Kurt Schilknecht: Wohlstand - kein Zufall

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort  9 1

Der Mensch im Zentrum  13

1.1 Wie rational ist der Mensch?  15

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Braucht die Wirtschaft Gesetze und Regulierungen?  21

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Gütermärkte – vom Marktplatz zum Internet  32

3.1 Staatliche Eingriffe ins Marktgeschehen  34 3.2 Die Rolle der Preise  39

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Das Geld  42

4.1 Vom Tauschhandel zum Notengeld  42

4.2 Die Aufgaben einer Notenbank  46

4.3 Inflation – ein monetäres Problem  49 4.4 Warum Preisstabilität?  52

4.5 Rationale Erwartungen und deren Implikationen

4.6 4.7 4.8 4.9

4.10

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für die Geldpolitik  57 Die Geldpolitik in der Praxis  59 Wie wirkt die Geldpolitik?  63 Geldpolitische Strategien  66 Die Geldpolitik der Schweiz unter dem System flexibler Wechselkurse  73 Wechselkurs und Geldpolitik  75

Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen  84

5.1 Voraussetzungen für eine industrielle Produktion  84 5.2 Was und wie soll produziert werden?  87

5.3 Die Unternehmen als Zentrum der Produktion  89

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5.4 Die Bedeutung institutioneller und organisatorischer

Strukturen für den Produktivitätsfortschritt  94 5.5 Die Bedeutung des Humankapitals  102 5.6 Das Ziel eines Unternehmens  112 5.7 Die Gewinnmaximierung  118

6

Der Arbeitsmarkt  122

6.1 Das Arbeitsangebot  124

6.2 Die Arbeitsnachfrage  129 6.3 Die Arbeitslosigkeit  131

6.4 Die Suchprozesse auf dem Arbeitsmarkt  133 6.5 Die Löhne  136

7

Banken und Finanzmärkte  143

7.1 Der volkswirtschaftliche Beitrag der Banken  146

7.2 Die Banken als Schnittstelle zwischen Ersparnissen

und Krediten  148

7.3 Die Rolle der Banken bei der Verteilung von

Risiken  151 7.4 Die Revolution auf den Finanzmärkten  158 7.5 Exkurs: Die Bewertung von Aktiva und deren Auswirkungen auf die Vermögensverteilung  170 8

Steuern und Fiskalpolitik  176 8.1 Steuern  176

8.2 Die Besteuerung der Einkommen  181

8.3 Die Besteuerung der privaten Ersparnisse  184

8.4 Vermögens-, Erbschafts- und Schenkungssteuern  187 8.5 Indirekte Steuern  191

8.6 Die Besteuerung der Unternehmensgewinne  195

9

Fiskalpolitik  198

9.1 Sind steigende Steuern und Staatsausgaben eine Einbahnstrasse?  198 9.2 Die Bedeutung des Steuerwettbewerbs  204 9.3 Öffentliche Schulden, Krisen und Finanzpolitik  211 6  Inhaltsverzeichnis

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10 Die Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts  228 10.1 Kapitalismus am Ende?  228 10.2 Die Bankenkrise  231 10.3 Die Eurokrise  241

10.4 Die Schuldenkrise  247

11 Wie geht es weiter?  249

11.1 Lösungsansätze für ein stabileres Bankensystem  249 11.2 Schulden- und Eurokrise: Keine Lösung in Sicht  258

12 Schlussbetrachtungen  264 Anhang Literaturverzeichnis 273

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Vorwort

Als ich vor mehr als 50 Jahren an der Universität Zürich Nationalökonomie zu studieren begann, empfahl mir mein späterer Doktorvater, Friedrich A. Lutz, das Buch Nationalökonomie heute von Erich Preiser (vgl. dazu: Preiser, 1959). Das Buch war die Zusammenfassung einer zehnteiligen Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks. Erich Preiser führte in einfacher Sprache in das ökonomische Denken ein. Das Buch war der Startschuss für meine nie nachlassende Be­ geisterung für Nationalökonomie. Es dauerte noch einige Jahre, bis ich meinen ersten Beitrag zur wirtschaftspolitischen Diskussion in der Schweiz leisten konnte. Nach meiner Rückkehr von der OECD in Paris erhielt ich von Hans Würgler vom Institut für Wirtschaftsforschung an der ETH Zürich folgenden Auftrag: Im Zusammenhang mit der Einführung eines Konjunkturartikels in der Bundesverfassung sollte ich ein Grundlagenpapier für die Kommission für Konjunkturfragen schreiben. Ich versuchte, meine bei der OECD gewonnenen ökonometrischen Kenntnisse an den Mann zu bringen. Nach einigen Sitzungen kam die Kommission zu dem Schluss, dass mein Bericht zu technisch und für die wirtschaftspolitische Diskussion ungeeignet sei. Der Bericht wurde in den kaum je gelesenen Anhang (vgl. dazu: Schiltknecht, 1971) verbannt. Ich begriff, dass man in der wirtschaftspolitischen Diskussion nur dann gehört wird, wenn man die Zusammenhänge in einfacher Sprache formuliert. Diese Erkenntnis konnte ich kurze Zeit später bei der Schweizerischen Nationalbank nutzen. Als ich 1974 mit Alexander Galli ein geldpolitisches Konzept für die Schweiz entwickelte, verbannten wir alle Formeln und ökonometrischen Resultate des Berichts in den Anhang und begnügten uns mit der verbalen Beschreibung des Vorschlags. Wir vermieden weitestgehend den Fachjargon. Der Bericht hatte Erfolg. Die Vorschläge fanden die Zustimmung des Direktoriums. Nun sollte das geldpolitische Konzept einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht werden. Zu diesem Zweck musste ich Vorträge und Artikel für das DirekVorwort  9

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torium und für mich selbst schreiben. In Interviews und Podiums­­dis­ kussionen lernte ich, welche Formulierungen verstanden werden und welche Aussagen überzeugen. Leser, Zuhörer und Studenten sind gute Lehrmeister für verständliches Reden und Schreiben. Während meiner Zeit bei der Nationalbank begann ich Kolumnen zu schreiben. In den letzten 40 Jahren beschäftigte mich immer wieder die Frage, welchen Beitrag die Wirtschaftspolitik zur Schaffung von Wachstum und Wohlstand leisten kann. Aufgrund meiner Forschungsarbeiten und meiner praktischen Erfahrungen änderte sich im Lauf der Zeit meine Meinung. Ich war immer weniger überzeugt, dass mit einer aktivistischen Wirtschafts- und Geldpolitik das Wirtschaftswachstum stabilisiert und auf hohem Kurs gehalten werden kann. Heute bin ich der Ansicht, dass die Wirtschafts- und Geldpolitik für den Wohlstand eines Lands den grössten Beitrag mit der Schaffung stabiler und berechenbarer Rahmenbedingungen leisten kann. Wie diese gestaltet sein sollten, ist eines der zentralen Themen in diesem Buch. Die Reaktionen auf meine Kolumnen haben mir gezeigt, dass Interesse an ökonomischen Zusammenhängen und deren Implikationen für die Wirtschaftspolitik besteht. Dies hat mich bewogen, ein Lesebuch über die Nationalökonomie im Allgemeinen und die Schaffung von Wohlstand im Speziellen zu schreiben. Darin haben sich meine Erfahrungen in der Forschung, bei der Nationalbank, in ­ver­schiedenen Unternehmen und aus meiner 40-jährigen nebenamt­ lichen Lehr­tätig­keit an den Universitäten Basel und Zürich sowie an der Kaderschule Zürich niedergeschlagen. Die ökonomische Forschung hat seit meinem Studium grosse Fortschritte gemacht. Einerseits wurde die Wirtschaftsstatistik stark ausgebaut. Andererseits ermöglichte die Verbesserung der Computer und der statistischen Theorie eine bessere Auswertung der Daten und die Falsifizierung von verschiedenen ökonomischen Theorien. Dieses Lesebuch ist kein Lehrbuch. Es verzichtet auf Formeln und lange theoretische Abhandlungen. Man kann das Buch als Ganzes oder auch kapitelweise lesen. Beim Schreiben habe ich davon profitiert, dass es seit einigen Jahren im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum Fachzeitschriften gibt, die in leicht verständlicher 10  Vorwort

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Sprache Artikel über wichtige wirtschaftspolitische Fragen veröffentli­ chen und den Zugang zur wissenschaftlichen Literatur verein­fachen.1 Die Ökonomie ist keine abgeschlossene Wissenschaft. Sie wird sich weiterentwickeln. Aus dem Zusammenspiel von Theorie und Empirie werden immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen. Doch bereits heute hat sich ein Wissen akkumuliert, das in der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik nutzbringend angewandt werden kann. Je besser die Bürger und Politiker die Zusammenhänge verstehen, desto besser stehen die Chancen für gute wirtschaftspolitische Entscheidungen. Ziel dieses Buchs ist es, einen Beitrag für ein vertieftes Verständnis der Wirtschaft und bessere Entscheidungen zu leisten. Ich möchte an dieser Stelle meiner Frau Estelle, die in den letzten 40 Jahren als Literatur- und Kunstinteressierte alle meine Artikel, Vorträge und Bücher auf deren Verständlichkeit überprüft und redigiert hat, ebenso herzlich danken wie Rosmarie Ebner, die diese Aufgabe bei diesem Buch mit übernommen hat.

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Hervorzuheben sind insbesondere die beiden Zeitschriften der American Economic Association Journal of Economic Perspectives und Journal of Economic Literature sowie die Zeitschrift des Vereins für Socialpolitik: Perspektiven der Wirtschaftspolitik.

Vorwort  11

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5  Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen

5.1  Voraussetzungen für eine industrielle Produktion

Die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen in einer industrialisierten Gesellschaft erfordern Arbeitskräfte und Kapital zum Bau von Fabriken und Maschinen, die Bereitstellung einer Infrastruktur und eine gute Rechtsordnung. Je besser die Arbeitskräfte ausgebildet und je grösser deren Innovationskraft und Leistungsbereitschaft sind, desto besser sind die Voraussetzungen für eine hohe Wertschöpfung. Eine Wirtschaft, in der es an gut ausgebildeten Arbeitskräften und an einem wachsenden Kapitalstock fehlt, kann nicht nachhaltig wachsen. Damit der Kapitalstock ausgebaut werden kann, muss ein Teil der von der Wirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen für dessen Erhalt und Ausbau verwendet werden. In den frühen Phasen der Zivilisation, als die Menschen weitgehend Selbstversorger waren und ihre Aktivitäten in erster Linie auf die Landwirtschaft, das Jagen, Fischen und Sammeln ausrichteten, wurde der grösste Teil der Produktion konsumiert. Ausnahmen waren der Bau von Hütten und Schiffen, das Herstellen von Jagdge­ räten, Werkzeugen oder Kleidern. Ökonomen bezeichnen den nicht konsumierten Teil der Produktion als Ersparnis. Ein nicht konsumierter Apfel, der verfault, wird, weil er wertlos ist, nicht zu den Ersparnissen gerechnet. Nicht konsumierte Güter haben nur dann einen Wert, wenn sie später wirtschaftlich genutzt werden können. Im ökonomischen Jargon werden diese Güter als Investitionen (Bau-, Ausrüstungs- oder Lagerinvestitionen) bezeichnet. Zu den Investitionen werden neu geschaffene Maschinen, Fabrikgebäude, Häuser, Strassen und Transportmittel, aber auch noch nicht verkaufte Güter (Lager­ investitionen) gezählt. Eigentlich müssten auch die Aufwendungen für die Ausbildung der Menschen zu den Investitionen gerechnet werden, da sie den Wert des menschlichen Kapitals mehren. Das Gleiche gilt für die Ausgaben in Forschung und Entwicklung. Da die 84  Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen

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monetäre Bewertung von erworbenem Wissen oder von Forschungsergebnissen schwierig ist, werden die für die Ausbildung oder Forschung ausgegebenen Kosten selten zu den Investitionen gerechnet. Das impliziert aber nicht, dass dem Aspekt des menschlichen Kapitals oder den Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in der Wirtschaftspolitik keine Bedeutung geschenkt werden sollte. In einer Wirtschaft, in der alle produzierten Güter und Dienstleistungen konsumiert werden, d. h. in der nicht gespart wird, wird kein neues Kapital gebildet. Der Kapitalstock stagniert und wird mit der Zeit aufgezehrt. Die Maschinen veralten, und die Gebäude zer­ fallen. Als Folge davon geht die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zurück. Die Wirtschaft und der Wohlstand schrumpfen. Das Sparen und das Investieren sind zentrale Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und eine kontinuierliche Verbesserung des Wohlstands. Die Wirtschaftspolitik sollte deshalb diesen beiden Faktoren besondere Beachtung schenken und dafür sorgen, dass das Sparen und das Investieren in produktive Anlagen attraktiv werden. Für eine erfolgreiche Produktion reicht dies noch nicht aus. Dafür müssen auch andere Bedingungen, beispielsweise eine gute Ausbildung der Arbeitskräfte, die Schaffung einer zweckmässigen Infrastruktur und eine zweckmässige Organisation der Produktion und der Wirtschaft, erfüllt sein (vgl. dazu: Sala-i-Martin et al., 2004: 813 ff., und Hall/Jones, 1999: 83 ff.). Im Lauf der letzten 200 Jahre ist im Zusammenhang mit der Industrialisierung ein riesiger Kapitalstock geschaffen worden. Ohne diesen wäre der heutige Wohlstand in der Welt undenkbar. Der Kapitalstock ist inzwischen so gross geworden, dass auch ohne einen weiteren Ausbau ein relativ hohes Produktionsniveau noch lange Zeit gehalten werden könnte. Deshalb unterschätzen viele die Folgen eines ungenügend wachsenden Kapitalstocks. Die Wettbewerbsfähigkeit sowie die Effizienz der Wirtschaft und damit auch der Wohlstand der Bürger nehmen nicht von einem Tag auf den anderen ab. Wenn die Erneuerung von Gebäuden, Strassen oder Transportmitteln um einige Jahre hinausgeschoben wird, scheint das anfänglich unproblematisch zu sein. Bis Wohnliegenschaften wegen mangelnder Renovationen zusammenbrechen und kaum mehr bewohnbar sind, dauert Voraussetzungen für eine industrielle Produktion  85

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es zwei bis drei Generationen. Viele Produkte können auch mit alten Maschinen hergestellt werden. Doch an einem Kapitalstock, der nicht laufend unterhalten und erneuert wird, nagt der Zahn der Zeit. Die als Folge von zu geringem Sparen und Investieren ausgelösten Zerfallsprozesse konnten und können in kommunistischen und diktatorisch regierten Ländern beobachtet werden. Etwas weniger dramatisch verläuft die Entwicklung in Ländern mit hohen Steuern oder ungenügenden Eigentumsrechten. Doch auch in diesen Ländern sind die Anreize zur Bildung eines hohen Kapitalstocks gering. Eine Wirtschaft, in der die Anreize für den Auf- und Ausbau des Kapitalstocks fehlen oder zu gering sind, erleidet langfristig Schiffbruch. Dennoch kümmern sich die Politiker vor dem Hintergrund des heutigen Wohlstands immer weniger um die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für den weiteren Ausbau des Kapitalstocks. Viele glauben, dass das Wirtschaftswachstum eine Art Perpetuum mobile sei. Wer sich für die Vermehrung des Kapitalstocks und für dessen Eigentümer stark macht, wird verdächtigt, im Sold der Kapi­ talisten zu stehen. Für die Politiker zahlt es sich mehr aus, wenn sie das Augenmerk auf den Ausbau des Sozialstaats und auf die Umverteilung der Vermögen und Einkommen richten. Die Verschiebung der politischen Prioritäten und die damit einhergehenden Massnahmen im Bereich der Steuern haben in vielen Ländern die Attraktivität des Sparens und des Investierens verringert. Als Folge hat sich das langfristige Wachstum verlangsamt, und die Arbeitslosigkeit hat zugenommen. Wenn die Wirtschaft nicht oder nur wenig investiert, werden weder neue Arbeitsplätze geschaffen noch bleiben alle alten erhalten. Die Tatsache, dass zu Beginn der 2010er-Jahre in den westlichen Industrieländern trotz der Geldschwemme und der extrem niedrigen Zinsen keine Belebung der Investitionstätigkeit einsetzte, ist ein Indiz für schlechtere Rahmenbedingungen. Für die Zurückhaltung bei den Investitionen gibt es verschiedene Gründe. Regelmässige Androhungen oder Ankündigungen von Steuererhöhungen oder die exorbitanten Staatsschulden wirken abschreckend. Wenn Unternehmen davon ausgehen müssen, dass sie immer grössere Teile ihrer Gewinne dem Staat abliefern müssen, werden sie sich zweimal überlegen, ob 86  Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen

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sie die mit Investitionen verbundenen Risiken eingehen wollen. Unternehmen können ihre Tätigkeit auch in steuergünstige Regionen verlagern. Unternehmen können nur planen, wenn sie die Richtung kennen, in die der wirtschaftspolitische Zug fährt. Es ist kein Zufall, dass Länder mit stabilen politischen Strukturen wirtschaftlich zu den erfolgreichsten zählen. Falsch ist auch die vom US-amerikanischen Federal Reserve Board oder von der Europäischen Zentralbank in der jüngsten Wirtschaftskrise zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, dass eine über­mässi­ge Ausweitung der Geldmenge der Wirtschaft mehr Sicherheit gäbe. Das Gegenteil trifft zu. Zu viel Geld schafft vor allem Unsicherheit über die künftige monetäre Entwicklung. Die Frage, ob eine Notenbank die in den Markt gepumpte Liquidität rechtzeitig wieder abbaut, lässt sich nicht beantworten. Ebenso wenig lässt sich abschätzen, ob eine Geldschwemme in eine Inflation und damit in einen Zins­anstieg mündet. Höhere Zinsen wären für die überschuldeten Länder Gift. Solange solche Unsicherheiten nicht ausgeräumt werden, bleibt die Wirkung einer sehr expansiven Geldpolitik auf die Realwirtschaft gering. Wenn einzelne Exponenten von Notenbanken glauben, die geringe Wirkung mit einer noch stärkeren Ausweitung der Geldmenge korrigieren zu können, befinden sie sich erst recht auf dem Holzweg.

5.2  Was und wie soll produziert werden?

Eine gute Infrastruktur, gut qualifizierte Arbeitskräfte und eine hohe Sparquote sind unbestreitbar zentrale Voraussetzungen für eine effiziente Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Die Frage, was und wie produziert werden soll, ist damit jedoch nicht beantwortet. Wer soll darüber entscheiden: die Regierungen, die Politiker oder die Märkte? Auf freien Märkten können die Menschen ihre Bedürfnisse, Ideen und Wünsche zum Ausdruck bringen. Dies gibt den Produzenten Hinweise, welche Produkte und Dienstleistungen gewünscht wer­den. Eine freie Interaktion zwischen den Nachfragenden und den Anbietern bedeutet nicht, dass es auf einzelnen Märkten oder bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht zu Fehlentwicklungen kommen kann. Die auf dem Markt vorhandenen InformatioWas und wie soll produziert werden?  87

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10  Die Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts 10.1  Kapitalismus am Ende?

Die Ökonomen verstehen das wirtschaftliche Geschehen immer besser. Sie können es auf einzelnen Märkten oder in der gesamten Volkswirtschaft meist gut erklären. Doch nach wie vor gibt es Bereiche, in denen sich die Ökonomen uneinig sind. Vor allem die Wirtschafts­ krisen des 21. Jahrhunderts haben die Diskussion über die Rolle des Staats und die Organisation der Wirtschaft neu entfacht. Die Meinungsdifferenzen haben ihre Ursache in unterschiedlichen Auffassungen über das Funktionieren der Märkte und des Kapitalismus. Wer überzeugt ist, dass der Kapitalismus und die freien Märkte einen grösseren Wohlstand schaffen, tritt für eine marktwirtschaftliche und kapitalistische Organisation der Wirtschaft ein. Für Allan H. Meltzer ist der Kapitalismus das einzige System, mit dem sowohl ein hohes Wirtschaftswachstum als auch eine grosse individuelle Freiheit erreicht werden kann (vgl. dazu: Meltzer, 2011). Alle anderen Systeme, ob Sozialismus, Kommunismus, Faschismus oder konservative Religionen mit ihren glückselig machenden Utopien, sind bis heute gescheitert. In vielen Fällen wurden die nicht realisierbaren Utopien mit brutaler Gewalt zu implementieren versucht. Die Anhänger des Kapitalismus bestreiten nicht, dass es in einem kapitalistischen System wegen der ungleich verteilten Fähigkeiten zu einer ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung kommt. Fehlentwicklungen, vorübergehende Krisen und Arbeitslosigkeit sowie soziale Probleme sind inhärente Bestandteile eines kapitalistischen Systems. Bereits in den Anfängen des Kapitalismus haben die marktwirtschaftlichen Ökonomen erkannt, dass die Lösung der im Kapitalismus auftretenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme kollektive Massnahmen erfordert. In einer demokratisch organisierten Gesellschaft haben die Bürger die Möglichkeit, mit ihrem Stimmrecht direkt oder indirekt bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme 228  Die Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts

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mitzuwirken. Sie können in die Einkommens- und Vermögensverteilung eingreifen oder Regulierungen zur Vermeidung oder Lösung gesellschaftlicher Konflikte erlassen. Trotzdem ist es nicht möglich, alle zufriedenzustellen. Kollektive Eingriffe können nicht nur Pro­ bleme lösen, sie können auch Fehlentwicklungen verursachen. Letztlich müssen die Bürger aufgrund der mit Umverteilungsmassnahmen und mit Regulierungen gemachten Erfahrungen entscheiden, in welchem Ausmass der Staat in den Wirtschaftsprozess eingreifen soll. Dies ist ein permanenter und manchmal langwieriger Lernprozess. Volkswirtschaften, in denen die Bürger dem Staat immer grössere Befugnisse bei der Zuteilung der verfügbaren Produktionsmittel oder zur Konfiskation grösserer Teile der Vermögen gewährten, haben früher oder später Schiffbruch erlitten. Im Gegensatz zu den anderen Systemen steht beim Kapitalismus nicht das Kollektiv, sondern das Individuum im Zentrum. Da dieses nicht vollkommen ist, kommt es immer wieder zu Fehlentwicklungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft. In einem freiheitlichen und kapitalistischen System können die Menschen jedoch auf die Fehler reagieren und sie beheben. Die Kritiker eines kapitalistischen marktwirtschaftlichen Systems weisen mit Vorliebe auf die Fehlentwicklungen hin. Sie nehmen diese als Argument für mehr Regulierungen und ein stärkeres Eingreifen des Staats. Dabei wird a priori davon ausgegangen, dass der Staat und seine Bürokratie die Fehler besser als der Markt vermeiden oder beheben können. Plausible Argumente für oder gegen den Kapitalismus lassen sich immer finden. Eine Antwort auf die Frage, welches System zu besseren wirtschaftlichen Ergebnissen führt, kann nur mithilfe der empi­ rischen Forschung gegeben werden. Denn nicht jede vernünftig erscheinende Erklärung ökonomischer Zusammenhänge muss zwangsläufig richtig sein. Die letzten 200 Jahre haben klar gezeigt, dass Kommunismus, Faschismus und Sozialismus keine ernst zu nehmenden Alternativen zu Marktwirtschaft und Kapitalismus sind. Die Experimente mit dem Kommunismus in Russland, China, Osteuropa, Vietnam, Kambodscha, Nordkorea oder Kuba sind ebenso gescheitert wie die sozialistischen Versuche in Chile, Venezuela oder anderen Kapitalismus am Ende?  229

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südamerikanischen Ländern. Einen eindrücklichen Beweis für die Überlegenheit des Kapitalismus zeigen die Erfahrungen, die die Länder mit einer marktwirtschaftlichen Politik zwischen 1970 und 2005 gemacht haben. Andrei Shleifer bezeichnet diese Periode als «the Age of Milton Friedman» (vgl. dazu: Shleifer, 2009). Für Shleifer ist der weltweite Anstieg des Lebensstandards und der Lebenserwartung, die bessere Ausbildung und die demokratischeren Systeme sowie der Rückgang der Armut vor allem auf die Ausbreitung und Verbesserung der freien Marktwirtschaft zurückzuführen. Einen wichtigen Beitrag dazu hat die Liberalisierung des Welthandels und des Kapitalverkehrs geleistet. Mit dem Ausbruch der Banken-, Euro- und Schuldenkrise Anfang des 21. Jahrhunderts erhielten die Kapitalismuskritiker wieder Aufwind. Für diese und grosse Teile der Medien dokumentieren die Krisen das Versagen des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft. Die Kritiker der freien Marktwirtschaft lieben es, aus einzelnen Er­eignissen generelle Schlussfolgerungen abzuleiten. Beispielsweise dient Malaysia, das bei der Asienkrise im Jahr 1998 den freien Kapital­verkehr aufhob und ein Jahr später wieder ein positives Wirtschaftswachstum aufwies, noch heute als Argument gegen einen freien Kapital­verkehr. Dass Südkorea während der Asienkrise am freien Kapitalverkehr festgehalten und die Wirtschaftskrise noch schneller als Malaysia überwunden hat, wird nicht zur Kenntnis genommen. Als Beweis für die Unfähigkeit der Ökonomen, wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, werden häufig die Fehlprognosen her­angezogen. Es gibt gute Gründe, weshalb die Qualität der Erklärungen in der vergangenen Entwicklung viel besser als diejenige der Prognosen ist. Bei der Erklärung vergangener Ereignisse sind die Rahmenbedingungen bekannt, unter denen die Wirtschaftsakteure ihre Entscheidungen getroffen haben. Beim Erstellen von Wirtschafts­ prognosen kennt man diese nicht. Notenbanken oder Regierungen können völlig unerwartet ihre Politik ändern. Auch können neue Gesetze und Vorschriften eingeführt werden. Solche Ereignisse können die künftige Wirtschaftsentwicklung nachhaltig beeinflussen. Das Gleiche gilt für unerwartete Ereignisse wie Kriege, Erbeben oder an230  Die Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts

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dere Naturkatastrophen. Die Folgen des 11. September 2001 auf die Börse und die Wirtschaft sind noch in bester Erinnerung. Die Ökonomen wissen, dass unerwartete Ereignisse und Änderungen der Rahmenbedingungen ihre Prognosen schlecht aussehen lassen können. Dennoch bleibt beim Prognostizieren keine andere Wahl, als von bestimmten Rahmenbedingungen auszugehen. Stellen sich Prognosen als falsch heraus, muss überprüft werden, ob die zur Prognose verwendeten Modelle bzw. die unterstellten Rahmenbedingungen fehlerhaft waren. Prognosen sind der eigentliche Test der ökonomischen Modelle und Hypothesen. Ökonomische Theorien, die weder zur Erklärung des langfristigen Wirtschaftsgeschehens noch zur Prognose taugen, dürfen nicht zur Rechtfertigung wirtschaftspolitischer Massnahmen herangezogen werden. Dieser Erkenntnis wird häufig nicht Rechnung getragen. So werden ohne fundierte Analysen Fehlentwicklungen vorschnell einzelnen Marktteilnehmern, am liebsten den sogenannten Spekulanten oder Banken, in die Schuhe geschoben. Dies war auch bei der Banken-, Euro- und Schuldenkrise nicht anders.

10.2  Die Bankenkrise

Wenn die Wirtschaftsprobleme aus dem Ruder laufen und eine Krise der nächsten die Türklinke in die Hand gibt, haben Schwarzmaler, Sys­temkritiker und Politiker Hochkonjunktur. Die Medien räumen den Weltuntergangszenarien viel Platz ein, und die Autoren erfreuen sich grosser Popu­larität und hoher Honorare. Die Zahl derer, die nach der Banken-, Euro- und Schuldenkrise am marktwirtschaftlich-kapitalistischen Sys­tem zu zweifeln begannen, dessen Ende voraussagten und eine neue Weltordnung einläuten wollten, war gross. Die Politiker versuchten mit hektischen Aktivitäten, sich als Krisenmanager und Führungspersönlichkeiten aufzuspielen. Mit noch mehr Regu­ lierungen und umfassenderen Kontrollen wollen sie für eine grössere Stabilität in der Wirtschaft sorgen. Statt in der Wirtschaftspolitik das Rad wieder neu zu erfinden und das Regulierungsnetz noch enger zu stricken, würde es mehr Sinn machen, die Banken-, Euro- und Schuldenkrise zu analysieren, diese mit früheren Krisen zu vergleichen und Die Bankenkrise  231

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