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© 2015 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlag: GYSIN | Konzept+Gestaltung, Chur Gestaltung, Satz: Mediengestaltung Marianne Otte, Konstanz Druck, Einband: freiburger graphische betriebe, Freiburg i.Br. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-020-1 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Inhalt 7
Vorbemerkung
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Standortbestimmungen
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Länderspezifische Chancen und Risiken
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Aufbruch – «ex oriente lux»
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Literatur
Zwischen Sonderfalldenken und Verzagtheit Wegbereiter, Pioniere und Abenteurer – Eidgenossen in Asien Toblerone, Jungfrau, Swatch – Wie sehen Asiaten die Schweiz? Asiatische Ansprüche an den Standort Schweiz Asien für Mittelständler – Anfänger, Draufgänger und «old Asia hands» Grossunternehmen in Asien – Marktmacht und «low profile» Risiken auf den asiatischen Märkten Schweizer Bildung und Forschung im Visier der Asiaten Kulturplatz – Begegnung und wechselseitige Befruchtung Das Eldorado – Finanzplatz Schweiz Made in Switzerland – Attraktiver Industriestandort Schweiz Klein, aber fein – Kleinstaat Schweiz
Japan – Vorbildhafte Innovationskraft Indien – Einzigartige Versatilität China – Beneidenswerte Ausdauer Südostasien – Einheit in der Vielfalt
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Vorbemerkung Dieses Buch möchte im Rahmen der Debatte über die Zukunft der Schweiz in einer zunehmend komplexen Welt Argumente dafür liefern, den Blick nach Asien zu richten. Ein eingehenderes Verständnis der asiatischen Zivilisationen und ihrer Werte kann eine nützliche Hilfe sein, die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Das Buch liefert keine Rezepte dafür, wie man in Asien Geschäfte macht, und will auch keine Ratschläge geben, ob man sich nun in Asien engagieren soll oder nicht. Vielmehr geht es darum, das allgemeine Bewusstsein für die Risiken und Chancen zu wecken, die sich für Europa, für die westlichen Industriestaaten und insbesondere für die Schweiz im asiatischen Zeitalter, in das wir zu Beginn des dritten Millenniums eingetreten sind, ergeben. Die Orientierungslosigkeit, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften um sich gegriffen und die die breite Bevölkerung wie die Eliten erfasst hat, ist auch ein Ergebnis dessen, dass man es in eurozentrischer Überheblichkeit verpasst hat, sich mit fremden, insbesondere asiatischen Kulturen mit einem Schuss Lernwillen zu befassen. Dieselben Europäer, die recht schnell zur Stelle sind, wenn es darum geht, andere Völker und Kulturen zu ermahnen, die Werte zu respektieren und zu teilen, die man in der eigenen Tradition für richtig befunden hat, tun sich ausserordentlich schwer, sich gegenüber fremden Werten zu öffnen. Es fällt ihnen sogar schwer, auch nur anzuerkennen, dass es andere Wertehierarchien als die in der westlichen Welt geben kann, die ebenfalls beanspruchen, ethisch wertvoll und in ihrer Eigenständigkeit anerkennenswert zu sein. Der traditionelle Internationalismus, welcher politischer Orientierung er auch zugehören mag, hat bisher kaum zu einem intrakulturellen Austausch zwischen Orient und Okzident auf gleicher Augenhöhe beige7
tragen. Man ist vielfach bemüht, in den europäisch geprägten politischen Kriterien von liberal, sozialdemokratisch, konservativ und progressiv zu verharren, Kriterien, die letztlich selbst im Westen eine Geschichte aufweisen, die kaum über die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Dies ist ein schwerwiegendes Manko. Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag leisten, dieses Manko zu überwinden. Dabei geht es keineswegs um einen Aufruf zur ethischen Gleichgültigkeit oder gar zur Selbstaufgabe der eigenen, bewährten Werte und auch nicht um eine Anleitung zu einem selbstlosen Kosmopolitismus. Aus dem häufig tragischen und schrecklichen Verlauf der Geschichte wissen wir, dass, wer keinen klaren eigenen Wertekatalog besitzt, sondern sich in Nihilismus oder gar Selbstverleugnung ergeht, keine Chance hat, zu bestehen. Deshalb wird hier die Meinung vertreten, dass aus einem gleichberechtigen euroasiatischen Austausch den westlichen Gesellschaften durchaus konkrete Vorteile für die Bewältigung der eigenen Schwierigkeiten und Defizite erwachsen können.
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Standortbestimmungen
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Die Welt befindet sich im ständigen Wandel. Scheinbar zementierte Machtgefüge können plötzlich und dramatisch über den Haufen geworfen werden, wie wir beim Fall der Berliner Mauer und der Beseitigung des Eisernen Vorhanges haben erleben können. Andere Entwicklungen kündigen sich über einen längeren Zeitraum hinweg an, wie dies für das asiatische Zeitalter gilt, das mit der Jahrtausendwende angebrochen ist. Erfolgreiche Staaten und Gesellschaften stellen sich diesem Wandel und sind bestrebt, möglichst viel Gestaltungskraft zu wahren und nicht einfach von der Macht des Faktischen getrieben zu werden. Ohne Zweifel stehen Europa und damit selbstverständlich auch die Schweiz an einer Wegscheide, da es gilt, von bequemen Gewohnheiten und einer lieb gewordenen Weltsicht Abschied zu nehmen. Im Vordergrund muss dabei die Abkehr vom Eurozentrismus stehen, der während der vergangenen zwei Jahrhunderte das europäische Weltbild massgeblich geprägt hat. Dies erfordert auf der einen Seite die Überwindung eines traditionellen Negativismus und Chauvinismus, der sich in Schlagworten wie «orientalische Dekadenz», «asiatischer Despotismus» oder «gelbe Gefahr» manifestiert. Die Meinung, dass der Westen ein für alle Mal das Mass aller Dinge und Werte gefunden habe, hält sich hartnäckig. Nicht zuletzt wohnt ihr die Überzeugung inne, dass vor allem in Sachen Menschen- und Bürgerrechte die Asiaten noch viel vom Westen zu lernen hätten. Auch zwei Jahrzehnte, nachdem unter anderem der frühere malaysische Ministerpräsident Mahathir Mohamad sein wortmächtiges Plädoyer für die «asiatischen Werte» abgegeben hat, herrscht noch immer die Ansicht vor, dass der Westen auf der «richtigen Seite» stehe und die Austausch- und Lernprozesse beim Verständnis sowohl von Rechten als auch von Pflichten nur in eine Richtung, nämlich von Westen nach Osten, zu verlaufen hätten. Auf der andern Seite ist auch vom «Orientalismus» Abschied zu 11
nehmen. Hier hat sich traditionell eine paternalistische Haltung, von oben herab die Kulturen und Zivilisationen im Sinne der «noblen Wilden» in Asien zu begutachten und zu «verstehen», eingenistet. Willkommen geheissen wurden unter diesem Aspekt jene Asiaten, die sich westliche, will heissen europäische Verhaltens- und Wertekategorien angeeignet hatten. Die klare Dominanz des Westens im 19. und 20. Jahrhundert, die von einer gleichzeitigen asiatischen Dekadenz, vornehmlich in Indien und China, begleitet wurde, hatte die Meinung gestärkt, dass Asien nur durch eine Verwestlichung aus seiner Misere herauskommen könne. Wichtig ist, dass diese Einstellung nicht nur von Imperialisten und Protagonisten der Herrschaft des «weissen Mannes» vertreten wurde. Sie prägte auch die wohlwollenden Menschen, die, sei es als Missionare, sei es als Techniker oder Lehrer, nach Asien aufbrachen, um dort die Segnungen der westlichen Zivilisation und Kultur einzubringen. Viele dieser Gutmeinenden würden sich strikt gegen die Vermutung verwahren, sie hegten rassistische Vorurteile. Die Abkehr vom Eurozentrismus ist heute, bald zwei Jahrzehnte nach dem Beginn des asiatischen Zeitalters, umso wichtiger, als wir uns mitten in einem Transitionsprozess von erheblicher Tragweite befinden. Als sich China unter Deng Xiaoping auf den Weg in die Moderne machte, war offenkundig, dass das Reich der Mitte nur mit westlicher Technologie, westlichem Management und westlichem Kapital sowie mit einer auf die Märkte der westlichen Industrienationen fokussierten Exportwirtschaft aus dem Steinzeitalter, in das es unter dem Maoismus abgestürzt war, herauskommen konnte. Insofern hätten Orientalisten am chinesischen Aufbruch grosses Wohlgefallen gefunden. Doch inzwischen stehen wir vor einer Zäsur, da sich China und demnächst auch Indien sowie mehrere südost- und ostasiatische Staaten in einem Entwicklungsstadium befinden, da sie auch bei technologischen und sozioökonomischen Innovationen der übrigen Welt den Weg weisen werden. China ist längst nicht mehr das Land, in dem der meiste Fortschritt auf Kopieren beruht. In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel in Forschung und Entwicklung investiert, an führenden Universitäten ebenso wie in Spitzenunternehmen. Der Countdown für die Epoche, da der Westen wieder vom Osten lernen 12
kann, wie dies über weite Strecken der Weltgeschichte der Fall gewesen ist, hat bereits begonnen. Unter diesen Vorzeichen wird in den folgenden Kapiteln sowohl eine Standortbestimmung der Beziehungen der Schweiz mit Asien vorgenommen als auch ein Blick auf die bereits erkennbaren neuen Optionen und Chancen geworfen.
Zwischen Sonderfalldenken und Verzagtheit Jedes Land beansprucht für sich, ein Sonderfall zu sein. In der gewaltigen Herausforderung des europäischen Einigungsprozesses zeigt sich dies beinahe täglich. Zahllos sind die bis in die frühen Morgenstunden dauernden EU-Gipfel, in denen oft mühsam nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner gerungen wird. Es scheint geradezu ein Gesetz zu sein, dass, wenn die Situation eigentlich dringlich der Gemeinsamkeit bedürfte, die Partikularitäten besonders akut in den Vordergrund treten. Wir alle wissen aus der nicht allzu fernen Geschichte, welch streitbarer und zur totalen Selbstzerstörung neigender Schlag Mensch die Europäer sind. Wir alle wissen, wie wichtig deshalb die Europäische Union ist, um den Frieden auf diesem traditionell kriegslüsternen Kontinent zu bewahren. Und dennoch scheinen die Europäer nichts mehr zu geniessen, als sich zu streiten und damit auch häufig zu blockieren. Im innereuropäischen Kontext mag dies als nicht allzu dramatisch gesehen werden nach dem Motto, was sich liebt, das streitet sich. Unverkennbar ist jedoch, dass Europa durch diese aus häufig marginalen Partikularitäten erwachsende Zerstrittenheit auf der Weltbühne seinen Einfluss verspielt hat. Dies ist im Zusammenhang mit dem asiatischen Jahrhundert von Relevanz, haben doch aus der Perspektive von Peking, Delhi und Tokio selbst die mächtigsten unter den europäischen Nationen nicht das geopolitische und wirtschaftliche Gewicht, um als gleichberechtigt wahrgenommen zu werden. In diesem Kontext sei ein Einschub gestattet, der für das gegenseitige euro-asiatische Verständnis von grosser Bedeutung ist. Der Südkoreaner David C. Kang hat mit dem 2010 bei Columbia University Press 13
erschienenen Buch East Asia Before the West. Five Centuries of Trade and Tribute ein ausserordentlich wichtiges Werk geschrieben, das in Europa leider nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat, für unser Verständnis von Asien, insbesondere von der stark konfuzianisch geprägten ostasiatischen Welt aber eine wichtige Hilfe sein kann. Kang verfolgt Ostasiens Geschichte vom Beginn der Ming-Dynastie im Jahre 1368 bis zum Ersten Opiumkrieg im Jahre 1841 und stellt fest, dass innerhalb dieser fünf Jahrhunderte China mit seinen Nachbarn Japan, Korea und Vietnam nur in zwei grössere Konflikte involviert war. Man denke an die Hunderte von Kriegen und Konflikten, die in Europa in diesem Zeitraum geführt wurden. Nicht von ungefähr empfanden wir deshalb im eurozentrisch ausgerichteten Geschichtsunterricht, dass Geschichte im Wesentlichen Kriegsgeschichte ist. Zahllos sind die Schlachten, deren Daten wir auswendig lernen mussten. Würde man hingegen in Ostasien nach denselben Kriterien der Geschichtsschreibung vorgehen, so wäre man schon nach wenigen Seiten mit dem Stoff am Ende. Gerade jetzt, da wir uns mit der Rückkehr des Hegemonen China zur Weltmacht und zur asiatischen Vormacht zu befassen haben, ist es wichtig, diese Besonderheit der ostasiatischen Geschichte präsent zu haben. Dadurch lassen sich von vornherein gefährliche Fehlurteile vermeiden, ob diese nun dazu führen, dass China als Herausforderung für die Weltordnung überschätzt oder unterbewertet wird. Zwischen den Ländern und Völkern gibt es grosse Unterschiede hinsichtlich ihrer Besonderheit oder gar Ausgefallenheit, die auf Klima, Geografie, Kultur und Geschichte zurückzuführen sind. Wie Menschen so können auch Völker und Staaten ein vom Glück beziehungsweise Unglück geprägtes Schicksal haben. Denken wir an das Reich der Mitte im 19. Jahrhundert und vor allem in den ersten sieben Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so ist unübersehbar, dass die Chinesen von sehr viel fremd und selbst verursachtem Unglück heimgesucht wurden. Demgegenüber hat die Schweiz sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert ein sehr hohes Mass an Glück gehabt. Mit Ausnahme des kurzzeitigen napoleonischen Einfalls sind die Eidgenossen von den Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts, die ganze Völker in den Abgrund geris14
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In den folgenden Kapiteln sollen länderspezifisch die Risiken und Chancen des Auf- und Ausbruchs nach Asien ermittelt werden. Dabei wird für jedes Land beziehungsweise jede Region ein Schwerpunktbereich gewählt, der für einen schweizerisch-asiatischen Austausch besonders fruchtbar und für beide Seiten einträglich zu sein verspricht. Natürlich gibt es weitere Optionen, die aus einer anderen Perspektive als erstrebenswert scheinen mögen. Der Leser, insbesondere wenn er über eigene Asienerfahrung verfügt, kann da leicht seine eigenen Prioritäten setzen. Der Aufbruch und Ausbruch nach Asien kann nur erfolgreich sein, wenn die bei einem Kleinstaat wie der Schweiz ohnehin beschränkten Mittel gebündelt werden. Vor allem ist es wichtig, dass man sich nicht in unnötigen und schädlichen Rivalitäten aufreibt. Grabenkämpfe, ob an der Heimfront oder im Ausland, absorbieren viel Energie. Besonders ärgerlich ist es, wenn sie in der Innenpolitik noch verschärft werden. Natürlich gilt auch für die Schweizer Politiker die Maxime «All politics is local», doch sollte man stets bedenken, welche Folgen Gesetzes- und Regulierungsmassnahmen für die globale Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz haben. Es wurde dargestellt, dass in Asien die Kleinstaatlichkeit der Schweiz geschätzt wird. Diese Wertschätzung kann allerdings stark geschmälert werden, wenn aus innenpolitischen Gründen oder wegen eines vermeintlich notwendigen Kotaus vor Brüssel oder Washington die Schweiz ihre eigenen Standortvorteile riskiert oder gar reduziert. Wenn man die innenpolitischen Entwicklungen in der Schweiz aus der Ferne beobachtet, fällt auf, dass bei wichtigen politischen Entscheiden die Stimmen, welche die Aussenwirkung von zu beschliessenden Regularien und Gesetzen berücksichtigen, in der Regel nur sehr schwach und häufig auch noch widersprüchlich sind. Aus der Ferne erscheint es beispielsweise unverständlich, dass im Interesse des Industriestandorts Schweiz bei Anliegen, welche die Rahmenbedingungen der Exportindus129
trie betreffen, die bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte im Parlament zu keinem Schulterschluss finden. Schliesslich nehmen ja beide Lager für sich in Anspruch, dass Vollbeschäftigung ein erstrebenswertes politisches Ziel ist und die Standortqualität, welche die Schweiz anzubieten bereit und fähig ist, wirkt sich nun einmal auch auf dem Arbeitsmarkt aus. Selbstverständlich ist der aus dem Pluralismus der Interessen erwachsende Streit, wenn es um innenpolitische und binnenwirtschaftliche Themen geht, natürlich und erwünscht. Überall dort, wo aber die unternehmerischen Rahmenbedingungen nicht von der Schweiz, sondern von fremden Instanzen festgelegt werden, sollte man kleinliche Parteiquerelen und die selbstsüchtige Bedienung von Klientelen in den Hintergrund drängen. Dies ist von besonderer Relevanz in Bezug auf Asien, wo die meisten politischen Systeme keinen oder nur einen sehr begrenzten Pluralismus zulassen und der Einsatz für nationale Interessen besonders energisch und virulent zu sein pflegt. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob die Schweiz mit Deutschland und den Niederlanden oder mit Thailand und China konkurriert. Das müssen die Schweizer Politiker verinnerlichen, wenn sie sich mit Themen wie Zuwanderung, EU-Politik oder Steuerpolitik befassen und dabei die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz draussen in der weiten Welt zu bedenken haben. Der Ruf nach der Bündelung von knappen Ressourcen betrifft auch die Überseeaktivitäten von Schweizer Institutionen, ob sie nun in der Schweiz oder vor Ort in den asiatischen Ländern angesiedelt sind. Dabei ist an Switzerland Global Enterprise, Standortförderungsprogramme und Städtepartnerschaften ebenso zu denken wie an die Schweizerischen Handelskammern und Schweizervereine vor Ort. Auch hier war wiederholt zu beobachten, wie kleinliche Rivalitäten und unnötige Sensitivitäten die Fokussierung auf gemeinsame Ziele vereitelten. Zu bedenken ist dabei insbesondere, dass wichtige Konkurrenten der Schweiz über sehr viel grössere Mittel verfügen, um ihre Auslandpräsenz zu markieren und ihre Ausseninteressen nachhaltig zu verteidigen. Populisten sind nur allzu schnell dabei, alles was mit Diplomatie, Aussenpolitik und Aussenpräsenz der Schweiz zu tun hat, als Luxus abzutun. Sie nutzen dabei 130
unterschwellig stets vorhandene Ressentiments gegenüber denjenigen aus, welche die Luft der grossen Welt atmen dürfen. Selbstbescheidung ist eine gute eidgenössische Tugend, aber auf der Weltbühne ist sie nicht immer der Weisheit letzter Schluss, insbesondere wenn man sich gegenüber Konkurrenten zu behaupten hat, die sich selbst keine Zurückhaltung auferlegen. Positiv zu bewerten ist sicherlich die Mischung aus staatlichen und privaten, vollamtlichen und ehrenamtlichen Institutionen und Initiativen, die so typisch für die Schweizer Bürgergesellschaft sind. Da hat die Eidgenossenschaft in der Tat einen grossen Vorteil. Vielleicht sollte man sich gerade in den aufstrebenden asiatischen Ländern nicht zu schade sein, die Bürgergesellschaft und das Milizsystem als wichtigen Teil der Schweizer Identität zu präsentieren. Für die Schweizer selbst ist das so normal, dass sie oft vergessen, wie einzigartig dieser Einbezug der Bürger in die verschiedensten Gemeinschaftsaufgaben ist. In Asien haben zivilgesellschaftliche Institutionen nur in Japan und Singapur einen ähnlichen Stellenwert. Sicherlich kann es bei der Vielfalt der Akteure in der Schweiz wie auch vor Ort in Asien noch eine bessere Nutzung von Synergien und eine effizientere Abstimmung der Aktivitäten geben, als dies häufig der Fall ist. Doch sollte nicht vergessen werden, dass der Mix von staatlich und privat vor allem in den asiatischen Ländern mit ihrem hoch entwickelten Nationalstolz besonders nützlich ist. Da Länder ohne gut entwickelte Zivilgesellschaft und ohne milizartige Institutionen auf nationalstaatliche Instrumente zurückgreifen müssen, kann leicht der Vorwurf der «fremden Einmischung» auf den Tisch kommen und in solchen Momenten können viel Goodwill und oft auch Zugänglichkeit auf der asiatischen Seite verwirkt werden.
Japan – Vorbildhafte Innovationskraft 2014 feierten die Schweiz und Japan 150 Jahre bilaterale Beziehungen. Die Eidgenossenschaft war eines der ersten europäischen Länder, das mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich in einem monumen131
talen Aufbruch befindende Nippon offizielle Kontakte etablierte. Rasch folgten Schweizer Pioniere der ersten von Bern entsandten Delegation auf den Fuss. Seither haben sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und Japan positiv entwickelt. Als neutraler Kleinstaat war die Schweiz nicht in die beiden Weltkriege verwickelt, deren Schatten noch heute auf einer Reihe von bilateralen Beziehungen Tokios lasten. Der rasante Aufstieg Chinas während der vergangenen drei Jahrzehnte hat natürlich auch in der Schweiz die Menschen, insbesondere die Wirtschaftsexponenten beeindruckt und häufig auch begeistert. Darüber wurde Japan, das noch in den 1980er-Jahren als künftige Supermacht gepriesen oder gefürchtet wurde, in den Hintergrund gedrängt. Auch in der Schweiz sind Verkaufsseminare und Vorträge zu China weitaus besser besucht als zu Japan, und in Diskussionen über die wirtschaftlichen, politischen und geopolitischen Entwicklungen in Ostasien figuriert China als Schwergewicht, während Japan kaum zur Sprache kommt. Zunächst scheint das erheblich geringere Interesse, das Japan in der Schweiz im Vergleich zu China zu erringen vermag, die Folge einer allgemeinen, auch in anderen Ländern zu beobachtenden Ambivalenz gegenüber dem Land der aufgehenden Sonne zu sein. Bis zum Platzen der Spekulationsblase im Jahre 1989 war Euphorie angesagt und, nachdem Japan über zwei Jahrzehnte hinweg nur moderates Wirtschaftswachstum und Stagnation zu vermelden hatte, griff tiefster Pessimismus um sich. Beide Haltungen waren natürlich überzogen und bedürfen der Korrektur. Für Firmen und insbesondere für mittelständische Unternehmen, die ihre knappen Mittel sorgsam bündeln müssen, ist es schwierig, in Asien gleich an mehreren Orten präsent zu sein. Japan ist zudem auch für grosse auswärtige Investoren und multinationale Unternehmen kein einfaches Pflaster. Als Inselnation hat es hohe Schranken gegen die Internationalisierung seiner Wirtschaft errichtet, ein Sachverhalt, der auch von anderen Ländern als der Schweiz wahrgenommen und kritisiert wird. Wer nicht Mittel im Überfluss hat, wird somit logischerweise beschliessen müssen, sein Augenmerk dorthin zu richten, wo die Früchte (vermeintlich) tiefer an den Bäumen hängen. Dieses Buch plädiert für eine pluralistische Asienstrategie mit vie132
len Zielen in möglichst allen Regionen des Riesenkontinents. Deshalb wird hier auch dem Stand- und Zielort Japan das Wort geredet. Obschon die Japaner sich selbst nicht als Asiaten, sondern als Zivilisation sui generis betrachten, sollte das Land in keiner längerfristigen und umfassenden Asienstrategie fehlen. Die wechselseitigen Benefizien sind zu gross, als dass man dieses Inselreich beiseitelassen sollte. Ohne Zweifel wird Japan seit den 1990er-Jahren von den Schweizer Firmen stiefmütterlich behandelt. Ähnliches gilt auch für wichtige EU-Mitglieder, die ebenfalls dem China-Enthusiasmus und Japan-Skeptizismus verfallen sind. Vertreter europäischer Firmen in Japan beklagen sich häufig darüber, dass man in der Zentrale daheim kaum mehr Gehör finde, obschon die Geschäfte in Japan gut liefen und mit Sicherheit in den meisten Fällen höhere Erträge realisiert würden, als dies beim häufig defizitären Chinageschäft der Fall sei. Auffällig war und ist in der Tat, wie viel westliche Investoren und Manager im Falle Chinas «durchgehen» lassen, während sie bei anderen asiatischen Ländern, insbesondere bei Japan und Indien, viel schärfere Massstäbe ansetzen. Einzig die USA hielten in diesen schwierigen Jahren zu Japan, wobei hier die Sicherheitsinteressen Washingtons den Ausschlag gaben, den wichtigsten asiatischen Bündnispartner nicht zu marginalisieren. Nun kann man sich fragen, weshalb ausgerechnet die kleine Schweiz sich gegen den globalen Trend stellen und weiterhin auf die Karte Japan setzen sollte. Natürlich gibt es angesichts der riesigen geografischen Distanzen, die zwischen dem Land der aufgehenden Sonne und dem Binnenland Schweiz liegen, keine gemeinsamen Sicherheitsinteressen, obschon indirekt selbstverständlich auch die Schweiz davon profitiert, wenn der auftrumpfende Gigant China durch seine grösseren Nachbarn einigermassen in Schranken gehalten wird. Die Schweiz hat ihren Wohlstand massgeblich auf dem Fundament des internationalen Freihandels aufgebaut und ist deshalb darauf angewiesen, dass die globalen Handelsrouten für alle offen und zugänglich gehalten werden. Als Binnenland und Kleinstaat verfügen wir nicht über die nötigen Marinekapazitäten, um beispielsweise zur Offenhaltung der wichtigen Seestrassen im Indischen Ozean und im Süd- und Ostchinesischen Meer einen Beitrag leis133
ten zu können. Auch muss der unverblümte Merkantilismus, der Pekings Aussenhandels- und Devisenpolitik prägt, von der Schweiz mit grosser Sorge beobachtet werden. Es ist offensichtlich, dass es zwischen der Schweiz und Japan grosse kulturelle und zivilisatorische Unterschiede gibt. Die beiden Länder gehören sehr verschiedenen Kulturkreisen an und in ihrer langen Geschichte haben sich ihre Wege, von den letzten eineinhalb Jahrhunderten abgesehen, nie gekreuzt. Dies will aber nicht heissen, dass nicht bemerkenswert viele Gemeinsamkeiten zwischen Japan und der Schweiz, zwischen den Japanern und den Schweizern bestehen. Wer die beiden Länder und Völker gut kennt, wird mit Erstaunen feststellen, wie ähnlich sie sich sind. Dabei ist an alltägliche Umgangsformen wie Pünktlichkeit, Genauigkeit und Verlässlichkeit zu denken, aber auch an manche Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft. Beide Länder verfügen über keine nennenswerten natürlichen Ressourcen und sind darauf angewiesen, diese Mängel mit menschlicher Innovationskraft und Talent wettzumachen. In beiden Ländern wird die Landwirtschaft stark gefördert und auch von der Konkurrenz im Ausland abgeschottet. Dennoch ist die Hauptsorge in beiden Ländern, dass man die Bevölkerung nicht ernähren kann, ja nicht einmal die Hälfte der notwendigen Nahrungsmittel selbst produziert. Heimatbewusste Politiker nutzen diesen Sachverhalt zu allerlei patriotischen Populismen wie Kritik am Essverhalten der jüngeren Generationen oder der Anmahnung, der heimischen Küche treu zu bleiben. Doch das Interesse der Schweiz an einem regen Austausch mit Japan beschränkt sich nicht auf alltägliche Gemeinsamkeiten. Es sind eine Reihe von wichtigen sozioökonomischen Erkenntnissen und Erfahrungen, die Japan für die Schweiz zu einem interessanten Partner und in mancher Hinsicht zu einem nachahmenswerten Vorbild machen. Dabei stehen Innovation, Dienstleistung und alternde Gesellschaft als Hauptthemen im Vordergrund. Europäer sind häufig der Meinung, als moderne Dienstleistungsgesellschaften an der Spitze der Entwicklung zu stehen, im Vergleich zu Japan erscheinen sie indessen als ziemlich rückständig. Sicherlich gibt es im Dienstleistungsbereich für die Europäer noch 134
Aufbruch – «ex oriente lux»
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Die faszinierende Vielfalt an dynamischen Entwicklungen, die sich derzeit an so vielen Fronten in ganz Asien präsentieren, hätte eine umfangreichere Darstellung verdient, als dies in diesem Rahmen geleistet werden konnte. Unzählige Daten aus internationalen wie nationalen Statistiken könnten die Ausführungen zu den einzelnen Ländern ergänzen und erhärten. Um die Übersichtlichkeit zu bewahren, wurde jedoch auf detaillierte Angaben verzichtet. Die Absicht war, die Chancen aufzuzeigen, die sich im asiatischen Jahrhundert für eine weltoffene Volkswirtschaft bieten, wie sie der Schweiz traditionell eigen ist. Nun ist es an den Akteuren, die sich abzeichnenden Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Einmal mehr winkt, wie schon zu den Anfangszeiten der Schweizer Pioniere in Asien der Fall, dem Tüchtigen das Glück. Die Schweiz kann, wie gezeigt wurde, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf eine Reihe von Vorteilen zählen, die sie ihrem durch keinerlei kolonialistische Erbschaften geschmälerten Image in Asien verdankt. Die lange bzw. allzu lange Dominanz einer europäisch geprägten Weltsicht stand in den vergangenen Jahrzehnten häufig der korrekten Wahrnehmung der Veränderungen in Asien im Weg. Dank des machtvollen Wiederaufstiegs Asiens sollte diese Hürde nun ein für alle Mal beseitigt sein. Ex oriente lux – der Okzident hat wiederholt in kultureller, religiöser und materiell-zivilisatorischer Hinsicht von den Errungenschaften des Orients profitieren können. Oft, wenn in der Vergangenheit der Westen in innerem Streit, in dunklen Zeiten der Selbstzerstörung und des Obskurantismus versank, schien das Licht aus dem Osten. Überheblichkeit, künstlich genährte Vorurteile und Furcht haben die west-östliche Interaktion belastet oder gar verunmöglicht. Zu unserem eigenen Schaden haben wir im Westen den Popanz der «gelben Gefahr», des «orientalischen Despotismus» aufgebaut und dabei verpasst, mit einem weltoffenen Umgang gegenüber dem Fremden unser eigenes Leben, unsere eigenen 195
Kulturen zu bereichern. Auch wenn wir heute weitaus besseren Zugang zu vielfältigen Informationen und Erfahrungen haben, so heisst das nicht, dass wir nicht auch weiterhin Fehlbeurteilungen aufsitzen. Dies deutet sich etwa durch den schwierigen Umgang mit China, aber auch durch die Schwierigkeiten an, die das christlich-judäische, monotheistische Europa mit anderen Religionen hat, die ebenfalls Anspruch auf Wahrheit, ja vielleicht gar allein seligmachende Wahrheit erheben. Es ist sicherlich nicht einfach, die eingefahrenen Geleise, die uns in den sieben Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs viel Wohlstand und viele Erfolge beschert haben, zu verlassen. Der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier, dem radikale Brüche mit dem, was sich in der Vergangenheit bewährt hat, in der Regel schwerfallen. Im Jargon der Ökonomen und Politiker wird dies dann als Reformstau bezeichnet. Jeder, der etwas auf sich hält, mahnt andauernd und bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit von Reformen an. Was diese genau beinhalten und wie sie umzusetzen sind, bleibt meist unbeantwortet. Auch ist unverkennbar, dass die Ermahnungen zu Reformen oft durch mehr oder weniger verhüllte Eigeninteressen diktiert werden. Deshalb wird hier bewusst nicht in den trendigen Chor der Reform-Protagonisten eingestimmt, sondern nur angemerkt, dass eine Offenheit gegenüber der Welt und gegenüber dem Neuen schon immer ein gutes Rezept war, um sich in einer ständig sich verändernden Welt zu behaupten. Welche Reformen dies bei unseren Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen beinhaltet, soll von politischen Entscheidungsträgern entworfen und letztlich vom Souverän abgesegnet werden. Wie bereits erwähnt: Schon die Schweizer Pioniere, die im 17. und 18. Jahrhundert ins ferne und exotische Asien aufgebrochen sind, wussten, dass Pragmatismus und Anpassung überlebensnotwendig sind. Heute braucht es nicht mehr denselben physischen und auch psychischen Wagemut, um nach Asien aufzubrechen. Die meisten Gefährdungen, mit denen die frühen Asienpioniere praktisch tagtäglich konfrontiert waren, sind heute beseitigt. Von der Bequemlichkeit her ist das Geschäftemachen insbesondere in den grossen asiatischen Metropolen so angenehm wie in jeder westlichen Grossstadt. Im Zeitalter des Jumbojets und des Internets ist Auswanderung auch nicht mehr mit dem 196
lebenslangen Bruch mit der Heimat verbunden. Und waren früher Gesundheit und Sicherheit die Hauptsorgen der Expatriates, so sind es heute die Lebenskosten. Städte wie Mumbai und Jakarta sind inzwischen für diejenigen, die einen gehobenen westlichen Lebensstil pflegen wollen, so teuer wie die beliebtesten Städte in Europa. Je weniger abenteuerlich der Aufbruch und Ausbruch nach Asien erscheint, desto weniger attraktiv ist der Kontinent für diejenigen, die vor Ort eine Goldgräberstimmung anzutreffen hoffen. Dafür ist, so man von wenigen weissen Flecken auf der Landkarte absieht, kein Raum mehr. So häufig die wichtigen asiatischen Länder auch als «aufstrebende Volkswirtschaften» bezeichnet werden, so wichtig ist es, im Sinn zu behalten, dass wir es in den meisten Wirtschaftsbereichen, die für Ausländer von Interesse sind, inzwischen mit «reifen Märkten» zu tun haben. Zweitklassige Technologien und Dienstleistungen haben da nichts mehr zu suchen. Wer sich mit einer Entwicklungshelfermentalität nach Asien aufmacht, liegt sowieso um eine Generation zurück. Asien hat in den vergangenen drei Jahrzehnten, von der Krise von 1997/98 abgesehen, das Vertrauen der Welt in seine wirtschaftliche Potenz voll gerechtfertigt. Natürlich läuft in Indien vieles noch immer sehr schwerfällig und zeitaufwendig ab; noch immer gibt es berechtigte Skepsis an der politischen Stabilität Chinas; noch immer kann man sich zu Recht über die notorische Neigung der Japaner zum Protektionismus aufregen; und noch immer gibt es in Südost- und Ostasien jede Menge von potenziellen Spekulationsblasen, deren Platzen jederzeit zu einem bösen Erwachen führen könnte. All dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass, wer auf Asien gesetzt hat, weise und profitabel gehandelt hat. Gescheiterte, die aufs falsche Pferd gewettet haben oder sich von Blendern haben verführen lassen, tragen selbst dafür de Verantwortung. Asien und gerade auch die neue Weltmacht China stehen heute dort, wo sie sind, weil sie von den weltwirtschaftlichen und geopolitischen Strukturen profitieren konnten, die im Wesentlichen von den westlichen Industriestaaten seit dem 18. Jahrhundert und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden sind. Natürlich soll nicht unterschlagen werden, dass die Europäer und Amerikaner nicht als Pestalozzis 197
und selbstlose Retter nach Asien gekommen sind, sondern aus Eigeninteresse. Bei aller Anerkennung der immensen materiellen und immateriellen Schäden, die der Okzident im Orient angerichtet hat, dürfen wir nicht vergessen, dass die Globalisierung, von der die grossen asiatischen Volkswirtschaften überdurchschnittlich profitiert haben, auf den vom Westen geformten Strukturen und Fundamenten der Weltwirtschaft und des Freihandels beruhen. Hätte die Moderne ausschliesslich im Zeichen des Merkantilismus gestanden, so wäre es nie zu der gewaltigen Wohlstandsmehrung der letzten zweihundert Jahre und damit auch zu den asiatischen Wirtschaftswundern der letzten fünf Jahrzehnte gekommen. Gerade wenn China zu Beginn des asiatischen Jahrhunderts hegemoniale und merkantilistische Versuchungen offenbart, sollte die Schweiz zu denjenigen Freihandelsnationen gehören, die mit reichlich Nachdruck den Wert einer offenen Weltwirtschaft vertreten und in Verhandlungen mit China deutlich machen, dass längerfristig diese Offenheit auch dem Reich der Mitte hilft. Der zivilisatorische Zusammenbruch im Mittleren Osten, das Scheitern gleich mehrerer islamischer Staaten in Afrika, West- und Südasien sollte inzwischen auch den Kulturrelativisten im Westen, die noch so reaktionäre, totalitäre und intolerante Haltungen unter dem Label «Pluralismus» akzeptieren wollten, ins Bewusstsein gebracht haben, dass die Welt einmal mehr an einer Wegscheide steht, da es um das Obsiegen von Kultur oder Barbarei geht. Die Europäer scheinen weder im Guten noch im Schlechten in der Lage zu sein, der Barbarei ein Ende zu setzen, weshalb die Bedeutung der grossen asiatischen Kulturnationen bei der Gestaltung und Sicherung einer neuen Weltordnung umso wichtiger ist. Während die EU wegen ihrer historischen und nationalstaatlichen Widersprüche nie den Status einer weltpolitisch relevanten Macht erreichen konnte, ist es neben den USA an der Volksrepublik China und, in begrenzterem, aber nicht minder wichtigem Masse, an Japan, Indien und Indonesien dafür zu sorgen, dass das asiatische Jahrhundert zu einem Erfolg wird und nicht die Katastrophen wiederholt werden, die in den beiden vorangehenden Jahrhunderten nicht vermieden werden konnten. Der Auf- und Ausbruch der Schweiz aus Europa ist auch im Lich198
te der gewaltigen geopolitischen und ökonomischen Aufwertung Asiens in der Welt zu sehen. Wir müssen uns klarmachen, dass das asiatische Zeitalter kein von einer amerikanischen Werbefirma erfundener Slogan und der Wiederaufstieg Asiens nichts Temporäres oder Provisorisches ist. Wer darauf wettet, dass sich die Dinge schon wieder arrangieren werden und man über kurz oder lang zum Status quo der westlichen Dominanz zurückkehren wird, setzt aufs falsche Pferd. Die Ordnungen, die im 19. und 20. Jahrhundert etabliert worden sind, gehören den historischen Archiven an und werden nie mehr neu zu beleben sein. Mit dieser Erkenntnis tun sich die grossen Nationen in Europa schwer. Ein Kleinstaat wie der Schweiz, der nie mehr hat sein wollen als ein erfolgreicher Nischen-Player, kann sich leichter mit neuen Machtverhältnissen, über deren Gestaltung er ohnehin keine Verfügung hat, abfinden. Im Gegenteil, gerade wegen seiner Kleinheit wird er von den neuen Chancen des asiatischen Zeitalters besonders üppig profitieren können. Mit einer weiteren Illusion gilt es zum Schluss aufzuräumen, dass nämlich die offensichtliche Verwestlichung des mittelständischen, urbanen Asiens letztlich ein Triumph auch der westlichen politischen und sozialen Ordnungen sei. Wer so denkt, liegt in zweifacher Hinsicht falsch. Zum einen verkennt er den Pragmatismus der Asiaten, die westliche Technologien rasch und umfassend übernehmen, deshalb aber keine Westler werden. Tokio ist wohl die am meisten amerikanisierte Stadt Asiens, zumindest vom urbanen Bild her. Gleichzeitig ist und bleibt Japan das Land in Ostasien, das sich, von Nordkorea abgesehen, am meisten in seinen Ordnungs- und Wertevorstellungen abschottet. Interessanterweise geht die zivilisatorische Verwestlichung, die grosse Teile Asiens erfasst hat, mit einer verstärkten Besinnung auf die eigene Geschichte und Kultur einher. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Neubesinnung Chinas auf Konfuzius oder bei der neuen Wertschätzung der hinduistischen Mythologie und Kultur seit dem Regierungswechsel in Delhi. Hierbei handelt es sich um die Folge einer zweiten asiatischen Fähigkeit, die von Westlern oft verkannt oder auch falsch interpretiert wird: das gleichzeitige Leben von mehreren Identitäten. Man kann in Japan dem Schintoismus und dem Buddhismus huldigen; man kann in Indien als Frau eine 199
Grossbank leiten und gleichzeitig eine arrangierte Heirat gehabt haben; in China kann man überzeugt sein, den Sozialismus zu verwirklichen, und gleichzeitig als rücksichtsloser Kapitalist das grosse Geld machen. Wir im Westen sehen all dies als Widerspruch, als Charakterlosigkeit usw. an, wo doch das asiatische Argument kein anderes wäre, als dass man mit mehreren Identitäten die sich bietenden Lebenschancen besser und profitabler nutzen kann. «Ex oriente lux», aus dem Orient kann der Westen, kann die Schweiz frisches Vertrauen in die eigenen Werte gewinnen und durch Erfolge auf den asiatischen Märkten neues Selbstbewusstsein und eine optimistische Einstellung zur Zukunft erhalten. Nichts tut einem an manchen Fronten gebeutelten und durch die Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft und in der Weltbevölkerung verunsicherten alten Kontinent besser als ein guter Schuss frischen Selbstvertrauens und die Erkenntnis, dass jede Generation die Chancen, die sich aus der neuen Weltordnung ergeben, mit dem erforderlichen Pragmatismus und der ebenso nötigen Zuversicht nutzen muss.
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Urs Schoettli
Die neuen Asiaten Ein Generationenwechsel und seine Folgen 2. Auflage 384 Seiten, Klappenbroschur ISBN 978-3-03823-899-7
«Asien wird das westliche Schicksal in Zukunft entscheidend prägen – die These ist nicht neu, doch das Besondere an diesem Buch ist die ausführliche und plausible Begründung.» Persönlich, August/September 2013 «Bei Schoettli verbinden sich fundierte Landeskenntnisse mit journalistischer Gestaltungskraft. Seine Auseinandersetzung mit Geschichte, Mentalität und Entwicklungspotenzial der asiatischen Völker und Regionen liest sich flüssig und ist trotz Anreicherung mit neustem Zahlenmaterial alles andere als ein trockener Wälzer.» Urs Rauber, Bücher am Sonntag, 28. April 2013
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