Rochel: Die Schweiz und der Andere lp

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Titel der Originalausgabe: La Suisse et l’Autre. Plaidoyer pour une Suisse libérale © Éditions Slatkine, Genève 2015 www.slatkine.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlag, Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. ­ Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 9783-03810-187-1 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


Präambel der Bundesverfassung von 1999: Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und ­Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, ­geben sich folgende Verfassung: [...]



Inhalt

In

I. Prolog ...................................................... 11

Inh

II. Einleitung ................................................ 17 Eine liberale Schweiz in ihrer Beziehung zum Anderen ... 18 Zwischen Werten und Taten: ein politisches Essay ....... 22

I. P

III .  Liberales Zusammenleben: eine Schweiz der Freiheit verwirklichen ................ 25 Ein Liberalismus für die Schweiz .......................... 27 Für eine Schweiz der Freiheiten: die Haltung einer fundamentalen Offenheit ............................ 42 Das Prinzip des Respekts .................................... 47 Das Prinzip der politischen Teilhabe ...................... 60

IV.  Die liberale Schweiz: die Öffnung für den Anderen in Bewegung ............ 69 Die Rahmenbedingungen der Zuwanderungspolitik ... 72 Die Schweiz als politisches Projekt ........................ 76 Wahl und Verantwortung ................................... 80 V.  Asylpolitik: Grundrechte retten ..................... 83 Zwischen moralischer Dringlichkeit und grundlegenden Rechten ..................................... 86 Die fundamentalen Rechte bewahren ..................... 90 In ihrer Macht ................................................ 92 Für ein kohärentes Modell .................................. 96 Starkes internationales Engagement ...................... 98 VI.  Liberaler Familiennachzug ........................... 105 VII . Arbeitsmigration: Legitimität durch Einbeziehung ......................... 113 Die Auswirkungen unserer Zuwanderungspolitik ...... 114 Den Migranten eine Stimme geben ....................... 118

II. E Ein Zw

III. Ein Fü Da Da

IV. Die Die Wa

V. A Da gu Die In Fü Sta

VI.


Die Folgen unserer Migrationspolitik rechtfertigen und bewerten ................................ 121 Sicherheitsinteressen ........................................ 126 Schweizer Kultur schützen ................................. 128 Bewahrung der natürlichen Ressourcen .................. 132 Förderung der Wirtschaft und der Beschäftigung ....... 135 Vier Argumente für eine Grenze ........................... 145 Entwicklung durch Migration ............................. 145 Mehr Möglichkeiten für legale Zuwanderung ........... 151 VIII .  Plädoyer für eine liberale Schweiz ................ 163

Anmerkungen ................................................ 169 Ausgewählte Bibliografie ................................... 174 Danksagung .................................................. 175 Der Autor ..................................................... 1 76


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I. Prolog Ich bin ein Produkt des Kriegs. Ohne den Zweiten Weltkrieg würde es dieses Buch und seinen Autor nicht geben. Mein Grossvater Robert kam aus dem benachbarten Elsass, um der Einberufung in die Wehrmacht zu entgehen, und fand wie andere, die sich diesem Zwang entziehen wollten, in der Schweiz Zuflucht. Er verbrachte einige Zeit in einem Aufnahmelager, dann wurden ihm Tätigkeiten zum Gemeinwohl zugewiesen. Man schickte ihn ins Unter-Wallis, um auf den Feldern zu arbeiten. Beim Dorffest lernte er eines Abends ein hübsches Mädchen aus der Nachbarschaft kennen, das später meine Grossmutter wurde. Mein anderer Grossvater, Gianni, kam aus Italien. Er hatte schon als Kind in der Schweiz gelebt und war in seine Heimat zurückgekehrt. Als der Krieg ausbrach, kam er wieder in die Schweiz. Die Aussicht, für den Duce zu kämpfen, lockte den Teenager nicht. Durch das Engadin und seine Seitentäler gelangte auch er ins Wallis und verliebte sich in die Frau, die meine andere Grossmutter werden sollte. Ich versuche, mich in die beiden jungen Frauen zu versetzen. Wie empfanden sie ihre Beziehung mit einem Kriegsflüchtling? Ein Deserteur und ein Emigrant – Helden oder Feiglinge? Darüber hatte die Geschichte noch nicht entschieden. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was sie an unfreundlichen Kommentaren, Misstrauen und scheelen Blicken in der Familie und der Nachbarschaft ertragen mussten. Für die Gemeinschaft, die in jener Zeit der erzwungenen Abschottung vor allem ihre Existenz zu schützen suchte, verkörperten meine Grossväter die Anderen. Und als der Krieg zu Ende war? Ich mag noch heute kaum glauben, dass meine Grossmutter ihre Schweizer Staatsbürgerschaft verlor, als sie meinen französischen Grossvater heiratete. Schöne Anerkennung für die Schweizerinnen, die tapfer einen grossen Teil der Kriegslast geschultert hatten. Heute wundert sich niemand mehr über eine italienisch- oder französisch-schweizerische Ehe. Selbst die Hochzeit eines Protestanten mit einer Katholikin würde höchstens bei der Wahl der Hochzeitskirche für


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I. Prolog

etwas Aufregung sorgen. Was aber wäre, wenn mir meine Tochter mitteilen würde, sie wolle einen Kosovaren oder Eritreer heiraten? Wäre das schlimmer als ein Schweizer muslimischen Glaubens? Bisher habe ich es abgelehnt, eine Verbindung zwischen meiner persönlichen Geschichte und meinem Interesse für die Herausforderungen der menschlichen Mobilität und für die Beziehung zum Anderen herzustellen. Ich sehe kein familiäres Schicksal, kein Trauma zwischen den Generationen, das mich unbewusst zu diesem Thema der Migration ziehen würde. Meine Grossväter waren für mich immer ganz normale Bürger. Wir hatten Familie im Ausland, verbrachten ein paar Ferientage mit Tanten oder Cousins in Domodossola und im Elsass, aber das war völlig normal. Meine Grossmütter waren in meinen Augen keine Heldinnen des Migrationskampfs. Sie hatten einen Italiener und einen Franzosen geheiratet. Lohnt es sich überhaupt, das zu erwähnen? Ich bin kein Secondo, ich habe keinen schwer zu tragenden Familiennamen, der mich sofort als «von anderswo» kenntlich machen würde, und ich musste nie um einen Pass oder das Wahlrecht kämpfen. Mit achtzehn gewährte man mir freundlicherweise das Recht, in der Schweiz mitzuentscheiden. Mit vierundzwanzig gab mir das italienische Konsulat ganz selbstverständlich einen italienischen Pass und damit das Recht, bei den Europawahlen mitzustimmen. Ich bin in Monthey im Wallis aufgewachsen, einer Stadt mit 18 000 Einwohnern, mehr als 30 Prozent davon Ausländer. Meine Klassenkameraden und ihre Eltern kamen von unterschiedlichsten Orten, hatten die unterschiedlichsten Schicksale im Gepäck. Mein bester Freund war Italiener, meine Fussballgegner in der Hofpause Portugiesen; ganze Sonntage habe ich bei einer türkischen Familie «Punch out», das legendäre Boxspiel von Nintendo, gespielt. Kenner des Spiels verstehen die Ironie dieser Konstellation. Die Farbe des Passes bildet nur einen winzigen Teil der Wirklichkeit ab, und es wäre falsch, den Blick darauf zu beschränken. In der Pause waren Freundschaft und Fussball wichtiger als Italien und Portugal. Noch heute haben Leidenschaften und Interessen mehr Gewicht als die Nationalität. Die Schweiz des 21. Jahrhunderts bietet uns riesige Freiräume, in denen wir unsere


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Lebensentscheidungen treffen können. Unsere Überzeugungen und unsere Träume führen uns zu neuen Freundschaften und auf neue Lebenswege. Wenn wir erwachsen werden, erschaffen wir uns eine eigene Identität, die dem entspricht, was unserem Dasein seinen Sinn gibt. Diese Entscheidungen machen uns besonders, und jeder wird auf seine Art für jemanden der Andere. Was für eine deprimierende Vorstellung, wir wären dazu verdammt, in einer Gesellschaft von Alter Egos zu leben, in der alle leidenschaftlich gern lesen, kochen, in den Bergen wandern würden! In den Augen unserer Nachbarn sind wir glücklicherweise immer «etwas eigenartig» und unsere Lebensweise «etwas seltsam». Glücklicherweise, weil die liberale Gesellschaft eine Überzeugung in sich trägt: Jeder soll seine Ziele verfolgen, seine Werte wählen und seinen eigenen Lebensstil entwickeln können, auch wenn der Weg in den Augen der Mehrheit zuweilen eigenartig wirkt. In einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern die Freiheit gibt, ihr Leben so zu führen, wie sie es wollen, sind die Ergebnisse manchmal störend. Indem wir diese Freiheit wahrnehmen, werden wir der Andere, mit oder ohne den Pass mit Schweizerkreuz. In Ermangelung einer besonderen Familiengeschichte habe ich angefangen, mich über den Umweg eines philosophischen Textes näher mit den Herausforderungen der menschlichen Mobilität zu befassen. Mein Interesse erwachte in einem stillen Bibliothekslesesaal, weniger romantisch als mit der Erinnerung an Demonstrationen für illegale Flüchtlinge oder an den Aufenthalt in einem von Kriegen und Bürgerkriegen zerstörten Land. 1987 veröffentlichte der kanadische Philosoph Joseph Carens sein Plädoyer für die Öffnung der Grenzen unter dem Titel The case for open borders. Der Titel war Programm: Argumente für offene Grenzen. Der in seiner Argumentation ebenso einfache wie starke Text war die Grundlage für das, was man heute «Migrationsethik» nennt. Als ich diesen Text entdeckte, weckte er den Wunsch, die Entscheidungen zu rechtfertigen, die die Schweiz in Fragen der Zuwanderung und allgemeiner der Beziehung zum Anderen zu treffen hat. Anstatt den Blick auf Einzelschicksale zu richten, wollte ich unsere kollektiven Antworten einer kritischen Bewertung unterziehen. Sind unsere politischen Entscheidungen und


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I. Prolog

Beschlüsse gerecht? Beruhen sie auf guten Argumenten? Sind wir bereit, ihre Konsequenzen zu tragen? Diese Bewertung ist heute aktueller denn je. Sie hinterfragt den Platz der Schweiz in einer Welt, wo die physischen Grenzen allmählichen verblassen, ihre symbolische Existenz jedoch an Gewicht gewinnt. Für die Erasmus- und Easyjet-Generation ist Europa ein riesiger Raum ohne Grenzen, ein Kontinent für Ausbildung, berufliche Verwirklichung und Spass. Die Grenzen der Mobilität werden ständig erweitert: Billigflüge bringen uns bis nach Israel, und ich wette, dass viele Ihrer Freunde schon einmal ein paar Tage in New York verbracht haben. Die Möglichkeit, für «ein paar Tage» Schaufensterbummel auf der 5th Avenue einen transatlantischen Flug zu nehmen, verdient einen Blick auf diese neue Mobilität. Für diejenigen, die an die Aussengrenzen der Europäischen Union prallen, ist dasselbe Europa vielleicht die vernünftigste Option, wenn man sein Lebensniveau und das seiner Familie verbessern will. Die potenziellen Migranten wissen genau, dass das Leben im «europäischen Paradies» hart sein wird. Dank moderner Kommunikationsmittel verbreitet die Diaspora die Informationen in den «Herkunftsländern». Trotzdem machen sich die Menschen weiter auf den Weg. Uns, die wir sicher am Fusse der Alpen sitzen, erreichen schreckliche Bilder auf unserem Tablet. Gleich einem Abgrund taucht vor uns, den Bürgerinnen und Bürgern eines blühenden Landes im Herzen Europas, eine Frage auf: Welche Werte müssen wir mobilisieren, um kohärente, glaubwürdige und den Wohlstand sichernde Antworten auf die Herausforderungen der menschlichen Mobilität zu finden? In der Schweiz wie in Europa trifft diese Frage auf einen politischen Schauplatz, der durch zwei Tendenzen geprägt ist. Einerseits erleben wir eine allgemeine Stärkung der national-konservativen Rechten. Aus der Angst vor dem Fremden kann man ein nahezu unerschöpfliches politisches Kapital schlagen. Der Fremde ist die Quelle unserer Probleme, seine Ausweisung ihre Lösung – das ist immer wieder zu hören. Und während die eigentlichen Zentrumsparteien den markigen Worten der konservativen Nationalisten folgen, wird der Raum zwischen der ver-


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meintlichen «Mitte» und dem rechten Flügel der SP immer grösser und leerer. Andererseits scheinen die Parteien, die sich als liberal bezeichnen, riesige Schwierigkeiten zu haben, ihre Werte auch auf die Frage der Beziehung zum Anderen anzuwenden. Gelähmt und ratlos angesichts der Herausforderungen und der Illusion einfacher Lösungen, überlegen sie, wie sie ihr Erbe mobilisieren können, das auf den Schlüsselwerten Freiheit und Gleichheit beruht. Aber sind die Werte des Liberalismus, die den Erfolg der modernen Schweiz begründet haben, obsolet? Sind sie unnütz, ja sogar gefährlich, wenn es um unsere Beziehung zum Anderen geht? Ich bin zutiefst überzeugt, dass diese Werte die einzige glaubwürdige und kohärente Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit darstellen. Gerade in der Beziehung zum Anderen verkörpern sie die Botschaft von Fortschritt, Offenheit und Verantwortung. Die Gültigkeit der Schlüsselwerte des Liberalismus geht über die Grenzen politischer Meinungen hinaus. Sie sind keineswegs das Privileg einer einzigen Partei, sondern ein Ruf, der alle Verfechter des Humanismus zusammenbringt. Ein Wind des Misstrauens und der Abschottung weht durch die Schweiz und Europa. Würden alle Anhänger einer offenen und progressiven Schweiz auf den Plan treten, um die Gültigkeit der Werte von Freiheit und Gleichheit zu bestätigen, würde durch dieses wiedergefundene Vertrauen der Sturm zur leichten Brise. Unser Wohlstand und unsere Integrität hängen davon ab.



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II. Einleitung «Wir haben da alle im Haus in der Küche die ganz normalen weissen Vorhänge. So ein wenig einheitlich. Dass es auch von aussen einen guten Eindruck macht. Aber das Fräulein Vakulic hat die ganze Zeit, wo sie hier gewohnt hat, keine Vorhänge in der Küche gehabt. Ein schwarzes Loch.» Die Nachbarin der jugoslawischen Einbürgerungskandidatin Aus: Die Schweizermacher (Rolf Lyssy, 1978) Ob man ihn liebt oder verabscheut – der Liberalismus ist überall. Er hat über alle politischen Gegner triumphiert, und im Boxkampf der Gesellschaftsideale würde man ihn zum Sieger durch K. o. erklären. In der Schweiz bezeichnen sich alle Regierungsparteien als liberal, es gibt nur noch ein paar linke oder rechte Extremisten, die dieses Etikett ablehnen. Wenn aber in der Stadt Zürich FDP , CVP und SVP mit dem Slogan «Top 5 für ein liberales Zürich» eine Gemeinschaftsliste bilden, darf man an einer stabilen Basis der gemeinsamen Werte zweifeln. Die Untersuchung des Politikwissenschaftlers Michael Hermann zur «Liberalität» der Bundespolitik verstärkt diesen Eindruck von «All-Liberalität».1 FDP und Grüne stehen an der Spitze des Rankings und kassieren den Preis für Schweizer «Liberalität». Manche applaudieren, andere schütteln den Kopf. Mit solchen Freunden braucht der Liberalismus keine Feinde mehr. Wenn alle liberal geworden sind, hat sich dann das Programm des Liberalismus erledigt? Die wichtigsten Ziele der Gründer unserer modernen Schweiz wären jetzt erfüllt und der Liberalismus Teil der täglichen Arbeit aller politischen Kräfte. Die Übernahme hätte ohne Blutvergiessen stattgefunden: kein Heil ausserhalb des Liberalismus. Doch diesem erdrückenden Sieg in der Nationalpolitik widersetzen sich einige Kritiker, die sich offenbar von nichts überzeugen lassen. Wenn der Liberalismus mit seinem Freund «Neo» daherkommt, erinnert er an die Exzesse der Wirtschaftspolitik à


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II. Einleitung

la Thatcher-Reagan, den zuweilen arroganten Ton der Businesswelt – in der Schweiz nach dem Vorbild des «Weissbuchs» von David de Pury (1995) – oder an eine Globalisierung, die sich ausschliesslich am Profit der reichen Staaten ausrichtet. Sobald der Liberalismus ausschliesslich ökonomisch ist, treten seine Gegner auf den Plan. Das andere Extrem der Kritik bilden die Konservativen jeder Couleur, die empört einen Liberalismus anprangern, der für einen sogenannten «sozialen Fortschritt» herhalten müsse. Nach Ansicht dieser Gegner führt der Liberalismus zu einer energielosen Politik des Zusammenlebens in Form von Multikulti und Quartiersfesten, bei denen man die Nächstenliebe preist. Für sie ist der Liberalismus schuld an der zunehmenden Orientierungslosigkeit vereinzelter Individuen in einer Gesellschaft, in der alles zu schnell geht, in der die natürlichen Grenzen zwischen den Geschlechtern aufgeweicht werden und die Büsten der Autoritätspersonen von einst mit dem Hammer der individuellen Freiheit zerschlagen werden. Kurzum, die alte Welt zerfalle, und wir täten gut daran, uns auf die Apokalypse vorzubereiten. Der Liberalismus findet sich also überall zwischen Liebe, Hass und falschen Freunden. Wie kann man sich angesichts dieser paradoxen Situation auf den Liberalismus berufen und vor allem auf welchen? Die Paradoxa enthalten nicht nur Ungereimtheiten und Lippenbekenntnisse, sondern auch eine politische Chance. Der liberale Diskurs, dessen Kern ein tiefes Vertrauen in den Menschen und den Geist seiner Freiheit bildet, hat allzu lange im Schatten von Abschottung und Rückzug gestanden. Ein Fenster politischer Möglichkeiten hat sich aufgetan, und die progressiven Kräfte wären gut beraten, diese Chance zu ergreifen. Eine liberale Schweiz in ihrer Beziehung zum Anderen Das Konzept der «Beziehung zum Anderen» gleicht einer intellektuellen Rumpelkammer. Für viele ist dieser «Andere» vor allem die Gesamtheit der Nicht-Bürger. Die Schweizer hier, alle anderen dort. Dieser Ansatz nach der Staatsbürgerschaft ermöglicht allerdings nur eine höchst beschränkte Wahrnehmung des Anderen. Die Herausforderung für das liberale Zusammenleben


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Eine liberale Schweiz in ihrer Beziehung zum Anderen

lässt sich nicht auf den Unterschied zwischen Schweizern und Nicht-Schweizern reduzieren. Der Andere ist nicht der Fremde: Er ist mein Nachbar, mein Kollege, mein Mitbürger. Dieser Andere ist der, der anders ist als ich. Er zielt auf die winzige Nuance zwischen dem, was wir als «normal», «logisch» oder gar «natürlich» empfinden, und den Entscheidungen, die unser Nachbar trifft, dem Leben, das er nach seinem Willen führt. Seine Entscheidungen können uns überraschen oder sogar schockieren, aber sie sind nur ein Ausdruck der Wahrnehmung seiner Freiheit. Der Andere, mit dem ich das Zusammenleben gestalten soll, ist ein Mensch in Freiheit, er ist anders als ich und verfolgt seine eigenen Ziele und Absichten. Dieser Andere ist ein Mitbürger, ein Anwohner oder auch eine Person ausserhalb der politischen Gemeinschaft.2 Entsprechend dieser Definition des Anderen bilden zwei Schlüsselbereiche das Rückgrat dieses Essays. Der erste hinterfragt die Grundlagen einer Beziehung zum Anderen, der bereits anwesend ist, dem Individuum, das innerhalb der politischen Gemeinschaft neben mir lebt. Der zweite umfasst die äussere Dimension dieser Beziehung zum Anderen, das Individuum in Bewegung, das um Zugang zu der Gemeinschaft bittet. Es geht um die Frage der Zuwanderung und der Verantwortung des Landes. Zwischen diesen beiden Hauptthemen erhebt sich die imposante Frage der Grenze. Die Grenze markiert die Ausdehnung einer politischen Gemeinschaft und einer juristischen Ordnung. Diesseits dieser symbolischen Linie beginnt die Schweiz. Der Liberalismus verlangt weder die Abschaffung von Grenzen noch ihre Anbetung. Fragen, die mit dieser Grenze zu tun haben, müssen sich an den Werten messen lassen, die sich die Schweiz gewählt hat. Die Grenzpolitik ist kein singulärer Gegenstand, der sich der Forderung nach Kohärenz entzieht. Fassen wir es in einem Bild: Die Arbeit eines fiktiven Zöllners, der entscheidet, wer die Schweiz betritt und sich in ihr aufhält, muss im Licht der Verfassungswerte beurteilt werden. Entsprechend der Analogie des Schweizer Intellektuellen Adolf Muschg gleicht die politische Gemeinschaft einer Zelle, die von einer durchlässigen Membran umschlossen wird und deshalb ständig mit dem in Kontakt ist,


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II. Einleitung

was sie umgibt. Dank der Membran kann die Gemeinschaft als Gemeinschaft entscheiden, sie sichert das Recht der Mitglieder, über ihr Schicksal zu entscheiden, spiegelt ihnen jedoch kein Leben ohne Kontakt und ohne Verantwortung nach aussen vor. Sie sind absolut co-abhängig von der Aussenwelt. Der liberale Ansatz stellt die notwendigen Fragen nach der Existenz, der Rechtfertigung und der Handhabung dieser Membrangrenze. Er lässt den Werten von Freiheit und Gleichheit Gerechtigkeit widerfahren, und zwar sowohl im Inneren der Gemeinschaft als auch hinsichtlich der Beziehungen, die die Gemeinschaft nach draussen unterhält. Im ersten Teil des Essays beschäftige ich mich mit den «inneren» Herausforderungen der Anwesenheit des Anderen und werde für die Stichhaltigkeit des liberalen Zusammenlebens plädieren. Wie kann eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die nach individueller Freiheit streben, einen Gesellschaftsrahmen schaffen, in dem sich alle in ihren persönlichen Lebensentscheidungen entfalten können? Um diese wesentliche Frage zu beantworten, wird der Blick auf die Realität der «pluralistischen» Schweiz eine wertvolle Hilfe sein. Wie alle liberalen Demokratien hat auch die Schweiz den Weg zu einer grundlegend anderen Gesellschaft eingeschlagen. Jeder erfindet sich das Leben, das er sich wünscht, und wird schon dadurch «fremd» zwischen dem Vertrauten, «ungleich» zwischen dem Gleichen. Diese Entwicklung ist eine wunderbare Neuigkeit: Sie spiegelt die Kraft des Wertes Freiheit wider. Es wird keine Rückkehr zu einer vermeintlich homogenen Schweiz geben, zu jener Schweiz der Träume, in der alle dieselben Werte und Ideale teilten und die politische Ordnung auf einem Einheitsfundament ruhte. Diese Illusion trägt mehrere Namen: Tyrannei der Mehrheit, Diktatur der grössten Zahl, Verletzung der Freiheit. Anstatt dieser romantisch-konservativen Verirrung nachzugeben, hat die Schweiz keine andere Wahl als die Verwirklichung einer Schweiz der Freiheit. Die Schweiz muss danach streben, der Ort der Freiheit im Herzen Europas zu werden, der Ort, an dem man seine Talente und Lebensziele verwirklichen kann. Um das zu erreichen, müssen wir unsere Selbstwahrnehmung von Grund auf ändern. Voller Stolz sollten wir die Freiheit feiern


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Eine liberale Schweiz in ihrer Beziehung zum Anderen

und die Unterschiede würdigen. Als Konsequenz aus dieser Offenheit sollten wir auch unsere Ansichten zur Integration überdenken und überlegen, was man braucht, um ein vollwertiges Mitglied unseres Gesellschaftsprojekts zu sein. In einer pluralistischen Gesellschaft die Schablone des perfekten «Helvetiers» aufzulegen ist ebenso gefährlich wie illegitim. Und schliesslich sollten wir für alle, die sich am «Projekt Schweiz» beteiligen, die Gleichheit durchsetzen. Ungeachtet der Farbe ihres Passes zwingen uns unsere demokratischen Anforderungen und unsere wohlverstandenen Interessen, allen das Recht der politischen Partizipation zuzubilligen. Dieses liberale Programm verlangt von uns ein ständiges Bemühen um Offenheit und Vertrauen. Aber die Anstrengung wird belohnt werden. Lehrt uns nicht die Geschichte des Landes, dass die Freiheit in guten Händen ist, wenn diejenigen, die sie verlangen und ausüben, sie auch unmittelbar verteidigen können? Im zweiten Teil des Essays stellt uns der Andere in Bewegung vor Herausforderungen, die ich als «Zuwanderungspolitik» der Schweiz bezeichne: Wie lassen sich die Werte von Freiheit und Gleichheit in unseren Entscheidungen in Bezug auf die Mobilitätspolitik gegenüber dem Anderen verwirklichen? Diese Frage zu beantworten heisst vor allem, Verantwortung und Kohärenz zu beweisen. Die Schweiz kann nicht die Freiheit überall als Grundwert preisen und sie zugleich künftigen Einwanderern verwehren. Sie kann sich nicht auf Gleichheit zwischen allen Menschen berufen und sich dann weigern, ihre Verantwortung in der Zuwanderungspolitik anzuerkennen. Wenn sie kohärent sein will, hat die Schweiz keine andere Wahl (und auch kein anderes Interesse), als das Streben nach der Universalität zu akzeptieren, zu der ihre Grundwerte auffordern. Der Glaube, das «Problem» der Migration lasse sich «lösen», fördert eine Bunkerpolitik, mit der man sich von der Realität der Welt abschottet. Dass die Schweiz Zeter und Mordio schreit, hält die Menschen und Ideen nicht davon ab, sich zu bewegen. Man muss diese Realität ebenso zur Kenntnis nehmen wie die Chancen, die sie mit sich bringt, um endlich ein grosses Programm der Begleitung und des Umgangs mit den Herausforderungen der Mobilität zu entwickeln.


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II. Einleitung

Im Verlauf unserer Überlegungen wird ein Schlüsselwort hervortreten: Normalität. Das Essay plädiert für eine Schweiz, die die absolute Normalität der Herausforderungen anerkennt, denen sie sich stellen muss. Die Schweiz entwickelt sich unabwendbar zu einer Gesellschaft, die immer stärker von einer Vielfalt der Lebensläufe und Werte geprägt sein wird. Dieses Land mit 8 Millionen Einwohnern wird sich der Mobilität dieser Welt bewusst, die man immer leichter durchqueren und bereisen kann. Die Abstimmung vom 9. Februar 2014 über die Rückkehr zu staatlichen Kontingenten zeugte davon, dass der Bevölkerung diese Mobilität bewusst wird – und lieferte zugleich eine konservative, kontraproduktive und illusorische Antwort. Ebenso, wie der internationale Handel auf dem Interesse der Menschen und Nationen beruht, zusammenzuarbeiten, um einen gemeinsamen Wohlstand zu sichern, erinnert die Mobilität an die Kraft der Freiheit und das nicht zu unterdrückende Streben in jedem von uns, seinen Alltag zu verbessern und das Glück seiner Nächsten zu sichern. Zwischen Werten und Taten: ein politisches Essay Unser Essay unternimmt das Wagnis eines Dialogs mit der politischen Philosophie. Die Philosophie spricht gern von Prinzipien, Verantwortung, Verpflichtungen, während die politischen Entscheidungsträger auf Pragmatismus, zwangsläufig begrenzte Mittel und Druck durch die Wählerschaft verweisen. Mehr als einmal wird der Leser denken, dass im Land der Philosophen der Traum süss und das Ideal allmächtig sind. Wie könnten also diese Überlegungen auch nur den geringsten Nutzen haben? Lassen wir uns nicht von einem Widerstand täuschen, der oft instrumentalisiert wird, um die «Intellektuellen» in ihren vermeintlichen Elfenbeinturm zurückzutreiben. Wenn wir definieren wollen, wie eine liberale Schweiz handeln sollte, heisst das notwendigerweise, dass wir uns über die unmittelbare politische Gegenwart hinausbegeben. Der politische «Entscheidungsträger», der den Dialog mit Idealen und Prinzipien ablehnt, fährt nur auf Sicht; eine Philosophie ohne Kontext verliert sich in Spe-


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Zwischen Werten und Taten: ein politisches Essay

kulationen, die zu weit von den notwendigen politischen Entscheidungen entfernt sind. Spannungen zwischen einer anspruchsvollen philosophischen Position und den Bedingungen des «wahren» politischen Lebens sind nicht nur wahrscheinlich, sie sind auch wünschenswert. Ideal und Praxis befruchten einander. Eine philosophische Reflexion soll nicht nur zerlegen, um besser neu zu definieren; sie will auch politische Energie inspirieren und freisetzen. Deshalb werden wir besondere Aufmerksamkeit darauf richten, wie die Herausforderungen und Fragen formuliert werden. Wie sprechen wir von Mobilität? Welche Wörter verwenden wir? Diese Frage ist entscheidend, denn sie offenbart die verschiedenen «Brillen», die wir tragen, um die Wirklichkeit zu begreifen. Die oft unbewussten Analyseschemata aufzustöbern gehört zu den Grundlagen eines aufmerksamen und kritischen Denkens. Wenn man beim Blick auf die Beziehung zum Anderen die trügerische Brille abnimmt und den zahlreichen, mehr oder weniger zweifelhaften Bildern und Vergleichen eine kohärente Alternative entgegensetzt, kann man auf zweifache Weise Distanz gewinnen. Zum einen öffnet sich ein Weg, der die Beziehung zum Anderen nicht auf eine technische Sicht beschränkt. Aus dieser Sicht könnte das «Problem» mit dem Anderen «gelöst» werden, wenn man die richtigen Mechanismen einsetzt. Um zum Beispiel das «Asylproblem» zu lösen, würde es ausreichen, unsere Gesetze «konsequent» anzuwenden. Diese einseitige Sicht, nach der «das Problem die Lösung impliziert», führt direkt zu den Volksinitiativen und den wiederkehrenden Debatten in der Bundesversammlung über Reformen des rechtlichen Rahmens. Die «Problembrille» schürt die Illusion, ein besonders kluges Gesetz könne die Anwesenheit des Anderen («ein für alle Mal») «regeln». Diese Distanz hilft uns zum anderen, den ständigen Ausnahmezustand zu beenden, der solche Fragen umgibt. Die Diskussionen und Debatten werden grundsätzlich vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Krise geführt, die sich vor unseren Augen abspiele: Flüchtlingskrise, Krise der Europäischen Union, Krise der Schweizer Identität. Diese Fiktion wird aus politischen Gründen von allen Kräften aufrechterhalten, die daran interes-


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II. Einleitung

siert sind, solche Debatten in einer Ausnahmesituation zu führen, und es deshalb ablehnen, sich die Zeit zum Überlegen zu nehmen. Stattdessen rufen sie nach «klaren» und «pragmatischen» Sofortmassnahmen. Auch hier helfen die Identifizierung und das Aufspüren trügerischer Analyseschemata, die öffentliche Diskussion zu verbessern. Entsprechend dieser zweifachen Distanz setzt unser Essay auf grundlegende Überlegungen. Es will Werte und Prinzipien hinterfragen, die Phrasen überwinden, die zu abgenutzt sind, um ehrlich zu sein, und eine langfristigere Perspektive einnehmen. Für alle, die die vorherrschende Form der Diskussion über die Anwesenheit des Anderen irritiert, ärgert oder empört, bietet es eine willkommene Alternative. Für alle anderen ist es eine Einladung, darüber nachzudenken, wie sich die Werte, die die moderne Schweiz geschaffen haben und auf die sie sich weiterhin bezieht, mit unserer gegenwärtigen Praxis vereinbaren lassen.


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VIII. Plädoyer für eine liberale Schweiz «Ihr tätet besser daran, all euren Untertanen Lust zu machen, bei euch zu bleiben, und den Fremden, zu euch zu kommen.» Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, Artikel über die Gleichheit Der Zug saust durch den Abend. Ich sitze im Speisewagen, auf dem Weg nach Zürich. Während sich die Nacht sanft über das Land senkt, durchqueren wir das Lavaux, das Waadtland, dann Freiburg und das Mittelland. In den Häusern gehen allmählich die Lichter an, am Ende eines anstrengenden Tages gehen die Bewohner ihrer Beschäftigung nach. Das Land atmet die so typische Ruhe und den Wohlstand von Menschen, denen es gut geht und die sich dessen bewusst sind. Denn dem Land geht es gut, sehr gut sogar. So gut, dass die Versuchung, sich einzuschliessen wie in einer alten Truhe und selig sein Glück zu geniessen, gefährlich spürbar Gestalt annimmt. In diesem Umfeld der Seligkeit, die gegen ein als bedrohlich empfundenes Draussen geschützt werden muss, erinnern dennoch einige Stimmen daran, dass es nie ein guter Weg war, sich in seinen Erfolgen zu verkriechen. Muss man sich nicht ständig neu erfinden und seine Komfortzone verlassen, um sich ins Unbekannte zu wagen und das Beste daraus zu gewinnen? In einem oft zügellosen Rennen verlangt der Wohlstand von uns, dass wir, jeder auf seine Art, die Unternehmer der Schweiz von morgen werden. Die Prinzipien, die die liberale Schweiz ausmachen – Freiheit und Gleichheit –, sind aktueller denn je, um uns diese kommende Schweiz vorzustellen und sie zu planen. Wir sind viele, die von einer mutigen, vertrauensvollen, offenen und respektvollen Schweiz träumen. Diese Schweiz ist nicht nur eine Schweiz in Übereinstimmung mit ihren Werten und ihrer Geschichte, es ist auch eine Schweiz, die gewinnt. Interessen und Verantwortung kommen zusammen, Pflichten und Wohlstand decken sich. Das Ziel dieses Essays bestand darin, die Grundzüge einer liberalen Politik der Beziehung zum Anderen darzustellen. Für


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VIII. Plädoyer für eine liberale Schweiz

eine Schweiz, die die Werte respektieren will, die sie selbst gewählt hat und auf denen ihre Legitimität beruht, ist diese Politik eine Frage der Kohärenz. Deshalb gehört es unbedingt zu einem verantwortungsvollen politischen Handeln, unsere Politik an diesen Werten zu messen und uns nach ihrer Kohärenz zu fragen. Ohne eine klare, durchdachte Vision fahren wir auf Sicht und laufen Gefahr, die Grundlagen unseres Erfolgs zu untergraben. Wie bei den anderen politischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, müssen uns die liberalen Werte auch in der Beziehung zum Anderen als Kompass dienen. Eine solche intellektuelle Anstrengung ist notwendig, reicht aber nicht aus. Die Aufgabe des Intellektuellen beschränkt sich nicht auf Kritik und Dekonstruktion. Seine Überlegungen müssen anschliessend in Vorschläge münden. Um seine Ideen in einer Realität mit all ihren Gegebenheiten zu verankern, muss er das Gespräch mit Fachleuten verschiedener Disziplinen suchen und aus ihrem Wissen schöpfen, um daraus Substanz für seine Argumente zu gewinnen. Wenn sich der Intellektuelle auf das Gebiet der Politik begibt, muss er sich mit der Pluralität der Meinungen und Überzeugungen auseinandersetzen, die eine wahrhaft liberale Gesellschaft voranbringt. In dieser Vielfalt besteht die Herausforderung für ihn darin, bei der Politik für die Gültigkeit der Grundprinzipien und ihre Aktualität im politischen Handeln zu plädieren. Der Intellektuelle ist zugleich Anwalt und Architekt der Kohärenz. Die Beziehung zum Anderen sollte sich an den Grundwerten des Liberalismus ausrichten: der individuellen Freiheit und der Gleichheit der Individuen. Das Prinzip der individuellen Freiheit stellt die Fähigkeit jedes Einzelnen, sein Leben zu wählen, ins Zentrum unserer Entscheidungen. Diese Fähigkeit darf nicht hypothetisch bleiben: Sie muss sich in Taten zeigen und für möglichst viele Wirklichkeit werden. Das Prinzip der Gleichheit verweist auf den Anspruch, allen Menschen den gleichen moralischen Wert zuzugestehen. Diese Grundüberzeugung des Liberalismus überschreitet von ihrem Wesen her die politischen Grenzen und stellt unsere Verantwortung in einen globalen Kontext. Für eine politische Gemeinschaft wie die


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Schweiz stellt sie einen Standard der Legitimität dar, nach dem alle als gleich angesehen werden müssen. Dieses Essay hat die universelle Dimension dieser Werte dargelegt, indem es sie mit der Vision einer verantwortungsbewussten Schweiz verbunden hat. Diese Verantwortung enthält einerseits die Verpflichtung, den negativen Folgen ihres Handelns zuvorzukommen, und andererseits die Verpflichtung, zur Verbesserung von Lebensbedingungen beizutragen, die sie für inakzeptabel hält. Beide Bestandteile der Verantwortung der Schweiz sind in der Frage ihrer Beziehung zum Anderen von brennender Aktualität. Das liberale Programm ist noch lange nicht abgeschlossen, und die kurz angesprochenen Aufgaben bedürfen entsprechender Anstrengungen. Dank ihrer eigenen Geschichte und ihrer politischen Praxis hat die liberale Schweiz beachtliche Erfahrung gesammelt, und es ist höchste Zeit, sie zu nutzen. Sie beweist jeden Tag, dass Verantwortung mit Öffnung und Einbeziehung einhergeht. Ihre politische Identität erinnert sie daran, dass die menschliche Mobilität und die Beziehung zum Anderen nicht ein Problem sind, sondern eine Realität voller Chancen. Unsere Aufgabe ist es, diesen Diskurs von Chancen und Möglichkeiten voranzubringen, damit er die Normalität der Migration begleitet. Das gesamte Essay plädiert für eine Schweiz, die die Realität einer sich ändernden Welt zur Kenntnis nimmt. Dank unserer vielen kleinen Beiträge jeden Tag bestätigt und erkennt sich die Schweiz allmählich als pluralistische, durch die Vielfalt der Lebenswege und Werte geprägte Gesellschaft. Schon allein diese Nachricht wäre Anlass für ein Freudenfest des ganzen Volkes. Aber die Freude sollte sich nicht darauf beschränken, die Buntheit und die Vielfalt zu feiern, sondern sich auf den Geist der Schweiz und die Förderung der Freiheit übertragen. Vergessen wir für einen Moment unsere Faszination für schlechte Nachrichten und ihre kurzsichtigen Prediger. Dieser Pluralismus spiegelt das hervorragende Funktionieren einer liberalen Gesellschaft wider, in der jeder das Leben führen kann, das er sich wünscht. Diese Vielfalt zu akzeptieren und als Grundlage jeder politischen Diskussion anzuerkennen heisst festzustellen, dass die Beziehung zum An-


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VIII. Plädoyer für eine liberale Schweiz

deren eine neue Normalität darstellt. Dieser Andere ist mein Bruder, mein Kollege, mein Mitbürger. Die Schweiz muss diese tiefen, irreversiblen und ermutigenden Veränderungen zur Kenntnis nehmen und einen Ansatz für ein Zusammenleben entwickeln, das auf einem Ensemble vom Geist des Respekts und der politischen Teilhabe geprägter Regeln beruht. Wenn die politische Gemeinschaft jedem einen Raum der Freiheit als vollwertiges Mitglied anbietet, verstärkt sie die Fähigkeit ihrer Mitglieder, entsprechend ihren Zielen und Überzeugungen zu handeln. Kombiniert mit der politischen Stabilität, liegt das Rezept des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gedeihens der Schweiz in dieser Energie, die nur darauf wartet, sich freizusetzen. Das Paradigma der Abschottung und die Versuchung, ausserhalb der Welt zu leben, sind überholt; nun beginnt die Zeit der Begleitung und der intelligenten, respektvollen Lenkung der Herausforderungen der Migration. Über Zeitalter und Grenzen hinweg erinnert die Mobilität an die Kraft der Freiheit und den nicht zu unterdrückenden Wunsch von Frauen und Männern, ihren Alltag zu verbessern. Jahrhundertelang sind viele der besten Schweizer Bürger zu anderen Horizonten aufgebrochen, um ihre Lebensziele zu verfolgen. In der Ferne haben sie zum Leben anderer Gemeinschaften und zu deren Wohlstand beigetragen. Auch wir sollten stolz darauf sein, dass unser Land heute überall in der Welt ein Ziel und ein Ideal darstellt. Im Artikel über die Gleichheit seines Philosophischen Wörterbuchs rät Voltaire den Regierenden, nicht länger zu versuchen, ihre Bürger in einem nationalen Gefängnis festzuhalten. Seine Worte fassen den Aufruf für eine liberale Schweiz hervorragend zusammen: «Ihr tätet besser daran, all euren Untertanen Lust zu machen, bei euch zu bleiben, und den Fremden, zu euch zu kommen.» In diesem Geist hat dieses Essay skizziert, welche Veränderungen eine liberale Politik ermöglicht. Die verschiedenen Vorschläge müssen in ein dynamisches Modell integriert werden, das vielfältige Wege zeichnet, auf denen die Schweiz in ihrem Handeln zu mehr Kohärenz mit ihren eigenen Werten gelangen kann. Jeder dieser Wege ist eine Variante der Verantwortung, die die Schweiz auf verschiedenen Ebenen wahrnimmt.


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Auf dem Gebiet des Asyls muss die Schweiz versuchen, ein historisch einzigartiges Instrument zu fördern und weiterzuentwickeln. Es erlaubt den Personen, deren fundamentale Rechte bedroht sind, einen dringenden Hilferuf hören zu lassen. Die liberale Schweiz muss diese Besonderheit schützen und zugleich das Ausmass ihrer Verantwortung anerkennen, indem sie vor Ort Schutz gewährt oder, wenn keine andere Option möglich ist, Personen aufnimmt. International ist die Schweiz aufgerufen, sich aktiv einzusetzen, um das Dublin-System zu reformieren, indem man es hinsichtlich der Teilung der Verantwortung gerechter macht. Aber die Schweiz muss noch weiter denken als Europa: Warum sollte sie nicht der Ort werden, an dem ein abgestimmtes und globales Handeln gelenkt wird, um ein neues Schutzsystem im 21. Jahrhundert zu erfinden? Auf dem Gebiet des Familiennachzugs muss sich die liberale Schweiz grundlegend fragen, welchen Wert sie den Familienbindungen beimessen möchte. Es darf auf diesem Gebiet nicht mit zweierlei Mass gemessen werden. Alle Mitglieder, die sich am Projekt Schweiz beteiligen, müssen in ihrem Recht anerkannt werden, mit ihrer Familie zusammenzuleben. Die zweifelhaften Ziele von «Beschränkungen» der Migration müssen ganz klar hinter familiären Erwägungen und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der individuellen Freiheit zurücktreten. Auf dem Gebiet der Arbeitsmigration muss die liberale Schweiz die Rahmenbedingungen ihrer Migrationspolitik anders wahrnehmen. Sie muss von einem Ermessensmodell zu einem inklusiven Ansatz übergehen, der die Interessen der von ihren Entscheidungen betroffenen künftigen Zuwanderer und der politischen Gemeinschaften integriert und berücksichtigt. Es geht nicht mehr um «unilaterale» Kompetenz, in der die Schweiz ausschliesslich «ausgewählte» Zuwanderung im Dienste ihrer Interessen zulässt. Die liberalen Werte verlangen eine Kultur der Rechtfertigung. Die Abwägung der legitimen Interessen der Schweiz und der legitimen Interessen der Zuwanderer und der Gemeinschaften muss zum Kernelement unserer Migrations­ politik werden. Die liberale Schweiz berücksichtigt bei der Interessenabwägung ihre globale Verantwortung. Sie kann legitim


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VIII. Plädoyer für eine liberale Schweiz

beanspruchen, sich «ihre» Ressourcen und Güter vorzubehalten, solange sie ihrer Verantwortung nachkommt. Diese Massstäbe entwerfen eine in der Migrationspolitik zutiefst inklusive Schweiz, die bereit sein wird, das Beste aus dem 21. Jahrhundert herauszuholen. Die liberale Schweiz, die verantwortungsbewusste Schweiz und die wohlhabende Schweiz verschmelzen, um die Zukunft vorzubereiten. Eine Zukunft, bei der die Verteidigung ihrer Interessen durch eine respektvolle Zuwanderung erfolgt, die motivierte Arbeitskräfte, Kreativität und Unternehmergeist vereint. Eine Zukunft, in der die verantwortungsbewusste Schweiz gut daran tut, eine für die Zuwanderer und deren Nächste positive Migrationspolitik zu gestalten. Eine Zukunft, in der die von ihren Werten und ihrem Gesellschaftsmodell überzeugte Schweiz voller Vertrauen auf den Anderen zugehen kann.


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Ausgewählte Bibliografie Liberalismus allgemein Béatrice Acklin, Yann Grandjean und Fulvio Pelli, Was heisst denn heute liberal?, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2015. Catherine Audard, Qu’est-ce que le libéralisme ? Ethique, politique, société, Folio Essais, 2009. Cécile Laborde, Français: encore un effort pour être républicains!, Seuil, 2010. Pierre Manent, Histoire intellectuelle du libéralisme, Hachette, 1997. Olivier Meuwly, Les penseurs politiques du XIX e siècle, Le Savoir suisse, 2007. Philip Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford University Press, 1999. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, dt. von Hermann Vetter, Suhrkamp, 2014.

Migrationsethik Joseph Carens, The Ethics of Immigration, Oxford University Press, 2013. Andreas Cassee, Anna Goppel, Migration und Ethik, Mentis, 2012. Demuijnck Geert, «Est-il permis, du point de vue éthique, de limiter la migration économique?», Raisons politiques 2(27), 2007. Martino Mona, Das Recht auf Immigration – Rechtsphilosophische Begründung eines originären Rechts auf Zuwanderung im liberalen Staat, Helbing & Lichtenhahn, 2007. Ryan Pevnick, Immigration and the Constraints of Justice: Between Open Borders and Absolute Sovereignty, Cambridge University Press, 2011. Johan Rochel, Ethique et immi­ gration, PPUR , 2016. Johan Rochel, Immigration to the EU: Challenging the normative foundations of the EU immigration regime, Schulthess/ LGDJ , 2015. Patrick Weil, La République et sa diversité: Immigration, intégration, discriminations, La république des idées, Seuil, 2005. Christopher Wellman und Philip Cole, Debating the Ethics of Immi­ gration: Is There a Right to Exclude?, Oxford University Press, 2011.


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Der Autor

Nach einem Master in Politischer Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Bern promovierte Johan Rochel in Europarecht zur Immigrationspolitik der Europäischen Union an der Universität Fribourg. Er ist jetzt Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen und assoziiertes Mitglied am Ethikzentrum der Universität Zürich. Neben seinen akademischen Tätigkeiten hat er das Projekt «Ethique en action» ins Leben gerufen. Er ist Vizepräsident des Thinktanks foraus – Forum Aussenpolitik und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen. Persönliche Website: www.ethiqueenaction.com



Johan Rochel Die Schweiz und der Andere

Misstrauen und Abschottung dominieren das politische Klima in der Schweiz und in Europa; man zeigt mit dem Finger auf den Anderen, nimmt fremde Lebensgewohnheiten aufs Korn oder stösst sich an den Herausforderungen der Integration, der Zuwanderungspolitik, des Asylrechts. Dieser Essay ist ein kompromissloses Plädoyer für die zentralen Werte des Liberalismus – Freiheit und Gleichheit – in unserem Umgang mit den Anderen. Diese Werte sind keineswegs das Privileg einer einzigen Partei, sondern verdienen eine klare und kohärente Verankerung bei allen politischen Kräften. Der Essay verbindet eine Überblicksdarstellung mit konkreten politischen Vorschlägen.

Johan Rochel

Die Schweiz und der Andere Plädoyer für eine liberale Schweiz

ISBN 978-3-03810-187-1 ISBN 978-3-03810-187-1

9 783038 101871 www.nzz-libro.ch

Verlag Neue Zürcher Zeitung


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