www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2015 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlag: Katarina Lang, Zürich Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: freiburger graphische Betriebe, Freiburg i. Br. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-006-5 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 5
5
INHALTSVERZEICH N IS
PROLOG 7 Für eine eigenständige Geschichte der Schweizerinnen, für ein stolzes Selbstbewusstsein und für eine gleichberechtigte Zukunft
TEIL 1 13 Die unterschlagene, eigenständige Geschichte der Schweizerinnen: ihre Hartnäckigkeit, ihre Taktik des Widerstands und ihr Sieg 14 77 91 106 152 165
Der lange Weg bis zur Stimmrechtsniederlage von 1959 Die Bernerinnen auf der Zielgeraden Die weltweiten 68er-Bewegungen und die Frauen Eine Chronologie der Ereignisse von 1962 bis 1971 Frauenpolitik nach dem Sieg von 1971 Plädoyer für eine seriöse Geschichtsschreibung TEIL 2
169 Das Leben der Pionierin Marthe Gosteli: Gutsherrin, Archivarin, Historikerin 170 184 191 200 214 230
Marthe Gostelis junge Jahre Angst und harte Arbeit im Zweiten Weltkrieg Die Lehren der Amerikanerinnen Als «Gutsherr» auf Altikofen Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung Feminismus, Männer und die Zukunft TEIL 3
239 Prägungen und Frauenpolitik der Vorfahrinnen und Ahnen. Vom Mitglied des Familienverbunds zur individuellen Persönlichkeit 240 Zum Beispiel die Familie Gosteli 283 Zum Beispiel die Familie Salzmann und Marthe Gostelis Eltern
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 6
6 Inhaltsverzeichnis
EPILOG 309 Wer die Geschichte kennt, hat Vorbilder und Zukunft
ANHANG 326 Anmerkungen 371 Dank 372 Abkürzungen 374 Quellen und Literatur 387 Bildnachweis 389 Personenverzeichnis 396 Sponsorenverzeichnis
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 7
PR OLOG Für eine eigenständige Geschichte der Schweizerinnen, für ein stolzes Selbstbewusstsein und für eine gleichberechtigte Zukunft
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 8
8
P ROLOG
Die Schweizerinnen haben eine eigene, in sich selbst beruhende unverwechselbare Geschichte, nur wurde sie noch nie erzählt. Die universitäre Wissenschaft hat die den Männern gegengleiche Geschichte der Schweizer Frauen unterschlagen. Sie hat für das immer wieder isoliert erwähnte Kernstück der Frauengeschichte, den Stimmrechtskampf, die Hauptquellen nicht beachtet. Der Sieg in diesem politischen Frauenkampf war auf der Basis einer veränderten Schweiz das Ergebnis einer über Generationen hinweg erprobten Taktik der Schweizer Frauen, die 1971 endlich aufging. Dabei war die politische Gleichberechtigung als Ausgangspunkt für eine nachhaltige und vollwertige Gleichberechtigung gedacht. Dieser Kampf wird in Teil 1 erstmals auch anhand der Akten der federführenden, von links wie rechts unterstützten und präsidierten Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau erzählt, bei der in den nationalen Abstimmungen von 1959 und 1971 sämtliche Fäden zusammenliefen. Teil 2 beschreibt ein individuelles, weibliches Leben, zurechtgestutzt von den damaligen als frauengerecht empfundenen Einschränkungen, überlagert von äusseren Bedingtheiten und angereichert von weiblichen Vorbildern. Es ist die Lebensgeschichte der Pionierin Marthe Gosteli, die sich im Frauenstimmrechtskampf persönlich und leitend engagierte. Zudem gründete sie auf ihrem eigenen Gutshof in Worblaufen bei Bern das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung. Darin finden sich nicht nur zentrale Dokumente zum Stimmrechtskampf, sondern auch wichtige, bis ins 19. Jahrhundert zurückgehende Papiere zur Vergangenheit der Schweizer Frauen überhaupt. Als Archivarin und Historikerin des Herzens half Gosteli mit, den Schweizerinnen zu ihrer Gleichberechtigung in der Geschichte zu verhelfen, die ihrer Ansicht nach unabdingbar für eine gleichberechtigte, emanzipierte Zukunft ist: «Ohne Gleichberechtigung in der Geschichte keine Gleichberechtigung in der Zukunft.»1 Auch die Frauen in der Schweiz entwickelten sich vom eng eingebundenen Mitglied des Familienverbands zur individuellen Persönlichkeit. Beides gilt es in Teil 3 konkret vor Augen zu führen. Anhand der weit ins 18. Jahrhundert zurückgreifenden Familienpapiere der Familie Gosteli, heute im Staatsarchiv Bern beherbergt, kann die Entwicklung Schritt für Schritt anhand eines Beispiels vorgezeigt werden. Nur mit dem langen Atem durch die Geschichte der
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 9
Prolog 9
Abb. 1: Marthe Gosteli, lachend in ihrem Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauen bewegung, das sie im Haus ihrer Vorfahren auf dem Altikofen in Worblaufen 1982 eingerichtet hat. Vor ihr auf dem Tisch liegen Fotos verdienter Stimmrechtskämpferinnen, in ihrem Rücken stapeln sich Archivschachteln mit Dokumenten aus der schweizerischen Frauenwelt.
Ahnen und Vorfahrinnen sind die Prägungen der Schweizerinnen und gegengleich auch jene der Schweizer zu erkennen. Diese Prägungen, die sowohl Männer wie Frauen imprägnierten, lassen weibliche Diskriminierungen und männliches Machtgehabe begreifen, auf dass beides zu beiderseitigem Vorteil überwunden werden kann. Ohne eine Geschichte der Schweizerinnen gibt es auch kein stolzes, weibliches Selbstbewusstsein. Ohne eine Geschichte der Schweizerinnen sind auch ihre Stärken und Siege nicht zu erkennen. Die Helvetierinnen versinken entweder in einem Dunst von Unwissenheit oder in einem Sumpf von Niederlagen. Dabei gibt es nebst vielem Unerfreulichem und vielen Diskriminierungen auch erfreulich Bemerkenswertes: stolze Siege, eigenständige Erfolge und schweizerische Stärken.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 10
10 Prolog
Erstens hatten nirgendwo anders auf der Welt die Frauen ihre Wahlrechte gegen einen männlichen Souverän zu erkämpfen. Die Schweizerinnen haben es als einzige geschafft, gegen die Phalanx der Männer anzutreten und zu gewinnen. Die Bedeutung der Schweizer Frauenbewegung war, dass sie trotz grosser Differenzen und selbst mit Frauen, die innerhalb der bestehenden Gesellschaft keine Chance zur echten Gleichberechtigung sehen konnten, in der Frauenstimmrechtsfrage legal und unblutig siegte. Dabei müssen die Schweizer Frauen nicht auf einen leidvollen Weltkrieg zurückblicken, der ihnen aus den Trümmern heraus zu ihrem Recht verhalf. Kriegsbedingte Erschütterungen mögen den Frauen europäischer Länder ihr Wahlrecht früher gebracht haben. Allerdings wurde auch im Ausland möglichst schnell die «verkehrte» Welt revidiert, auf dem Arbeitsmarkt die «natürliche» Privilegierung des männlichen Geschlechts wiederhergestellt.2 Die Schweizerinnen mussten sehr lange auf den Moment warten, wo sie auf gänzlich verändertem Terrain mit organisierter Verweigerung die politische Bevorzugung der Männer aushebeln konnten. Die eigentliche Grösse und Würde der Schweizer Frauen steckt in der Hartnäckigkeit, in der Wiederholung, in der Unbeugsamkeit. Sie siegten erst nach jahrzehntelangem Ausharren mit einer raffinierten Taktik des Widerstands. Ein beispielloser Erfolg! Zweitens haben die Schweizerinnen seit 1971 Abstimmungs-, Initiativ- und Referendumsrechte, die kein anderes Land seinen Frauen (und Männern) bietet.3 Drittens waren die Schweizerinnen fähig, auch ohne Stimmrecht neben der offiziellen, politischen Schweiz eine funktionierende, gut organisierte Nebenwelt zu schaffen, einen Staat im Vereinsmassstab, um sich, vom offiziellen Politleben ausgeschlossen, doch irgendwie ins Milizsystem des Herrenstaates einzuklinken und für die Männer glaubwürdig und unumgänglich zu werden. Das so gewonnene politische Gespür und das Wissen der Frauen kamen der Schweiz in entscheidenden Kriegszeiten zugute und liessen sie überleben. Mag es in der wirtschaftlichen Männerwelt ausgesehen haben, «als habe es die Frauen nicht gegeben»,4 in der weiblichen Gegenkonstruktion gab es sie seit Jahrzehnten. Die Männer nahmen diese weibliche Welt selten ernst, viele Frauen übersahen sie, und sie schufen ein «Misserfolgsnarrativ» – vielleicht aus Gründen der Selbstdiskriminierung. Viertens wurde den Frauen nirgendwo auf der Welt so früh der Zugang zu den Universitäten geöffnet. Die allerersten Studentinnen, Doktorinnen und Professorinnen finden sich ab 1867 in der Schweiz. Hier war die Schweiz Pionierin. Und gerade in der organisierten Frauenbewegung gab es viele Akademikerinnen, die ihre erworbenen Kenntnisse für die Emanzipation im berufli-
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 11
Prolog 11
chen und politischen Leben einsetzten. Mag die politische Gleichberechtigung viel zu spät gekommen sein, eine akademische Chancengleichheit bestand umso früher. So war die Schweiz, was die Gewerbemöglichkeiten betraf, verhältnismässig avantgardistisch. Fünftens griffen Frauen in ihrer Geschichte auf das Wissen ihrer Vorfahrinnen zurück. Sie zogen in ihren Vereinigungen neue Mitglieder nach, die sie mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen anlernten. Die Lehrerinnen der Mädchenschulen etwa, die gut und zum Teil an Universitäten ausgebildet waren, begeisterten junge Frauen für ihre Rechte. Sie lernten über Generationen hinweg voneinander. Die Schweizerinnen haben sich in ihren vielen Kämpfen personell, taktisch und vereinsstrategisch aufeinander bezogen, sie haben also eine eigenständige, in sich selbst fortlaufende weibliche Geschichte entwickelt. Sechstens waren Schweizerinnen fähig, Eigeninitiativen umzusetzen. Wo haben Frauen ein ganzes Spital samt Pflegerinnenschule aufgebaut und be trieben, wie es 1900 die Schweizer Akademikerinnen und Pflegerinnen taten? Nonprofitunternehmungen verdanken weiblichen Kräften ihr Bestehen. Schweizer Frauen haben Mädchenschulen aufgebaut, Heime und Restaurants in eigener Regie geführt. Sowohl die Damen um 1900 wie auch die Frauen um 1980 managten Informationsstellen, schufen männerfreie Räume und gaben Zeitungen heraus. Siebtens übernahmen die Schweizerinnen bei der Gestaltung schweizerischer Zukunft die Vorreiterinnenrolle. Die Schweizerinnen nahmen den Weg zu einer gerechteren, gegengleichen Gleichberechtigung nach 1971 unter die Füsse, weit früher als die Männer. Sie mussten sich nämlich lange vor den Schweizer Männern damit auseinandersetzen, wie eine individualisierte Gesellschaft weit weg vom Familienverbund, der als wirtschaftliche, soziale, gesellschaftliche Interessengemeinschaft funktioniert, aussehen müsste. Die Schweizer Männer konnten sich noch lange als Oberhaupt eines allerdings stark geschrumpften Familienbundes fühlen. Erst zögerlich wurden sie gewahr, dass sie sich in eine neue Rolle schicken mussten. Der Schweizer Mann hält heute fest, dass er zwar als traditionelles Oberhaupt der Familie ausgedient, «aber seinen neuen Platz noch nicht gefunden» habe.5 Dass den Schweizer Frauen ihre Rechte weit über ein nachvollziehbares Datum hinaus verweigert wurden, war eine Diskriminierung. Dass die Schweizer Männer ihre neuen Rollen über ein nachvollziehbares Datum hinaus vertagen, ist in der Konsequenz stimmig. Und eine späte Rache?
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 12
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 165
165
P LÄD OYER F Ü R EIN E SERI Ö S E G ESC H ICH TSSCH REIB U N G
Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte! Und den Schweizern auch Auch 40 Jahre nach Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts hat der erfolgreiche Frauenstimmrechtskampf keine angemessene Darstellung gefunden. Die Geschichte wurde von denen, die eigentlich für Geschichtsschreibungen zuständig wären, unterlaufen. Das kam so: Nach 1971 veröffentlichten Aktivistinnen wie Susanna Woodtli begeisterte Werke, in denen sie ihre Erlebnisse schilderten: «Das Gefühl, das Unternehmen [Frauenstimmrecht] sei geglückt, machte sich allmählich breit», schrieb Woodtli in Hochstimmung sozusagen mitten aus dem Marschgetümmel vom 1. März 1969. Zusammen mit der zeitlichen Übereinstimmung von Demo und Bundesratserklärung schien ihr die durchschlagende Wirkung des Marschs nach Bern erwiesen. Sie konnte sich (noch) nicht auf Hintergrundmaterialien und Grundlagenpapiere stützen.385 1997 erschien ein dickes Gesellinnenstück mit dem Titel Zwischen Hausrat und Rathaus. Die Dissertation war vom brennenden Verlangen beseelt, die sogenannt neue Frauenbewegung als entscheidende Kraft im Frauenstimmrechtskampf zu positionieren: «Die FBB [hat] somit doch wesentlich zu einer schliesslich schnellen Lösung der Stimmrechtsfrage beigetragen.» Die Quellenbasis des Buchs war insofern schmal, als sich die Doktorandin auf die Dokumente des Schweizerischen und des Zürcherischen Stimmrechtsvereins stützte, die zudem den Interpretationistinnen nahestanden. Die Hauptquellen, die Akten der repräsentativen Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau wurden aussen vor gelassen. Nichtsdestotrotz wurden weitreichende Schlüsse zur angeblichen Beeinflussung der «Arbeitsgemeinschaft» und der traditionellen Frauenvereinigungen durch die FBB gezogen, die zudem mit Plausibilitäten und unscharfen Daten begründet wurden. Ein Gesellinnenstück soll mit Nachsicht behandelt werden. Schwerer wiegt, dass es von «Wissenschaftlerinnen» bis heute unbesehen und unkontrolliert immer und immer wieder nachgebetet wird.386 Die schweizerische Geschichtsschreibung hat es bis heute nicht fertiggebracht, eine Darstellung des Kampfs anhand der wichtigsten und hauptsächlichsten Quellen, der Materialien der «Arbeitsgemeinschaft» vorzulegen. Diese war aber unbestritten die Vorhut der Aktionen, wie dies auch gegenüber dem
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 166
166 Teil 1
Bundesrat von den Frauenvereinigungen selbst kommuniziert wurde. Sie allein verhandelte autorisiert und geheim mit Bundesbern, sie beschaffte Geld, Kontakte, Medienpräsenz. Bei ihr liefen die Fäden zusammen. Sie war für die Dutzenden von zusammengeschlossenen Vereinigungen Ansprechpartnerin und bot Gewähr für das Durchziehen einer einmal beschlossenen Strategie. Dass die Hauptquelle zu einem Ereignis von der universitären Geschichtsschreibung nicht erfragt, gefunden und beachtet wurde, obwohl es seit Jahren griffbereit war, ist ebenso unbegreiflich wie sträflich.387 Es ist, als wären für die Entstehung der (männlichen) Eidgenossenschaft der relevante Bundesbrief und das bedeutende Stanser Verkommnis nie eingesehen worden. So konnte die Behauptung von der entscheidenden Rolle der «neuen Frauenbewegung» im Stimmrechtskampf, ihrem Wachpfeifen des Bundesrats bzw. des Ständerats bzw. der Kantone auf Deutsch, Französisch und Englisch durch die Frauengeschichtsliteratur wabern.388 Das 2007 erschienene Buch Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht stützte sich in den entscheidenden Stellen gänzlich auf das alte Werk. Selbst Die Geschichte der Schweiz, 2014 ebenfalls als «Standardwerk» angepriesen, fusste ohne weitere Recherchen auf veralteten Darstellungen. Mit der Zeit waren die Behauptungen zwar etwas dezenter bzw. indirekter gediehen. Die Jungen hätten als «Katalysator» gewirkt, indem sie die «alte Bewegung» energisch mit neuen Protestformen zum erfolgreichen Abschluss getrieben oder indem sie die Schweizer Männer derart erschreckt hätten, dass sie ja stimmten. Die alten Frauenverbände hätten sich von der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) inspirieren lassen und deshalb massiv protestiert, verkündet das im 21. Jahrhundert abgeschlossene Historische Lexikon der Schweiz HLS. In der Sekundärliteratur, in Biografien und Artikeln wurde allerdings nicht selten ein Kuddelmuddel zwischen neuer Bewegung, dem Marsch nach Bern und dem Stimmrechtserfolg konstruiert, ungeachtet dessen, dass die damalige Frauenbefreiungsbewegung FBB ausdrücklich nicht am Marsch beteiligt war. In der Literatur wird verschwiegen, dass die frühe FBB anfänglich dezidiert eine marxistische Veränderung anstrebte, als sei es nicht erlaubt, kommunistische Träume (gehabt) zu haben. Dass die FBB den Grossaufmarsch einer weiblichen Einheitsfront nicht antrieb, sondern im Gegenteil regelrecht verunmöglichte, wird unterschlagen und geht oft einher mit der Behauptung, die alte Frauenbewegung habe nur das Stimmrecht gewollt, die neue «unerschrockene» Frauenbewegung hingegen habe mit den «geschlechtsspezifisch normierten Vorstellungen» gebrochen.389 Da war es auch nicht mehr weit zur Behauptung, die nicht konfrontative Strategie der «alten» Schweizerinnen habe einen früheren Erfolg verhindert. Sogar wenn es so gewesen wäre, könnte es nicht behaup-
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 167
Plädoyer für eine seriöse Geschichtsschreibung 167
tet werden, wenn man die zu dieser Beweisführung zuständigen Akten gar nicht eingesehen hat. Unbeeindruckt von Fakten und unbeleckt von Quellen wurden die «wissenschaftlichen Wahrheiten» fortan in der Online-Datenbank der Eidgenossenschaft «Frauen–Macht–Geschichte 1848–2000», in Schulbüchern und Lehrmitteln gefestigt und von den Medien übernommen. Der Fernseh-Interviewer Urs Leuthard hielt denn Marthe Gosteli noch 30 Jahre nach dem Stimmrechtskampf in der Rundschau genüsslich vor, dass doch nicht ihre alte, sondern die neue Frauenbewegung den Sieg im Frauenstimmrecht errungen habe. Gosteli liess sich nicht aus der Fassung bringen, widersprach und forderte endlich Recherchen. Sie ahnte, dass Forschungen ein anderes Bild dieser Geschichte vermitteln würden.390 Der erfreuliche Stimmrechtsausgang von 1971 war nicht das Werk der 68er bzw. der sogenannt neuen Frauenbewegung. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese nicht anderweitig wichtig und siegreich gewesen wäre. (Vgl. S. 162 f.) Bei der Kritik an der Historikerzunft geht es nicht um die Eitelkeit der übergangenen «alten» Frauenbewegten. Es geht nicht einmal nur um Gerechtigkeit, sondern es geht um die Geschichte der Schweizerin an sich. Mit dem Postulieren einer neuen, alles entscheidenden eruptiven Kraft, die alles klar machte, werden die vorausgegangenen Bemühungen als unwesentlich oder inexistent benotet. Das Misserfolgsnarrativ ist als Programm kreiert. Eine eigenständige Geschichte der Schweizerinnen wird damit – notabene für die alten, neuen und zukünftigen Schweizer Frauen – demontiert und unterschlagen.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 214
214
D AS ARCH IV ZU R GESCH ICH T E D E R SC H WEIZE RISCH EN F RAU EN B E WE G UNG
Wer heute von Bern aus nach Worblaufen in der Berner Gemeinde Ittigen fährt, sieht auf dem Hügel Altikofen einen grossen Hof, den alten Familiensitz der Gostelis. Die zuoberst gelegene Villa beherbergt das Frauenarchiv, das nicht wie andere Archive ist. Steigt man vom Bahnhof zum majestätisch ruhenden Gut hinauf, geht man zwischen modernem Verwaltungsgebäude und Wolkenkratzer, aber auch zwischen Pferdekoppel und Bauernstöckli hindurch. Der Weg durch das Tor in der hohen Holzumzäunung führt in den parkartigen Garten und öffnet den Blick auf den Herrenstock des Frauenarchivs. Vorbei an der Gartenbank der Grosstante Elisabeth Walther-Gosteli, welcher der Stock sein bauliches Leben verdankt, erreicht man die zweiarmige Freitreppe und sieht sich einem «trompel’œil» mit echtem Fensterpendant gegenüber. Zupft man die mechanische Ziehklingel, scheppert die Glocke wie eh und je in den Tiefen des Hauses und man wird meistens von der Besitzerin Marthe Gosteli persönlich eingelassen.
Abb. 79: Marthe Gosteli, umrahmt von ihren treuen Schäferhunden, vor dem Altikofner Wohnstock im bernischen Worblaufen, in dem das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung untergebracht ist.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 217
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 217
«Without papers no history»: Fundament für eine Geschichte der Schweizer Frauen – und der Schweizer Männer Die Idee zum Frauengeschichtshaus, zur Villa voller Frauengeschichten, wo man als historische Schatzsucherin auf Goldminen stösst, wurzelt in Marthe Gostelis Tätigkeit beim BSF. Der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen besass eine grosse, kontinuierlich erweiterte Fachbibliothek, bestehend aus den Beständen der 1923 gegründeten Zentralstelle für Frauenberufe und den Dokumentationen des Schweizerischen Frauensekretariats. Dazu kamen die Protokolle des Dachverbands, ein unerreichter Schatz an Zeugnissen zur Geschichte der Schweizer Frauen. Gosteli erkannte früh den Wert dieses Kulturguts. Sie erhielt vom BSF-Vorstand die Kompetenz, eine Vereinbarung mit den anderen Frauenverbänden abzuschliessen, um die historischen Dokumentationen, Bücher, Nachlässe und Sammlungen der verschiedenen Schweizer Frauenorganisationen zentral zu sichern. 1969 setzte sich Marthe Gosteli an der Delegiertenversammlung des BSF für die ausgehandelte, finanziell tragbare Lösung ein
Abb. 81: Einen Grundstock zum Gosteli-Archiv legte die Chronistin Agnes Debrit-Vogel mit ihren unermüdlich zusammengesuchten und säuberlich getippten biografischen Blättern. Sie enthalten Lebensläufe und Dossiers zu Hunderten von Frauenbewegten über etliche Jahr zehnte hinweg. Die gerahmte Collage mit Bildern aus Debrits Leben beweist, dass oben ohne keine Erfindung der 1970er-Jahre war und dass es Ehemänner wie Jean Debrit gab, die ihren Frauen beistanden.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 218
218 Teil 2
und erhielt einen Sitz in der Aufsichtskommission. Gleichzeitig brachte Gosteli die Idee eines Frauenarchivs ins Gespräch.437 Die Dokumentation des BSF konnte im Herbst 1972 durch die Sammlung Debrit-Vogel stark erweitert werden. Agnes Debrit-Vogel, langjähriges Vorstandsmitglied des BSF, war eine umtriebige Pressefrau, umsichtige Redaktorin der Berna und unermüdliche Chronistin. Sie schuf in beharrlicher Kleinstarbeit Lebensbild um Lebensbild interessanter Frauen. Als sie starb, war ihr Haus ge rammelt voller Papiere, die einem auf den Treppen nur einen schmalen Durchschlupf liessen. Zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Gertrud Lüthardt hatte sie über 1000 biografische Artikel und Fotografien zusammengetragen, die erst an den BSF gingen. Im Laufe der 1970er-Jahre verschlechterte sich der finanzielle Zustand des BSF dermassen, dass die Bibliothek zeitweise geschlossen, redimensioniert und ein Teil davon der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen verkauft wurde.438 (Vgl. S. 154) Gosteli zeigt sich noch heute empört über diesen Frevel. Damit war der Traum einer zentralen Dokumentationsstelle für schweizerische und internationale Frauenfragen im BSF ausgeträumt, nicht aber in Marthe Gostelis Kopf. Als man ihr signalisierte, dass sich der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen sogar überlege, Dokumente zu liquidieren, schrie sie auf: «O Gott, das darf nicht sein!» Zudem wurde ihr klar, dass frauenrelevante Archivalien auch von Privatpersonen weggeworfen wurden, wenn ihre Freundinnen und Kampfgefährtinnen ins Altersheim zogen oder starben. Marthe Gosteli sann auf Abhilfe. Dass die «grossen Pionierinnen, die aus eigener Kraft die Strasse des Fortschritts gebaut haben, auf der sich die Frauen heute bewegen können», im Gegensatz zu zahllosen Männern nie gewürdigt wurden, das «verstrupfte» sie fast. Es durfte nicht sein. Doch was tun? Wohin mit den Dokumenten? Die staatlichen Archive sammelten staatliche Akten. Die Frauenorganisationen waren nicht ins staatliche Gefüge eingebaut. Somit war der Ausschluss weiblicher Quellen aus den staatlichen Archiven auch eine Folge des Ausschlusses aus der politischen Maschinerie, der die Schweizer Frauen als weitere Diskriminierung automatisch auch aus der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung zu kippen drohte. Marthe Gosteli entschloss sich zur mutigen Tat: «Ich sah nun meine Aufgabe darin, das wertvolle Quellenmaterial, das lange Zeit gar niemand haben wollte, und dessen Wert auch von den Frauen selber nicht selten komplett unterschätzt wurde, aufzubewahren und vor der Vernichtung zu retten. Ich sprang ins kalte Wasser, habe mich eingeschaltet und 1982 die Stiftung gegründet, aus der das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung hervorging. – Ich arbeitete für die Frauen von
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 219
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 219
morgen – denn: ‹without papers no history›.»439 Anita Ulrich, Vorsteherin des Schweizerischen Sozialarchivs, bestätigt: «Es ist Marthe Gosteli zu verdanken, dass es sozusagen im letzten Moment gelungen ist, diesen für die Frauengeschichte äusserst wichtigen Bestand zu sichern.»440 Einen bedeutenden Platz nehmen im Gosteli-Archiv auch die 47 Schachteln mit den Materialien der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau ein.441 Viel Kredit gab man dem Archiv nicht, das nicht so recht ins gängige Schema der Archive passte, gesteht Berns alt Staatsarchivar Peter Martig. Doch das Archiv wurde zur «kostbaren Perle unter den Schweizer Archiven».442 Beim Aufbau ihres Frauenarchivs blickte Marthe Gosteli nach London, Paris, Amsterdam und zur Arthur and Elizabeth Schlesinger Library on the History of Women in America in Cambridge MA. Hier liess sie sich Jahre später in ihrem archivalischen Bemühen bestätigen, als sie mit 200 Frauen aus sechs Kontinenten die Konferenz «Frauen, Information und Zukunft» besuchte. Und sich über die zuhanden der 4. UNO-Weltfrauenkonferenz in Peking gefasste Resolution freute: Es sei «in Betracht zu ziehen, dass die Frauen ohne Dokumente keine Geschichte hätten, und dass ohne Geschichte den Frauen sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft nur wenig Respekt entgegengebracht würde; daher sollten Sammlungen oder Archive, Familiendokumente, mündliche Geschichten und Artefakte erhalten werden, um den Beitrag von Frauen zu dokumentieren und zu ehren».443 Eine Ausbildung zur Archivarin gab es damals nicht. Also war wieder das grossväterliche Learning by Doing angesagt. Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung wuchs und wuchs. Schenkungen und Nachlässe kamen hinzu. Bald mussten neben dem Wohnstock weitere Gebäude des Guts für das Archiv rekrutiert werden. Bis heute, 2014, sind über 400 Archivbestände gesammelt, je zur Hälfte von Organisationen und von Privatpersonen. Das Archiv umfasst zudem Periodika, Broschüren, Materialien, wissenschaftliche Arbeiten, Fotos, Plakate und Karikaturen, Zeitungen, Tonbänder und Videos. Grosse Teile der Sammlung sind Unikate.444 Die Bestände sind katalogisiert und über den Informationsverbund Deutschschweiz IDS elektronisch zugänglich. Jede Erwerbung hat ihre besondere Geschichte. Die Ablieferung des Archivs des Schweizer Verbands Volksdienst oder der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital waren nicht nur wegen ihres Umfangs besonders, sondern weil auch Gegenstände mitgeliefert wurden. So kann man heute auf dem Altikofen aus einer SV-Tasse trinken und in eine Pflegerinnenrobe schlüpfen. Ungewöhnlich war auch die Ablieferung der Materialien des alten Frauenco-
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 220
220 Teil 2
Abb. 82: Marthe Gosteli als Gastgeberin: 1995 empfing Marthe Gosteli diese Japanerinnen in ihrem privaten «Stöckli» und 1997 war die All China Women’s Federation auf dem Altikofen.
mité Bern mit dem statistischen Material, das um 1900 für die Chicagoer Weltausstellung ausgewertet wurde. Das Staatsarchiv Bern hatte einen Fund aus dem Keller des Staatsarchivs Freiburg vermittelt. Die Schweizerische Nationalbibliothek übergab wertvolle Archivalien aus der Gründerzeit der Frauenverbände sowie Dokumente zur SAFFA. Es erfüllt Gosteli mit Genugtuung, dass 1985 selbst der veräusserte BSF-Bestand zu guter Letzt wieder glücklich bei ihr im Archiv landete.445 Weitere Archivalien konnte sie in Nacht- und Nebelaktionen aus feuchten Kellern retten: «Heute ist alles archiviert und hat ein Findmittel», konstatiert sie zufrieden. Gosteli ist eine hingebungsvolle Sammlerin und leidet, wenn eine Frauenakte ihr oder ein anderes Archiv nicht erreicht: «Man glaubt es nicht», schimpft sie, «aber Ordner voller Korrespondenzen des Berner Frauenstimmrechtsvereins sind weggekommen: ‹Das isch würklech zum Gränne!›» Und wehmütig erzählt sie, wie es gehen kann, wenn sich jemand nicht oder zu spät um seinen Nachlass kümmert. Sie trauert um Papiere, die im «Ghüder» landeten oder erst verschimmelt abgegeben wurden. Ihr Archiv sei grundsätzlich für alle da: «Ich sammle selbst die
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 221
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 221
Papiere der Frauenstimmrechtsgegnerinnen und der 68er-Chaoten. Da bin ich konsequent. Wenn ich mein Archiv anschaue, so muss ich allerdings zugeben, dass hier viel mehr Material von der organisierten, bürgerlichen Frauenbewegung liegt», sagt sie, um anzufügen, dass auch ein Bestand der linken OFRA auf den Altikofen gekommen sei.446
Der Quellenband gegen das Vergessen der Schweizerin Die Frauen des Gosteli-Archivs bereiteten die Materialien auf und machten sie für die Forschung zugänglich. Mehr noch! Gosteli scheute den finanziellen und zeitlichen Aufwand nicht, selbst als Herausgeberin verschiedener Publikationen «in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für den Anteil der Frauen an der Geschichte zu schärfen». Zum Paradestück gedieh der zweibändige Quellenband Vergessene Geschichte. Hier sind die teilweise viersprachigen Chroniken der schweizerischen und der internationalen Frauenbewegung reproduziert, wie sie im Jahrbuch der Schweizerfrauen bzw. im Schweizerischen Frauenkalender zwischen 1914 bis 1963 erschienen. Unter der Redaktion von Regula Zürcher wurden zusätzlich zu den alten Texten 1370 Bilder und ebenso viele ausführlichste Legenden ins Buch gesetzt, immer auch darauf bedacht, die Chroniken zu arrondieren, sei es mit Hinweisen auf die Bewegungen religiöser und sozialistischer Gruppen, sei es mit Bemerkungen zu einigen Vorzeigemännern. Mit diesem Werk wollte Gosteli «Licht ins Dunkel der Frauengeschichte» bringen und dazu beitragen, dass die Frau nicht mehr «die grosse Unbekannte in der Geschichte» blieb.447 Die Vergessene Geschichte wurde wohlwollend aufgenommen, das Nationalmuseum richtete ihr eine grossartige Vernissage aus. Die eine oder andere Akademikerin monierte, das Werk sei «nicht wissenschaftlich».448 Es war der deutschen Brigitte Seebacher Brandt vorbehalten, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Verriss zu placieren, der über das Buch hinaus die bürgerliche Frauenbewegung attackierte. Willy Brandts «unheimliche Witwe» bemängelte im formalen Look einer revolutionären Marxistin, dass die Schweizerinnen bloss das Wahlrecht erlangen und nicht die eigene rechtliche, soziale und wirtschaftliche Stellung heben wollten: «Die Schweizer Frauen wollen nicht die Gesellschaft ändern und nicht die Befreiung der Menschheit erkämpfen», dozierte sie. Und sie bemängelte: «Keine Konfrontation. Kein Elend. Kein Aufruhr.» Dass sie die Vergessene Geschichte gar mit sachlich falschen Behauptungen als ein teures Hochglanzbuch diffamierte, das viel hermache, aber wenig aussage, nahm Gosteli erstaunlich gelassen hin.449
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 222
222 Teil 2
«Etwas Grosses kann man nur mit einem klaren Ziel vor Augen erreichen» Gosteli hat in ihrem Leben viel Herabwürdigendes und Respektloses zu spüren bekommen, eine Schelte mehr oder weniger kann sie nicht umhauen. Wenn sie sich hintergangen, ausgenutzt oder geringgeschätzt fühlt, beweist sie sich als unbeugsame Kämpferin, «schteit häre» und zeigt unerschrocken Härte. Das durfte das Archiv erleben, das mussten aber auch Stiftungsrätinnen und Angestellte erfahren. «Ich weiss, dass ich in der Zusammenarbeit keine Einfache bin. Aber etwas Grosses kann man nur mit einem klaren Ziel vor Augen erreichen und wenn man alle Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt.» Und letztlich habe sie als Stifterin, Finanziererin und Erhalterin des Archivs über Jahrzehnte den Tatbeweis erbracht, dass sie sich für die Archivalien zur Geschichte der Schweiz eingesetzt habe, als Staat, Basisdemokratinnen und Wissenschaft nirgends waren und keinen Rappen zahlten, um die wertvollen Akten zu retten, da es sich ja nur um Dokumente von Frauen gehandelt habe. Trotzig setzt sie noch einen drauf. Man könne ihr vorwerfen, sie sei autoritär. Aber eigentlich würde sie heute noch autoritärer vorgehen, dann hätte sie nämlich mit Sicherheit weniger Geld verloren.450 Zähne zeigte sie auch, wenn man ihrem Frauenarchiv auf den Pelz rückte. Als Direktoren anderer Institutionen gerne Archivmaterialien und Bücher unter ihre Oberhoheit gebracht hätten, diesbezügliche Vorstösse unternahmen oder schlicht Ausgeliehenes nicht mehr zurückgaben, konnte sie dezidiert werden. Gosteli musste sich vorsehen, dass ihre Schätze nicht abtransportiert oder umgenutzt wurden, dass aus dem Gosteli-Archiv keine Gender- oder Agrarforschungsstelle wurde: «Es gab Leute, die dachten, das sei wunderbar, was ich da eingerichtet und aufgebaut habe, und nun kämen sie zum Zug, denn ich bin nicht Akademikerin, nicht Historikerin, nicht Bibliothekarin. Da musste ich manchmal schon leer schlucken. Das Wichtigste ist, dass die Archivalien da sind, da daheim, und dass sie bleiben können. Dafür habe ich gesorgt.»451 Um ein unabhängiges, von ihr als «ideologiefrei» bezeichnetes, eigentliches Archiv zu unterhalten, brauchte es Geld. Für Gosteli hiess dies, selbst Zeit, Arbeit und Emotionen zu investieren. Leute wurden eingeladen, Besprechungen organisiert, Fundraising betrieben. Diesen Einsatz könne niemand nachvollziehen: «Eg ha langfreschtig d’Finanze ned gha ond ha si drum zerscht mösse schaffe.» Bei der Finanzsuche erkannte sie, dass an den Geldquellen vornehmlich Männer sitzen. «Sie hatten die entsprechenden Förderinstitutionen unter sich, nicht die Frauen. Wenn der Lotteriefonds, der eidgenössische Münzfonds Geld gaben, dann entschieden darüber Männer.» Doch Marthe Gosteli machte gute Erfahrungen: «Ich habe immer auch materielle und moralische Unterstützung gerade von Seiten der Männer erhalten.» Hin und wieder alimentierten Erbschaften das Archiv.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 223
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 223
Eine grosse Summe bekam sie unter anderem von Dr. Margrit Bohren-Hörni (1917–1995). Bohren war geschäftsführende Direktorin und Präsidentin des Schweizerischen Verbands Volksdienst, dem heutigen SV-Service, gewesen, hatte sich mit für das Anliegen «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit» und als FdPFrau im Kantonsrat Zürich profiliert: «Ich dachte schon, daraus wird nichts, als sie vor ihrem Ehepartner starb. Aber ‹häb di›, der Ehemann hat den Wunsch respektiert und wir bekamen das Geld», strahlt Marthe Gosteli dankbar. Das meiste Geld kam von ihr selbst. Marthe Gosteli hat nicht nur ihre ganze Kraft in ihr Frauenarchiv gesteckt, sondern auch ihr gesamtes Erbe sowie das ihrer Schwester Johanna (4.12.1916–29.4.1985): «Gott sei Dank hat mir meine Schwester alles hinterlassen!» Vom Staat bekam sie im Gegensatz zu anderen ähnlich gelagerten Archiven keine Subventionen. Das Sozialarchiv in Zürich etwa hat eine Geschichte wie das Gosteli-Archiv, wurde es doch auch von einer charismatischen Einzelperson begründet. Heute hat sich der ehemals karge Betrieb zu einer stattlichen Institution gemausert, die von Stadt, Kanton und Bund mit über 2,5 Millionen subventioniert wird.452 Das einzige Universalarchiv zur Frauenfrage in Deutschland, der 1984 von Alice Schwarzer initiierte FrauenMediaTurm in Köln, wird heute
Abb. 83: Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauen bewegung hat auch Marthes Schwester, Johanna Gosteli, deren Erbe im Unternehmen steckt, viel zu verdanken. «Als Johanna noch lebte, haben wir beide viele Feste gefeiert», erinnert sich Marthe Gosteli mit etwas Wehmut.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 224
224 Teil 2
vom Bund (mit zwei Drittel) und vom Land Nordrhein-Westfalen (mit einem Drittel) gefördert, nachdem er von einer sehr grosszügigen privaten Anschubfinanzierung profitieren konnte.453 Marthe Gosteli und ihr Team nutzten und nutzen alle möglichen Chancen, um das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung zu propagieren: «Ich konnte meine Archivalien nicht wie die staatlichen im Keller verstecken, ich musste sie vorzeigen, um Werbung zu machen.» Das Archiv wirbt auf der Homepage mit «guided tours through the Women’s Archives», nimmt an Museumsnächten und Dorffesten teil. Zudem lancierten Marthe Gosteli und ihre Mitarbeiterinnen immer wieder Ausstellungen. 1981 liess sie es sich nicht nehmen, eine dreistöckige Torte zu kredenzen, als Bern das Jubiläum «10 Jahre Frauenstimmrecht» im Kornhauskeller feierte.454 Zum 20-Jahr-Jubiläum des Archivs war sie 2002 für eine Ausstellung zur Schweizerischen Frauen geschichte in der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern und die Publikation Bewegte Vergangenheit besorgt.455 Marthe Gosteli selbst lässt sich immer wieder zu Vorträgen, Statements und Interviews einladen, um unter die Leute zu bringen, dass Frauen keine Quantité négligeable in der Geschichte sein dürfen.
Abb. 84: Aufmerksame Gäste in der Ausstellung zur schweizerischen Frauengeschichte anlässlich von 20 Jahren Gosteli-Stiftung und Gosteli-Archiv, die im Sommer 2002 in der Berner Stadtbibliothek gezeigt wurde. Die Vernissage fand im Kulturcasino statt, das Rahmen programm umfasste Vorträge und Podiumsdiskussionen, Führungen und Stadtrundgänge.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 225
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 225
Ohne Gleichberechtigung in der Geschichte keine Gleichberechtigung in der Zukunft «Die Frau ist die grosse Unbekannte in der Geschichte.» Marthe Gosteli formuliert es auf ein Dutzend Arten immer wieder neu. «Es stört mich, dass die Schweizer Frauen offenbar keine Geschichte haben. Ohne Gleichberechtigung in der Geschichte wird die Frau nie gleichberechtigt sein.» Das ist, sagt sie bestimmt, «ein wichtiger, fundamentaler Satz und international anerkannt» und sie verweist auf Simone de Beauvoirs «geschichtslose Frau».456 Sie musste ernüchtert feststellen, dass die weibliche Freiheitsbewegung in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung nicht vorkam und klagt an: «Nicht einmal das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, das Millionen zur Verfügung hat, kümmert sich um die Gleichberechtigung der Frau in den Geschichtsbüchern. Und das ist das Elementarste des Elementaren. Es ist mir nicht gelungen, die Bedeutung der Geschichte generell, und insbesondere die Geschichte der Frauen ins rechte Licht zu rücken: Ich habe den Einbezug der Gleichberechtigung der Frau in der Geschichte nicht erreicht. Diese Niederlage nehme ich mit ins Grab.» Marthe Gosteli beklagt generell die vernachlässigte historische und politische Schulung: «Grösstes Übel ist der katastrophale Bildungsnotstand, der betrübt mein Alter.» Dabei ist sie sich sicher, dass es gerade in einer Demokratie darum gehen müsse, die Leute zu schulen, wenn man etwas verändern wolle. Mit fehlenden Geschichten und Vorbildern hätten die Frauen Mühe, vorwärtszukommen, «weil sie nie auf das zurückgreifen konnten, was vor ihnen passiert war. Es war immer die Geschichte einer männlichen Tradition, die weitergegeben wurde, Frauen konnten ihr Eigenes da nicht einbringen. Das blieb immer wieder auf der Strecke.» Aber Frauen müssten erfahren, dass auch Frauen beachtliche Leistungen vollbracht haben, auf den weiblichen Erfahrungen früherer Generationen können sie aufbauen und erkennen, «dass etwas hinter ihnen steht». Sie müssten ihr Selbstvertrauen durch die Kenntnis der gemeinsamen Geschichte festigen, Selbstbewusstsein und Selbstachtung gewinnen. Marthe Gosteli gab sich demzufolge nicht mit der Archivierung von Materialien und der Herausgabe von Dokumentensammlungen zufrieden. Sie erkannte, dass mit dem gesammelten Wissen die Arbeit erst begann: «Dieses Wissen muss unter die Frauen getragen werden.» Sie führt viele Missstände darauf zurück, dass die Frauen keine Ahnung haben, was ihre Vorfahrinnen geleistet haben.457 Schon Helene Stucki hatte sich über die Absenz der Frauen in Edgar Bonjours Geschichte der schweizerischen Neutralität gewundert, die ab 1965 erschien: «Hat wirklich der gelehrte und gewissenhafte Historiker die Stimme der Frau überhört?» Er hatte. Die Stucki, die nach eigenem Bekunden die Frauenbewegung von Beginn des Jahrhunderts an tätig und leidend miterlebt hatte, beklagte
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 226
226 Teil 2
sich 1973 erneut, dass in Geschichtsbüchern und -lehrmitteln «der sozialen Frage, der Arbeiterbewegung, den Menschenrechten, der Dritten Welt» viele Seiten gewidmet würden, nicht aber der Frauenfrage. Kein einziges Frauenbild, kein Werk einer Frauenorganisation würde erwähnt.458 International wurde das Fehlen von Minderheiten und Zukurzgekommenen in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung gegen Ende der 1960er-Jahre registriert. Die Amerikanerin Gerda Lerner, Kommunistin und Gründungsmitglied der National Organization for Women NOW, promovierte 1966 vielleicht als Erste über ein frauengeschichtliches Thema.459 Sie schrieb Ohne Geschichte gibt es keine Zukunft, und es ist kein Zufall, dass sie dabei nebst den Frauen auch die schwarzen Sklaven im Auge hatte. Sie veröffentlichte später die Klassiker Die Entstehung des Patriarchats und Die Entstehung des feministischen Bewusstseins. Sie veröffentlichte früh eine Quellensammlung, für die auch sie die Materialien zur jüngeren Frauengeschichte erst mühsam suchen musste. Selbstverständlich gab es schon früher Schriften zu Frauenthemen oder Frauenbiografien, bevor sie Universitätsgut wurden. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfassten Frauen und Männer etliche Beiträge über die bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen und deren Stellung in Gesellschaft und Arbeitswelt. 1902 wurde über die Frauenbewegung in der Schweiz publiziert, weitere Schriften gleichen Titels erschienen 1928, 1930, 1934, 1955.460 Zur SAFFA 1928 stellten die Bibliothekarin Dr. Julia Wernly und Europas erste reguläre Professorin Anna Tumarkin ein Verzeichnis der Publikationen von Schweizer Frauen zusammen. Das Titelblatt, nach der mittelalterlichen Prunkseite des Breviers Johanna von Arbergs aus dem Augustinerinnenkloster Interlaken gestaltet, verwies auf Jahrhunderte alte Frauenwerke. Spezialstudien wie Das Frauenstudium an den Schweizer Hochschulen erschienen, schliesslich Leben und Wirken der Frauen in der Schweiz und drei Bände Schweizer Frauen der Tat. In der weiblichen Nebenwelt wurde den männlichen Lexika 1953/54 ein eigenes Lexikon der Frau gegenübergestellt. Alle waren sie von Frauen getragen. 1964 schrieb Emma Steiger zur Geschichte der Frauenarbeit in Zürich. Und 1966, als Gerda Lerner in den USA gerade ihre Pionierarbeit verfasste, schuf Berta Rahm in Zürich bereits den ALA-Verlag, der sich auf den Neudruck und die Verbreitung feministischer Werke spezialisierte und Frauenbiografien verlegte. Mit der gegenüber internationalen Aktivitäten traditionellen Verzögerung wurden Mitte der 1970er-Jahre via Deutschland Frauenthemen auch im Umfeld der Schweizer Hochschulen genehm. 1975 gab es in Zürich zur Geschichte der Frauen in der Schweiz eine von der Frauenzentrale mitorganisierte Ausstellung.461 In den 1980er-Jahren kamen dazu erste Publikationen auf den Tisch:
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 227
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 227
Abb. 85: «Frauen fordern: eine andere Geschichte» bzw. eine andere Geschichtsschreibung. Protestspruchband vom 1. Mai 1989 in Zürich.
1983 Regina Weckers Materialienbroschüre Frauen in der Schweiz, 1986 die Quellensammlung Frauengeschichte(n) von Elisabeth Joris und Heidi Witzig.462 Ab 1983 wurden Historikerinnentreffen organisiert, die weibliche Arbeits- und Lebensbedingungen untersuchten und auf den Spuren weiblicher Vergangenheit wandelten.463 Der geschlechtsspezifischen Dimension der Geschichte trugen die Frauen nun dezidiert Rechnung. Neben der politischen, der Wirtschafts-, Sozial-, Mentalitäts-, Alltagsgeschichte usw. institutionalisierten sie die Gendergeschichte. 1988 gab der Verein Feministische Wissenschaft Schweiz mit Ebenso neu als kühn ein Buch zum zürcherischen Frauenstudium heraus. 1979 nahmen sich die Historiker der Arbeiterbewegung der Frau in der Arbeiterbewegung 1900–1939 an. 1986 schliesslich erschien Annette Freis Dissertation über die Roten Patriarchen.
Gostelis Leiden an den Versäumnissen der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. «Was ist eine Geschichte, die niemand kennt?» Für Marthe Gosteli, die Nichtakademikerin, ist die universitäre Geschichtsschreibung nicht einfach ein Business as usual. Umso grösser war der Schock, als sie in wissenschaftlichen Büchern las, dass nicht sie die Hauptverantwortliche für das Gosteli-Archiv sei und dass man das Frauenstimmrecht vornehmlich
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 228
228 Teil 2
einer einzigen Demonstration mit Pfeifkonzert zu verdanken habe.464 Beinahe verlor sie die Contenance: «Ich bin fast verzweifelt.» Marthe Gosteli schleuderte in Interviews etliche verbale Giftpfeile gegen die «Güezis», die nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass schon vor 100 Jahren moderne Frauenforderungen aufgestellt wurden. Zudem suchte sie die Erwähnung der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau unter Marie Boehlens Ägide vor 1959 und die unter ihrer Leitung vor 1971 in den Publikationen vergeblich: «Die Verdienste der bürgerlichen und sozialdemokratischen Frauen kommen in der Geschichtsschreibung zu kurz», ist Gosteli überzeugt.465 Tatsächlich sind die Akten der «Arbeitsgemeinschaft», bei der in beiden nationalen Abstimmungen sämtliche Fäden zusammenliefen, bis heute nicht eingearbeitet. (Vgl. S. 166) Gosteli hat in ihrem Archiv die seltsame Erfahrung gemacht, «dass die Forscherinnen sich nur auf die Materialien stürzten, die ihre Meinungen bestätigten». Zudem nervt es sie, dass die heutige «wissenschaftliche Geschichtsschreibung lieber falschen bzw. einseitigen schriftlichen Quellen glaubt als mündlichen Zeugnissen». Sie macht noch weitere Fehlleistungen aus. Die Historikerinnen beurteilten Begebenheiten aus heutiger Sicht und sässen so «über das Handeln früherer Generationen zu Gericht. Sie schauen nicht, wie es damals war, und kommen von heute her auf falsche Einschätzungen und verzerren viele Geschehnisse. Das heisst nicht, dass man bei Aussagen von Menschen nicht kritisch sein soll, aber man muss die verschiedenen Denk- und Handlungsweisen von damals im zeitlichen Rahmen betrachten, in dem gewisse Sachen passiert sind.»466 Zudem hat sie manchmal den Eindruck, dass bei einigen die Ideologie das eigenständige Denken ersetzt oder sie dazu neigten, die Frauenfrage als Mittel der Gesellschaftskritik zu missbrauchen. «Historikerinnen sind arrogant, wenn sie sich im Besitz der Wahrheit wähnen.» Nachdem Gosteli ihr Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung aufgebaut und sich Gedanken gemacht hatte, wie Geschichte in die Geschichtsbücher kommen könnte, folgte die nächste Überlegung: «Was ist eine Geschichte, die niemand kennt?» Sollte die Geschichte, insbesondere jene der Frauenbewegung, endlich einmal die Schweiz erobern, müsste sie in den Schulbüchern stehen. Doch da ist wenig zu finden, und Marthe Gosteli schnaubt entrüstet: «Die Jungen kennen die Geschichte nicht. Wie sollten sie auch. Schau mal in unsere Geschichtsbücher, die von Schülern in der Schweiz gebraucht werden! Frauen sind allenfalls – wenn überhaupt – ein marginales Thema.» Marthe Gosteli schimpfte bereits 2011: «Es ist eine Katastrophe, was alles nicht in diesen Büchern steht!» Hin und wieder kommen junge Leute zu ihr ins Archiv und erzählen, wie ihnen Geschichte vermittelt wurde: «Es esch e Gruus», stöhnt
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 229
Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung 229
Gosteli und verrät: «Letzthin sind drei Bombemädi von Kreuzlingen zu mir gekommen und haben sich aufgeregt, was alles sie nicht von der Geschichte wissen.» Kurz entschlossen hat sie bereits 2011 selbst damit angefangen, Lehrmittel zu kreieren. Gerechtigkeit erhöht ein Volk: 40 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht erschien 2011 als Themenheft für die Sekundarschule 2 mit den wichtigsten Originalquellen und in 40 Lerneinheiten. Es war ein ambitioniertes Unterfangen, da es sich nicht auf grundlegende Forschungen und wissenschaftliche Geschichtsbücher stützen konnte. Marthe Gostelis Anliegen ist klar: Die internationale und nationale Geschichte der Frauen sowie der Frauenbewegungen muss Eingang in die Geschichts bücher, in den Schulunterricht und in die Erwachsenenbildung finden. Doch Gosteli sieht schwarz. Der eigentliche Geschichtsunterricht ist heute im Fach Natur, Mensch und Gesellschaft NMG versteckt und im Lehrplan 21 kaum mehr vorgesehen.467 Auf Ende 2013 zog sich Marthe Gosteli als Leiterin des Archivs zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung zurück. Auf ihrer letzten Neujahrskarte, die sie in dieser Funktion verschickte, würdigte sie noch einmal die Unternehmerin Else Züblin-Spiller.468 Der Stiftungsrat der Gosteli-Stiftung ernannte auf den 1. Januar 2014 die Informationswissenschaftlerin und Kulturmanagerin Silvia Bühler zur Leiterin.
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 387
387
B ILD NACH W EIS
Autorin und Verlag haben sich bemüht, die Urheberrechte der Abbildungen ausfindig zu machen. In Fällen, in denen ein exakter Nachweis nicht möglich war, bitten Autorin und Verlag die Inhaber der Copyrights um Nachricht. Die Ziffern beziehen sich auf die Abbildungsnummern. Eva Aeschbacher: 89 (mit Dank an Eva Aeschbacher, 22.4.2013) Anzeiger für die Landgemeinden des Amtes Bern: 126 (16.2.1929) Berner Zeitung: 86 (mit Dank an Peter Blaser, Scan: StAB) Bernisches Historisches Museum: 94 (Inv. 13810), 95 (Ölbild aus dem Trachtenzyklus von Joseph Reinhard, Inv. 1965) Les femmes suisses: 23 (15.6.1957, S. 1, Cliché SNB) Feuille d‘Avis de Lausanne: 42 (3.3.1969, Cliché SNB, Text: Ruckstuhl Lotti, Zeitungsanalyse, in: Die Staatsbürgerin, April, Mai 1969, S. 4 ff.) Christine von Fischer: 54 (mit Dank an Christine von Fischer) © Fotostiftung Schweiz: 99 (Theo Frey, Gemeinderäte in Rüederswil 1938, 2006.50.068) Fraue Zitig: 47 (Juli 1975) Hans Friedli: 51 (Blick, RDB, Swiss Review, 3/1993) Gallas Zürich: 110 (in: Grenzdienst der Schweizerin, S. 112 f.) Claude Giger: 49 (mit Dank an Claude Giger, vgl. Frauen machen Geschichte. 20 Jahre OFRA Basel, Bern 1997, S. 23) Gosteli-Archiv (GA): 2, 3 (O. Rohr, Bern, mit Vermerk «Leuch, Béthusy 52, Lausanne»), 4 (Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 655, Jung-Männer-Kochkurs in Kandersteg 1929), 5 (Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 529/SIZ 17.11.1927), 6 (vgl. Ruckstuhl, S. 34 f., Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 669 mit der Tafel «Ganze Schweiz»), 9 (Der Bund, 25.2.1934), 12 (Gosteli VG, Bd. 2, S. 733, Nr. 1016), 14 (ATP Bilderdienst), 15 (Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 1095; Photopress Zürich), 16 (L. Mützenberg, Bern), 17 (Die Woche, 9.–15.2.1953), 18 (Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 1205; Photopress Zürich), 19, 20 (ATP Bilderdienst), 21, 22 (Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 967), 24 (Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 1248; SFB 12.2.1960), 28 (Gosteli VG, Bd. 2, S. 913, Nr. 1220), 29 (Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 1290), 30, 31, 32, 33 (Radio – Je vois tout, 5.2.1959), 34 (GA/Privatarchiv), 35 (Nr. 101, Schachtel 12; mit Dank an Verena Koebel-Spreuermann), 36 (GA/Privatarchiv Gerda Stocker-Meyer), 37 (Prospekt), 39 (Privatarchiv), 46, 48, 60 (Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 371), 61 (Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 1033, 1951), 62 (Postkarte, abgestempelt 1931), 70 (GA/ Privatarchiv, Gosteli VG, Bd. 2, Nr. 1137, Bericht von Frieda Amstutz, in: Der Bund, 18.11.1962), 76 (Novosti Press Agency), 77 (with the compliments of Mayumi Moriyama), 81 (Franziska Rogger), 82, 84 (Esther van der Bie, puncto Bern), 87 (GA/Privatarchiv), 88 (GA/Privatarchiv), 90, 91, 103 A und B (Franziska Rogger), 105 (Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 344), 113 (GA/Privatarchiv, Fr. Fuss, Bern), 114 (Gosteli VG, Nr. 255, SIZ, 31.8.1918), 123 (GA/Privatarchiv), 124 (GA/Privatarchiv), 128 (SV-Group, F. G. Eberhard, Zürich), 129 (Jahresbericht GA 2012, Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 47),
www.claudia-wild.de: Rogger__Gebt_den_Schweizerinnen__[Druck-PDF]/17.02.2015/Seite 388
388 Anhang
© Gretlers Panoptikum: 41 (Die andere Geschichte, eine Postkartenserie der SPS), 85 (Die andere Geschichte, eine Postkartenserie der SPS/Tula Roy) Museum Neuhaus, Biel: 127 (mit Dank an Pietro Scandola) Oberländisches Volksblatt: 112 (2.3.1913, Scan: SNL) Ringier Bildarchiv Aargau: 1 (Sigfried Kuhn, © StAAG/RBA21-517_8. Vgl. LNN 3.3.1990), 38 (Reto Hügin, © StAAG/RBA1-4_ValentinAndree_1, SIZ 28.10.1968), 79 (Sigfried Kuhn, © StAAG/RBA21-517_5) Franziska Rogger: 74, 80 (Oktober 2013, Text: SZG 57, 2007, Nr. 3, S. 320), 93 (mit Dank an Markus Stämpfli, Pfrundscheune Bolligen, Text: Hauser A 1989, S. 72) Hans Schaub, Worblaufen: 102 (in: Gugger, S. 351, Abb. 19) Schweizer Illustrierte Zeitung (SIZ): 7 (13.6.1929, S. 944, Cliché SNB) Staatsarchiv Bern (StAB): 8 (FN Jost N 867), 10 (N Gosteli 74_14), 11 (FN Jost N 5577 L. O. Bern Kp I, A. B.V., WK I 16./17. April 1945), 40 (N Gosteli 93_10), 43 (FN Schlegel), 44 (FN Schlegel, Foto: Hans Schlegel), 45 (N Gosteli 74_9), 52 (N Gosteli 74_17), 53 (N Gosteli 75_1; Gosteli VG, Bd. 1, Nr. 425), 55 (N Gosteli 91_5), 56 (N Gosteli 90_1), 57 (N Gosteli 75_2), 58 (N Gosteli 91_10), 59 (N Gosteli 91_11), 63 (N Gosteli 91_1), 64 (FN Jost P 810 Mobilmachung, weinende Frau 1939), 65 (N Gosteli 74_1), 66 (N Gosteli 93_7), 67 (N Gosteli 93_1), 68 (N Gosteli 93_3), 69 (N Gosteli 92_5), 71 (N Gosteli 92_2), 72 (N Gosteli 74_19), 73 (N Gosteli 78_2), 75 (N Gosteli 83_2), 78 (N Gosteli 97_2), 83 (N Gosteli 95_1), 92 (N Gosteli 3), 96 (N Gosteli 2), 97 (N Gosteli 2), 98 (A II 3416, in: Berns moderne Zeit, S. 26), 100 (N Gosteli 72_2, Jean Gut & Co, Zürich), 101 (N Gosteli 72_2, Atelierfotograf Emil Vollenweider, Bern), 106 (N Gosteli 71_4), 107 (N Gosteli 78_1), 108 (N Gosteli 73_1), 109 (N Gosteli 73_3), 111 (N Gosteli 74_7), 115 (N Gosteli 69_1, A. Wicki, Bern, Interlaken), 116 (N Gosteli 66_1), 117 (N Gosteli 69_1), 118 (N Gosteli 70_1), 119 (N Gosteli 3; mit Dank an Markus Stämpfli, Heimatmuseum, Pfrundscheune Bolligen), 120 (N Gosteli 68_5), 121 (N Gosteli 74_6), 122 (N Gosteli 74_5, Atelier E. Vollenweider, Bern, datiert 18.5.1913), 125 (N Gosteli 74_10), 130 (FN Jost N 870, Ausfüllen der Steuerklärung, 15.3.1933) SV-Group: 13 Peter Studer: 25 (Walter Studer, Serie Nr. 14, Bild 2, © Peter Studer, Bern), 26 (Walter Studer, Serie Nr. 218, Bild 63, © Peter Studer, Bern), 27 (Walter Studer, Serie Nr. 353 A, Bild 16, © Peter Studer, Bern) Universitätsarchiv Bern: 104 Gertrud Vogler: 50 (in: Wicki Maja [Hg.]: Wenn Frauen wollen, kommt alles ins Rollen, Zürich 1991)