Scherer: Masken (Bd. 3) Tragen und Verbrennen

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H e i r i Sche re r ( H rsg . )

MASKEN MA S K E N Tra gen u nd verb ren n en

Trag e n und ve r bre nne n

Hei ri S ch erer

Wachsmasken sind das Markenzeichen der Schwyzer Fasnacht: Der «Blätz», der «Alt Herr», das «Domino», das «Päijassemeitli», das «Hudi» und der «Zigüüner» und die «Zigüüneri» sind die Hauptfiguren. Daneben sind eine ganze Menge Nebenfiguren unterwegs. Alle tragen traditionell handgefertigte und handbemalte Masken. Die «Maschgraden» ziehen in der Rott durch Gassen und Restaurants auf den Hauptplatz von Schwyz, da wird «genüsselt», dort «intrigiert». Am «Güdelziischtig» werden um Mitternacht die Masken ins Restfeuer des verbrannten Blätz geworfen – es lebe die nächste Fasnacht!


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Inhalt Maschgere, Maschgradegwändli, Maschgradelaufe 6 Die Maskengarderobe 12 Strassenfasnacht 26 Der Narrentanz 44 Von der Narrenmesse zur Fasnachtsmesse 52 Intrigieren – das «verkehrte Reden» 56 Die Kinderfasnacht 64 Niederknien und verbeugen 70 «Die Fasnacht ist zu Ende – es lebe die nächste!» 76 Die Schwyzer Haupt- und Nebenfiguren 84 Jede einzelne «Maschgere» bis zur Vollendung gearbeitet 104 Autorinnen und Autoren 109 Dank 110

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Maschgere, Maschgradegwändli, Maschgradelaufe. Monika Betschart, Dorfbächlerin und langjährige Maschgradenläuferin

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Ich bin geboren und aufgewachsen im Dorfbachquartier, inmitten der Fasnacht, die Rotten zogen vor und hinter dem Haus rauf und runter, Maschgraden kamen manchmal auch ins Haus, rein, Orangen füllten Waschzuber. Der Narrentanz vermischte sich mit dem Zittern der Fensterscheiben. Die Dorfbächler Rott hatte einen etwas anderen Rhythmus als die Dörfler Rott. Über die Trommel spannte sich ein Kalbfell. Der Trommelton war dunkel, rund, grub sich in die Eingeweide. Gut, im Schutz des Hauses zu sein. Hie und da kam am Güdelmontagvormittag ein maskierter Kellenverkäufer an die Haustüre. Er bot seine selbst gemachten Kellen an, um mit dem Verdienst am Nachmittag in die Rott zu gehen. Im Dorfbach gab es in meiner Kindheit vier Wirtschaften (heute noch eine) und am Güdelmontag gab es im Restaurant ‹Mythen› Tanz und Unterhaltung. Als Schulkind ging ich mit Nachbarkindern dann auch ins Dorf. Mutter hatte mir extra einen Orangensack genäht, damit ich die geschenkten Orangen heimtragen konnte. Es war spannend, den lieben langen Tag der Rott zu folgen, vor den Wirtschaften zu warten, die Maschgraden mit dem «Sind-se-guet» anzubetteln und auf ihren Befehl möglichst laut zu «güüssen». Nebst Orangen gab es auch «Füürschtäi», die vom Konditor Tobler und seiner Frau in Handarbeit fabriziert und verpackt wurden. Wenn es schneite oder regnete, färbten die farbigen Papierchen den Orangensack. Hie und da, wenn auch selten, verteilte ein Maschgrad auch Würste oder es gab einen Biss von seinem Brot, das er am «Blätzbesen» angesteckt hatte. Die Maschgraden kauften ihre Orangen in den Läden. Fast in jedem zweiten Haus war ein Lebensmittelladen, sodass es kaum Nachschubprobleme gab. Und wenn der Maschgrad zu müde war zum selber Einkaufen, gab er einem Kind einen Fünfliber in die Hand und schickte es zum Orangenholen. Zu dieser Zeit gab es in Schwyz noch einige Restaurants mit Terrassen. Einzelne Maschgraden liessen sich Orangen harassenweise dorthin liefern und warfen dann von oben die begehrten Früchte aus. Und die Kinder rauften sich am Boden um die begehrten Früchte. Am Güdeldienstag war auch schon in meiner Zeit Kinderfasnacht. Die meisten Kinder verkeideten sich einfach irgendwie mit Tüchern und Requisiten vom Estrich. Kinder-Originalgwändli gab es früher praktisch keine. Einmal zogen wir als kleines Dorfbachgrüppli – ein «Indianer», ein «Bäuerlein», ein «Fraueli», vielleicht ein «Clown», ein «Tessinerli» mit Zoccoli und ein «Zigeuner» – den Wirtschaften nach und bekamen dort jeweils einen Sirup zum Trinken und hie und da ein «Chräpfli». In der Masch gere, Masch gradegwändli, Masch gradelaufe

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Die Maskengarderobe – Treffpunkt am frühen Morgen des Ersten Fasnachtstags, des Schmutzigen Donnerstags, des Fasnachtsmontags und des Güdeldienstags. Hans Steinegger

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Die Maskengarderobe der Schwyzer «Nüssler» ist seit 1998 mitten im Dorf an der Reichsstrasse im Untergeschoss des MythenForums eingemietet. Aktuell werden hier über 200 Originalkostüme für Erwachsene und rund 100 für Kinder gewartet: «Blätz», «Alt Herr», «Domino», «Bajazzo-Meitli» («Päijassemeitli»), «Hudi» und «Zigüüner». Aber auch von den Randfigu­ ren wie «Bajazzo-Bueb» («Päijass»), «Puur», «Veehändler», «Metzger», «Zuckerbeck», «Tüüfel» und «Jung Herr» lagern zurzeit je zwischen zwei und sieben Exemplare. Dazu passend natürlich alle Requisiten wie Schirme, Stöcke, Hüte, Säcke, Körbe – und in Schachteln der Vorrat eines Zweijahresbedarfs an Original-Wachslarven aus dem Masken-Atelier Steiger. Der Bestand an Originalkostümen gilt schon seit Jahrzehnten schweizweit als Besonderheit – und ebenso als einzigartig, dass die «Gwändli» ausschliesslich in der Fasnachtszeit zum Einsatz kommen. Hochbetrieb herrscht darum hier nur zur närrischen Zeit, wobei das gesamte Angebot nicht allein Vereinsmitgliedern, sondern jedermann zugänglich ist. Wer an einem der offiziellen Fasnachtstage frei oder in der Rott Maskenlaufen will, lässt sich nach eigenem Gusto von kundigen Frauen einkleiden. Denn «Gwändli» und «Maschgere» sollen schliesslich perfekt sitzen. Übrigens gab es in Schwyz schon sehr früh private Maskengarderoben. So sind aus Zeitungsinseraten allein zwischen 1870 und 1890 sechs Anbieter bekannt. Zu ihnen zählte auch die Familie Alois Gwerder-Ehrler, Besitzerin einer Wäscherei. Sie verwaltete damals nahe der Metzghofstatt im ehemaligen Café Blaser (heute Piazzetta) in einem Zimmer 20 «Blätze» und über 200 andere Fasnachtskostüme. Später erwarb Gastwirt Josef Kälin vom «Gotthardloch» in Luzern die Garderobe, verkaufte sie aber 1932 an die Schwyzer Alois Lindauer und Franz Grossmann-Flecklin. Letzterer und seine Frau Caroline führten sie später eigenständig, erweiterten das Angebot und legten das Augenmerk zunehmend auf die Schwyzer Originalfiguren. Aus Mitteln einer Gönneraktion erwarben 1977 die «Schwyzer Nüssler» die Garderobe, während eine Kommission den Auftrag erhielt, diese weiter aufzubauen und danach den «Nüsslern» zu übergeben – was 1992 geschah. Dank ehrenamtlichem Einsatz von Hobby-­ Schneiderinnen und in jüngerer Zeit auch von Marco Helbling werden seither jährlich neue Originalkostüme gefertigt. Wer die Maskengarderobe besuchen möchte, kann jederzeit auf Anfrage eine Führung durch die Kostümsammlung buchen. Öffentlich zugänglich ist zudem das «Maschgradestubli» gleich nebenan im Haus Bethlehem, wo alle Originalfiguren präsentiert werden. Die Maskengarderobe

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Die «Nüsslergarderobe» wird von einem Frauenteam betreut: Alle Kostüme hängen frisch gewaschen an den Kleiderbügeln, bereit zur Anprobe.

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Das Regal mit den Wachsmasken in der Garderobe: «Hudi», «Domino», «Päijassemeitli» und, und … Alle sind handgefertigt und handbemalt – eine jede Maske ist ein Unikat.

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Der «Jung Herr» ist bald bereit: Es scheint, als konzentiere er sich schon auf das «verkehrte Reden» auf dem Zug der Rott durch die Restaurants.

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Die Augenöffnungen der Wachsmaske werden dem Gesicht des Maskenträgers angepasst.

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Für die Rundungen der Figuren liegt eine üppige Auswahl an Polstern bereit.

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Ein «Hudi» wird eingekleidet: Stulpen, Rockreif und Busen sind für eine tolle Figur unverzichtbar.

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Hier bekommt der «Maschgrad» die zur Figur passende Maske.

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Der Rollengurt mit Kreuzschellen wird nur vom «Blätz» getragen.

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Die Kinderfasnacht – «Maschgrad – sind-se-guet!» «Und? Chasch du au richtig luut güüsse?» Hans Steinegger

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Traditionell ist der «Güdelziischtig» tagsüber ausschliesslich für die Kinderfasnacht reserviert, organisiert und betreut von den «Schwyzer Nüsslern». Während sich die «Maschgrädli» am späten Vormittag im MythenForum schminken lassen können, macht sich die «Kinder-Rott» kurz nach Mittag im Schulhaus Herrengasse startbereit. Im Zweijahresturnus wird danach entweder reichlich Unterhaltung geboten oder es findet in Schwyz oder Ibach das «Priis-Nüsslet» statt. Steht ein vergnüglicher Nachmittag auf dem Programm, stattet die Rott in Begleitung von Ministerräten dem Altersheim und Spital einen Besuch ab. Anschliessend treffen sich die jungen Maskeraden im MythenForum bei Spiel, Speis und Trank. Noch in den 1950er-Jahren und später waren am Güdeldienstag die Kostüme der Kinder bunt gemischt, ein «Blätz» war aus Kostengründen meist eine Rarität. Vielmehr sah man in der Rott verschiedene Märchenfiguren: «Rotkäppchen», «Schneewittchen», «Zwerge» und «Hexen», ebenso «Indianer» und «Cowboys», «Bauern» und «Kaminfeger». Phantasievolle Eigenkreationen schlossen auch selbst gebastelte Grossmasken aus Karton nicht aus –, obwohl den Kindern das Larventragen eigentlich untersagt war. Zudem war es damals noch «katholische Ordnung», als Erstkommunikant auf das Maskenlaufen zu verzichten, desgleichen bei einem Todesfall in der Familie oder im Verwandtenkreis; Letzteres galt auch für die Erwachsenen. Seither haben Neuerungen auch die Kinderfasnacht teils markant verändert. So galt es einst als Stilbruch, wenn sich Kinder an den offiziellen Fasnachtstagen in Narrenkleidern zeigten. Da diese den Erwachsenen vorbehalten waren, reagierte der eine und andere «Nüssler» nicht selten auf das «Sind-se-guet» eines maskierten Kindes abweisend mit «Bisch ja sälber e Maschgrad». Als ebenso ungehörig galt es, wenn eine Frau sich tagsüber verkleidete und in der Rott untertauchte. Denn ihr gehörte – einem ungeschriebenen Gesetz entsprechend – am Abend der Maskenball oder Tanz in den Gaststätten, und zwar bis zur Demaskierung um Mitternacht. Inzwischen hat sich vieles ins Gegenteil gewandelt: Auch Kinder sind längst an allen Fasnachtstagen verkleidet unterwegs, ob allein oder mit der Familie, in Phantasiekostümen oder im «Originalgwändli» samt perfekt geschminkter «Larve». Dies ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass die Kostüme für die ganze Saison gemietet werden können. Ebenso kennen die Erwachsenen seit den 1960er-Jahren keine Trennung mehr zwischen «Sie und Er» oder «Tag und Nacht». Ob maskiert oder zivil – einfach wann, wo und wie es persönlich gefällt!

Die K inderfasnacht

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Die kleinen Maskeraden in «Originalgwändli» sind perfekt geschminkt nach den Originalmasken.

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«Sind-se-guet, Maschgrad!» – Kinder betteln kreischend um eine Orange.

Die K inderfasnacht

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«Die Fasnacht ist zu Ende – es lebe die nächste!» Hans Steinegger

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Alles liegt nun im Dunkeln, nur schwach und wechselnd erhellt durch gelbes, grünes und rotes Bengallicht. Der Freiraum ist den «Maschgraden» vorbehalten, die den noch unversehrten «Blätz» nach jedem Feuerwerksbild – wie schon nach dem Einzug – jeweils dreimal umrunden. Und wenn er schliesslich lichterloh brennt, «nüsseln» sie nicht nur weiter, sondern knien nieder und verbeugen sich vor ihm, heulen lauthals, wehklagen und trocknen sich mit dem Taschentuch ihre Tränen. Rundum herrscht grosse Trauer darüber, dass die Fasnacht bald vorbei ist. Nicht umsonst sagen die Schwyzer «Chuusch au go brüele?» und meinen damit die Teilnahme am «Blätzverbränne». Dann, als Höhepunkt des feurigen Spektakels, ein gewaltiger «Chlapf» – eine Petarde zerreisst den «Grind» des «Blätz» … Nach dem Besuch einiger Wirtshäuser kehrt die Rott um 23.45 Uhr auf den Dorfplatz zurück, wo auf dem Sandhaufen noch ein kleines Feuer lodert. Während es die «Nüssler» umkreisen, ertönt letztmals der Narrentanz. Im Turm der Pfarrkirche läuten nach dem mitternächtlichen Stundenschlag alle Glocken fünf Minuten lang die Fastenzeit ein. Die Trommelschläge verstummen, die Platzbrunnenfigur wird entkleidet – die «Maschgraden» entledigen sich ihrer Larven und werfen sie ins Feuer … Es ist Aschermittwoch.

Die Fasnacht ist zu Ende

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Die Wachsmaske hatte sich dem Gesicht des Maskeraden als «zweites Gesicht» angepasst, jetzt lodert sie im Feuer.

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Früher undenkbar, heute gängig: Der Beginn der Fastenzeit wird um eine Wurstlänge hinausgeschoben.

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Maskeraden – Die sechs Schwyzer Hauptfiguren und was sie bedeuten. Dazu zum Bestaunen: die Nebenfiguren. Hans Steinegger, Brauchtumsforscher und Daniel Annen, Germanist

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Das Japanesenspiel Dr Blätz von Paul Kamer war 1970 einer Auswahl typischer Schwyzer Maskengestalten gewidmet: «Domino», «Päijass», «Zigüüneri», «Alt Herr», «Hudi» und «Blätz». Es ging darum, unter diesen sechs Figuren den «typischen Schwyzer» zu finden und das Urteil darüber durch die Kinder fällen zu lassen. Anhand dieser Maskentypen sollten insbesondere Schwyz, seine importierte Kultur und die Einheimischen charakterisiert und kritisiert werden. Es obsiegte der «Blätz», der von der Ehre jedoch nichts wissen wollte. Denn seines Erachtens würden nur alle Figuren zusammen in der Rott den typischen Schwyzer repräsentieren. Die stille Botschaft dahinter: Alle Regierungen der Welt sollen sich diese Narrenweisheit zu Herzen nehmen! Das prächtig inszenierte Japanesenspiel auf dem Dorfplatz löste eine unerwartete Reaktion aus: Seit 1970 spricht man im Kreis der «Schwyzer Nüssler» und weit darüber hinaus von den sechs «Originalfiguren»: «Blätz», «Alt Herr», «Domino», «Bajazzo-Meitli», «Hudi» und «Zigüüner». Sie ist traumhaft, phantastisch. Ja wirklich: Die Rott mit ihrem farbenprächtigen, stilvollen Durcheinander, mit eleganter Anmut und Erhabenheit zugleich, wie ist sie doch ganz einfach schön! Traumhaft und phantastisch ist sie aber auch in einem anderen, in einem wörtlicheren Sinn: Sie gleicht unseren Träumen und den Phantasien. Wenn wir in der Nacht träumen oder auch mal am Tag phantasieren, dann treten nämlich Bilder in unser Bewusstsein, die aus dem Unbewussten hinaufdrängen; unsere ungezähmten und unzivilisierten Lebenstriebe verschaffen sich in diesen Bildgestalten ein freiheitliches Revier. Dasselbe verschaffen sie sich in der Rott. Da geraten sie nicht nur ins Bewusstsein, sondern fahren förmlich in die verkleideten und maskierten Körper, verschaffen sich Ausdruck im energischen Anrempeln von Passanten, in Kapriolen, ausladenden Bewegungen, behäbigen Schritten oder eher sachte in lustvollem Trippeln. Und vor allem: im zierlichen «Nüsseln». Auch die Masken gleichen darum den Figuren, die uns nachtsüber im Traum erscheinen. Wie diese nächtlichen Gestalten verhüllen und entstellen sie Wahrheiten, die in unserer Seele schlummern. Es sind Wahrheiten über uns Menschen.

Die Sch wyzer Haupt- und Neben figuren

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«Blätz» Der «Blätz» ist unbestritten die Symbol- und Hauptfigur der Schwyzer Fasnacht. Sein Äusseres: weisse Hose, Rock («Wams») und breitkrempiger «Schiinhuet», allesamt mit rund 2500 rauten- und rosettenförmigen «Blätzchen» aus rot-blau-weissem Filzstoff bedeckt. Neben einer fleischfarbenen «Bergamasker Larve» trägt er quer über die rechte Schulter einen Gürtel mit Kreuzschellen und in der Hand einen Tannreisbesen, gelegentlich mit einem aufgespiessten Brot («Weggen»). Sein «Blätzchenkleid» gibt ihm letztlich den Namen und geht im Ursprung zweifelsfrei auf die «Harlekin»-Figur in der Commedia dell’Arte zurück. Gleich dem «Arlecchino» tänzelt, hüpft und springt er herum und bringt so den Rollengurt zum Rasseln. Er gilt als vorwitzig und fröhlich. Ebenso zeichnen ihn Unberechenbarkeit und Schabernack aus. Nachgewiesen ist der «Harligingg» 1784 im Brunner Bartlispiel, in Schwyz im Fasnachtsspiel von 1865 und 1881 in der Strassenfasnacht. Was für eine Vielfalt von Facetten! Auch sein Kostüm spricht davon: Es war schon vor Jahrhunderten bei seinem Vorfahren, dem italienischen Possenreisser «Arlecchino», mit Flicken übersät; beim heutigen «Blätz» sind sie zu parallel gegliederten Rautenmustern ästhetisiert. Das Kostüm kommt eigentlich aus der ganzen bunten Welt rundherum. Denn diese Rhomben sind ursprünglich wirklich «Blätzli», kleine Stofffetzen von irgendwoher. So machte am 19. Februar 1859 die Wochenzeitung der Urschweiz bekannt, ein Kostümvermieter könne «für die kommenden Fassnachtstage» mit «neuverfertigten sog. Plätzlikleidern» aufwarten. In sprunghaftem Hin und Her – auch darin dem «Arlecchino» ähnlich – sucht ja der «Blätz» auch immer wieder neu seine vielfältige Umgebung auf. Für die Schwyzer verrät der buntscheckige «Blätz» aber auch einen von mannigfaltigen Kräften angespornten inneren Tumult, eine Daseinslust, eine vielgestaltige und ganzheitliche Lebenskraft. In diese Richtung weist auch der Tannreisbesen, den man in Schwyz gern als Fruchtbarkeitssymbol deutet. Es könnte vom «Wilden Mann» herkommen. Der «Blätz» ist also eine Komposition von nördlichen und von südlichen Brauchtumselementen.

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«Blätz»

Die Sch wyzer Haupt- und Neben figuren

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«Alt Herr» Die älteste Figur in der Rott ist der «Alt Herr», in Schwyz erstmals 1829 als «alter Mann» im Fasnachtsspiel und 1865 im Japanesenspiel vertreten. Die Einheimischen sehen in ihm einen (ausgedienten) Aristokraten, der sich in aufrechtem Gang und mit hohlem Kreuz bedächtig hinkend bewegt und sich auf den knorrigen Naturholzstock stützt. Seinem Jahrgang und seiner Herkunft gemäss spricht er auffallend bedächtig und kehrt auch gerne die Weisheit des Alters hervor. Die noble Bekleidung weckt eindeutig Erinnerungen an Fremde Dienste in Frankreich: weisse Strümpfe, Kniehosen aus feinem Samt, buntes Gilet mit weisser Brustrüsche, farbiger Junkerrock, weisse Rokoko-Perücke und mit Federn verzierter Dreispitz. Die bräunlich-gelbe Larve hat einen eher strengen Ausdruck: spitze Nase, markanter Schnurrbart und Altersfalten. An der Fasnacht hat sogar typisch Schwyzerisches etwas Fremdländisches, der «Alt Herr» zum Beispiel. Als er im 19. Jahrhundert in die Schwyzer Fasnacht eintrat, war er mit seinen Culottes (Kniehosen), seinem Dreispitz und seiner Louis-seize-Zopfperücke bereits eine Erinnerung an die Adligen früherer Zeiten. Zugleich erinnert er an die französische Aristokratie, von der ja manche Züge dank der Söldnerzeit im Schwyzer Adel fortlebten. Er gleicht auch dem «Cassandro» aus der Commedia dell’Arte. Seine heutige Gestalt ist noch weitgehend die aus alten, vorrevolutionären Zeiten. Warum erscheint noch im 19. Jahrhundert eine Figur, die so deutlich ans Ancien Régime erinnert? – Da sollten wir nicht vergessen: Ausgerechnet in diesem Jahrhundert, das aufgrund der politischen Umbrüche und der zunehmenden Industrialisierung vermehrt auch Neues nach Schwyz brachte – ausgerechnet in diesem Jahrhundert suchte das Dorf, wie übrigens die ganze Schweiz auch, seine Identität. Eine solche Identität glauben menschliche Gemeinschaften immer wieder im Rückgriff auf Altes zu finden, die Schwyzer zum Beispiel in der uralten Fasnacht, die Schweizer in der Befreiungstradition rund ums Rütli. Dass dabei vieles nur imaginiert ist und gar nicht real, ist gar nicht so wichtig. Das Alte schafft wenigstens mental den Eindruck von Stabilität.

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Die Sch wyzer Haupt- und Neben figuren

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Quellen und Literatur Annen, Daniel: Das verrückte Dorf, Schwyzer Nüssler (Hrsg.), Schwyz 1995. Archiv Schwyzer Nüssler: Hinweise von Gewährsleuten. Föhn, Kari: Schwyzer Fasnacht, Malbüechli, Steinen 2016. Gyr, Martin: Schwyzer Volkstum, Einsiedeln 1955. Ineichen, Fritz: «Maskengarderobe und Maskenkostüme», in: Neue Luzerner Zeitung, Nr. 10, 13. Januar 1973. Koller, Eugen: Schwyzer Dorffasnacht, Diplomarbeit/Manuskript, Kantonsbibliothek Schwyz, Schwyz 1978. Mezger, Werner: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Konstanz 1991. Mezger, Werner: Schwäbisch-alemannische Fastnacht, Darmstadt 2015. Redaktionsteam: Fasnachtsrott Ibach 1946–2016, Ibach 2016. Röllin, Werner: «Entstehung und Formen der heutigen Schwyzer Maskenlandschaft», in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 74. Jg., Heft 3–4, 1978. Schaller-Donauer, Alfred: «Das Nüsseln und der Narrentanz in Schwyz», in: Schweizer Volkskunde, Folk-Lore Suisse, Heft 4/6, Basel 1923. Steinegger, Hans: Schwyzer Fasnacht 1991. Streifzug durch Maskenlandschaft und Fasnachtsbrauchtum der Gemeinde Schwyz, Festführer 700 Jahre Eidgenossenschaft, Schwyz 1990. Steinegger, Hans: Güdeldienstag-Gesellschaft Schwyz, 75-Jahr-Jubiläum GDG 1937–2012, Schwyz 2012. Steinegger, Hans: Güdelmontag-Rott Schwyz, gegründet 1949, Schwyz 1989. Steinegger, Hans: Grossgrinde-Zunft Schwyz, Chronik 1936–2016, Schwyz 2016. Weibel, Viktor: Hesonusode. Theater, Geschichte und Fasnachtskultur / 150 Jahre Japanesengesellschaft Schwyz, Schwyz 2006. Wiget, Josef; Steinegger, Hans: Feste und Bräuche im Kanton Schwyz, Schwyz 1989. Fotonachweis Alexandra Wey: Seiten 10, 14–25, 31, 38–43, 48–51, 54, 55, 58–61, 63, 66, 67, 73–75, 78–83 Heiri Scherer: Seiten 28–30, 32–35, 47, 62, 68, 69, 72, 87, 89, 91, 93, 95, 97, 98–103

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Autorinnen und Autoren Monika Betschart, Jahrgang 1945, gebürtiges «Hudi», passionierte Fasnächtlerin, pensionierte Sozialarbeiterin, war früher auch einmal selbstständige Schwyzer Lebensmittelhändlerin und in dieser Funktion einige Jahre lang zuständig für die «Maschgraden Orangen» der «Schwyzer Nüssler». Sie lebt in Schwyz und hat auch heute noch Freude an der lebendigen Schwyzer Fasnacht. Hans Steinegger, geboren 1946 in Schwyz, unterrichtete als Primar- und Reallehrer von 1968 bis 1982. Er war Departementssekretär (1982–2006) und Kulturbeauftragter (1982–2004) des Bildungsdepartements des Kantons Schwyz. 1995 erhielt er den Kulturpreis der Gemeinde Schwyz. Als freier Journalist publiziert er landes- und volkskundliche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften mit Schwerpunkt Brauchtum und Sagen. Meinrad Inglin, 1893 in Schwyz geboren, wurde mit 17 Vollwaise. Nach schwierigen Schuljahren am Kollegi in Schwyz versuchte er sich in einer Uhrmacher- und Kellnerausbildung, was sich aber nicht als das Richtige erwies. So ging er zurück ans Gymnasium. Obwohl er es noch vor der Matura verlassen musste, gelang ihm später der Eintritt in Universitäten. Nach Neuenburg und Genf waren die Jahre in Bern prägend, wo er Psychologie und Philosophie studierte. Er schrieb in seiner Jugendzeit Essays, Rezensionen und Berichte für Zeitungen. Um 1920 liess er sich an seinem Geburtsort nieder, wo er bis zu seinem Tod 1971 als freier Schriftsteller lebte. Daniel Annen, geboren 1954 in Schwyz und ebendort aufgewachsen, hat in Germanistik dissertiert. Von 1980 bis 2017

unterrichtete er an der Kantonsschule Kollegium Schwyz Deutsch und Französisch. Er publiziert zur Schweizer Literatur und Kultur sowie zum Grenzbereich Literatur/Theologie, hat am Schweizer Sprachbuch Bd. 9 mitgearbeitet, ferner in kulturell tätigen Kommissionen und Vereinsvorständen, u.a. im Vorstand der «Schwyzer Nüssler» oder des Vereins zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs. Seit 2013 ist er Präsident des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins. Alexander Grab, geboren 1985 und aufgewachsen in Schwyz, studierte an der Universität Luzern Rechtswissenschaften. Heute ist er in einer Anwaltskanzlei in Schwyz tätig. 2016 wurde er in den Ministerrat (Vorstand) der «Schwyzer Nüssler» gewählt. Seit Januar 2017 bekleidet er das Amt des Präsidenten. Er ist Mitglied der «Güdelzischtig-Gsellschaft» Schwyz. Alexandra Wey, geboren 1978, arbeitet als Fotografin bei der Agentur Keystone-SDA. Es inspiriert und fasziniert sie, Menschen aus den verschiedensten Kulturen dieser Welt mit der Kamera zu begleiten. Sie hat in Kairo und im indischen Varanasi gelebt. Heute lebt sie in Zug. Heiri Scherer, geboren 1943 und aufgewachsen in Meggen LU, arbeitet als freischaffender Buchgestalter und Ausstellungsmacher. Nach dem Besuch der Grafikfachklasse an der Kunstgewerbeschule Luzern folgten eine zehnjährige Tätigkeit bei Müller-Brockmann + Co., Zürich, und 17 Jahre als Creative Director der Globus Warenhäuser, Zürich. Bis 2011 war er Mitinhaber der Werbeagentur Scherer-Kleiber CD AG, Zürich. Er ist Herausgeber von Most, 2015 und Muni, 2016, beide erschienen bei NZZ Libro.

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Impressum Heiri Scherer (Hrsg.), MASKEN, Band 3 von 3 © 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG ISBN 978-3-03810-375-2 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG. Vorderer Vorsatz: Maskenregal in der «Nüsslergarderobe»: Hier wählen die «Maschgraden» die Figur, ­werden eingekleidet und bekommen die passende Wachsmaske. Hinterer Vorsatz: Das Verbrennen der tagsüber getragenen Maske ist ein besonderer Moment für alle «Maschgraden».

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H e i r i Sche re r ( H rsg . )

MASKEN MA S K E N Tra gen u nd verb ren n en

Trag e n und ve r bre nne n

Hei ri S ch erer

Wachsmasken sind das Markenzeichen der Schwyzer Fasnacht: Der «Blätz», der «Alt Herr», das «Domino», das «Päijassemeitli», das «Hudi» und der «Zigüüner» und die «Zigüüneri» sind die Hauptfiguren. Daneben sind eine ganze Menge Nebenfiguren unterwegs. Alle tragen traditionell handgefertigte und handbemalte Masken. Die «Maschgraden» ziehen in der Rott durch Gassen und Restaurants auf den Hauptplatz von Schwyz, da wird «genüsselt», dort «intrigiert». Am «Güdelziischtig» werden um Mitternacht die Masken ins Restfeuer des verbrannten Blätz geworfen – es lebe die nächste Fasnacht!


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