérale s’applique à la liberté de religion et que la liberté de pratiquer ou justement de ne pas pratiquer une religion trouve ses limites là même où d’autres individus sont limités ou restreints dans leur propre liberté. Cependant, les libéraux refusent en principe l’intervention de l’Etat dans les communautés religieuses, même là où le principe de l’égalité des sexes est violé par celles-ci.


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