Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2015 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlagbild vorne: Beschicken der Obstmühle, erster neuer Most mit Chüechli am Kilbisonntag Umschlagbild hinten: Schweizer Wasserbirne, Grosshusmatt Umschlag, Gestaltung, Satz: Heiri Scherer, Creative Direction, Luzern Druck, Einband: fgb, Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg i. Br. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-014-0 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 5
«Es ist wohl nicht ganz richtig, dass die Megger Bauern reich geworden sind, weil sie Unmengen von Theilersbirnenmost verkauft haben. Unbestritten ist hingegen, dass die Region am Vierwaldstättersee und vor allem unsere schöne Gemeinde mit ihrem Most schweizweit eine herausragende Stellung eingenommen hat. Das vorliegende Werk beschreibt auf eindrückliche Weise die spannende Geschichte der zahlreichen Mostereien, der Most-, Brenn- und Dörrkultur und verschiedenster Mostprodukte. 21 000 Obstbäume dürften in Meggen kaum mehr stehen, aber eine aufgefrischte Liebe der Meggerinnen und Megger zum neuen wie alten Most wird das Buch mit Sicherheit wecken.» Urs Brücker, Gemeindepräsident Meggen «Dieses Buch trifft den Kern der Arbeit unserer Stiftung, die sich für die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren einsetzt. Das Werk ist Basis für die Wiederbelebung der Region Meggen mit ihrer überlieferten Tradition. So werden die einst für Meggen charakteristischen Sorten als ProSpecieRara-Obstgarten im Areal Badhof, Krusenweid, Siten – an schönster Aussichtslage über dem Vierwaldstättersee – wieder ausgepflanzt. Die klassischen Rezepte liefern die Basis zur erneuten genussvollen Nutzung der traditionellen Obstsortenvielfalt.» ProSpecieRara Schweiz
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 6
I n ha lt
Kul tu r, Arc h it e k t u r Prolog – 21 000 Obstbäume, 18 Mostereien, 1000 Einwohner 9 «Vor einem Baum, der nicht blüht, sollte man den Hut ziehen» 10 675 Obstbäume auf einem Hof 12 Die Mosttrotte 14 Bau- und Nutzungstypen 16 Vergleiche Bauten und Nutzung mit Nachbarregionen 17
Mos te reie n Vordermeggen, Hintermeggen 18 Siten 20 Badhof 22 Naumatt 24 Lerchenbühl 28 Schwerzi 32 Eiholz 34 Huob 38 Kreuz 40 Spissen 42 Rainhof 46 Binzböschen 48 Schönheim 50 Grosshusmatt 54 Oberbergiswil 58 Unterbergiswil 60 Hinter-Tschädigen 64 Letten 66 Stallscheune Weid 70
Mos te n, Bre nne n, Dö rre n Vordermeggen, Hintermeggen 72 Die Arbeitsabläufe in einer Trotte 74 Obstanlieferung 76 Obstmühle beliefern 78 Trottbaumpresse 80 Jochpresse 82 Hydraulische Presse 84 Doppelpackpresse 86 Fässer füllen und Most abziehen 88 Fasskeller 90 Bandpresse 92 Brennerei (Wasch- und Brennhaus) 95 Brennhäuser 96 Häfelibrennerei 98 Hafenbrennerei 100 Dampfbrennerei 102 Moderne Dampfbrennerei 104 Trester und Tresterstöckli 106 «Träschhüttli» 108 Dörrhaus, Dörrofen 111 Dörrhaus aus schwerer Zeit 112 Dörrhäuser in neuer Funktion 114 Kachelofen als Dörrofen 116 Dörrofen im Dienst der Öffentlichkeit 118
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 7
Mo st , Ku ltu r, Ku l ina ri k Hintermeggen, Vordermeggen 120 Kein Saft wie der andere – eine kleine Zeitreise 123 Der neue Most 124 Mostbirnensorten 126 Der Ansteller, der Süsslautere 128 Der alkoholfreie Most 130 Der Süssmost mit Kohlensäure 132 Der alte Most 134 Der Scheidmost 136 Der klare vergorene Most 138 «Mostchampagner» 140 Apfelmost 142 Nach dem Mosten das Brennen 144 Dörrobst 146 Mit vereinten Kräften gegen Krisen und fürs Allgemeinwohl 148 Temporäre Obstausstellung von 1900 bis 1901 150 Fotos der besten Bäume 152 Obstzüchter und Baumpfleger 154 Mit Qualität zum Erfolg – Mostmarkt Luzern 1902 156 Ehrendiplome Landwirtschaftlicher Ortsverein 158 Ehrendiplome Letten 160 Mengen, Sorten, Produkte, Märkte 162 Vom Kilbisonntag zur schönen Helena 165 «Ballen» an Mostsauce 166 Schnitz und Kartoffeln 168 Birnen in Essig, Bereitung des Essigs 170 Süssmostcreme 172 Apfelgelee 174 Apfelkuchen 176 Lebkuchen, Birnenhonig von Theilersbirnen 178 Birnenweggen 180 Canärli 182 Tafelbirnen 184 Vom Menznauer Jägerapfel zum Golden Delicious 186
B e ric hte, G es chic ht en Vordermeggen, Hintermeggen 188 Der grosse Sturm von 1850 190 Der neue Most 194 Die Megger Mostmesse 197 Herbstferien 198 Die Eiholz Mosterei 200 Epilog – Der Reichtum der Sorten gibt dem Most den Geschmack 202
A nha ng Trotten in Meggen, Schwyz, Luzern und Zug 204 Copialbuch Eiholz Meggen – Mostund Schnapslieferungen 206 Fallobst – gut zu wissen 208 Mosten mit der Baumpresse 210 Mostereieinrichtung zwischen 1900 und 1940 210 Quellenangaben, Literaturverzeichnis 212 Bildnachweis 213 Dank 214 Sponsoren 215 Autoren/Herausgeber 216
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 8
8 | 9 Kultur, Architektur
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 9
Prolog – 21 000 Obstbäume, 18 Mostereien, 1000 Einwohner Veränderungen verlaufen meistens schleichend, und werden sie dann wahrgenommen, sind ihre Ausmasse längst in Stein gemeisselt. Sonst würden sie kaum auffallen. Spricht man über Veränderungen der Gemeinde Meggen, dominieren Siedlungspolitik und Architektur die Diskussion. Darin lag auch der Ausgangspunkt für dieses Buch. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Wo heute Häuser stehen, wurzelten früher Hochstammbäume. Dies mag keine Exklusivität sein, Wandel spielt sich auch andernorts ab – ein Blick über den Vierwaldstättersee aus der Vogelperspektive bietet reichlich Anschauungsmaterial. Exemplarisch indessen wirkt Meggen, weil sich mit diesem Wandel gleichzeitig der Untergang der alten Mostkultur vollzog – zügig, radikal und unumkehrbar wie selten im Land. An südlicher Exposition zum Vierwaldstättersee, zwischen der Stadt Luzern und Küssnacht am Rigi, boten Klima und Boden die Basis für eine schöne Erfolgsgeschichte. Die Bauern nutzten die Einmaligkeit des Terrains und schufen ein Terroir für Obst. Sie kultivierten Anbau und Verarbeitung von Birnen und Äpfeln zu Most, als Most gefragt war, und lieferten Tafelfrüchte in die nahe Stadt. Zu den ergiebigsten Zeiten standen 21 000 Obstbäume auf Megger Boden. Der Grossteil des Ertrags wurde in den 18 Mostereien der Gemeinde verarbeitet. Viele Mostereien stehen noch und erblühen zu neuem Leben (nur von der Mosterei Käppeli fehlt jede Spur), seit Umnutzungen gestattet sind, als Wohnung, Atelier, Werkstatt oder Verkaufsraum. Eine eigenständige Architektur wirkt als Zeugnis einer einst florierenden Geschäftsidee nach. In die Mostereigebäude wurde damals nicht mehr investiert, als nötig war: Die Funktionalität bestimmte eine klare Formensprache. Ungenutzt, weil längst nicht mehr gemostet wurde, fristeten die Mostereien jahrzehntelang ein nutzloses Dasein. Bier, Wein und Coca-Cola hatten den Most abgelöst. Dank alter Aufzeichnungen lässt sich erfahren und ermessen, wie vielseitig das Mostangebot einmal war – vom «Neuen» bis zum «Alten», vom «Süsslauteren» über «Trüben» und «Klaren» bis «Mostchampagner» und «Scheidmost», einem natürlichen Klärungsmittel, das in Vergessenheit geraten ist. Zahlreiche Berichte und Auszeichnungen von Obst- und Mostausstellungen zwischen 1870 und 1920 zeugen von dieser Megger Erfolgsgeschichte, deren Wurzeln weit zurückreichen: Sebastian Stalder, ehemaliger Richter aus Meggen, belieferte schon 1613 Renward Cysat in Luzern mit Christbirnen aus dem Piemont. Im regionalen kulinarischen Erbe gipfelt die Nähe von See und Land in einem Megger Klassiker, dem «Ballen» an Mostsauce. Apfelkuchen, Apfelchüechli, Dörrbirnen mit Kartoffeln, Süssmostcreme zählen zu den bekannten Gerichten. Dörrbirnen mit Kartoffeln gab es auf einzelnen Höfen jede Woche mindestens einmal. Dörrobst war der Beitrag der Megger Bauern an die Versorgung der Bevölkerung und der Armee im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Dieses Buch erzählt Geschichten von Mensch und Baum, Most und Mostereien und soll als Basis für einen Obstsorten-Garten an attraktiver Lage dienen, geplant als Allee entlang eines neuen Wanderwegs im Gebiet Badhof, Krusenweid, Siten.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 10
«Vo r e i ne m B a u m, de r n ic ht b lü ht, sol l te man den Hu t zie hen » Redewendung im Unterbergiswil: «Weil dieser Baum nächstes Jahr blüht und Früchte trägt.» Der Schweizer WasserbirnenBaum (im Bild rechts) steht in der Matte unterhalb der Grosshusmatt. Er ist auf dem Bepflanzungsplan von 1938 eingezeichnet – am linken Bildrand der grüne Punkt oben.
10 | 11 Kultur
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 11
Schweizer Wasserbirne, Grosshusmatt.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 12
6 7 5 O bs tb ä u me a u f e i nem Hof 1942 standen auf dem Eiholz 336 Birnbäume in 53 Sorten, 268 Apfelbäume in 45 Sorten, 48 Kirschbäume in 30 Sorten, 18 Zwetschgenbäume in 10 Sorten, 5 Pflaumenbäume, 6 Nussbäume, 4 Weinreben, 7 Edelkastanien und 28 Nussbäume. Die Birnbäume: 75 Reinhölzler 47 Gelbmöstler 40 Wettinger Holzbirnen 28 Teilersbirnen 22 Schweizer Wasserbirnen 14 Grünmöstler 12 Knollbirnen 9 Guntenshauser 8 Grundbirnen 3 Champagner Bratbirnen 2 Espèrens-Bergamotte 1 Weinbirne 2 Fischbacher 1 Weissbirne 2 Heulempen 2 Wildibirnen 3 Rotbärtler 2 Moströtler 1 Höngler 2 Grüne Bärlibirnen 4 Welschbergler 3 Pyramidenbirnen 5 Ottenbacher Schellenbirnen 2 Schilliger 3 Marxenbirnen 1 Haarigel 1 Schöflibirne 5 Williams-Christbirne 1 Clapps Butterbirne 1 Gute Luise 2 Le Lectier 1 Vereins Dechantsbirne 4 Comtesse de Paris 3 Pastorenbirnen 1 President Drouard 1 Blumenbachs Butterbirne 1 Olivier de Serres 3 Schmelzende von Thirriot
12 | 13 Kultur
1 1 1 1 1 2 1 1 1 8
Amanlis Butterbirne Julibirne Englische Butterbirne Edel Crassane Magdalenen Birne Josephine von Mecheln Merveillet Ribet Diels Butterbirne Neue Poiteau unbekannte Sorten
Die Apfelbäume: 56 Sauergrauech 46 Tobiässler 22 Boskop 19 Bohnäpfel 16 Berner Rosen 10 Stäfner Rosen 1 Breitacher 2 Wildmuser 2 Fürstenäpfel 2 Achacherer 3 Aargauer Jubiläum 7 Ontario-Reinetten 2 Osnabrücker-Reinetten 6 Transparente de Croncels 2 Letten-Äpfel 4 Klaräpfel 7 Herzogin Olga 2 Grafensteiner 7 Goldreinetten von Blennheim 3 Portugiesische Rostreinetten 1 Kasseler 1 Ananas-Reinetten 1 Dachapfel 6 Södliäpfel 4 Adamsbarmänen 1 Bihorell-Reinetten 5 Ohio-Reinetten 4 Trier’sche Weinäpfel 2 Luzerner Weinäpfel 2 Waldhöfler 4 Wintertaffetäpfel 1 Jonathan 1 Bänziger 2 Charlamowsky 1 Chüsenrainer 1 De Huber 2 Sternreinetten 1 Graue französische Reinetten 4 süsse Sorten 5 unbekannte Sorten
Die Kirschbäume: 4 Rigi-Kirschen 1 Mittel-Lauerzer 1 Mistler 2 Hedelfinger 1 Ampfurter Knorpelkirsche 3 Berner Kirschen 2 Geissmättler 2 Lyoner 3 Ris Kirschen 2 Spielkirschen 2 Muskateller 1 Sammetkirsche 3 Gravium 1 Flurianer 1 Schwarze von Montreux 2 Rotstieler 1 Zweitfrühe Basler 1 Frühe Schwarze 2 Schauenburger 1 Langstieler 2 Grosszweiete 1 Braunrote 1 Schattenmorelle 2 Worben-Weichseln 1 Dienitzer-Amarelle 1 Schwarze Weichsel 1 Erstfrühe 1 Rote Lamperdinger 1 Späte Schwarze 1 Wildling Die Zwetschgenbäume: 1 Anna Späht 2 Schwyzer Zwetschge 2 Schöne von Löwen 2 Lützelsaxer Frühzwetschgen 1 Wangenheimer 1 Ahlsbacher 3 Fellenberger 3 Bühler Zwetschgen 1 Gelbe Zuckerzwetschge 2 wilde Sorten Quelle: Auszug aus der EiholzHofchronik von 1942.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 13
B체chlein mit allen B채umen auf den verschiedenen Parzellen, Unterbergiswil, von 1892 bis 1941.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 14
Die Most trot te D a s wi rt scha ft l iche Umfe l d Die Bauern auf den Höfen zwischen den Alpen und dem Mittelland pflegten eine gemischte Landwirtschaft mit vorwiegend Ackerbau, wenig (Zug-)Vieh und Obstbäumen in den privaten Haushofstätten. Die Produktion richtete sich teilweise nach der dörflichen Agrarverfassung und Flurordnung in Dreizelgen- oder Egartenwirtschaft mit Allmenden und hatte primär der Selbstversorgung zu dienen.1 Das verfügbare Obst und die Nüsse dienten dem Frischkonsum, vor allem aber der Vorratshaltung und wurden daher entsprechend konserviert. Einen Teil der Äpfel und Birnen schnitt man in kleine Stücke und dörrte sie im oder auf dem Kachelofen, Fallobst gelangte in die Mostpresse, und aus den Rückständen liess sich Branntwein herstellen. In zwei Schritten verringerte sich die Vorratshaltung an Dörrobst, einmal nach dem verbreiteten Anbau von Kartoffeln nach 1800 und im frühen 20. Jahrhundert durch die billigeren Importe sowie das Aufkommen von Konserven.2 Im Kanton Luzern spielte der Obstbau vor 1800 keine grosse Rolle, ausser etwa im damaligen Habsburger Amt oder im Amt Hochdorf. Dort lag der Ertrag rund zehnmal höher als im übrigen Kanton.3 Bauernhöfe in stadtnahen Gebieten konnten u. a. auch Obst auf den Märkten anbieten.4 Dieses Absatzgebiet erhöhte sich im Zug der allgemeinen Bevölkerungszunahme (verbesserte Hygiene), mit der Gewerbefreiheit, einer erhöhten Zuwanderung in Städte und der freien Wahl des Wohnsitzes (nach 1848). Doch schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vor allem nach dem Dreissigjährigen Krieg, hatte sich das Brennen von Kern- und Steinobst, die neue Art der Obstverwertung in der Eidgenossenschaft, rascher und allgemeiner verbreitet, als den Behörden lieb war.5 Die Behörden erliessen Verordnungen, und dennoch häuften sich auch die Klagen über deren Missachtung wie «das ungehinderte Brennen von Obst und den skrupellosen Verkauf von Branntwein» selbst in öffentlichen Wirtshäusern und Läden […].6 Am 1. März 1769 teilte der Rat den ganzen Kanton in 33 Branntweinbezirke ein und unterstellte jeden dieser Bezirke einem vereidigten Aufseher. Dieser war allein berechtigt, bei den patentierten Brennern seines Kreises Branntwein einzukaufen oder Spirituosen zu importieren und die Wirte damit zu versorgen. […] Die Branntweinordnung von 1769 bewährte sich allerdings nicht und wurde 1777 wieder abgeschafft bzw. der Ausschank von gebrannten Wassern zu Stadt und Land verboten. Nur die Gastwirte hatten das Recht, fremden Gästen oder Fuhrleuten Schnaps vorzusetzen. Interessanterweise war die Branntweinmenge im «Branntweinbezirk» Meggen minimal, sie lag bei 8 Massen bei einem Maximum von 2242 Massen in Ufhusen.7 Als Nachwehen der Französischen Revolution erfolgte in der damaligen Eidgenossenschaft und im Kanton Luzern die Privatisierung der Allmenden. Diese ehemaligen Weidegebiete, die vor allem dem Vieh der Hintersässen (der Nichtbürger) als Weideland dienten, wurden jetzt einzelnen Höfen zur privaten Nutzung zugeteilt. Nun eröffnete sich in einem Gebiet, das sich infolge der reichlichen Niederschläge nicht ideal für den Getreideanbau eignete, im Obstbau eine einträglichere Nutzung. Der Luzerner Regierungsrat Kottmann schilderte 1825 die luzernischen Verhältnisse an der Tagung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft wie folgt: «Obstbäume wurden während des letzten Vierteljahrhunderts ausserordentlich viele gesetzt, jedoch meistens aus den Baumschulen des Kantons Zug. Die Baumfrüchte aber, statt sie abzudörren, wie ehemals, werden grösstenteils gemostet oder es werden daraus, wie aus Kirschen und Zwetschgen, gebrannte Wasser gezogen.»8
14 | 15 Kultur
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 15
Ähnliches gilt für die Nachbarregionen in den Kantonen Schwyz und Zug: «In den Obstgegenden ist Most (Eider) das Hauptgetränk, weit seltener der Wein, häufiger der Branntwein, doch ist die Kunst die Getränke schon in den Fässern mit Wasser zu vermischen auch hier sehr gewöhnlich. Das Schnäpschen ist vielen eine willkommene Sache vor dem Schlafengehen und der Arbeiter sieht sich sehnsuchtvoll in der Zwischenzeit vom Morgen auf den Mittag nach demselben um.» […] «In der Äpfel- und Birnpflanzung dürfte im Kanton Schwyz auf Veredlung mehr Bedacht genommen werden; allein wie im Kanton Zürich, hat man jetzt meistens mehr als früher die Menge als die Güte im Auge. […] Ein bedeutendes Quantum Obst wird gedörrt, und jeder Bauer bewahrt im Keller soviel Obst auf, dass er während des Winters für die Küche Äpfel genug hat. Alles geringere Obst wird zu Most und Branntwein benutzt. Mancher Bauer z. B. in der March gewinnt 400, 500, 800 und noch mehr Mass Branntwein.»9 In einer Umfrage nach den katastrophalen Missjahren 1816/17 wurde 1819 für den benachbarten Kanton Zug auch der Gerätebestand für die Obst- und Kirschenverwertung erhoben. Im Ergebnis gaben die Bauern einen Bestand von 4 Röllen (Obstquetschen), 160 Mosttrotten, 150 Dörröfen sowie 300 Brennhäfen an.10 1 2
Anne-Marie Dubler, Luzerner Wirtschaftsgeschichte im Bild, Luzern 1975, S. 94. Eingeführt nach 1700 durch den Glarner Söldner Jakob Strub (Albert Hauser, Wald und Feld in der alten Schweiz, Zürich 1972); Anbau nach Aufhebung der Allmende. Konserven ab 1810 (patentiert,vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Konservendose). Gründung der Herokonservenfabrik 1886 (http://de.wikipedia.org/wiki/Hero_(Unternehmen), Zugriff Oktober 2014).
3
Pfyffer, Kasimir, Der Kanton Luzern. Historisch-geographisch-statistisches Gemälde der Schweiz,
4
Das Wegrecht aus dem Jahr 1790 vom Hof Breitfeld und anderen benachbarten Liegenschaften in
Band 1, St. Gallen 1858, S. 172. Küssnacht an den Vierwaldstättersee für den Transport von «most, kestenen und andern haben mogenden producten» lässt darauf schliessen, dass auf diesem Hof nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch für den Handel produziert wurde (Josef Muheim, «Das Breitfeld zu Küssnacht am Rigi», in: Der Geschichtsfreund 131/1978, S. 82). 5
Hans Wicki, Bevölkerung und Wirtschaft des Kantons Luzern im 18. Jahrhundert, Luzern 1979, S. 429.
6
Ebd. S. 430.
7
Ebd. S. 432. Das Mass zu 1,8 Liter (Anne-Marie Dubler, Masse und Gewichte im Staat Luzern und in der alten Eidgenossenschaft, Luzern 1975, S. 42).
8
Hans Brugger, Die schweizerische Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frauenfeld 1956, S. 54.
9
Gerold Meyer von Knonau, Historisch-geographisch-statistisches Gemälde der Schweiz. Der Kanton Schwyz, St. Gallen 1835, S. 97, 134.
10 Stadlin, F. K., Die Geschichten der Gemeinden Chaam, Risch, Steinhausen und Walchwyl, Luzern 1819, S. 125.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 16
Bau- und Nutzungsty pen Man darf davon ausgehen, dass die ältesten Obsttrotten und die Weinpressen identisch waren. Das heisst, dort, wo Rebbau betrieben wurde, gab es Baumpressen auf einem Hof, die auch zum Mosten genutzt wurden. Diese standen häufig in einem Teil oder Anbau einer Scheune. Die Lagerbücher der Gebäudeversicherung des Kantons Zug weisen viele Trotten auf, die mehr als einen Besitzer hatten. Entsprechend darf angenommen werden, dieselben seien auch gemeinsam benutzt worden. Nur wenige Höfe – oder vielleicht die wohlhabenden – leisteten sich eine Trotte für sich allein. Daneben gab es zahlreiche kleine Trottenschöpfe, in Scheunen oder am Wohnhaus angebaut. Die frei stehenden, mehrgeschossigen Trotten auf kleinem Grundriss entstanden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Arth und Küssnacht.11 Ab etwa 1840 entstanden in Meggen und Küssnacht grosse, mehrgeschossige Trotten in Fachwerk, deren Aussenflächen meist verputzt worden sind. Sie weisen in der Regel einen gewölbten Keller mit Fasslager, einen Trottraum sowie im dritten Geschoss den Lager- und Einfüllboden für das Obst auf. Eine Hochquereinfahrt ermöglicht die Beschickung der Trotte mit den beladenen Erntewagen. Zahlreiche verblüffende Ähnlichkeiten dieser Trotten legen die Vermutung nahe, dass sie nach demselben Plan, allenfalls durch die gleichen Handwerker, erbaut worden sind.12 In zahlreichen Fällen ist in einem separaten, gemauerten Anbau die Brennerei eingerichtet. Nur sehr selten steht auch ein Dörrofen im Trottengebäude, wie etwa im Rainhof. In grösserem Umfang gedörrt wurde üblicherweise in einem separaten kleinen Dörrhaus aus Stein, um eine grössere Feuersicherheit zu gewährleisten. 11 Isabell Hermann, Die Bauernhäuser des Kantons Zürich. Zürcher Weinland, Unterland und Limmattal, Band 3, Basel 1997, S. 386. (Die Bauernhäuser der Schweiz, Bd. 11); Bucher-Manz, Niederweningen (http://www.bucherindustries.com/de/history – Zugriff Oktober 2014). (http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D41787.php – Zugriff Oktober 2014). 12 Beispiel in: Benno Furrer, Die Bauernhäuser der Kantone Schwyz und Zug, Basel 1994, S. 421.
16 | 17 Architektur
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 17
Vergleiche B aute n und Nu tz ung m it Na c h b ar re g ione n Die ältesten erhalten gebliebenen Trottengebäude und Pressanlagen, die sich in der Gemeinde Meggen und in den umgebenden Gemeinden erhalten haben, stammen aus der Zeit um 1800. So zum Beispiel in Cham, Blegihof, von 1796 oder in Meierskappel, Hinter Spichten, von 1800 oder in Küssnacht, Merlischachen, von 1802. In Küssnacht, Hinder Barbrämen, steht ein mächtiger Trottenbau in einem zweigeschossigen, bretterverschalten Gerüstbau und anschliessender ummauerter Brennerei unter einem Dach.13 Das Trottengebäude in Cham, Blegi, stammt aus dem Jahr 1796 und ist ein Mehrzweckgebäude mit ebenerdigem, gemauertem Mostkeller, einem gleich grossen Pressraum (ohne Trottenbaum) daneben sowie einem hölzernen Obergeschoss mit Holzschopf, Werkstatt und Getreidekammer darüber. Im nicht unterteilten Dachgeschoss befindet sich ein grosses giebelseitiges Tor für den Lastenaufzug. Auch bei den ältesten Trotten in der Gemeinde Meggen handelt es sich um ein- bis zweigeschossige Ständerbauten mit Kantholzfüllung. 13 In Meggen: Schwerzi (Vers.-Nr. 500d), Unter-Bergiswil 1850/1860 (Vers.-Nr. 155a), Kreuztrotte 1855 (Vers.-Nr. 1092), Hinter-Tschädigen 1876 (Vers.-Nr. 175c), Siten 1843 (Vers.-Nr. 253c); in Küssnacht: Rotenhof 1841, Merlischachen, Luzernerstrasse 1862.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:11 Seite 60
Hof : Unte r b erg i s wi l Baujahr: um 1846, Umbau und Neunutzung mit Wohnungen 2012 Baugeschichte: Der Brunnentrog, der ehemals in der Trotte stand, trägt die Jahreszahl 1846. Alois Scherer kaufte 1851 den Hof Unterbergiswil, bestehend «aus einem Haus, einem Schweinestall mit angebautem Holzhaus, einer neuen Most-, Brenn- und Waschhütte aneinander vom Erblasser erbaut, eine neue Scheune, Matten, Weid, zwei Stück Wald und ein Ried […]». Der Erbauskaufbrief vom 27. Juli 1859 regelt die Hinterlassenschaft des verstorbenen Alois Scherer und weist seinem Sohn Alois Scherer und der Tochter Anna ZinggScherer die Liegenschaft Unterbergiswil zu. Darunter befindet sich die 1851 beim Kauf der Liegenschaft als neu erbaut bezeichnete Most-, Brenn- und Waschhütte.
60 | 61 Mostereien
Es handelte sich also um ein Vielzweckgebäude mit den in einem Bauernhof mit Obstbau nötigen Anlagen. Interessant ist ein Brief von Alois Scherer, mit dem er 1896 die «Gemeinderatskanzlei» in Meggen in Kenntnis setzte, er habe am Ökonomiegebäude ein Maschinenhaus angebaut, «behufs Aufnahme eines Petrolmotors». Ob dieser Motor Energie für eine Beleuchtung oder für einen Lastenaufzug lieferte, geht aus dem Schreiben nicht hervor.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 61
Die alte Form des Spaliers als modernes Element der Fassadengestaltung.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 62
Nach der Umnutzung im Jahr 2012 verfügt die ehemalige Trotte über drei Wohnungen. Die alte Hängewerk-Konstruktion im Querfirst konnte beibehalten werden und trägt nun zum unverwechselbaren Charakter der Dachwohnung bei. Quellen: Hofarchiv Scherer-Sive rs. Gemeindearchiv Meggen, N° 5780,
ca.
Umbauplan von 2010.
loggia
galerie
halle
kü
wc bad
essen 4.0
vorplatz
heizung
wa
durchgang
wohnen
wohnen -0.65
62 | 63 Mostereien
0.00
vorplatz
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 63
Grosszügige Architektur ermöglicht grosszügige Wohnräume.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 120
Obstbäume statt Hotels – Meggen setzte nie so stark auf Tourismus wie andere Gemeinden am Vierwaldstättersee. Dafür wurden die ersten Villen schon Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Auf einer undatierten Postkarte präsentiert sich das Gasthaus zum Kreuz in prachtvoller, baumbestandener Landschaft. Hintermeggen.
120 | 121 Most, Kultur, Kulinarik
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 121
Vordermeggen.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 122
Anzeige von Alois Sigrist, Letten, aus den 1920er-Jahren – zu einer Zeit, als die Telefonnummern so kurz waren wie die technischen Errungenschaften frisch und verkßndenswert.
122 | 123 Most
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 123
Kei n S af t w ie der a ndere – ei ne kl ei ne Zei tre i se Ein Leben ohne Süssgetränke können wir uns nicht vorstellen. Und sind uns dabei gar nicht bewusst, wie rasch das süsse Leben der frischen Säfte verrauscht – in doppeltem Sinne. Einmal biologisch: Der süsse Saft beginnt zu gären, kaum ist er aus der Frucht geflossen; und dann chronologisch: Erst seit der Entdeckung des Pasteurisierens ist es überhaupt möglich, den Gärprozess aufzuhalten. Süssmost kennt man seit Ende des 19. Jahrhunderts, vorher gab es kein Halten, der neue Most «verjäste» so sicher, wie Gletscherwasser talwärts fliesst. Wo Zucker und Hefe aufeinandertreffen, braucht man nicht lange auf Alkohol und Kohlensäure zu warten. Erst nachdem Louis Pasteur das Wesen der Mikroorganismen entdeckt und Hermann Müller-Thurgau in Wädenswil über das Pasteurisieren geforscht hatte, liess sich die Fermentation durch Erhitzung stoppen. Im 20. Jahrhundert kam noch die Kühltechnik dazu: Tiefgefrorene Hefen arbeiten nicht. Heute überschwemmen Süssgetränke von Coca-Cola bis Ice Tea den Markt. Dies ist der Grund, warum die Karriere des Süssmostes als beliebtes Getränk eine kurze war, auch wenn er in Form von Apfelschorle wieder aufgeholt hat. Im Windschatten überzuckerter Industrieprodukte sind auch die Spielarten der vergorenen Säfte verschwunden – wer kennt denn noch die unterschiedlichen Kategorien der Moste? Der neue Most, der alte Most, der Süsslautere, der klare Most? Scheidmost? Ein Blick hinter die Kulissen traditioneller Mostereien ist nur ausnahmsweise möglich. Wenige Zeugen erinnern sich, wie in Meggen am zweiten Sonntag im September die neuen Moste sprudelten, wie gegen Ostern die letzten Tropfen des Süsslauteren zu versiegen drohten, wie im Grunde die Sprache der Moster so komplex war wie heute die Sprache der Reb- und Kellermeister. Die alten Spezialitäten, die einst die Norm bedeuteten, gewinnen nach Jahrzehnten im Nebel des Vergessens nun wieder Konturen. Daran ist nicht zuletzt die Plafonierung des Geschmacks durch Massenproduktion schuld, denn sie schafft Lust am Authentischen, am Besonderen, Exklusiven. Privatleute bringen die Früchte aus dem Garten in die Kundenmosterei und lassen eigene Kreszenzen pressen. Kleinbetriebe versuchen, sich durch spezifische, sortenreine Moste Profil zu verschaffen – nicht zuletzt, indem sie Hochstammbäume pflegen, denn diese lassen das beste Mostobst wachsen. Das 19. Jahrhundert galt als Zeitalter des Mostes, das 20. Jahrhundert als das Zeitalter der Industrialisierung, dabei auch als hohe Zeit der Weindegustation. Im 21. Jahrhundert legen sich die Wogen der Globalisierung etwas zugunsten einer verloren geglaubten Eigenwilligkeit im Nahbereich. Soll doch Coca-Cola auf der ganzen Welt wie Coca-Cola schmecken – Hauptsache, der eigene Most braucht die Ausprägungen der Jahrgänge nicht zu verleugnen. Die Rückbesinnung auf das regionale kulinarische Erbe verhilft dabei nicht nur alten, etwas vernachlässigten Rezepten zu neuer Beachtung, sie korrigiert auch eine Sünde der Vergangenheit: Die Hochstammbäume, einst aus Gründen der Alkoholbekämpfung wie der Siedlungserweiterung in Massen gefällt, werden wieder gepflanzt, wenn auch nur langsam. Sie aromatisieren nicht nur einen guten Most, sie wirken mit ihrer Präsenz und ihrer Funktion als Lebensraum für eine stattliche Zahl von Pflanzen und Tieren wie ein Naturheilmittel im lädierten Landschaftsbild.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 124
Der Mostbummel In Zeiten wie den 1920er-Jahren, als Süssmost noch eine schnelllebige Exklusivität war, herrschte monatelang Dürre an alkoholfreien Säften. Vergorenen «alten» Most gab es während des ganzen Jahres – solange er nicht ausgetrunken war. Doch wer den frischen, süssen bevorzugte und lieber nüchtern blieb, litt an Entzugserscheinungen. Umso grösser dann die Freude, wenn im Herbst die ersten Säfte frisch ab Presse sprudelten. Das musste gefeiert werden! Ganze Vereine besuchten Wirtshäuser wie das Kreuz in Meggen, das dank eines neuen Saals den Vorteil genoss, zum Most auch noch Tanzmusik zu servieren.
D e r ne ue Mo s t Bevor man alkoholfreien Most konservieren konnte, musste man sich an den Frischgepressten halten, der gleich zu gären beginnt, kaum wird er der Luft ausgesetzt. Je nach Temperatur, wenn der Altweibersommer die Landschaft mit der letzten trägen Wärme überzieht, beginnen die Hefezellen den Zucker zu fressen. Sie produzieren dabei Alkohol und Kohlensäure. Erst wenn der ganze Zucker verarbeitet ist, sterben die Hefen und schweben zu Boden. Der Vorgang zieht sich in die Länge, je tiefer die Aussentemperaturen sinken. Kälte bindet die Mikroorganismen Hefe- und Schimmelpilze zurück. Neuen Most gab es während ein bis zwei Monaten, bis kein Obst mehr zu mahlen und zu pressen war. Der Neue war ein laufender Prozess, man musste sich immer am jeweils Frischgepressten bedienen, wollte man Alkohol vermeiden. Erst mit der Technik des Pasteurisierens wurde es möglich, die Gärung zu stoppen und einen temporär haltbaren alkoholfreien Most zu erzeugen. Nimmt man es besonders genau, müsste man den Neuen als kurzen Moment süssen Glücks bezeichnen – denn die Verwandlung von Fruchtsaft in Wein beginnt sofort, sie verläuft beim Kernobstwein nicht anders als beim Traubenwein: «Dennoch ist der Saft nit grad der ersten zyt wyn, sunder zum ersten most, darnach suser, zuletst erst wyn», wurden die Wege des Weinmachens im 16. Jahrhundert beschrieben.17 Die Bezeichnung Sauser oder Suser dürfte aus dem Geschehen im Most entstanden sein. Das Platzen der Kohlensäurebläschen erzeugt einen feinen Geräuschteppich, es zischelt und «süselet». Nach drei, vier Tagen ist die Zeit des Sausers vorbei, er wird zum «alten» Most, wie man in Meggen sagt, oder zum «sauren» Most, wie der vergorene Most in den meisten anderen Regionen heisst. 17 Schweizerisches Idiotikon 4, Seite 541.
Bild oben: Gruss aus Meggen an ein Fräulein in Luzern: «Liebe Anny! Hier ein kl. Andenken an unsern Mostbummel, der sehr gemütlich war. Tanzet wie die Lumpensäcke – Sepp». Unten: Der Saal des Hotels Kreuz in den 1920er-Jahren.
124 | 125 Most
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 125
Mostbummel, Erinnerungsfoto mit Tanzmusik, Hotel Kreuz, Meggen.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 126
Mos tb i rnensor te n Ok tob e r 19 0 0 Gelbmöstler Grünmöstler Teilersbirne Marxenbirne Späte Weinbirne Schweizer Wasserbirne Grosse Weissbirne Widlibirne Grundbirne Meerbirne Guntershauser Wettinger Holzbirne Harigelbirne Reinholzbirne Champagner Bratbirne Knollbirne Kleiner Katzenkopf Rotbärtler Kugelibirne Langstieler Holzbirne Palmischbirne Grüne Perlbirne Gelbe Perlbirne Winterbirne Bergler Gelbwürgler Einsiedel Rebenbirne (plus drei unbekannte Sorten) Quelle: Bericht über die temporäre Obstausstellung in Meggen 1900/01, veranstaltet vom Landwirtschaftlichen Ortsverein Meggen.
Die Theilersbirne stammt wahrscheinlich aus Wädenswil und gehörte nicht nur in der Innerschweiz zu den typischen Mostbirnensorten. Bilder rechts: Die Bildtafeln, herausgegeben vom Schweizerischen Obstverband in Zug, sind in elf Farben gedruckt.
126 | 127 Most
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:12 Seite 127
Eine der meistangebauten Mostsorten: Schweizer Wasserbirne
In seinem Buch Birnensorten der Schweiz beschreibt Hans Kessler,
alias Kugelbirne, Thurgibirne; Herkunft unbekannt.
Adjunkt der Versuchsanstalt f체r Obst-, Wein- und Gartenbau in W채denswil, 81 Birnensorten.
Korr-Layout_190x265.qxp_Layout 9 24.02.15 10:13 Seite 216
Aut ore n / He ra u sge b e r
B enno F urrer (1953) studierte
Pa ul Imhof (1952), Kolumnist für
Heiri Sc herer (1943), aufgewachsen
Geografie an der Universität Zürich,
Essen und Trinken (Tages-Anzeiger bis
auf dem Hof Eiholz in Meggen,
erstellte das Inventar und die Publika-
Ende 2014), Redaktor und Reporter
absolvierte die Grafikfachklasse an der
tion Bauernhäuser des Kantons Uri
(GEO «Schauplatz Schweiz»), Buchautor.
damaligen Kunstgewerbeschule Luzern.
(1985) in der Reihe Bauernhäuser der
Culinarium – Essen und Trinken in der
10 Jahre Müller-Brockmann + Co., Zürich.
Schweiz, anschliessend den Band
Schweiz, Werd-Verlag, Zürich 2003
Art Director / Creative Director bei Globus
Schwyz–Zug der gleichen Reihe (1994).
(Herausgeber und Co-Autor).
Warenhäuser Zürich. Erscheinungsbild
Seit 1989 wissenschaftlicher Leiter der
Auf den Spuren des Guten – Regionen,
und Kommunikation Globus delicatessa.
Schweizerischen Bauernhausforschung
Rezepte, Globus, Zürich 2003
Mitinhaber der Werbeagentur
mit Archiv in Zug. Daneben Promotion
(Redaktor und Co-Autor).
Scherer Kleiber CD AG, Zürich.
zum Thema Alpgebäude Uris im Wandel
Nach allen Regeln der Kunst – Von der
Ausstellungsmacher:
der Zeit (1989) und 1989–1992 Vorle-
Cacaobohne zur Edelschokolade,
Was hat Kunst mit Kunst zu tun?,
sungstätigkeit an den Universitäten
Werd Verlag, Zürich 2008.
Himmelblau und Abendrot, beide im
Basel und Zürich.
Markus Neff – Küche zwischen Berg
Kunsthaus Zug.
und Tal, AT-Verlag, Baden 2009.
Bücher, Konzept und Gestaltung:
Kochen mit Schweizer Obst und Beeren,
Hiltl. Vegetarisch nach Lust und Laune
Orell Füssli Verlag AG, Zürich 2011.
und Hiltl. Die Welt zu Gast, Werd Verlag,
Das kulinarische Erbe der Schweiz in
Zürich. Auf den Spuren des Guten,
5 Bänden, Echtzeit Verlag, Basel:
Globus delicatessa.
Band 1 mit den Kantonen Aargau,
Kochen mit Obst und Beeren – 100 Jahre
Luzern, Ob- und Nidwalden, Schwyz,
SOV, Orell Füssli Verlag, Zürich.
Zug, Zürich (2012). Band 2 mit den Kantonen Bern, Jura, Solothurn, BaselBenno Furrer zeichnet für die Texte
Landschaft und Basel-Stadt (2013).
Mostkultur und Mostereien.
Band 3 mit den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, St. Gallen, Schaffhausen, Thurgau (2014). Heiri Scherer, Herausgeber, Recherche und Gestaltung dieses Buches.
Paul Imhof zeichnet für die Texte Kulinarik.
216 Anhang