Schoettli: Die neuen Asiaten. Ein Generationenwechsel und seine Folgen.

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Inhalt   11

Vorwort

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Einleitung

17 19 22 29 32 35 38 42 45 51 58

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China Chinas verlorenes Jahrhundert Geschichtsklitterung und Propaganda Patriotismus und Nationalismus «Reich zu werden ist wunderbar!» Der Aufstieg der Mittelschichten Die Rückkehr des Privateigentums Neues Rechtsbewusstsein Das Reichtumsgefälle und die Kritik an den Reformen Die Rolle der Partei Demografische Probleme

Indien Das britische Erbe Stelldichein mit dem Schicksal Die verwöhnte Generation «Licence Raj» – Knappheit und Autarkie Erste Öffnung Blick über den Himalaja Absage ans Kastendenken Der Wert der Demokratie

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107 109 118 121 123 124 127 136 141

Japan

147 152 163 168 174 179 184 187 191 199

Die südost- und ostasiatischen «Tiger»

217 220 233

Südasiens Problemherde

Gunst und Fluch der Geografie Obsession zur Verbesserung Quantensprung in die Moderne Das imperialistische Verhängnis Innovation und Reichtum Einzigartiger Gesellschaftsvertrag Krisenherd Demografie Abstieg oder Erneuerung?

Indonesien – die Überraschung Malaysia – stille Beständigkeit Vietnam – das Prinzip zähe Pragmatik Thailand – machiavellische Eliten Singapur – Stadtstaat par excellence Philippinen – ein Stück Lateinamerika Myanmar – der Nachzügler Südkorea – Überlebenskünstler Grosschina – Hongkong und Taiwan

«Failed State» Pakistan Krisenträchtige Region

239 Zeitgeschichte und Lebensgeschichte 242 Perspektivenwechsel 243 China 249 Indien 255 Japan 258 Tradition und Moderne 259 China 262 Indien 265 Japan 8


269 Bildung und Erziehung 269 China 273 Indien 275 Japan 277 Vorbilder 277 China 279 Japan 282 Indien 284 Das islamische Asien 289

Geopolitische Implikationen des Generationenwechsels

291 300 311 321

China Japan Indien Das islamische Asien

331

Weltwirtschaftliche Implikationen des Generationenwechsels

338 344 357

Die R端ckkehr des Hegemonen Die R端ckkehr des Merkantilismus Die R端ckkehr des starken Staates

365

Schlussfolgerungen

373

Zusammenfassung

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Literaturverzeichnis

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Vorwort Der Generationenwechsel gehört seit Urzeiten zu den wichtigsten Zäsuren einer jeden Gesellschaft. Dabei pflegen Nostalgie und Pessimismus ebenso wie Zukunftsverheissungen und Hoffnungen für den Anbruch eines neuen Zeitalters eine grosse Rolle zu spielen. Seit der griechischen Antike kennen wir Klagen über die Unbotmässigkeit der Jugend. Im 20. Jahrhundert haben wir mehrere Katastrophen erleben müssen, weil weltfremde Ideologien eine total neue Gesellschaft schaffen wollten. Seit einigen Jahren sind wir von den rasanten Entwicklungen in Asien fasziniert. Mit Erstaunen, Begeisterung und zuweilen auch Furcht wird vor allem der Wiederaufstieg des Reichs der Mitte verfolgt. Es sind für uns fremde Welten und ferne Zivilisationen, die in unser Blickfeld gerückt sind. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Kenntnis über das, was die Menschen auf dem ausserordentlich vielfältigen asiatischen Kontinent antreibt, erweitern. Nur so können wir adäquat die Chancen, aber auch die Risiken ermessen, die sich für die Menschheit im asiatischen Zeitalter präsentieren. Wichtige Einblicke in asiatische Mentalitäten kann uns der Generationenwechsel vermitteln, der derzeit in den meisten asiatischen Gesellschaften im Gange ist. Auch heute besitzen in Asien die Familie, der Clan einen sehr hohen Stellenwert. Allerdings beobachten wir wichtige Veränderungen bei den Lebenszielen und Werten der neuen asiatischen Mittelschichten, die auch aus demografischen Entwicklungen, Urbanisierung und Verwestlichung erwachsen. Noch ahnen wir erst in Ansätzen, welche Folgen die chinesische Ein-Kind-Politik haben wird. Wenn in diesem Buch über die neuen Asiaten philosophiert wird, so handelt es sich natürlich bei etlichen Aussagen um Vereinfachungen. Die Komplexität einer Gesellschaft lässt sich nie ausreichend erfassen. 11


Angestrebt wird eine Übersicht über das, was sich bei der wichtigen Abfolge der Generationen unter den Eliten in Wirtschaft, Politik und Kultur abspielt oder abspielen könnte. Wir sehen dabei eine Entwicklung, die für den Westen den Umgang mit Asien sowohl schwieriger als auch bereichernder werden lässt. Mit dem neuen Asien, das im Entstehen begriffen ist, werden sich in der Zukunft vor allem die jüngeren Generationen, die vor der Übernahme von hoher und höchster Verantwortung in unserer Gesellschaft stehen, zu befassen haben. Sie haben den Umgang mit asiatischen Eliten zu lernen. Die jungen Asiaten sind Menschen, die sich nicht mehr mit den Verwundungen herumschlagen, die ihnen von den westlichen Kolonialmächten in den letzten zwei Jahrhunderten beigefügt wurden. Auch sind die Zeiten vorbei, da aufstrebende asiatische Länder begierig auf Anerkennung und Lob aus dem Westen waren. Heute begegnen sich Europäer und Asiaten auf Augenhöhe. Der im Gang befindliche Generationenwechsel wird diese Entwicklung noch beschleunigen. Eine faszinierende Zeit erwartet uns alle, und ich hoffe, dass möglichst viele junge Europäer mit offenem Visier und positiv gestimmt auf Asien zugehen werden. Thomas Schmidheiny

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Einleitung Das vorliegende Buch befasst sich mit dem Generationenwechsel, der im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in Asien über die Bühne geht. Im Fokus stehen primär die Veränderungen und die Konstanten, die sich im Zusammenhang mit dem Übergang der politischen und wirtschaftlichen Macht von der Generation der 68er auf deren Kinder und Enkel ergeben. Darüber hinaus werden die kulturellen und sozialen Veränderungen beziehungsweise Konstanten beleuchtet, die aus diesem Generationenwechsel resultieren können. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die drei Generationen der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, der zwischen 1946 und 1970 Geborenen und der nach 1971 Geborenen. Die Begegnung des Westens, will heissen Europas und der USA mit Asien ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Im Verlauf der vergangenen 500 Jahre wurden schwere Wunden verursacht, wobei in der Regel die westlichen Mächte die Täter und die Asiaten die Opfer waren. Vor allem vom 18. Jahrhundert an rückten mehrere europäische Mächte immer weiter nach Asien vor. Die schwersten Verletzungen fügten die Europäer und Amerikaner den Asiaten im 19. und im 20. Jahrhundert zu. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts und vor allem mit dem Einsetzen des 21. Jahrhunderts begannen sich die Verhältnisse grundlegend zu ändern. Begegnungen mit fremden Zivilisationen hinterlassen in der Regel bei den betroffenen Menschen Spuren, insbesondere dann, wenn es sich um keine friedlichen, sondern um gewaltsame Begegnungen, gar um Eroberungen gehandelt hat. Ein Beispiel ist die Begegnung von Christentum und Islam: Hier wirft der Ballast einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Geschichte noch heute dunkle Schatten. Eine erfolgreiche Aufarbeitung des vergangenen Geschehens ist äusserst selten. In der jüngeren Geschichte stechen die deutsch-fran13


zösische Versöhnung und der europäische Einigungsprozess als herausragende Beispiele einer erfolgreichen Abkehr von tief verankerten, jahrhundertealten Feindschaften hervor. Die von langen Jahren des äusseren Friedens, der inneren Stabilität und der wirtschaftlichen Prosperität verwöhnten Westeuropäer sollten im schwierigen 21. Jahrhundert den grossen Wert dieser Errungenschaften besser nicht vergessen. Ganz anders sehen die Dinge in Asien aus. Hier steht an mehreren akuten Krisenherden eine Aufarbeitung der Geschichte an. Dies gilt für die koreanische Halbinsel, wo noch immer kein den Koreakrieg endgültig beilegender Friedensvertrag abgeschlossen worden ist; es gilt für das japanisch-chinesische Verhältnis, auf dem nach wie vor die japanischen Kriegsverbrechen lasten; es gilt für das chinesisch-taiwanische Verhältnis, wo die Frage einer Wiedervereinigung nach wie vor ungelöst im Raum steht; und es gilt ganz besonders auch für die indisch-pakistanische Rivalität, die ungeachtet mehrerer Kriegsgänge noch immer einen der gefährlichsten Konflikte der Erde am Kochen hält. Die Vorgeschichte zur heutigen asiatischen Renaissance hat markante Spuren im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Menschen hinterlassen. Aus unserer europäischen Erfahrung wissen wir, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob jemand eine historische Zäsur selbst miterlebt hat oder ob er sie nur vom Hörensagen kennt. Man denke an die Weltkriegsgenerationen in Europa. In Asien finden sich durch verheerende Grossereignisse direkt geprägte Erfahrungen und Perzeptionen bei den beiden Generationen, die vor 1945 und vor 1970 geboren sind. Daneben wirken natürlich auch die über Dritte vermittelten Erfahrungen aus früheren Zeiten nach, bei denen sowohl Mythen als auch Geschichtsklitterungen zu verzerrten Wahrnehmungen führen können. Für den asiatischen Kontext sind fünf prägende Ereignisse auszumachen: Chinas Dekadenz und Erniedrigung; Indiens Dekadenz und Erniedrigung; Koreas Erniedrigung; Südostasiens koloniale Unterwerfung und schliesslich Japans Aufstieg zur modernen Industriemacht. All diese Entwicklungen haben tiefreichende Spuren hinterlassen und prägen die asiatische Wahrnehmung des Westens bis in unsere Tage hinein. Man denke etwa an die irritierte Reaktion von führenden Asiaten wie Malay14


sias ehemaligem Ministerpräsidenten Mohamad Mahathir oder Singapurs Elder Statesman Lee Kuan Yew auf westliche Kritik an den von ihnen propagierten asiatischen Werten. Die erwähnten fünf Entwicklungen haben aber auch entscheidend die Vorstellungen geprägt, welche die westliche Welt während der vergangenen zwei Jahrhunderte zu den wichtigen asiatischen Kulturen und Zivilisationen gehegt und gepflegt hat. Der Generationenwechsel, der in den kommenden Jahren Gestalt annehmen wird, verlangt vom Westen auch einen neuen Blick auf die Geschichte Asiens, vor allem auch in die Zeiten, als Asien noch nicht von den westlichen Kolonialmächten entdeckt, überfallen und ausgebeutet wurde. Die sogenannte «Weltgeschichte», die von den Schulen und Universitäten in Europa und in den USA seit Langem vermittelt wird, ist nicht wirklich eine Weltgeschichte. Zwar wird in der Regel das Geschehen jenseits der westlichen Welt behandelt, sogar in Spezialdisziplinen wie Sinologie, Japanologie und Indologie, die an den angesehenen europäischen, amerikanischen und australischen Universitäten mit gebührendem Stolz auf den damit verbundenen vorgeblichen Kosmopolitismus gelehrt werden. Doch im Wesentlichen reiht man noch immer das dortige Geschehen in eurozentristischer Manier nach den eigenen Kategorien ein. Dies gilt für die Epochen, beginnend bei der westlichen Zeitrechnung, ebenso wie für die Gegenstände und Ereignisse, die in der relevanten Forschung aufgegriffen werden. Natürlich ist es von zentraler Bedeutung, dass die asiatischen Sprachen gelehrt und studiert werden, doch muss bewusst sein, dass damit keine umfassende Asienkompetenz vermittelt wird und dass es jenseits linguistischer Besonderheiten weitere asiatische Spezifika gibt. Wir müssen im Westen endlich zur Kenntnis nehmen, dass es eine asiatische Geschichtsschreibung, eine asiatische Politologie, eine asiatische Geopolitik und eine asiatische Soziologie gibt. Alle diese Disziplinen mögen zwar die Instrumente nutzen, die in den vergangenen drei Jahrhunderten in Europa und in den USA entwickelt worden sind. Damit können aber auch Erkenntnisse gewonnen werden, die spezifisch asiatischer Natur sind und deshalb andere Akzente setzen, als wir dies mit unserem eurozentrischen Weltbild gewohnt sind. 15


Zeitgeschichte und Lebensgeschichte


Wir denken in der Regel, dass weitreichende Veränderungen des Zeitgeistes eine Sache von langen Zeiträumen, von eigentlichen Epochen in der Geschichte sind. Tatsächlich können Veränderungen jedoch oft aus heiterem Himmel erfolgen. Ein Beispiel dafür findet sich in der jüngsten Geschichte der Volksrepublik China. Unmittelbar nach dem Anstossen der Reformen durch Deng Xiaoping in den späten 1970er-Jahren setzte eine Periode der Amerikabegeisterung unter den Reformkräften ein, die wie ihr Meister die überfällige Modernisierung Chinas nach dem Vorbild der USA zu realisieren suchten. Doch bereits in den 1990er-Jahren wendete sich das Blatt, sei es aus Enttäuschung über die USA, sei es, weil konservativere Kräfte wieder die Oberhand gewannen. Wenn wir also Zeitgeschichte und Lebensgeschichte miteinander in Relation bringen, so müssen wir uns darüber bewusst sein, dass ein Generationenwechsel nicht mit den Zeitspannen, die sich an einem individuellen Leben, an einer Generationenabfolge messen lassen, übereinzustimmen braucht. Es kann sich durchaus ergeben, dass es innerhalb einer Generation mehrere Trendwechsel gibt oder dass Trends nicht parallel zu Generationenabfolgen verlaufen. Das natürliche Bestreben der meisten Menschen, nicht auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen, kann zuweilen zu überraschenden Seitenwechseln Anlass geben. Dieser Sachverhalt macht den Generationenwechsel im zeitgeschichtlichen Kontext einerseits zu einem interessanten Forschungsgegenstand, andererseits sollte er auch das Bewusstsein dafür wachhalten, dass plötzliche Wechsel, sei es im positiven oder im negativen Sinne, stets möglich sind. Wer hätte zum Beispiel die Selbstzerstörungen prognostizieren können, welche die Kulturrevolution von 1966 bis 1976 in China anrichtete? Mit einem Schlag wurden Kontinuitäten unterbrochen, die man zuvor als gegeben genommen hatte.

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Perspektivenwechsel Ungeachtet der Generationenzugehörigkeit gilt für alle asiatischen Eliten und Führungskräfte, dass sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen weitreichenden Perspektivenwechsel in ihrer Weltsicht vollzogen haben. Asien hat nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in geopolitischer, technologischer und kultureller Hinsicht sehr viel Terrain gutgemacht und ist dabei, den Westen zu überholen. Dies gilt natürlich in erster Linie für Indien und China, ist aber auch, zumindest was das eigene Selbstverständnis betrifft, für die kleineren asiatischen Länder von Belang. Natürlich ist es noch nicht so weit, dass Schanghai, Hongkong und Mumbai den Finanzmärkten London, New York und Frankfurt den Rang abgelaufen haben; und natürlich haben Guangzhou und Beijing, obschon sie heute über eine bessere Infrastruktur und mehr Finanzmittel verfügen als Paris und Wien, als Musik- und Kulturkapitalen noch nicht die Weltspitze erklommen. Hier geht es nicht darum, präzise Ranglisten zu erstellen. Vielmehr sollen die Trends ermittelt werden, denn sie sind es, die letztendlich die Befindlichkeit einer Gesellschaft, eines Volkes nachhaltig bestimmen. Wer den Wind der Weltgeschichte im Rücken fühlt, der wird, auch wenn er noch einen steilen Weg vor sich hat, über mehr Selbstvertrauen verfügen, als wer sich stets mit dem Kampf gegen den Abstieg herumzuschlagen hat. Das Schicksal Grossbritanniens im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie nach dem Zweiten Weltkrieg liefert dafür ein aufschlussreiches Beispiel. China ist als ein sehr eindrückliches Beispiel für den Perspektivenwechsel zu sehen. Vieles wird richtigerweise für die Erhellung der Verletzungen und Erniedrigungen des Reichs der Mitte in den letzten beiden Jahrhunderten getan. Nun geht es um die aktuelle Zeit- und Lebensgeschichte, die sich, wenn wir die Lebenszeit der jetzigen Führungsgeneration heranziehen, auf die vergangenen dreissig Jahre bezieht. Es geht um Personen, die heute in ihren frühen Sechzigern stehen und die damals, als sich die Zäsuren ereigneten, Anfang dreissig waren, also an der Schwelle zu ersten politischen und gesellschaftlichen Funktionen. Dabei sind für die einzelnen Länder folgenden Zäsuren auszumachen: 242


·

China: 1989 Unterdrückung der Proteste auf dem Tienanmen-Platz; 2002/03 Wechsel von der dritten zur vierten Führungsgeneration · Indien: 1991 Beginn der Wirtschaftsreformen unter Premierminister Narasimha Rao; 1998 Regierung von Premierminister Atal Bihari Vajpayee «India shining»; 2004 Koalitionsregierung von Premierminister Manmohan Singh · Japan: 1989 Platzen der Spekulationsblase; 2010 chinesische Volkswirtschaft löst japanische auf dem Platz zwei der Weltrangliste ab · Vietnam: 1986 sechster Parteitag der Kommunistischen Partei und Lancierung der Wirtschaftsreformen; 1995 Beitritt zur südostasiatischen Regionalorganisation ASEAN · Südkorea: 1987 Ausrufung der sechsten Republik und erste Direktwahl zum Staatspräsidenten seit sechzehn Jahren; 1996 Beitritt zur OECD · Indonesien:1997/98 schwere Wirtschaftskrise; 1998 Rücktritt von Präsident Suharto unter dem Druck der Strasse; Ausbruch der Indonesischen Revolution. Diese Wegmarken sind insofern von Interesse, als dass sie den Erfahrungshorizont und das Weltbild der Eliten geprägt und damit den Generationenwechsel beeinflusst haben. Im Unterschied zur tradierten Geschichte, die wesentlich durch Erfahrungsberichte früherer Generationen gefärbt und geprägt wird, hinterlässt die mit eigenen Augen erfahrene und erlebte Zeitgeschichte direkte Spuren im Verhalten der Menschen.

China China hat im wirtschaftlichen und sozialen Bereich gigantische Fortschritte gemacht und eine in seiner neueren Geschichte beispiellose Modernisierung vorangetrieben. Bei aller Veränderung ist die Volksrepublik aber auch einigen Maximen treu geblieben und diese bestehen in unserem Kontext vor allem in den klassischen Versatzstücken einer kommunistischen Einparteienherrschaft. Diese Pfeiler des Totalitarismus sind aus allen kommunistischen Ländern bekannt. Es handelt sich um die totale Zensur, das Verbot der freien Meinungsäusserung und die 243


Unterdrückung jeglichen Pluralismus, sei es Parteienvielfalt oder Gewaltenteilung. Bei aller anderweitigen Modernisierung hat Peking an diesen Instrumenten des leninistischen, stalinistischen Totalitarismus festgehalten. Diese Sachverhalte nehmen in der aktuellen Zeit- und Lebensgeschichte der chinesischen Eliten einen zentralen Stellenwert ein, insbesondere die Unterdrückung des demokratischen Frühlings Anfang Juni 1989. Tienanmen 1989 liegt bereits relativ weit in der Geschichte zurück. Bald ein Vierteljahrhundert ist seit jenen dramatischen Tagen vergangen. Die damals jugendlichen Hauptprotagonisten des Protests sind inzwischen im mittleren Alter und keiner von ihnen spielt in China eine Rolle. Auch scheint es höchst unwahrscheinlich, dass, sollte es je zu einer umfassenden demokratischen Öffnung Chinas kommen, Exponenten von Tienanmen 1989 eine wichtige Rolle spielen würden. In China gibt es keinen Vaclav Havel! Von dieser Perspektive aus könnte man also die tragischen Geschehnisse des demokratischen Frühlings für abgehakt betrachten. Dessen ungeachtet scheint aber die chinesische Gesellschaft und natürlich primär die allmächtige Partei nicht bereit zu sein, sich selbstkritisch mit den damaligen Ereignissen zu befassen. Einzig in Hongkong versammeln sich jedes Jahr am 4. Juni Menschen in grosser Zahl zu einer Gedenkveranstaltung an den Tag, da die Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens in Peking rollten. Während in den westlichen Demokratien weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichtsschreibung herrscht, ist diese für totalitäre Herrschaften ein zentrales Anliegen. Deshalb wird in China sorgfältig kontrolliert, was in die Geschichtsbücher eingeht und wie die historischen Ereignisse bewertet werden. Zu tun hat dies mit dem revolutionären Ursprung des Regimes. Dieses muss stets sorgfältig darauf bedacht sein, seine Legitimität, die es weder durch einen demokratischen Beschluss der Bevölkerung, durch eine höhere, göttliche Macht noch durch eine legale Erbfolge erhalten hat, zu verteidigen. Für China mit seinem revolutionären Konzept des «Mandats des Himmels» gilt dies noch viel stärker als etwa für die verblichene Sowjetunion. Ihrer Natur nach sind Revolutionäre Usurpatoren und müssen deshalb dafür sorgen, dass sie 244


nicht nur die Geschichtsschreibung über ihren Aufstieg zur Macht, sondern auch die Geschichte seit dem Beginn des «neuen Zeitalters» genau kontrollieren können. Die Geschichte der Volksrepublik seit ihrer Gründung am 1. Oktober 1949 ist sehr bewegt. Bereits vor Tienanmen 1989 gab es Zäsuren, die noch viel blutiger und verheerender waren: den Gossen Sprung nach vorn und die Kulturrevolution. In all diesen kritischen Fragen sieht sich die Partei mit Fehlern und Verbrechen konfrontiert, die unter dem Deckel von Propaganda und Geschichtsklitterung verwahrt werden müssen. Noch immer bestimmt das totalitäre Denken das Prinzip, dass es nur eine Wahrheit gibt, und zwar die von der Partei abgesegnete Wahrheit. Natürlich hat sich im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte auch das offiziell geduldete Geschichtsbild leicht verändert. Es wird eingestanden, dass selbst vom Grossen Vorsitzenden Fehler begangen worden sind. Doch die Wunden von Tienanmen 1989 sind scheinbar noch immer zu frisch, als dass auch nur eine begrenzte Revision des Geschichtsurteils akzeptabel wäre. Dies hat zum einen damit zu tun, dass wichtige Exponenten der damaligen Geschehnisse nach wie vor am Leben sind und in der Partei über ihre Gewährs- und Gefolgsleute verfügen. Noch wichtiger ist aber, dass das Geschehen vom Frühjahr 1989 mit dem grossen Reformer Deng Xiaoping vinkuliert ist. Der vollständige Bruch mit Mao Zedong ist nicht möglich, weil damit die Legitimität der Volksrepublik, deren Gründer dieser war, infrage gestellt würde. In ähnlicher Weise würde die Legitimität der grossen Reformen, die von Deng Xiaoping eingeleitet worden waren, durch eine Revision der offiziellen Geschichtsschreibung zu Tienanmen bedroht werden. Dies ist umso gefährlicher, als es noch immer Kräfte in der Partei gibt, die mit den Reformen nicht einverstanden sind. Bereits während der Turbulenzen unmittelbar nach der Niederschlagung der Proteste auf dem Tienanmen-Platz hatte Deng Xiaoping sorgfältig darauf geachtet, dass die neue Führungsgarde, die 1989 die Macht übernahm, zumindest an ihrer Spitze nicht jemanden mit Blut an den Händen hatte. Aus diesem Grund war die Ernennung von Jiang Zemin zum neuen Parteichef eine weise Entscheidung. Anders als Premiermi245


nister Li Peng hatte Jiang nichts mit Tienanmen zu tun gehabt. Er war zu jener Zeit Parteichef in Schanghai und ihm war es gelungen, die dortigen Proteste friedlich beizulegen. Jiangs saubere Weste war insbesondere auch für Chinas Umgang mit dem westlichen Ausland von Bedeutung. Bemerkenswert war darüber hinaus, dass nach dem Wechsel zur vierten Führungsgeneration mit Ministerpräsident Wen Jiabao eine Person an die Macht kam, die sehr direkt in die Geschehnisse im Frühjahr 1989 involviert gewesen war. Bezeichnenderweise aber nicht aufseiten der Kräfte, die die Proteste unterdrückten und als Sieger hervorgingen, sondern auf der unterlegenen Seite! Wen Jiabao war ein enger Mitarbeiter des damaligen Parteichefs Zhao Ziyang, der über die Proteste stürzte und danach bis zu seinem Lebensende unter Hausarrest gestellt wurde. Die neue Führungsgarde, die beim 18. Parteikongress im Herbst 2012 die Macht übernahm, hat mit dem Geschehen im Frühjahr 1989 nichts zu tun. Deshalb stellt sich die Frage, ob es den neuen Machthabern gelingen wird, eine Revision des Geschichtsurteils über dieses Geschehen durchzubringen. Wer die rasante wirtschaftliche Entwicklung des neuen China vor Augen hat, mag sich fragen, ob diese Angelegenheit überhaupt noch von Belang ist, zumal sie weit zurückliegt und keine Katastrophe vom Ausmass des Grossen Sprungs nach vorn oder der Kulturrevolution war. Auch ist offenkundig, dass die jüngeren Generationen, die 1989 noch zu jung gewesen waren, um einen konkreten Eindruck von dem Geschehen zu erhalten, ganz anders orientiert und interessiert sind als ihre Altersgenossen zu jener Zeit. Die Zeitumstände haben sich seither auch in China in materieller wie technologischer Sicht sehr weitgehend verändert. Hier sei jedoch die Meinung vertreten, dass in der chinesischen Zeitgeschichte Tienanmen 1989 sehr wohl eine auch heute noch relevante Zäsur darstellt. Es gehört zu den Grundeigenschaften der chinesischen Kultur, dass die Geschichte hochgehalten wird. Seit Jahrtausenden wird auf die schriftliche Tradierung von Entwicklungen und Ereignissen von einer Generation auf die andere, von einer Dynastie auf die andere sehr grosser Wert gelegt. Dadurch unterscheidet sich das Reich der Mitte von allen anderen Kulturen. Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, dass die Ereignisse von Tienanmen 1989 neu aufgearbeitet werden und die 246


Verteilung von Schuld und Unschuld unter neuen Prämissen vorgenommen wird. Die einzige Frage ist der Zeitpunkt, wann dieser Schritt erfolgen wird. Der fortschreitende zeitliche Abstand zum demokratischen Frühling 1989 und die voranschreitende wirtschaftliche Modernisierung der Volksrepublik werden dafür sorgen, dass die Aufarbeitung der Geschehnisse einfacher wird. Hilfreich wird dabei sein, dass die Menschen, vor allem auch die urbanisierten Chinesen mit einer höheren Ausbildung, heute am wirtschaftlichen Vorankommen interessiert sind und die soziale und politische Stabilität des Landes nicht durch Unruhen und Proteste, die den Frühling 1989 geprägt hatten, gefährdet sehen wollen. Selbstverständlich schliesst dies aber auch nicht aus, dass von interessierten Kräften gezielte Agitationen lanciert werden. Vor allem die Studentenschaft ist, wie man auch bei «spontanen» Protesten gegen die USA oder gegen Japan sehen kann, leicht manipulierbar. Peking wird ein wachsames Auge darauf behalten müssen, wie mit dem historischen und politischen Erbe von Tienanmen 1989 umgegangen wird. Das zweite zeitgeschichtliche Ereignis, das die Lebensgeschichte der am Generationenwechsel Beteiligten geprägt hat, ist der Machtwechsel von 2002/03, als die dritte Führungsgeneration von Jiang Zemin, Li Peng und Zhu Rongji durch die vierte Führungsgeneration mit Hu Jintao und Wen Jiabao an der Spitze abgelöst wurde. Vor dem Hintergrund des Wirtschaftsbooms und einer relativen politischen Stabilität während der vergangenen zehn Jahre hat die Welt vergessen, dass es sich bei diesem Stabwechsel um die bislang erste geordnete Machtübergabe in der Geschichte der Volksrepublik gehandelt hat. Auch ist bemerkenswert, dass die Übergabe reibungslos verlief, obwohl deren Initiator Deng Xiaoping nicht mehr unter den Lebenden weilte. Gleichwohl hatte dieser mit wichtigen personalpolitischen Weichenstellungen vorgesorgt, sodass der geordnete Machttransfer auch nach seinem Ableben nicht durch Rivalitäten gefährdet werden konnte. Vor diesem Hintergrund gab es Befürchtungen, dass 2012/13 die Dinge nicht so geordnet ablaufen könnten, da ja der Übervater nicht mehr sein entscheidendes Verdikt abgeben konnte. In der Folge sollte 247


indes nach einer bewegten Vorbereitungsphase der 18. Nationale Parteikongress der KPC, der vom 8. bis 14. November 2012 in Pekings Grosser Halle des Volkes stattfand, ordnungsgemäss über die Bühne gehen. Neu wurden nur noch sieben Mitglieder in den Ständigen Ausschuss des Politbüros des Zentralkomitees, dem obersten Entscheidungsorgan der KPC, entsandt. Wie erwartet wurde der knapp sechzigjährige Xi Jinping zum Generalsekretär und damit mächtigsten Mann in China ernannt. Nach 2002/03, als die vierte Führungsgeneration mit Hu Jintao an der Spitze die Macht übernahm, erfolgte auch 2012 der Machttransfer auf geordnete Weise. Einmal mehr stehen die neuen Führungsleute, die bis 2017 im Amt sein werden, vor Erwartungen, dass sie neben der wirtschaftlichen auch die politische Erneuerung Chinas vorantreiben. Es kann nicht genug betont werden, dass damit in der Geschichte der Volksrepublik China ein wichtiger systempolitischer Quantensprung vollzogen worden ist. Man denke an die Zeit, als Mexiko unter der alleinigen Herrschaft der PRI (Partido Revolucionario Institucional) stand und es für die Staatspräsidentschaft nie eine Alternative zum PRI-Kandidaten gab. Bei aller Problematik des PRI-Systems war dennoch dafür gesorgt, dass alle sechs Jahre an der Staatsspitze eine geordnete Machtübergabe stattfand. In China geschieht dies nicht über Wahlen, sondern über das Konklave des Nationalkongresses der KPC. Mit der nun geordneten Machtübergabe ist aber immerhin gewährleistet, dass nicht mehr, wie zu Mao Zedongs Zeiten, persönliche Willkür über Amtszeiten entscheidet. In einem nichtdemokratischen System ist schon viel gewonnen, wenn es für diejenigen, die von den Spitzenämtern zurücktreten müssen, ein friedliches Pensionistenleben gibt. Es sei daran erinnert, wie es bei Jiang Zemin eine Zeit des Zögerns und Verschiebens gab und er bis September 2004 noch den Vorsitz der einflussreichen Zentralen Militärkommission innehatte. Damals rankten sich um diese Verzögerung allerlei Spekulationen, doch schliesslich ging auch dieser Zwischenfall ohne Aufhebens über die Bühne und die geordnete Machtübergabe wurde zumindest in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung nicht getrübt. Die geordnete Machtübergabe gehört zu den wichtigen Normalisierungen und sie kann der politischen Stabilität der Volksrepublik wei248


teren Auftrieb geben. Die neue Führungsgeneration erhält durch das Vermeiden von Diadochenkämpfen einen wichtigen Legitimitätsschub. Zum anderen können die neuen Spitzen mit grosser Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sie wie ihre Vorgänger eine Führungsperiode von einem Jahrzehnt erhalten und – von aussergewöhnlichen Ereignissen abgesehen – darauf auch zählen können. Dies verleiht dem Land vor allem für seine weitere sozioökonomische Entwicklung eine ausserordentlich wichtige systemische Stabilität.

Indien Indiens Zeitgeschichte hat, wie dies einer funktionierenden Demokratie gebührt, nicht dieselben dramatischen Zäsuren und Einschnitte zu verarbeiten wie China. Indien kennt kein Tienanmen und seine Regierungsabfolge ist mit rechtsstaatlichen und demokratischen Instrumenten abgesichert. Das Land hat nichts, was mit dem Grossen Sprung nach vorn zu vergleichen wäre, der Dutzenden von Millionen Chinesen das Leben gekostet hat. In der Vergangenheit gab es Hungersnöte und es gab und gibt endemische Unterernährung. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen hat die Ursachen von Hungersnöten vor und nach Indiens Unabhängigkeit sorgfältig studiert. Dabei stiess er auf grobe administrative Fahrlässigkeiten und kulturell tief verwurzelte Vorurteile, konnte jedoch nicht belegen, dass eine Führung Versorgungsengpässe zur gezielten Vernichtung der eigenen Bevölkerung eingesetzt hätte. Ein solches Verbrechen an der Menschheit blieb Mao Zedong und seinen Schergen vorbehalten! Indiens «wake-up call» zur Modernisierung resultierte aus einem ganz anderen Ereignis: der Zahlungsunfähigkeit der Indischen Union im Jahr 1991. Nur dank der Hilfe Deutschlands und weiterer europäischer Staaten gelang es Delhi, die Summe der Devisenreserven bei über einer Milliarde Dollar zu halten. Um diese Schwelle nicht zu unterschreiten, verkauften die indischen Währungsbehörden zwanzig Tonnen Gold aus den Reserven der Nationalbank. Nach längerem Zögern hatte die Regierung schliesslich realisiert, dass nichts die Nation vor einem erniedrigenden Bankrott bewahren konnte als eine internationale Kre249


ditaufnahme und schliesslich das Anklopfen beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Damals hätten die Devisenreserven noch für ein paar Wochen Importe ausgereicht. Der Zeitpunkt des indischen Bankrotts kam nicht unerwartet. 1989 ging der Kalte Krieg zu Ende und damit verlor auch die Sowjetunion ihre Supermachtstellung. Die UdSSR war seit den 1950er-Jahren, als Indiens Ministerpräsident Jawaharlal Nehru seine Wirtschaftspolitik an der Planwirtschaft von Stalin ausgerichtet hatte, Indiens wichtigster Partner in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Indische Union wiederum war ein wichtiger Absatzmarkt von sowjetischen Schwerindustrie- und Konsumgütern. Unter dem rigiden Licence RajSystem hatten die Inder keine Alternativen zur UdSSR und mussten sich mit dem Schund, den ihnen die Sowjets lieferten, zufriedengeben. Der Kollaps des Eisernen Vorhangs brachte dies alles zu seinem Ende. In der eurozentrischen Weltsicht wurde das Ende des Kalten Krieges primär als europäisches Ereignis, europäische Zäsur gewertet. Tatsächlich war aber auch Asien massgeblich sowohl in geo- und sicherheitspolitischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht betroffen. Für Südasien bedeutete es auf der positiven Seite den Wegfall der Stimulierung und Ausbeutung der indisch-pakistanischen Rivalität durch die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR sowie eine bereits in den früheren 1980er-Jahren erkennbare Entspannung zwischen den USA und Indien, was natürlich auch wirtschaftliche Konsequenzen hatte. Auf der negativen Seite fiel allerdings ins Gewicht, dass Indiens Volkswirtschaft plötzlich ohne den sowjetischen Sugardaddy im Regen stand. Indiens erster und wichtigster Ministerpräsident, Jawaharlal Nehru, war zwar in politischen Belangen ein aufrechter Demokrat und Anhänger des von Westminster geprägten Parlamentarismus und hatte mit Stalins Totalitarismus nichts zu tun. Anderseits hielt er Stalins Planwirtschaft für den richtigen Weg, Indien aus seiner Rückständigkeit herauszuführen. Zu ausgeprägten Protagonisten des Sowjetmodells gehörten auch enge Mitarbeiter von Nehru, vor allem Verteidigungsminister   V. K. Krishna Menon. Die von Nehru eingerichtete Planungskommission und die Ansetzung von Fünfjahresplänen waren zusammen mit dem 250


«Licence Raj» und den «commanding heights» des staatlichen Wirtschaftssektors die Leitplanken für eine dezidiert sozialistische Wirtschaftspolitik. Nicht nur mit seiner Persönlichkeit, sondern auch mit seiner dem Fabiertum entsprungenen sozialistischen Ideologie dominierte Nehru die indische Innenpolitik von der Unabhängigkeit bis in die frühen 1960er-Jahre. So es Opposition gab, schritt auch diese, vor allem natürlich die indischen Kommunisten, auf dem Pfad des Sozialismus – mit einer Ausnahme, die 1959 gegründete liberale Swatantra Partei, die aber bereits in den frühen 1970er-Jahren wieder in der politischen Bedeutungslosigkeit versinken sollte. Auch im Westen, insbesondere an den für Indiens Intelligenzia wichtigen amerikanischen und britischen Eliteuniversitäten herrschte während der 1960er- und 1970er-Jahre die Meinung vor, dass für ein armes Land wie Indien der Sozialismus der einzig gangbare Entwicklungsweg sei. Darüber hinaus war klar, dass Indien bereits lange vor 1991 in schwere wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten wäre, hätte es nicht die Protektion der Sowjetunion genossen. Indien verfügte kaum über Devisenreserven und bekam deshalb auf den freien Weltmärkten kaum Kredit. Hinzu kam, dass mit der restriktiven Aussenhandelspolitik und den wenigen Möglichkeiten für ausländische Firmen, in Indien zu investieren, Indien als Drittweltland auf die Almosen der Entwicklungshilfe angewiesen war. Dass sich Indien unter Nehru und Indira Gandhi als wortstarker prosowjetischer Exponent der sogenannten «BlockfreienBewegung» profilierte, trug noch das Seine zur indischen Selbstisolation bei. In dieser unvorteilhaften Situation erwiesen sich die Sowjets als willige Helfer der Inder. Moskau wurde zum Hauptlieferanten der indischen Streitkräfte und war nicht nur bereit, die modernsten Waffen zu verkaufen, sondern bot sie auch zu äusserst günstigen Finanzierungsbedingungen an. Indien musste keine Devisen aufbringen und konnte zudem den grössten Teil der Importe mit Tauschhandel begleichen. Überdies gewährte Moskau seinem wichtigsten Trabanten ausserhalb des Ostblocks grosszügigen Kredit, wobei mit einem Willkürkurs für Rubel/Rupien die indische Schulden Dimensionen erreichten, dass Delhi nicht nur militärisch, sondern auch finanziell in sowjetische Abhängigkeit geriet. 251


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