René Scheu: Gespräch und Gegenwart. Reden über (und gegen) den Zeitgeist.

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René Scheu (*1974) ist promovierter Philosoph und Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung. Hans Ulrich Gumbrecht (*1948) ist Albert Guérard Professor Emeritus in Literature in Stanford und zählt zu den prägenden Intellektuellen der Gegenwart.

«René Scheu mag gegen den Zeitgeist halten, aber vor allem verhilft er einem bestimmten Zeitgeist zu seinem konkreten Portrait. Deshalb kann man sich an seinen Gesprächen erfreuen, ohne mit ihm einverstanden zu sein.»

Gespräch und Gegenwart Reden über (und gegen) den Zeitgeist

Der NZZ-Feuilletonchef René Scheu führt fürs Leben gerne Interviews mit Protagonisten aus Kultur, Politik und Gesellschaft. Für Scheu stellt der Dialog in Echtzeit ein Gegen­ gewicht zur Social-Media-Beliebigkeit dar. Alle schreien, viele schweigen, die wenigsten sprechen miteinander. Das ist der Befund, der für das Zeitalter der sozialen Medien gilt. Doch gerade im digitalen Zeitalter sind Gespräche notwendiger (und wichtiger) denn je. Sie finden von Angesicht zu Angesicht statt, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum, hier und jetzt. Im Gespräch entwickelt sich zwischen zwei Menschen eine intellektuelle Intensität und Dynamik, die im besten Fall über das bisher von ihnen Gedachte und Gewusste hinausweist. Was so entsteht, ist für sie – und für die Leser – ein Denk- und Sprach­ abenteuer. René Scheu präsentiert im Band seine besten Gespräche mit unterschiedlichen Protagonisten des Zeitgeschehens. 20 Interviews mit: Wolfgang Beltracchi, Russell Berman, Markus Gabriel, Sam Ginn, Niall Ferguson, Jonathan Franzen, Francis Fukuyama, Peter Handke, Robert Harrison, R ­ obert Hunger-Bühler, Daniel Kehlmann, Peter Maffay, ­Steven Pinker, Condoleezza Rice, Mary Rorty, Peter Sloterdijk, Xenia Tchoumitcheva, Peter Thiel, Mario Vargas Llosa und Zucchero.

René Scheu

Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Ulrich Gumbrecht, Albert Guérard Professor in Literature, Emeritus, Stanford University

Gespräch und Gegenwart

René Scheu

Herausgegeben und mit einem Essay über die Gattungs­ geschichte des Interviews von Hans Ulrich Gumbrecht, ­Professor an der Stanford University.

ISBN 978-3-907291-02-3

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Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen Umschlag: Katarina Lang, Zürich Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: CPI books GmbH, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Daten­verarbeitungs­anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3 -907291-02-3 ISBN E-Book 978-3-907291-03-0

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INHALTSVERZEICHNIS MONOLOG ZUM AUFTAKT Hans Ulrich Gumbrecht: «Hand aufs Herz» – Interview als Gattungsgeschichte und der Moment von René Scheu  11

ZWANZIG INTERVIEWS CORONA – PHILOSOPHISCH UND LITERARISCH Markus Gabriel: Gut gelaunter Jungspund  37 Robert Harrison: Italianist im Baumhaus  57

KULTURHELDEN DER GEGENWART Wolfgang Beltracchi: Künstler ohne Tabu  73 Xenia Tchoumitcheva: Eiserne Lifestyle-Performerin  91 Peter Maffay: Grundanständiger Rockstar  105 Robert Hunger-Bühler: Der Mann mit der ruhigen Stimme  117 Zucchero: Der Mann mit der sonnigen Stimme  129 Mario Vargas Llosa: Lateinamerikas Gesicht in Madrid  139 Peter Handke: Literarischer Pilzsucher  153 Jonathan Franzen: Lärmsensibler Ironiker  175 Daniel Kehlmann: Bestsellerautor aus einer anderen Zeit  185

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TYPEN AUS DEM SILICON VALLEY Mary Rorty: Heitere Philosophin  201 Peter Thiel: Paläophilosoph in Los Angeles  213 Sam Ginn: Superjunger KI-Pionier  235 Russell Berman: Geheimnisvoller Professor  245 Condoleezza Rice: Eindrückliche Frau, zierlich und stark  257 Francis Fukuyama: Der meistmissverstandene Intellektuelle  265 Niall Ferguson: Der Bodybuilder unter den Historikern  279

DENKER MIT ÜBERSICHT Steven Pinker: Vollzentrierter Starpsychologe  295 Peter Sloterdijk: Feinsinniger Philosophiestar  309

ZUM SCHLUSS: GESPRÄCH ÜBER INTERVIEWS Hans Ulrich Gumbrecht interviewt René Scheu: Denkseele mit Oberarmmuskeln  327

QUELLENANGABE UND DANK   345 BILDNACHWEISE   347 BIOGRAFISCHE ANGABEN   349

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MONOLOG ZUM AUFTAKT

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«Hand aufs Herz» – Interview als Gattungsgeschichte und der Moment von René Scheu Von Hans Ulrich Gumbrecht Natürlich geht jeder Text, den wir «Interview» nennen, auf ein Gespräch zurück – oder, um es genauer zu sagen, wir unterstellen, dass Interviews dies immer beanspruchen. Unter den Grundformen von Kommunikation standen Gespräche seit je hoch im Kurs – aus einer ganzen Reihe von Gründen. Sie gelten als offen, freundlich, demokratisch, besonders im Vergleich zu allen Formen monologischer Rede oder Schrift. Seit Platos sokratischen Dialogen werden Gespräche mit einem «mäeutisch» genannten Gestus der Vermittlung assoziiert, das bedeutet, mit einer Technik des Überzeugens, die Wahrheiten angeblich «wie eine Hebamme» aus dem Geist der Lernenden holt, statt sie ihnen aufzuerlegen. Daran ist die Hoffnung geknüpft, in Gesprächen intellektuell weiter zu gelangen als mit einsamer Konzentration. Denn in Gesprächen kann es zu Ereignissen kommen, also zu Einsichten, Entwicklungen oder manchmal auch Fehlern, die sich beileibe nicht ereignen mussten. Vor allem aber sollen sich in Gesprächen Wahrheiten zeigen, die ohne sie – also in monologischer Rede oder Schrift – unter den Wörtern ungesagt blieben. Zum bildungsgesättigten Loblied auf das Gespräch gehört eine Gegenbilanz, die fast ebenso regelmässig heraufbeschworen wird – und kaum weniger konventionell klingt: Gespräche, weiss man, können als durchtriebene Strategien wirken, um monologische Positionen ohne Widerstand zu etablieren; als Instrument eines pädagogisch guten Willens, der in Psychoterror umzukippen droht; als scheinbar bewegte Inszenierungsform intellektueller Stagnation; und als langfristiges – wenn 11

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nicht definitives – Versiegeln von Wahrheit unter einem Simulakrum ihrer Erscheinung. Mit der durch Jean Baudrillard und Jacques Derrida inspirierten Formel vom «Simulakrum einer Erscheinung der Wahrheit» nähere ich mich bewusst dem – mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden – Impulsmoment der Dekonstruktion als philosophischer Bewegung, nämlich Jacques Derridas Buch La Voix et le Phénomène von 1967, das damals der klassischen Kritik an der Aura des Gesprächs eine aufregende Aktualität und Prominenz gab. Eben mit der Inszenierung einer Gesprächssituation als angeblichem Ursprung von geschriebenen Texten, dies war Derridas These, habe Plato in seinen Dialogen den entscheidenden Schritt hin zur Präsenz-Metaphysik der europäischen Philosophie vollzogen und mithin zum Glauben an die Existenz einer einzigen, homogenen Wahrheit. Zu einer Art Sündenfall wurde dieser Schritt freilich erst, indem die Dekonstruktion der platonischen Priorität von Gespräch und Mündlichkeit die von Derrida (und bald auch von seinen damals zahllosen Anhängern) favorisierte Option einer Priorität der Schrift entgegensetzte. In ihr als Medium sollte jegliche Homogenität oder jeglicher Abschluss von Wahrheit den Status eines unendlichen «Aufschubs» annehmen, weil man ja jedem «letzten» Wort oder «letzten» Satz immer noch einen weiteren Satz oder ein weiteres Wort hinzufügen könne.1 Genau darauf bezogen sich allzu viele, allzu geistreiche Wortspiele mit dem aus dem französischen Verb «différer» («aufschieben») abgeleiteten Nomen «différance». Doch was für eine Verbindung zwischen Gespräch und Mündlichkeit einerseits und andererseits homogener Wahrheit und Präsenz-Metaphysik war dabei eigentlich unterstellt ? Wie sollte nach Derrida die platonische Vorstellung von einem Gespräch das in der Schrift sichtbar werdende Wahrheits-Aufschub-Prinzip un-

1  Es geht an dieser Stelle ausschliesslich um eine kompakte Beschreibung von Derridas These, nicht um die Frage, ob seine Beobachtung vom Kontrast zwischen der unendlichen Aufschiebbarkeit schriftlicher Texte und dem Schliessungsanspruch mündlicher Rede überzeugend ist.

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sichtbar machen ? Die Dekonstruktion setzte in diesem Zusammenhang – für mich plausiblerweise – auf den generellen Eindruck (eher als auf die Gewissheit), dass sich im Gespräch die Einheit und Ganzheit eines menschlichen Bewusstseins, also eines Subjekts, artikuliere. Denn wir setzen in einem Gespräch ja voraus, dass der andere für sein je­ weiliges Wissen steht, für seine Weltsicht, für seine Wahrheit – als das jeweils ganze Wissen, die ganze Weltsicht, die ganze Wahrheit eines Subjekts. Doch warum gehe ich zu den brillanten Interviews von René Scheu aus den letzten Jahren eigentlich über den Umweg der Dekonstruktion als einer fast schon fernen Vergangenheit ? Weil jedes Nachdenken über das Interview als besondere Form des Gesprächs, so meine Antwort, philosophisch naiv bleiben muss, wenn sie nicht die Prämisse beachtet, dass es sich unvermeidlich im Spannungsfeld zwischen dem klassischen Lob des Gesprächs und seiner ebenso klassischen Kritik vollzieht. Erst mit dieser Einsicht gewinnt man ein ironisch-distanziertes Verhältnis zu beiden Seiten der Debatte über das, was das «Gespräch» ist und sein sollte. Innerhalb des Spannungsfelds, also auch selbstironisch – und nun schon mit den Scheu-Interviews im Visier –, möchte ich nun die Ursprungskritik der Dekonstruktion am Gespräch ins Positive umkehren. Gerade weil wir uns heute – existenziell wie epistemologisch – in einer Situation grundlegender Unsicherheit wiederfinden, in einem Universum von Kontingenz und im permanenten Bewusstsein intellektueller Unabschliessbarkeit, sehnen wir uns – legitimerweise – nach der Geschlossenheit, Prägnanz und Authentizität von Subjekten (wir können sie auch weniger philosophisch «Gestalten» nennen). Die Interviews von René Scheu – das ist meine Sicht, die ich nun zum ersten Mal erwähne, um sie dann in der Komplexität ihrer verschiedenen Dimen­sionen zu begründen – kommen genau dieser Sehnsucht unserer Zeit nach greifbaren Gestalten entgegen, ohne ihre Leser in falschen Sicherheiten zu wiegen. Um ein elementares Funktionspotenzial der Rede geht es hier also – viel mehr als um spezifische Inhalte. Und so 13

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drängen die drei Worte «Hand aufs Herz», die Lieblingsformel von Scheu in seinen Interviews, auf Authentizität in der Selbstpräsentation von Gestalten, auf eine manchmal riskante, aber unnachgiebig geforderte und durchgehaltene Ehrlichkeit, die Geschlossenheit in Aussicht stellt. Noch einmal anders gesagt: Als Autor dieser Interviews produziert und präsentiert René Scheu oft Gestalten, die kohärent erscheinen und an denen man sich festhalten kann, ohne dass sie ihre Leser auf unklare metaphysische Voraussetzungen oder gar auf einen Konsens mit den Positionen jener Gestalten verpflichten. Ein solches Verständnis der Scheu-Interviews und ihrer Gesprächstechnik werde ich über die Skizze einer Gattungsgeschichte und dann über eine Analyse der Interviewtexte selbst zu entwickeln versuchen. Obwohl man erstaunlich wenige Vorarbeiten zur Gattungsgeschichte des Interviews findet, habe ich mich an eine solche Skizze gewagt, weil erst vor ihr als Hintergrund klar genug werden kann, von welcher historisch gewachsenen Konstellation meist wohl vorbewusster Erwartungen die Praxis von Scheu ausgehen musste – und mit jedem seiner Interviews weiterhin ausgeht. Und erst im Kontext dieser Konstellation gewinnen die Formen seiner Gespräche ihre jeweils spezifischen Funktionen, die dann in der Emergenz prägnanter Gestalten zusammen­ laufen. * Beim Versuch, aus der Perspektive von «Gattung» über den von René Scheu praktizierten Typ des Interviews nachzudenken und zu schreiben, bin ich auf zwei Probleme gestossen. Zum einen erfüllen die meist verschriftlichten Gespräche, die wir «Interviews» nennen, eine beträchtliche Vielfalt verschiedener Funktionen, etwa als Einstellungsgespräche («job interviews»), als sozialwissenschaftlich genormte Forschungsgespräche («research interviews») oder als im Feuilleton von Tageszeitungen veröffentlichte Gespräche. Den Feuilleton-Interviews, auf die wir uns konzentrieren, scheint es primär um das Gegenwärtigmachen (in 14

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ZWANZIG INTERVIEWS

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KULTURHELDEN DER GEGENWART

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3  Wolfgang Beltracchi: Künstler ohne Tabu Wolfgang Beltracchi lerne ich in einem Zürcher Wirtschaftsklub kennen, in dem ich ab und an Veranstaltungen moderiere. Der Präsident des Klubs ist zugleich sein Galerist. An diesem Abend ist Peter Sloterdijk eingeladen, ich soll die prophetischen Gaben des Meisterdenkers aktivieren und mit ihm über die Zukunft der Zukunft reden. Doch ich scheitere. Wir kommen kaum über die Renaissance hinaus, Sloterdijk hat sich auf die Zeitvorstellungen der alten Griechen eingeschossen. Beltracchi sitzt in der ersten Reihe, amüsiert sich offensichtlich bestens und zwinkert. Nach dem Gespräch kommt er auf mich zu, duzt mich, wie er dies mit allen tut, und will gleich alles Mögliche wissen über mich, das Thema des Abends, Sloterdijk, die Schweiz. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch und laufen uns auch noch in den nächsten Monaten bei unterschiedlichen Gelegenheiten immer wieder über den Weg. Bald merke ich, dass Wolfgang Beltracchis Leben filmreif ist: Über 40 Jahre hat er Bilder in der Handschrift vergangener Maler aus vier Jahrhunderten gemalt. An deren Echtheit wollten ausgewiesene Experten selbst dann noch glauben, als Beltracchi vor Gericht längst ge­ standen hatte, dass sie aus seinem Malatelier stammten. Zwei Dinge fand ich beeindruckend: Beltracchi hat nicht ein einziges Mal ein Bild kopiert, sondern hat stets mit grossem kunsthistorischem Wissen Gemälde geschaffen, die die berühmten Künstler hätten malen können, wenn sie in Topform gewesen wären. Er hatte also keine Werke, sondern Unterschriften gefälscht. Warum tat er das, da er doch selbst über eine eigene Genialität verfügt ? Darüber sprach Beltracchi mit mir in seltener Offenheit. Mein Ein73

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druck: Der Mann kennt kein Tabu, keine Furcht. Und immer war da dieser gelassene, gleichmässige Ton in seinen Ausführungen. Dabei war es nicht lange her, da sassen er und seine Frau in einem deutschen Gefängnis, um eine mehrjährige Haftstrafe wegen gewerbsmässigen Betrugs zu verbüssen. Er erzählte mir einmal, dass ihn die Hells Angels beschützten, die er im Gegenzug, gleichsam zum Dank, porträtierte. Als ich Beltracchi im Frühjahr 2018 um ein offizielles Interview bitte, ist er längst erfolgreich in einem neuen Leben als Künstler. Er hat Stars für 3sat vor laufender Kamera porträtiert (Harald Schmidt, Reinhold Messner oder Daniel Kehlmann), die Doku Die Kunst der Fälschung hat Kultstatus erreicht, seine eigenen Werke verkaufen sich wie frische Semmeln. Er lächelt mich an und meint: Klar, machen wir doch. Ich besuche Wolfgang und Helene Beltracchi Ende Juni in ihrem Atelier in Meggen am Vierwaldstättersee. Nach Kaffee und Gebäck gibt’s eine kleine Führung, und während wir durch den früheren Tanzsaal voller Staffeleien, Skulpturen, Skizzen, Bücher und Gemälde schlendern, beginnen wir ernsthaft zu sprechen.

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Wolfgang Beltracchi: «Schönheit ist in der heutigen Kunst das wahre Skandalon.»

Herr Beltracchi, wenn Sie auftreten oder ausstellen, kommen die Leute in Scharen. Dann fallen zuverlässig die Prädikate «Meister­ fälscher» oder «Jahrhundertfälscher». Welchen Klang haben diese Worte für Sie ? Ach. Hm. «Meister» ist schon mal nicht schlecht. (Überlegt.) Schauen Sie: Ich sehe mich als Malermeister, so verstehe ich mich wirklich, als ein Meister meines Fachs. Dass ich das Fach beherrsche, habe ich, wie ich meine, hinreichend bewiesen. Allein, Kunst ist mehr als malen – oder hat in Ihren Augen das 20. Jahrhundert nicht stattgefunden ? Doch, doch, da hat schon was stattgefunden. Und die Kunstgeschichte ist auch eins meiner Steckenpferde. Nur, ich gehöre nicht zu denen, die glauben, Kunst müsse hässlich und abstossend sein, damit sie sich als Kunst ausweise. Das würde ja bedeuten, dass schöne Kunst keine Kunst wäre. Diese Vorstellung halte ich sogar für komplett absurd. Selbstverständlich darf, ja soll Kunst auch schön sein. Ich sage das jetzt mal klipp und klar: Ich finde schöne Kunst am schönsten. Damit geben Sie sich als Kunst-Nostalgiker zu erkennen. Meinetwegen. Solche Schablonen perlen an mir ab. Es gibt an den Hoch­schulen der Künste Meisterklassen. Die Schüler, die das Studium abschliessen, sind Meisterschüler. Das hört sich gut an. Aber die Sub­ stanz hinter der Etikette hat sich längst verflüchtigt. Denn niemand ist heute mehr ein Meister – schon gar nicht an Hochschulen. Was folgt daraus ? Die Abgänger sind gar keine Meisterschüler, sie nennen sich nur so.

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Wie meinen Sie das genau ? Die Professoren kennen die Kunst des 20. Jahrhunderts, sie verstehen alles Mögliche von allem Möglichen. Sie sind Experten der Dialektik, philosophisch hochgebildet, eloquent. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur beherrschen sie ihr Fach nicht mehr, das Malen. Kunst ist für Sie also eine höhere Form des Handwerks ? Ohne Handwerk keine Kunst. Es hapert heute überall am Handwerklichen. Das sagen mir auch die Studenten, wenn sie mir traurig zu­rufen: «Herr Beltracchi, wir haben das Aktzeichnen nie gelernt, wir haben das anatomische Zeichnen nicht genug geübt.» Die Professoren tun so, als sei dieses Handwerk rückständig, Kunst von gestern. Sie tun so, als wollten sie das nicht. In Wahrheit jedoch können sie es einfach nicht. Sie sind ein lebender Anachronismus ! Stimmt haargenau. So ist es, ich bekenne mich zur klassischen Kunst. Sie meinen: zu einem genuinen Naturalismus ? Nennen Sie es, wie Sie es mögen. Es gibt jedenfalls eine Entsprechung von Bild und Gegenstand, und es ist das Können des Künstlers, das diese Entsprechung zu schaffen vermag. In 20, 30 Jahren ist das, was ich mache, nicht mehr ein Anachronismus, es wird bloss noch eine Reminiszenz sein. Aber das kümmert mich nicht im Geringsten. Naturalistische Kunst hat einen unbestreitbaren Vorteil: Sie lässt sich zeigen. Und damit lässt sie sich auch verkaufen. Installationskunst stellt kaum jemand freiwillig aus – das ist sozusagen reine ­Museumskunst, fürs Museum gemacht. Die Speicher der Museen sind vollgepfercht mit solchem Zeug, die wissen nicht mehr, wohin damit. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen, In­ stallations- und Videokunst faszinieren mich durchaus. Ich meine, das sind ja oftmals völlig verrückte Sachen. Traurig finde ich nur, dass das Handwerkliche darob vergessen geht und ausstirbt.

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Wenn ich mit meinen Kindern ins Kunsthaus gehe und die permanente Sammlung durchschreite, dann sind die Kleinen von allen möglichen Gemälden fasziniert. Die Epoche spielt keine Rolle, sie tauchen ein in ferne Welten. Alberto Giacometti geht auch noch, vor allem sein Hund gehört zum Pflichtprogramm. Neuerer Kunst hingegen begegnen sie mit Unverständnis. Sie werden unruhig und sagen: «Papa, hat hier jemand etwas liegen gelassen ?» Die Kunst wird in dem Moment eine Spezialität für Kunstexperten, in dem sie a) nicht mehr schön ist oder b) erklärungsbedürftig. Die Kunstlaien spielen das Spiel mit ? So sieht’s aus. Menschen wie Sie und ich verstehen Kunst schon lange nicht mehr. Keiner versteht’s. Die Museums- und Kunstmacher wollen auch gar nicht, dass der kommune Bürger das versteht. Denn da geht’s – nun kommt’s – um ein Herrschaftswissen, das nur wenigen vorbehalten ist. Und die Kinder wären also die Einzigen, die sagen: «Schau mal, Papa, der Kaiser ist nackt !» ? Natürlich. Denn wer outet sich schon gern als Kulturbanause ? Ich war schon ein paar Mal im Kunstmuseum in Barcelona, und noch jedes Mal habe ich eine Depression bekommen. Das Gebäude ist zwar wirklich toll, aber da geht keiner mehr rein. Du fühlst dich einsam in der Sammlung, und wenn du dann die ganzen Werke anschaust, stösst du auf eine Art künstlerische Daueranklage. Irgendwann geht’s dir einfach mies, da kannst du nichts machen. Und wer will sich schon dauernd mies fühlen ? Im Gegenzug rennen die Leute zu Hunderttausenden in die Ausstellungen mit Werken der alten Meister oder der klassischen Moderne. Das tun sie aus einem einfachen Grund: weil sie eben schön finden, was sie da sehen. Schönheit ist in der heutigen Kunst das wahre Skandalon. Schönheit aber liegt im Auge des Betrachters – und die Stan-

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Rice: 16  Condoleezza Eindrückliche Frau, zierlich und stark Condoleezza Rice geniesst mittlerweile einen hervorragenden Ruf bei fast allen Amerikanern – parteiübergreifend. Viele Wähler der Demokraten schätzen sie, weil sie finden, dass sie eine bessere Präsidentin wäre als Donald Trump. Und die meisten Republikaner lieben sie, weil sie eine Republikanerin mit Stil und Haltung ist. Es ist kein Leichtes, an sie heranzukommen. Wer es dennoch versuchen will, muss ins Silicon Valley pilgern. Rice lehrt wieder Politikwissenschaften an der Stanford University (und ist mittlerweile auch Direktorin der Hoover Institution on War, Revolution and Peace), seit ihre Amtszeit als amerikanische Aussenministerin 2009 in der Administration unter George W. Bush endete. Das tat sie auch vor ihrer politischen Karriere, als Professorin und Provost der Universität. Sie fühlt sich wohl im akademischen Umfeld, es ist eigentlich ihr natürliches Habitat. Ein gemeinsamer Freund und Professor in Stanford, der oft mit ihr die Heimspiele des Footballteams besucht, stellt den Kontakt zu ihr und ihrem Office her. Ich vereinbare einen Termin mit einer von Mrs Rice’ vielen Assistentinnen, die sie wie eine Festung umgeben. Eine halbe Stunde Gesprächszeit sei das Minimum, meine ich. Und ich bekomme genau und scharf kalkuliert: eine halbe Stunde. Die wird mir schriftlich zugesichert. Meine Frau begleitet mich, bewaffnet mit einem Fotoapparat. Wir werden in einen ziemlich anonymen Sitzungsraum der Hoover Institution geführt, der mit alten Möbeln und dunkelbrauner Tönung gute alte 1970er-Stimmung verströmt. Die Regale sind voller Fotos aus 257

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Condo­lezzas Zeit als Aussenministerin, die sie in Gesellschaft anderer Staatsminister zeigen. Sie erscheint auf die Minute genau zur vereinbarten Zeit in der Tür, lächelt und schafft sogleich eine Atmosphäre der Freundlichkeit, indem sie uns beide mit Vornamen anspricht. Was mir gleich auffällt: Sie sieht genau so aus wie auf den Fotos, zierlich und stark zugleich. Ich weiss noch heute, wie ich dachte: Diese Frau altert nicht. Condolezza Rice bestätigt, dass wir haargenau 30 Minuten zur Verfügung haben, dann steht der nächste Termin ausser Haus an. Sie hört sehr genau zu, wenn ich sie frage, sie antwortet leise, ruhig und präzise. Der Stil ist kalifornisch: hohe Intensität, betonte Freundlichkeit, grosse Coolness. Nach 30 Minuten deutet sie an, dass die Zeit um sei. Wir wollen uns schon verabschieden und erheben uns. Als ich ihre Hand schüttle, fragt sie, ob wir denn nicht ein Erinnerungsbild mit ihr schiessen möchten. Meine Frau zückt die Kamera. Wir machen ein paar Überminuten, sind in der Nachspielzeit. Condoleezza und ich stecken die Köpfe zusammen und lächeln in die Kamera. Smile !

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Condoleezza Rice: «Ich liebe Hegel.»

Frau Rice, Sie waren National Security Advisor, später Aussenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika unter George W. Bush. Kaum jemand dachte, dass Sie nach dieser politischen Karriere zurück nach Stanford kommen würden, wo Sie bereits viele Jahre zuvor als Associate Professor gelehrt hatten. Warum haben Sie es dennoch getan ? Ganz einfach: Ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen als eine solche Universität, um etwas zu bewegen. Da ist so viel Leidenschaft, Wissensdurst, Energie. Die klügsten jungen Köpfe und Menschen, die neues Wissen schaffen, kommen hier zusammen. Ich hegte nie den geringsten Zweifel, dass ich zurückkommen würde. Stanford ist bekannt dafür, über hervorragende Sportteams zu verfügen. Gehören Trainingskultur und Wettkampfdenken für Sie zwingend zu einer Spitzenuniversität ? Es bedarf einer energetischen, befruchtenden Umgebung. Exzellenz schafft Exzellenz, überall. Darum gehört für mich Sport dazu. Und dazu zähle ich auch die Musik. Sie finden hier in Stanford gute Musiker, die hart an sich arbeiten und zugleich unheimlich viel Freude an dem haben, was sie tun. Sie müssen es wissen: Sie wollten einst Konzertpianistin werden. Als Aussenministerin haben Sie einmal ein kleines Privatkonzert für die Queen gegeben. Ich war am Ende zu wenig gut ! Aber diese Idee gefällt mir: Sie haben talentierte Musiker, die – zum Beispiel – begabte Biologen werden. Zugleich befruchten sie den Chor auf dem Campus. Sie leisten einerseits ihren Beitrag zur Gemeinschaft und zeigen andererseits: Wenn du

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wirklich willst, kannst du es weit bringen in dem, was du anpackst. Natürlich können andere Leute diese Ambition auch ausnutzen, Trainer und Lehrer. An amerikanischen Universitäten ist es immer wieder zu Machtmissbrauch gekommen, wenn Studenten wie Söldner behandelt wurden. Dann funktioniert es nicht – es erfordert eine intakte zivile Campuskultur. Wann stehen Sie auf ? Ich habe festgestellt, dass die Leute hier in al­ ­ler Herrgottsfrühe joggen gehen und sich dafür ungewohnt früh ins Bett legen. Bereits um 21 Uhr leeren sich in Palo Alto die Restaurants. (Lacht.) So leben wir hier ! Ich stehe um 5 Uhr auf, beginne um 5.30 Uhr mit Sport, und um 21.30 Uhr liege ich im Bett. Als ich Aussenminis­ terin war, führte dieser Lebenswandel zu etlichen Problemen mit Kollegen. Manche Südeuropäer lieben es, spät zu essen – und dazu noch richtig üppig. Wenn sie die amerikanische Aussenministerin treffen wollten, mussten sie sich jedoch meinem Rhythmus anpassen – 19 Uhr Lokalzeit war für mich der spätestmögliche Dinnertermin. Sie sind aufgeschlossen gegenüber dem technologischen Wandel – das ist eine Haltung, die ich hier allenthalben beobachte. Pflegt Stanford ganz bewusst einen regen Austausch mit den Akteuren des Silicon Valley ? Stanford ist nicht nur geografisch, sondern auch mental mit dem Valley verbunden. Es ist eine junge Universität, 125 Jahre alt, und sie ist seit Beginn mit einer Kultur der Ambition und des Wagemuts verbunden. Stanford hat sich nie als Elfenbeinturm verstanden, sondern stets als Ort des Experimentierens und Problemlösens, frei nach dem Motto: Wenn du’s nicht schaffst, versuch’s wieder, bis du’s schaffst. Die Studenten wollen da draussen etwas verändern. Das haben die gleichnamigen Gründer von Hewlett & Packard in den 1930er-Jahren getan. Das haben auch die Gründer von Google getan. Larry Page und Sergey Brin sind hier in Stanford ihren Studien nachgegangen, als sie ihre Suchmaschine entwickelt haben.

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ZUM SCHLUSS: GESPRÄCH ÜBER INTERVIEWS

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Denkseele mit Oberarmmuskeln

Hans Ulrich Gumbrecht interviewt René Scheu Diese Sammlung von Interviews, die René Scheu geführt hat, mit einem René-Scheu-Interview abzuschliessen, das war eine von den (bei mir zu häufigen) geistreichen Ideen, die selten darüber hinauskommen, geistreich zu sein. In diesem Fall konnte zwar auf der einen Seite nichts wirklich schiefgehen bei einem Gespräch mit dem Interview­ profi; aber wie sollte ich Amateur auf der anderen Seite den Profi mit meinen Fragen überraschen ? Da steckte anscheinend nicht viel drin für uns, so wie bei den meisten geistreichen Einfällen. Trotzdem habe ich das Projekt nie aufgegeben. Denn seit schon sechs Jahren arbeite ich beinahe täglich mit René in transatlantischer Distanz zusammen, produktiv (wenigstens was die Quantität angeht), begeistert (auf meiner Seite jedenfalls), ohne viel darüber nachzudenken – und vor allem ohne irgendeine Verpflichtung. «Premium», sagt er, wenn wir einen neuen Plan mit Struktur haben, hält sich ohne Aufhebens an alle Termine und denkt an das nächste Projekt, bevor wir mit dem vorigen fertig sind. Um über Freundschaft nachzudenken und zu reden, haben wir keine Zeit. Das war auch so bei dem grossen Frank Schirrmacher von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den René aus rückblickender Ferne bewundert – obwohl Schirrmacher als einer galt, dessen Art nicht einmal seine Freunde mochten (ausser mir), während René nicht einmal von seinen Feinden innig gehasst wird. Was mir an ihm gefällt ? Die gut ausgebildeten Schultermuskeln überraschen bei jedem unserer Treffen – und die kleine Zahnlücke. Auch dass er zu den aussterbenden klassischen Liberalen gehört, die an allen anderen Positionen interes327

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siert sind (je verschiedener von der eigenen, desto besser), ohne je andere auf ihre Seite ziehen zu wollen (eine ganz andere Frage, ob ich selbst ein Liberaler bin). Und eben seine Premium-Intelligenz: transparent, ohne Anstrengung komplex, immer mit praktischem Bezug. Sehr eidgenössisch für mich Nicht-Schweizer. Dass mit René nichts schiefgehen könnte, redete ich mir jedes Mal ein, wenn ich an das Projekt des geistreichen Interviews dachte. Wir würden uns Ende Mai in Köln auf der Phil-Cologne eine Stunde Zeit nehmen. Dann kam Corona – und die Verpflichtung auf Gespräche mit Bildschirm statt echter Präsenz, die Verpflichtung auch auf die mir immer noch unheimliche Elektronik – nun als einem Dispositiv der Präsenzrettung, an dem nicht vorbeizukommen war. Ich bat meine jüngste Tochter (nach Geburtsdatum eine «digital native»), mir die Hand zu halten beim Aufzeichnen des Live-Gesprächs. Wer dann zur vereinbarten Zeit nicht auf dem Bildschirm erschien, war – Premium-­ René. Über keinen Kanal zu erreichen. Ob er einen Autounfall gehabt hatte auf dem Weg von Bern, wo er am Nachmittag bei einem dringenden Termin war, zu seinem Haus in Langnau ? Oder vielleicht doch noch das ganze Projekt abblasen wollte ? 16 Minuten nach dem Termin reagiert er endlich auf meine Anrufe. Er hat gedacht, wir treffen uns eine Stunde später – und für die Familie Abendessen gekocht. Kein Problem, sicher, wir haben immer noch genug Zeit für (und er immer noch Lust auf) das Gespräch. Fernanda, Renés Frau, hilft ihm mit einer Batterie (er lässt ein zusätzliches Aufnahmegerät laufen, für alle Fälle), und meine Tochter drückt auf die entsprechenden Laptoptasten. Nach ein paar Minuten ist die Aufregung vergessen, und bald zeigt sich Renés Denkseele.

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RS:  (Als Schulter und Hinterkopf sichtbar.) Fernanda, kannst du mir

eine kleine Batterie geben ? Ich will unser Gespräch für den Sepp Gumbrecht aufzeichnen. (Jetzt als Gesicht auf dem Bildschirm sprechend.) – Gleich bin ich voll konzentriert, hoffe ich jedenfalls. Zehn Sekunden noch …

HUG:  (Eine Minute später.) Also, jetzt – Hand aufs Herz, René: glaubst du, dass deine Interviews die besten sind, die man derzeit in Europa lesen kann ? Oder hältst du das für meine Freundschaftsmeinung ? RS:  (Lacht etwas gezwungen.) Hm, ich bin ja grundsätzlich bescheiden, das müssen wirklich andere beurteilen. Aber wenn ich von dem Zuspruch ausgehe, den ich bekomme, dann schliesse ich, dass meine Interviews gut sein müssen, weil eben viele Leute mit mir reden wollen – und nur wenige meine Anfragen ablehnen. Das ist sozusagen reine Empirie.

HUG:  Geschenkt. Natürlich müssen wir alle so tun, als ob wir bescheiden wären. Du beziehst dich auf einen empirischen Grund, um der Annahme beistimmen zu können, dass deine Gespräche gut sind. Geschickt gelöst. Aber willst du echt bescheiden sein – so wie alle anderen ? RS:  Wahrscheinlich bin ich nicht wirklich bescheiden – ich bin ja, wie du weisst, sehr ehrgeizig und ambitioniert. Es ist wohl eher so: Weil ich mir meiner Sache sicher bin, weil ich mit der Form des Interviews seit 20 Jahren experimentiere, weil ich deswegen die Gewissheit habe, selbst aus einem zähen Gespräch einen brauchbaren Text destillieren zu können, eben weil dies alles der Fall ist, kann ich mich auch mal zurücknehmen.

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QUELLENANGABE UND DANK Die Einleitung am Anfang und das Gespräch am Ende des Buchs sind Erstveröffentlichungen, die speziell für diese Publikation angefertigt wurden. Sie bilden die Klammer des publizistischen Projekts. Die weiteren in diesem Band enthaltenen Interviews sind bei unterschied­ lichen Gelegenheiten und in verschiedenen Kontexten zwischen 2018 und 2020 entstanden und in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen (die einzige Ausnahme bildet das Interview mit Xenia Tchoumitcheva, das im Dezember 2014 im Magazin Schweizer Monat angedruckt wurde). Sie wurden für diese Publikation sanft überarbeitet und, wo nötig, ­aktualisiert. Autor und Her­ausgeber danken den Verlagen für die Erlaubnis zum Wiederabdruck.

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BILDNACHWEISE Die Interviewten haben persönliche Fotografien eingesandt, die ihnen etwas bedeuten. Die Bilder zeigen sie in den unterschiedlichsten Kontexten –und geben zweifellos auch etwas von deren Denkseele preis, jedes auf seine Weise. Robert Hunger-Bühler, S. 116: © Elena Zaucke Peter Handke, S. 154: © Peter Lindenberg Mary Rorty, S. 200: © Sunny Scott Peter Thiel, S. 214: © Jens Schwarz/laif Stephen Pinker, S. 294: © Rose Lincoln/Harvard University Peter Sloterdijk, S. 308: © Giorgio von Arb Alle übrigen: zVg

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BIOGRAFISCHE ANGABEN

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DER AUTOR René Scheu, geboren 1974, ist Feuilletonchef der

Neuen Zürcher Zeitung. Er wurde mit einer ­Arbeit in zeitgenössischer Philosophie an der Universität Zürich promoviert, ist zudem Ita­ lianist und Herausgeber zahlreicher Bücher im Bereich der philosophischen Zeitdiagnostik. Von 2007 bis 2015 war er Herausgeber des liberalen Debattenmagazins Schweizer Monat.

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DER HERAUSGEBER Hans Ulrich Gumbrecht, geboren 1948, ist Albert

Gué­rard Professor Emeritus in Literature in Stanford und zählt zu den prägenden Intellektuellen der Gegenwart. Zuletzt sind von ihm die Bücher Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität (Klostermann, 2020), Brüchige Gegenwart (Reclam, 2019) und Weltgeist im Silicon Valley (NZZ Libro, 2018) erschienen.

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René Scheu (*1974) ist promovierter Philosoph und Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung. Hans Ulrich Gumbrecht (*1948) ist Albert Guérard Professor Emeritus in Literature in Stanford und zählt zu den prägenden Intellektuellen der Gegenwart.

«René Scheu mag gegen den Zeitgeist halten, aber vor allem verhilft er einem bestimmten Zeitgeist zu seinem konkreten Portrait. Deshalb kann man sich an seinen Gesprächen erfreuen, ohne mit ihm einverstanden zu sein.»

Gespräch und Gegenwart Reden über (und gegen) den Zeitgeist

Der NZZ-Feuilletonchef René Scheu führt fürs Leben gerne Interviews mit Protagonisten aus Kultur, Politik und Gesellschaft. Für Scheu stellt der Dialog in Echtzeit ein Gegen­ gewicht zur Social-Media-Beliebigkeit dar. Alle schreien, viele schweigen, die wenigsten sprechen miteinander. Das ist der Befund, der für das Zeitalter der sozialen Medien gilt. Doch gerade im digitalen Zeitalter sind Gespräche notwendiger (und wichtiger) denn je. Sie finden von Angesicht zu Angesicht statt, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum, hier und jetzt. Im Gespräch entwickelt sich zwischen zwei Menschen eine intellektuelle Intensität und Dynamik, die im besten Fall über das bisher von ihnen Gedachte und Gewusste hinausweist. Was so entsteht, ist für sie – und für die Leser – ein Denk- und Sprach­ abenteuer. René Scheu präsentiert im Band seine besten Gespräche mit unterschiedlichen Protagonisten des Zeitgeschehens. 20 Interviews mit: Wolfgang Beltracchi, Russell Berman, Markus Gabriel, Sam Ginn, Niall Ferguson, Jonathan Franzen, Francis Fukuyama, Peter Handke, Robert Harrison, R ­ obert Hunger-Bühler, Daniel Kehlmann, Peter Maffay, ­Steven Pinker, Condoleezza Rice, Mary Rorty, Peter Sloterdijk, Xenia Tchoumitcheva, Peter Thiel, Mario Vargas Llosa und Zucchero.

René Scheu

Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Ulrich Gumbrecht, Albert Guérard Professor in Literature, Emeritus, Stanford University

Gespräch und Gegenwart

René Scheu

Herausgegeben und mit einem Essay über die Gattungs­ geschichte des Interviews von Hans Ulrich Gumbrecht, ­Professor an der Stanford University.

ISBN 978-3-907291-02-3

www.nzz-libro.ch UG_Scheu_Gespraeche-Gegenwart_Klappenbroschur_04_CMYK_HI-RES.indd 1

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