H e i r i Sche re r ( H rsg . )
MASKEN MA S K E N Werksta tt u n d At elier
We r kstatt und Ate l i e r
Hei ri S ch erer
Wachsmasken für das Schweizer Brauchtum: Das alte Handwerk des «Drückens» wird europaweit nur noch von Verena Steiger professionell ausgeübt. Was einst in Italien, Paris, Deutschland und der Schweiz in riesigen Stückzahlen gefertigt wurde, hat in Steinen überlebt. Es ist ein Kunsthandwerk vom Feinsten, vom Abgiessen der Formen bis zum Kaschieren und Bemalen von Hand. Keine Maske ist wie die andere. Hier wird ein bedeutendes kulturelles Erbe der Schweiz sichtbar.
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Inhalt Eine Wand voller Gesichter 6 Aus der Gips-Negativform entsteht die Positivform 12 Kaschieren heisst überziehen 22 Werkstattgespräch 34 Bekannte Gesichter auferstehen lassen 38 Strassenmasken 50 Gittermasken 56 Der «Lappi» als Grossmaske 62 Theatermasken 70 Masken der Commedia dell’ arte 80 Masken für Traditionsfasnachten und -anlässe 86 Verena Steiger über ihre Arbeit 102 Autorinnen und Autoren 101 Dank 103
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Das Herstellen einer Maske beginnt mit dem Abgiessen. Aus der Gips-Negativform entsteht die Positivform. «Grundlage jeder Maske ist ein Tonmodell (Positiv). Es ist zwar nicht lange haltbar, doch lässt es sich am besten modellieren. Das Gipsnegativ ist der Abguss dieses Tonmodells. Das Tonmodell wird beim Herauslösen zerstört. Das zurückbleibende Gipsnegativ ist dann die Mutterform der Maske. Wenn ein Gipsnegativ wiederum mit Gips gefüllt wird, entsteht ein Gipspositiv. Das Gipsnegativ bleibt dabei unversehrt. So können mehrere Gipspositive aus einem Gipsnegativ gegossen und gleichzeitig mehrere Masken derselben Form produziert werden. Die historische Gipsformensammlung der Steiger-Masken ist das Herzstück des Ateliers. Sie wird im Keller auf einer besonderen Matte gelagert. Insgesamt werden die Regale von ungefähr 430 Gipsnegativen bzw. Mutterformen belegt.» Susan Steiger
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Der Werkplatz hinter dem Haus zum Abgiessen von Positiv- aus Negativformen. Hier kann unbeschwert mit Gips und Wasser gearbeitet werden.
Aus der Gips-Negativform entsteht die Positivform
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Kaschieren heisst überziehen, verdecken. Die Gipsform wird gefettet und mit Gazestreifen überklebt. Fünf Schichten, mit Leim verbunden, ergeben die gewünschte Stabilität. «Als ich einen historischen Beschrieb über das Maskenmachen las, tauchten Erinnerungen an das morgendliche Maskenmachen meiner Eltern auf. Die Arbeitsschritte sind identisch. Der schwer zu beschreibende Arbeitsvorgang konnte nun historisch belegt werden und bekam eine spezifische Berufsbezeichnung: die Drückerin, der Drücker. ‹Entsprechend den Bossierern bei den Puppenmachern kam bei den Maskenmachern das Gewerbe der Drücker auf. Hierbei geht es nicht um freies Modellieren, sondern lediglich um den mechanischen Abklatsch bestimmter […] Formen. […] Die Heimarbeiter verfügten zum Zweck der schnelleren Produktion meist über 72 gleiche Formen. […] bei teueren Masken [werden] zwei Schichten von in Stärkelösung präparierter Gaze auf die mit schlechtem Fett eingeschmierten Model aufgelegt und sorgfältig in alle plastischen Züge des Gesichts eingedrückt. Wenn die Letzte gedrückt vorliegt, ist die Erste trocken. Dann kann die erstarrte Maske von der Form gelöst und ihrer weiteren Bearbeitung zugeführt werden […]› Je näher die Fasnacht rückte, desto mehr Aufgaben durften mein Bruder und ich übernehmen. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich das erste Mal den blauen Rand um die Augen der Innerschwyzer Traditionsmaske malen durfte. Mein Vater zeigte mir, wie ich die Hand auf dem Handgelenk aufzustützen habe, damit ich nicht zitterte und eine regelmässige und schöne Linie entstehen konnte. Es war keine Probemaske, im Gegenteil; der Kunde erwartete sie bereits. Hätte ich einen Fehler gemacht, hätte das Stress und zusätzliche Arbeit für meine Eltern bedeutet. Ich fühlte mich geehrt, diese anspruchsvolle Arbeit ausführen zu dürfen.»
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Drei Formen liegen eingefettet zum Kaschieren bereit.
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Die erste feuchte Gazeschicht wird aufgetragen.
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Wichtig ist, dass die Gaze fein einmassiert wird, damit keine Fältchen entstehen.
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Mit kleinen Gazeplätzchen werden feine Details herausgearbeitet …
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… und heikle Stellen verstärkt.
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Steiger-Masken für Fasnachten und andere Traditionsanlässe. Dominik Wunderlin
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Maskenbräuche kennt man praktisch auf der ganzen Welt zu allen Jahreszeiten. Auch in Europa. Aber die hohe Zeit der Maske beginnt jeweils um die Jahreswende und dauert in der Regel bis in die Nacht zum Aschermittwoch, in Einzelfällen sogar bis Mittfasten. Vor allem im alpinen Raum der Schweiz und Österreichs sind an Silvester und in den ersten Tagen des neuen Jahrs vielerorts wilde und zumeist lärmige Maskenauftritte zu beobachten, die ebenso als Schwellenfeste bezeichnet werden können, wie es die Fasnacht vor Beginn der vor österlichen Fastenzeit ist. Es findet sich im Jahreslauf sonst kein Fest, das derart reich an Brauchelementen ist wie die Fasnacht. Obwohl sie als volkskundlich relevantes Phänomen viele Jahrhunderte zurückreicht, ist manches, was ihr heute Gestalt gibt, bloss ein Produkt des 19. oder nicht selten erst des 20. Jahrhunderts. Umgekehrt gibt es auch Brauchelemente, die längst verschwunden sind oder nur noch als Relikte beobachtet werden können. Beharrung und Wandel sind im Brauchtum ebenso Konstanten wie der Abgang von Überliefertem und die Kreation von Neuem, das später als Tradition empfunden wird. Bräuche wurden oft vollständig – oder zumindest einzelne Elemente davon – importiert und haben dann lokale Anpassungen erfahren. Nicht selten wurden und werden verschwundene, aber mehr oder weniger dokumentierte Bräuche wieder zum Leben erweckt, wobei auch zeitgenössische Interpretationen und neue Elemente in die Brauchgestaltung einfliessen. Aber Bestand und Zukunft hat letztlich jeder Brauch nur dann, wenn er sich wandeln kann – auch bezüglich der Funktion. Zum Verschwinden ist hingegen eine Tradition bestimmt, die in ihren Formen erstarrt ist und deren Sinn nicht mehr verstanden wird. Wenn wir unseren Blick hier auf die brauchtümliche Gesichtsverhüllung, auf die Maske, konzentrieren, dann gilt: Das verwendete Material hat sich im Laufe der Zeit oft mehrfach gewandelt, oder verschiedene Werkstoffe werden sogar zeitgleich traditionell zur Maskenherstellung verwendet. So begegnen wir allein schon in der Schwyzer Maskenlandschaft wiederholt textilen neben geschnitzten Masken, selbst vom gleichen Maskentyp, wie etwa beim «Blätz». Es sprechen auch zahlreiche Indizien dafür, dass sich Schöpfer von Holzmasken immer wieder durch Wachslarven inspirieren liessen und umgekehrt. Dass praktisch identische Masken im Angebot verschiedener Maskenfabriken waren, kann auch nicht übersehen werden.
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Namentlich in den Maskenlandschaften der Schweiz, von Österreich und Süddeutschland sind gewisse Fasnachtsfiguren ganz eindeutig durch Einflüsse von aussen entstanden. Allein schon für die Region Innerschwyz sind hier neben dem «Tiroler», dem «Japaner», dem «Domino» und dem «Bajazzo» vor allem auch der «Harlekin» zu nennen. Beim Lesen der nachstehenden Kurzporträts von Schaubräuchen wird deutlich, dass wir hier gerade dem klassischen «Arlecchino» aus der italienischen Commedia dell’Arte wiederholt begegnen. Am «Italiener» aus den Stegreifkomödien orientieren sich mehrere Fasnachtsfiguren entweder bei der Gesichtsmaske und / oder beim Kleid sowie bei der Körpersprache. Die am jeweiligen Verwendungsort stets als wichtige Traditionsfigur begriffene Maskengestalt tritt aber unter verschiedenen lokalen Namen auf, so etwa als «Blätz» in Schwyz, als «Rölli» in der March, als «Drapoling» in Amsteg oder als «Löli» bei der «Greth Schell» in Zug. Im Einzelnen ist die Wanderung dieser klassischen Figur nicht mehr rekonstruierbar. Neben Handels- und Kulturkontakten zu Norditalien ist auch zu bedenken, dass der «Harlekin» gegen Ende des 18. Jahrhunderts bei Theateraufführungen der Zentralschweiz (z. B. im Brunner Bartlispiel von 1784) zu sehen war. Die Gestalt dürfte dann – wie andere närrische Figuren – im Laufe des nachfolgenden Jahrhunderts in die örtlichen Fasnachten integriert und lokal ausgeformt worden sein. Dass nun eine im Atelier Steiger noch heute verwendete Form des klassischen «Harlekins» an verschiedenen Orten als zentrale Traditionsmaske gilt, kann mit der Angebotslage und mit dem Gefallen an dieser Form zu tun haben. Und dass auch beim Kleinbasler Umgang, dem «Vogel Gryff», die vier «Ueli» im Mi-Parti-Gewand Wachslarven tragen, die im schwyzerischen Steinen mit der «Harlekin»-Form gefertigt worden sind, hat wohl auch mit dem Verständnis zu tun, welche Gesichtszüge die emsig herumschwirrenden Narren haben müssen und dass sie in der verfügbaren Form erfüllt sind. In der Folge werden hier ausschliesslich Schaubräuche aus der Zeit um Neujahr und Fasnacht präsentiert, an denen auch Masken aus dem Atelier von Verena Steiger zu entdecken sind.
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Zug durch die Gassen – vom Oberdorf zurück auf den Dorfplatz.
Die Trommler geben den Rhythmus, die Narren lassen die Füsse spicken – das «Nüsseln» auf dem Hauptplatz in Schwyz.
Schwyz Der Hauptort des gleichnamigen Kantons kennt ein reiches Fasnachtsleben, das bis ins Mittelalter bezeugt ist. Obwohl als Beginn der Fasnacht in Innerschwyz der Montag nach dem Dreikönigstag gilt, herrscht seit je das eigentliche Maskentreiben in den sechs Tagen vor dem Aschermittwoch. Den wichtigsten Akzent setzen die «Nüssler», die in Rotten durch die Wirtshäuser ziehen und intrigierend für Stimmung sorgen oder sich im Takt von Trommeln in einem eigenwilligen Hüpftanz um die eigene Achse drehen. Eine Rott besteht aus einem Narrenensemble von sechs verschiedenen maskierten Hauptfiguren, die als autochthones Schwyzer Kulturgut angesehen werden: der «Blätz», der «Alte Herr», das «Domino», das «Hudi» und der «Zigeuner» oder sein weibliches Pendant. Weitere Begleiter sind manchmal der «Teufel», der «Bauer», der «Bäcker», der «Metzger», der «Viehhändler», der «Junge Herr», der «Päijassebueb» und das «Päijassemeitli». Eine solche Maskerade wird von zwei Trommlern und dem «Maschgraden-Vater» begleitet. Viele Masken einer Schwyzer Rott enden am Güdeldienstag kurz vor Mitternacht im Feuer auf dem Hauptplatz. Die «Nüssler» haben ihren Namen wohl aus jener Zeit, als die Rott noch Nüsse anstelle von Orangen, Schleckzeug, Wurst und «Mutschli» (Brötchen) verteilte. Das Ausgeben von Nüssen ist auch anderswo bezeugt, so im spätmittelalterlichen Schembartlauf von Nürnberg, bei der Laufenburger Fischerzunft oder bei den «Nussern» im steirischen Bad Aussee. Die Hauptfigur in Schwyz ist der «Blätz». Vom Namen her ist er verwandt mit dem weitverbreiteten «Blätzlibajass»; vor dem Gesicht trägt er eine fleischfarbene «Bergamasker Larve». Sie ist aus gewachstem Gewebe und stammt aus dem Atelier von Verena Steiger. Masken für Traditionsfasnachten und -an lässe
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Steinen, Seewen, Ibach, Brunnen Die um den Hauptort gelegenen Gemeinden pflegen alle eine eigene Fasnacht. Wer sie besucht, begegnet allerdings mancher Fasnachtsfigur, der er auch vom Flecken Schwyz her kennt. In Steinen indes setzt sich die «Nüssler»-Rott aus folgenden Hauptfiguren zusammen: «Hudi», «Blätz», «Alter Herr», «Zigeuner», «Domino» und «Harlekin». Im Vergleich zu Schwyz etwas anders ist auch der Tanz, das «Nüsseln». Wie in Sattel und Brunnen wird mit Fussspitze und Absatz getanzt, während in Schwyz und Ibach beim Narrentanz nur die Fussspitzen verwendet werden. Die Brunner «Nüssler» kennen zudem einen zweiteiligen Narrentanz. In Ibach ist die Hauptfigur der Rott der «Alt Herr» und eine Besonderheit ist zudem der Thronwagen des Kalifats Ibagh dad mit dem «Kalifen» und seinem Gefolge. Dieser Auftritt hat seine Entsprechung bei den Schwyzer «Japanesen», die seit 1863 in unregelmässigen Abständen ein Fasnachtsspiel (so 2019) aufführen und sich gelegentlich auch in einem Umzugswagen zeigen. Eine Prise Exotik kennt auch Seewen mit der Negusgesellschaft, aber man ehrt mit der «Seefax» und mit dem «Zünggälähuu» auf fastnächtliche Art auch Gestalten aus Lokalsagen. Eigenständige Figuren kennt man in Brunnen mit dem «Bartli» (wohl vom heiligen Bartholomäus) und in Steinen wird die «Nüssler»-Rott von den Lokalfiguren «Talibasch» (vom «tollen Sebastian» oder Tolpatsch?) und «Välädi» (von Valentin) angeführt.
Nüsseln auf dem Hauptplatz in Steinen.
«Unäarämachä» am Güdeldienstag auf dem Hauptplatz Steinen – «Schällä-n under mid em ganzä Fasnachtsplunder».
Steinen kennt übrigens ein Fasnachtsvergraben, während man in Brunnen – gleich wie in Schwyz – die Fasnacht mit einem Feuer abschliesst: Wird in Brunnen der «Harligingg» (Harlekin) verbrannt, ist es in Schwyz eine grosse «Blätz»-Figur, die auf dem Hauptplatz zu Asche wird.
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Hier trägt der «Tiroler» Vollbart aus Rosshaar.
«Nüsseln» im Säli, bis sich die Balken biegen.
Rothenthurm und Sattel Nach der Kinderfasnacht am Schmutzigen Donnerstag wird in Rothenthurm am Güdelmontag weitergefeiert. Klein und Gross zeigen sich dann als «Tiroler». Das Dorf Rothenthurm liegt nördlich des Sattelpasses an einem alten Durchgang, der auch das Marienheiligtum Einsiedeln mit der jenseits des Vierwaldstättersees gelegenen Verehrungsstätte von Bruder Klaus (Niklaus von Flüe) verbindet. Dabei kam es sicher auch zu Kulturkontakten mit Pilgern und Wallfahrern aus dem Tirol, die in ihrer Landestracht vorbeizogen. Dazu kamen seit 1850 zur Fasnachtszeit wiederholt Theateraufführungen des AndreasHofer-Spiels. Über Garderobiers gelangten Tiroler Theaterkostüme mietweise an die Fasnacht. Erstmals geschah dies in Einsiedeln bereits 1860. Somit war der Weg frei zur Kreation des «Tirolers» in Rothenthurm. Die Rothenthurmer «Tiroler» tragen unter ihrem Lodenhut eine «Bergamasker Larve» mit aufgenähtem Bart. Die Kleidung besteht aus einem weissen Hemd, samtenen Kniehosen in grün, rot oder blau sowie aus weissen Kniestrümpfen und schwarzen Schuhen. In der gleichen Farbe wie die Hosen ist der schräg über Schulter und Hüfte getragene Schellengurt – bestückt mit 48 kleinen Schellen und 12 Kilogramm schwer. Bei ihren Umgängen und Tänzen auf Plätzen und in Wirtschaften erzeugen die Schellen einen wunderbaren Klang zu Ländler, Schottisch oder einer Polka, die von einem Volksmusikensemble gespielt werden. Unentbehrlich ist auch der «Buselbesen» mit dem «Hudibrot». Der beschriebenen Maskenfigur kann man übrigens in ähnlicher Form auch in den benachbarten Dörfern Sattel und Unter ägeri begegnen und vielleicht schon am längsten im nahen Klosterdorf Einsiedeln.
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Oberägeri, Alosen In der Nachbarschaft zu den Gemeinden Rothenthurm und Sattel liegt das zugerische Ägerital mit den Gemeinden Oberägeri und Unterägeri. In beiden Gemeinden gibt es ein lebendiges Fasnachtsbrauchtum, das die Nähe zur Innerschwyzer Maskenlandschaft nicht verleugnen kann. So kennt man in Unterägeri den «Tiroler» («Nüssler»), der sich kaum von jenem jenseits der Kantonsgrenze unterscheidet und ebenfalls eine «Bergamasker Larve» (mit Schnurrbart) trägt, die dem Vernehmen nach früher zeitweise aus Bozen bezogen wurde, jetzt aber aus Steinen kommt. Auch in Oberägeri gehört der «Tiroler» ins dörfliche Fasnachtsgeschehen. Die Figur ist auch hier wenig unterscheidbar von jener in Rothenthurm, sogar die Tirolerhosen sind genauso rot, grün oder blau gefärbt, und der Rollengurt hat ebenfalls jeweils 48 Kreuzschellen. Eine Besonderheit ist hingegen die auf den Hut gesteckte Pfauenfeder. Das Brot, das auf den Besenstiel gesteckt ist und ans Publikum verteilt wird, heisst «Legorenbrot». Der Name soll an Hans Kuony von Stocken, den Hofnarren des habsburgischen Herzogs Leopold, erinnern. Nach lokaler Überlieferung habe er vor der Schlacht bei Morgarten (15. November 1315) bei einer Rast des Heeres im heutigen Oberägeri die Leute des Dorfes mit seinen Scherzen unterhalten. Wie bei Hofnarren üblich, trug auch Kuony eine bunte Kappe mit langen, herunterhängenden, «gelegten» Ohren, daher soll die Bezeichnung «Legoren» kommen. Deshalb nennen die Oberägerer ihr Narrenfest Legoren-Fasnacht, organisiert von einem neunköpfigen Legoren-Rat. Selbstverständlich hat der Hofnarr in seinem gelb-roten Mi-Parti an der Ober ägerer Fasnacht eine besondere Rolle: Er ist als Spielleiter zuständig für das
Die «Tiroler»-Maske.
Im Einsatz am Umzug durch das Oberägeri.
Bühnenspiel, das nach dem Umzug am Güdeldienstag Sünden, Fehler und Missgeschicke von Bürgern, Amtsträgern und Behörden mit legorianischem Spott und Hohn aufdeckt. In Baar setzte man früher «Legor» gleich mit einem maskierten Narren, und allgemein hatte im Zugerland das Verb «legoren» die Bedeutung von «als Harlekin herumgehen».
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Die «Bajass»-Wachsmaske.
Getragen vom weissen «Hörelibajass» in Einsiedeln beim Brotauswerfen für die Kinder.
Einsiedeln «Johee», «Sühudi», «Mummerie», «Hörelibajass», «Domino», «Hexe», «Fuehrmä», «Tiroler» und viele Fantasiemasken begegnen in den Fasnachtstagen dem Besucher von Einsiedeln. Haupt sächliche Träger sind die beiden Fasnachtsgesellschaften Goldmäuder und Bürger wehr, die im alljährlichen Turnus für die Herausgabe einer Fasnachtszeitung zeichnen und den grossen Umzug am Nachmittag des Güdelmontags, dem Haupttag der Einsiedler Fasnacht, organisieren. Ein besonderer Moment ist jeweils schon das Geschehen am Montagvormittag. Früh am Morgen wird dieser Tag mit Schellen und Treicheln eingeläutet. Nach der Morgenmesse in der Klosterkirche werden dann die Kirchgänger vom «SühudiUmzug» empfangen. Zuvorderst sind der «Teufel» mit langen Hörnern und der peitschenknallende «Teufelsfuhrmann». Ihnen folgen seit jüngerer Zeit auch zahlreiche weitere grosse und kleine Teufel, dann die vermummten Treichler und natürlich viele «Sühudis», die auf fantasievolle Weise manches an den Tag bringen, was durch das Jahr in Einsiedeln an Ungereimtem geschehen ist. Die «Sühudi»-Masken sind grob und selbst gefertigt aus Papiermaché, wobei in die Masse oft auch Konfetti oder rosarotes Toilettenpapier eingemischt ist. Aus Holz geschnitzt sind die Masken der «Joheen» und der «Mummerien», die am Nachmittag des Güdeldienstags von mehreren Bühnen aus Brötchen in die Menge werfen und mit ihrem Aussehen auf die starke Beziehung zum Tirol verweisen. Assistiert werden sie von den weissen «Hörelibajassen» mit Wachsmasken aus Steinen, hier von den Typen «Stupsnase» und «Harlekin». Letzterer verweist hinsichtlich der Physiognomie in die italienische Maskenlandschaft – konkret in die Commedia dell’Arte.
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Amsteg Die einzige eigenständige Maskenfigur, die man im Kanton Uri heute noch kennt, ist der «Drapoling». Er war früher nicht nur in Amsteg und im benachbarten Silenen zu Hause, sondern weitherum im unteren Reusstal und im unteren Schächental verbreitet. Praktisch in der letzten Minute wurde die Maskengestalt 1976 durch die Initiative der lokalen Katzenmusik-Gesellschaft vor dem Verschwinden gerettet und neu belebt. Sein Name steht in direkter Beziehung zum italienischen «drappo», dem (Woll-)Tuch. Heute zeigen sich die «Drapoling» in einem zweiteiligen Gewand aus grober Jute, auf das unzählige farbige, zumeist rauten förmige Stoffstückchen in regelmässigen Reihen aufgenäht sind. Auf dem Kopf hat die Figur eine seltsam geformte, versteifte Mütze, die nach vorne gebogen ist und mit einer Zottel endet. Unter der Kopfbedeckung trägt der «Drapoling» ein weisses Tuch, das über den Nacken fällt und wie ein einfacher Kragen wirkt. Sein Gesicht bedeckt eine weisse, nur spärlich bemalte «Harlekin»-Maske aus Papiermaché; eine direkte Beziehung zu Basel und zu den «Ueli» am «Vogel Gryff» besteht allerdings nur über die Herkunft aus der gleichen Manufaktur in Steinen. Eine Begegnung mit dem «Drapoling» gestaltet sich besonders unheimlich, weil er in aller Regel nicht spricht – ein Verhalten, das im Alpenbogen üblicherweise nur bei Maskengestalten zu beobachten ist, die ein hohes Alter aufweisen. Wie jene macht er sich aber bemerkbar durch einen Schellengurt und durch Schweinsblasen und Kuhschwänze als Requisiten, die er auch einzusetzen vermag. Die Maskenfigur vereint in der Form, wie sie uns heute, nach der Rekonstruktion, entgegentritt, Elemente von «Harlekin» und «Bajazzo». Die Kopfbedeckung hingegen erinnert an eine Narrenkappe, die
«Drapoling» – diese Maske ist im Unterschied zu den Schwyzer und Einsiedler Masken aus Papiermaché.
Umtrieb in Amsteg.
sich aus der Jakobinermütze respektive der phrygischen Mütze entwickelt hat und die sich auch in der närrischen Kopfbedeckung beim rheinischen Karneval wiederfindet. Die Mütze des «Drapoling» erinnert auch an den «Schopf» der närrischen «Geiggel» beim Stanser Samichlaus-Umzug – bloss, dass dort die Mützen nach hinten gebogen sind.
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In Gersau sind originelle Damenmasken und viel eigene Fantasie gefragt.
Der Schiffsteg als perfekter Ort, die Lust am Narrentreiben auszuleben.
Gersau Auch die einst kleinste altfreie Republik der Welt feiert gerne Fasnacht. Aber dass die Gersauer etwas anders sind, zeigen sie deutlich. So beginnen sie immer genau zwei Wochen nach dem ersten Fasnachtstag in Schwyz. Ihren Fasnachtsanfang machen sie dann gleich kund mit einer lautstarken Tagwache der einheimischen Guggenmusik «Gugelfuer». Es folgt um 9 Uhr eine Morgenrott durch das Dorf, bei der allerlei Masken dabei sind, so vor allem der «Rölli», die Gersauer Variante des «Blätz», und als zweite Hauptfigur der «Harlekin», gefertigt aus derselben Form aus der Manufaktur Steiger wie jene in Amsteg, in Einsiedeln, in Gersau, in Steinen und in Basel, wo sie als «Ueli» am «Vogel Gryff» zum Einsatz kommt. Am Nachmittag sind «Damenmasken» angesagt, eine originelle und spielerische Maskerade von Frauen auf dem Rathausplatz, die von einer Jury bewertet wird. Im Zentrum steht dort der «Gerfaz», der an eine Lötschentaler «Tschäggete» erinnert. Während am Schmutzigen Donnerstag nur eine Abendrott der Maskerade in den Wirtschaften stattfindet, ist dann am Samstag und am Montag, dem zweiten und dritten Fasnachtstag, grosser Maskenbetrieb. Traditionsmasken wie die «Rölli», «Bajasse» und «Pierrots» sowie allerlei Maskierte in Fantasiekostümen beleben den Ort, immer stark unterstützt von der Guggenmusik, die auch an vielen anderen Orten in und um Schwyz kaum mehr wegzudenken ist – obwohl sie nicht selten das Intrigieren der Maskeraden empfindlich stört, ja unterbindet, wenn die Guggenmusiken ihre Ständchen in den Wirtshäusern geben. Wie anders Gersau Fasnacht feiert, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass dort bereits am Abend des Güdelmontags die «Uislumpetä» beginnt.
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Basel Die Basler Fasnacht ist ein urbanes Fest, das sich erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu dem entwickelt hat, wie es heute wahrgenommen werden kann: Als farbiges Strassentheater, bei dem viele Akteure, dem Hofnarren gleich, der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Zu den vielen Besonderheiten der Basler Fasnacht zählt ihr Anfang: Fünf Tage nach Aschermittwoch beginnt der Morgenstreich Schlag 4 Uhr. Alle Aktiven sind im «Charivari», das heisst individuell maskiert. Anders sieht es am Montag- und Mittwochnachmittag aus, wenn die Cliquen und Gruppen zuerst auf dem Cortège sind und abends musizierend durch die Strassen und Gassen ziehen. Dann zeigen sich die fasnächtlichen Einheiten in jener Kostümierung, die zum gewählten Sujet passt und eigens dafür entworfen und hergestellt worden ist. In diesem Aufzug sind Hartgesottene bis zum Endstreich am Donnerstagmorgen Punkt 4 Uhr unterwegs. Am Dienstag geniesst man aber das «Gässle» (das heisst das Durch-die-Gassen-Ziehen) im «Charivari». Beobachter des Treibens werden eine unendliche Vielfalt an Larven sehen und dabei erkennen, dass es nicht nur einen «Harlekin», nicht nur eine «alte Tante» oder nur einen «Waggis» gibt. Zudem entdeckt man eine unermessliche Fülle an Fantasielarven, die nicht selten skurril sind. Mangels verlässlicher Zahlen ist es eine reine Vermutung, dass in den verschiedenen Ateliers jährlich über 12 000 Larven hergestellt werden, davon der überwiegende Teil weiterhin in der Kaschiertechnik. Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends haben immer wieder Cliquen und Tambouren- und Pfeifergruppen bei Verena Steiger angeklopft und ihre Vorstellungen geäussert. Mit Wachslarven aus dem Formenfundus in Steinen sind in Basel unter
«Waggis» der Fasnachtsgruppe «Echo vom Gämsbärg», Maske aus der Form Nr. 923.
anderen gelaufen: «Echo vom Gämsbärg», «d Labyrinthler», «Basler Bebbi Basel», «Déjà Vü» und die «Jeisi-Migger Guggemuusig». Geleitet vom Wunsch, an der Fasnacht 2003 als «Waggis» bescheideneren Aussehens auf die Strasse zu gehen, entdeckten zwei Mitglieder einer wilden Gruppe die passende Larve im Museum der Kulturen Basel. Wie sich danach herausstellte, befanden sich Negativ- und Positivform als Nr. 923 in Steinen. Darauf war klar: Die nächste Fasnacht konnte kommen … Jeweils bereits im Januar feiern die drei Kleinbasler Ehrengesellschaften ein hohes Fest: den «Vogel Gryff». Im Zentrum stehen die personifizierten Schildhalter der drei Sammelzünfte, der «Wilde Mann», der «Leu» und der «Greif». Die Masken und Kostüme dienen jeweils viele Jahre und sind sehr robust. Trotz ihres teilweise beachtlichen Gewichts muss der Träger darin tanzen. Eine andere Aufgabe haben die vier «Uelis»: Sie sammeln mit ihren Blechbüchsen Geld für einen guten Zweck.
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Altstätten Die Traditionsmaskenfigur in der Kleinstadt im St. Galler Rheintal ist der schmucke «Röllibutz». Sein Name kommt von den Rollen als Geschell bzw. Geröll und von «Butz», was im alemannischen Sprachgebrauch für «Vermummter, verkleidete Fasnachtsgestalt» steht und hierzulande die ältere Bezeichnung ist als die erst im 17. Jahrhundert aus dem Süden eingewanderten Begriffe Maske und Larve. Der «Röllibutz» ist eine der seltenen Fasnachtsfiguren im deutschen Sprachraum, der bei seinem Auftritt konsequent eine bemalte Drahtgaze-Larve trägt. Eine derartige Gesichtsverhüllung kennen wir in der süddeutschen Maskenlandschaft sonst nur noch bei den «Fossli» in Siebnen, ferner in Weingarten, Radolfzell, Waldshut, Endingen am Kaiserstuhl, in Sachsenheim bei Ludwigsburg und bei den «Schleichern» von Telfs im Tirol. Wir begegnen ihr aber auch in vielen Ländern Mittelund Südamerikas und der Karibik. Das Alter dieser Traditionsfigur ist ungewiss. Die früheste Nachricht vom «Butzengehen» stammt von 1617, doch ist der damalige Aufzug nicht bekannt. Und selbst noch im späteren 19. Jahrhundert
Umzug der «Röllibutzen» in der traditionellen Drahtmaske, die einst wohl aus Deutschland importiert wurde, jetzt aber aus Steinen SZ kommt.
«Röllibutz»-Drahtmaske aus dem Atelier Steiger.
hat die Maskierung wohl wenig mit dem heutigen Aussehen zu tun. Drahtmasken kommen generell erst um 1850 auf, und die Glaskugeln für die Zierde am Hut stehen auch erst später zur Verfügung. Heute ist der Hut mit den Glaskugeln, Federn, Bändern und Blumen sicher der auffäl ligste Teil am Kostüm des «Röllibutzen». Er erinnert indes stark an die «Schönen Perchten» in Gastein, an die Telfser «Schleicher» und an die «Roller» und «Scheller» von Imst im Tirol. Gekleidet ist er in einen schwarzen Kittel und darunter trägt er eine rote oder dunkle Weste, ferner weisse Hosen und schwarze Stiefel. Über der Brust kreuzen sich zwei Schärpen in den Farben der Stadt und des Kantons. Unentbehrliche Requisiten sind der unter dem Kittel getragene Rollengurt und die Wasserspritze, die während des Umzugs und nach der Polonaise tüchtig zum Einsatz kommt. Vielleicht ist diese närrische Handlung, die wir auch vom Imster Schemenlaufen kennen, schon früher als 1857 bekannt, wo wir vom Benetzen von Personen und Häusern erstmals Kunde haben.
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Urnäsch In vielen Dörfern des reformierten Kantons Appenzell-Ausserrhoden, vor allem in Urnäsch und anderen Orten des Hinterlandes, feiert man zweimal Silvester, nämlich am 31. Dezember und am 13. Januar, der als «Alter Silvester» bezeichnet wird. Zu erklären ist diese Besonderheit durch den Entscheid der Ausserrhödler, als gute Reformierte die von Papst Gregor 1582 dekretierte Kalenderreform nicht anzunehmen – was man bis um 1800 auch durchhielt. An den genannten Kalendertagen sind viele wirkungsvoll maskierte Männer gruppen unterwegs, die «Silvesterkläuse» mit ihrem reichen Geschell. Ihr Auftritt ist einzureihen in die vielen alpinen Masken- und Lärmbräuche der Mittwinterzeit und geht wahrscheinlich auf einen spätmittelalterlichen Heischebrauch der Klosterschüler (vermutlich von St. Gallen) zurück, der ursprünglich im Innerrhodischen bekannt war. Ein «Chlausen» wird erstmals 1663 urkundlich erwähnt, bleibt über Jahrhunderte kritisiert und findet erst um 1920 wirklich Akzeptanz. Der heute auch von vielen Touristen mitverfolgte Brauch beginnt in den frühen Morgenstunden. Dann treffen die ersten Gruppen in den peripher gelegenen Höfen ein und machen sich bei jedem Hof zunächst mit ihren Schellen und Rollen bemerkbar, um darauf einen Jodel anstimmen. In der Regel wechseln sich Lärm und Gesang dreimal ab. Nach einem Händedruck und guten Neujahrswünschen, einem Gläschen und einem Geldgeschenk zieht die Gruppe weiter, um schliesslich im Dorf einzutreffen. Alle Silvesterkläuse sind maskiert, werden heute aber unterschieden in «Hässliche», «Schöne», und «Schön-Hässliche», die es erst seit den 1950er-Jahren gibt. Besonders eindrücklich sind die Erstgenannten mit ihrer reich gestalteten Haube und in
Wachsmaske der schönen «Dame Rosa» am Silvesterchlausen in Urnäsch.
Zäuerlen morgens um sechs Uhr.
einer Kleidung, die einer weiblichen Tracht ähnelt. Nur den «Hässlichen» – einer Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts – eigen ist eine fleischfarbene Wachsmaske, die in Steinen im Schwyzerischen Steinen gefertigt wird.
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Diese Wachsmaske aus der Gruppe der «alten Frauen» wurde von Verena Steiger nach einem Gesichtsabguss des Trägers gemacht.
Verschiedene Gruppen aus den umliegenden Dörfern treffen sich am Altjahrabend zum «Ubersitz» in Meiringen.
Meiringen In der Altjahreswoche hört man jeden Abend im ganzen Haslital das Schlagen von Trommeln und das Läuten mit Glocken und Treicheln. Die Einheimischen nennen diese Tage die «Trychelwoche», wenn die Burschen und Männer in gemessenem Gleichschritt durch die Strassen ihrer Dörfer ziehen und im Gleichklang einen «Heidenlärm» verursachen. Höhepunkt der «Trychelwoche» ist der Altjahrtag, wenn die Gruppen aller Dörfer nach Meiringen zum «Ubersitz» kommen. Diese Bezeichnung rührt daher, dass die «Trychler» erst am kommenden Morgen den Weg ins Bett finden, also «überhocken». Es gehört sich, dass sich die «Trychler» an diesem Abend zu «Botzeni» verkleiden und auch Masken tragen, wobei hier alle Typen und Materialien verwendet werden. Gerne werden schaurige Masken getragen, doch man sieht auch lieblichere Gesichter. Der eine oder andere Treichelzug hat auch eine besondere Figur dabei, die das Publikum belustigen: eine «Schnabelgeiss», ein gekrümmt gehendes «Huttewybli» oder das «Wurzelmannli». Marschiert wird in Sechser- bis Achterkolonnen. Voran schreiten die Trommler und spielen einen besonderen Marsch, den eigenwilligen «Trychlermarsch», der auf den Rhythmus der Treicheln und Glocken abgestimmt ist. Jeweils nach einem «Kehr», einer absolvierten Runde, zieht ein Treichelzug in einem Wirtshaus ein. Dabei wird so lange getreichelt, bis der Letzte im Lokal ist. Ein solcher Zug besteht im Durchschnitt aus etwa 40 bis gegen 200 Treichlern. Begegnen sich zwei Züge, dann wird durch die Reihen hindurch gekreuzt.
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Quellen und Literatur Bendix, Regina; Nef, Theo: Silvesterklausen in Urnäsch, St. Gallen 1984. Bendix, Regina: Progress and Nostalgia: Silvesterklausen in Urnäsch, Switzerland, Berkeley/Los Angeles 1985. Bingisser, Ernst-Louis et al.: Dr Tüfel isch lous – Einsiedler Fasnacht, Einsiedeln 2004. Blümcke, Martin: Gestalten der schwäbisch-alemannischen Fasnacht, Konstanz 1989. Flüeler, Brigitt; Flüeler, Elsbeth: Der Stanser Samichlais, Stans 2013. Hürlemann, Hans: Urnäsch. Landschaft – Brauchtum – Geschichte, Herisau 2006. Idiotikon (Schweizerdeutsches Wörterbuch). Frauenfeld/Basel 1881 ff. Kostadinova, Guergana ; Revelard, Michel: Masques traditionnels de Suisse, Binche 1998. Lussi, Kurt et al.: Lärmen und Butzen. Mythen und Riten zwischen Rhein und Alpen, Kriens/ Luzern 2004. Meier, Eugen A.: Die Basler Fasnacht. Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Tradition, Basel 1985. Meier, Eugen A.: Vogel Gryff. Geschichte und Brauchtum der Drei Ehrengesellschaften Kleinbasels, Basel 1986. Mezger, Werner: Das grosse Buch der schwäbisch-alemannischen Fasnet, Stuttgart 1999. Migros-Genossenschafts-Bund (Hrsg.): Feste im Alpenraum, Zürich 1997. Revelard, Michel: «Les traditions masquées dans les régions alpines», in: BREL (Hrsg.): Carnevali della montagna – Voyage autour des carnavals, Ivrea 2003. Röllin, Werner: «Der Märchler Rölli», in: Marchringheft 48/2007. Schenk, Paul: «Altjahrsbräuche im Bernbiet», in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, Band 13, 1951. Schweizerdeutsches Wörterbuch (Idiotikon), Frauenfeld/Basel 1881 ff. Thalmann, Rolf (Red.): Das Jahr der Schweiz in Fest und Brauch, Zürich 1981/1983. Wiget, Josef und Steinegger, Hans: Feste und Bräuche im Kanton Schwyz, Schwyz 1989. Wunderlin, Dominik; Ramseyer, Urs (Texte); Blum, Dieter (Fotos): Basler Fasnacht, Basel 1999. Wunderlin, Dominik (Hrsg.): Fasnacht, Fasnet, Carnaval im Dreiland, Basel 2005. Wunderlin, Dominik: «Le double Saint-Sylvestre d’Urnäsch»; «L’exception bâloise: un carnaval réformé»; «Le carnaval des Bâlois. Une fête subversive?», in: Mallé, Marie-Pascale (Red.): Le Monde à l’envers, Marseille/Paris 2014. Wunderlin, Dominik: ’s isch heiligi Wiehnachtszyt. Die schönsten Advents- und Weihnachtsbräuche der Schweiz, Freiburg i. Üe. 2015. Fotonachweis Alexandra Wey, Keystone: 9, 13–19, 24–30, 35, 39–49, 51–57, 59–63, 73–77, 84–87, 90, 96 unten,103, Vor- und Nachsatz. Heiri Scherer: 23, 31, 65–67, 70, 71, 83, 91–93, 94 und 95 oben, 96 und 97 oben, 98 oben, 99, 100 oben. Thomas Steiger: 68, 69, 94 unten, 100 unten. Franz-Xaver Brun, Altdorf: 95 unten. Tilman Neubert, Neuss: 80 Max Hasler, Altstätten: 98
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Autorinnen und Autoren Margrit Schmid wurde 1947 in Basel geboren, besuchte dort die Schulen und lebt noch heute in Basel. Nach der Maturität 1967 folgten Sprachaufenthalte in London und Barcelona. 1972–1997 war sie in einer Privatgalerie in Deutschland tätig und nahm an Kunstmessen in Basel, Köln, Düsseldorf, Paris, Wien und Bologna teil. 1998–2013 leitete sie das Kunsthaus Baselland in Muttenz. Sie ist Fasnächtlerin (Piccolo) in einem Basler «Schyssdräggziigli». Susan Steiger wurde 1982 in Gersau (SZ) geboren. Nach der Ausbildung als Primarlehrerin absolvierte sie an der Zürcher Hochschulde der Künste (ZHdK) den Bachelor in Medialer Kunst. Aktuell absolviert sie dort den Master Fine Arts und wird ihr Studium 2019 abschliessen. Die Recherche über die Steiger-Masken weckte ihr Interesse daran, selbst Teil dieser Geschichte zu werden. Sie wird das Atelier Steiger-Masken weiterführen und die Forschung über die Herkunft von Wachs- und Textilmasken vertiefen. Dominik Wunderlin, geboren 1953 in Liestal, Studium der Volkskunde, lic. phil. I. Bis April 2017 Kurator und stellvertretender Direktor am Museum der Kulturen in Basel. Zahlreiche Veröffentlichungen mit den Schwerpunkten: Fest und Brauch, Maskenwesen, populäre Frömmigkeit. Redaktor der Baselbieter Heimatblätter und Redaktionsmitglied von Tracht und Brauch. Diverse Beiratschaften in wissenschaftlichen Gremien. Mitglied im Preiskuratorium der Kulturstiftung der schwäbisch-alemannischen Fastnacht, aktiver Fasnächtler.
Helmut Wenderoth, geboren in einem kleinen Dorf im Hunsrück (Rheinland- Pfalz) und über viele Wege und Umwege in Krefeld am Niederrhein in einer Art Heimathafen gelandet, arbeitet dort als künstlerischer Leiter beim KRESCHtheater (Kinder- und Jugendtheaterzentrum der Stadt Krefeld) und versucht als Schauspieler, Theaterregisseur und Autor Provisorien für Zuversicht zu schaffen. Am liebsten isst und trinkt er nicht allein. Alexandra Wey, geboren 1978, arbeitet als Fotografin bei der Agentur Keystone- SDA und lebt in Zug. Es inspiriert und fasziniert sie, Menschen aus den verschiedensten Kulturen dieser Welt mit der Kamera zu begleiten. Sie lebte schon in Kairo und in Varanasi, Indien. Heiri Scherer, geboren 1943 und aufgewachsen in Meggen LU, arbeitet als freischaffender Buchgestalter und Ausstellungsmacher. Nach dem Besuch der Grafikfachklasse an der Kunstgewerbeschule Luzern folgten eine zehnjährige Tätigkeit bei Müller-Brockmann & Co., Zürich, und 17 Jahre als Creative Director der Globus Warenhäuser, Zürich. Bis 2011 war er Mitinhaber der Werbeagentur Scherer-Kleiber CD AG, Zürich. Er ist Herausgeber von Most, 2015 und Muni, 2016, beide erschienen bei NZZ Libro.
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Verena Steiger, Maskenmacherin aus Steinen Drei Dinge haben mich in meinem Leben geprägt: die Familie, die Maskenarbeit und die japanische Kampfkunst. Meine Kreativität wurzelt in einem Bauernhof in Seelisberg, wo ich meine ersten Lebensjahre verbrachte. Die Ruhe, das Leben in der Natur, der Zwang, mit wenig «Luxus» zum Ziel kommen – all dies hatte auf mich einen grossen Einfluss. Das Spielen, Sich-Verkleiden und Sich-Verhüllen legte mir meine Mutter in die Wiege. Schon früh liebte ich die Fasnacht. In jener Zeit war vieles möglich, was heute eher undenkbar ist. Meine Mutter meinte zu mir als junge, lebensfrohe Frau: «Du bekommst wohl auch mal genug von der Fasnacht.» Sie hat sich offenbar getäuscht. Damals konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass Maskenherstellen zu meinem Beruf und zu meiner Berufung wird. Vieles habe ich autodidaktisch erlernt. Und vieles haben mir bekannte, sehr gute Fachleute aus Handwerk und
Maske aus purem Wachs – ein Objekt unbeschwerter Kreativität.
den vielen Theatersparten beigebracht – und das ist nach wie vor so. Meine Kinder sind im Atelier aufgewachsen. Sie können sich eine Mutter ohne Masken in den Händen kaum vorstellen. In der «Saison» – sie beginnt jeweils ab Ende September – wird das Familienleben der Atelierarbeit angepasst. Bei speziellen Kinderwünschen hiess es oft: «Aber erst nach der Saison.» Früh übten sie, selbst Hand anzulegen, sei es im Atelier, um etwas Taschengeld zu verdienen oder für alle eine Schüssel Spaghetti zu kochen. Die japanische Kampfkunst hat mich gelehrt, dranzubleiben und nicht aufzugeben, die Balance zu suchen, der Angst zu begegnen, nicht gegen Fronten zu kämpfen, sondern mit der Kraft vom Gegenüber zu arbeiten. Aus einem lebendigen, ab und zu eher chaotischen Atelier entstanden über die Jahre hinweg Strukturen in der Arbeit und in der Formenvielfalt, ohne dass dabei die Lebendigkeit verloren ging. Hunderte verschiedener Negativ- und Positivformen von Masken türmten sich im Keller. Heute liegen sie nun – die Negativ- und Positivformen dank vielseitiger Unterstützung übereinstimmend nummeriert und geordnet – in Regalen. Sie bilden den Grundstock für die Herstellung vieler Masken, sind quasi das Herzstück des Ateliers. Auch heute noch werden neue Formen erarbeitet. Kurz: Ich bin stolz auf meine jahrelange Arbeit und den unzähligen Menschen dankbar, die mich dabei tatkräftig unterstützt haben und mich immer noch unterstützen.
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Impressum Heiri Scherer (Hrsg.), MASKEN, Band 2 von 3 © 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG ISBN 978-3-03810-375-2 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG. Vorderer Vorsatz: Arbeiten mit Gips: Die zwei Hälften der Negativform aus der Masken-Formensammlung von Verena Steiger sind zusammengezurrt und werden mit Gips ausgegossen – es entsteht eine neue Positivform. Hinterer Vorsatz: Das «Hudi» – die meistverlangte Maske überhaupt, fertig bemalt und abgezählt – wartet auf seine Besteller.
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H e i r i Sche re r ( H rsg . )
MASKEN MA S K E N Werksta tt u n d At elier
We r kstatt und Ate l i e r
Hei ri S ch erer
Wachsmasken für das Schweizer Brauchtum: Das alte Handwerk des «Drückens» wird europaweit nur noch von Verena Steiger professionell ausgeübt. Was einst in Italien, Paris, Deutschland und der Schweiz in riesigen Stückzahlen gefertigt wurde, hat in Steinen überlebt. Es ist ein Kunsthandwerk vom Feinsten, vom Abgiessen der Formen bis zum Kaschieren und Bemalen von Hand. Keine Maske ist wie die andere. Hier wird ein bedeutendes kulturelles Erbe der Schweiz sichtbar.