Seelenverwandte. Der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Heinrich Zangger (1910-1947)

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Robert Schulmann Hrsg.

Seelenverwandte Der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Heinrich Zangger 1910 –1947

Verlag Neue ZĂźrcher Zeitung


Robert Schulmann (Hrsg.)

Seelenverwandte Der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Heinrich Zangger (1910–1947)

Unter Mitarbeit von Ruth Jörg

Verlag Neue Zürcher Zeitung


Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich Universität Zürich Stiftung für Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften Departement Physik der ETH Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Universität Zürich und Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich © 1987–2012 Einstein, Albert; The Collected Papers of Albert Einstein. Hebrew University and Princeton University Press. Alle Rechte der Einstein-Briefe vorbehalten bei Princeton University Press Gestaltung und Satz: swissedit, Zürich Umschlaggestaltung: Atelier Mühlberg, Basel Druck und Einband: freiburger graphische betriebe, Freiburg i. Br. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-784-6 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


Inhalt Einleitung

7

Quellenlage und Editionsproblematik

22

Chronologie Albert Einstein – Heinrich Zangger

26

Abkürzungen

28

Briefe Frühjahr 1910 bis Frühjahr 1911: Nr. 1–7

32

Frühjahr 1911 bis Sommer 1912: Nr. 8–51

40

Herbst 1913 bis Frühjahr 1914: Nr. 52–57

100

Frühjahr 1914 bis Frühjahr 1918: Nr. 58–185

107

Frühjahr 1918 bis Frühjahr 1926: Nr. 186–270

295

Herbst 1926 bis 1947: Nr. 271–381

429

Anhang Literaturverzeichnis

596

Kurztitelregister

608

Personenregister

611

Ortsregister

619

Verzeichnis der Briefe von und an Dritte

628

Bildnachweise

632

Dank

633


Einleitung «Mir [hat] stets die Seelenverwandtschaft mehr bedeutet . . . als die leibliche.»1 Ein ziemlich schockierendes Eingeständnis gegenüber seinem eigenen Sohn, das der hehre Physiker Einstein hier macht. Es überrascht aber diejenigen unter seinen Bewunderern kaum, denen bewusst ist, dass Einstein die Nähe zu gleichgesinnten Kollegen stets höher einschätzte als seine Zuneigung zur eigenen Familie. Doch die Abgeklärtheit, mit der der 53-Jährige diese Feststellung trifft, enthüllt eine tiefere Wahrheit: Die Selbstbeherrschung, die man dem weltberühmten Einstein – dem Weisen aus Princeton – ohne Zögern und fraglos zuschreibt, erreichte er erst nach mühevollen Kämpfen in seinen früheren Jahren und bezahlte dafür einen hohen emotionalen Preis. Es wird allzu leicht übersehen, wie steinig der Weg war, den Einstein als junger Mann zurücklegte, und wie sehr die gefühlsmässigen Wirrnisse seiner Jugend und seines Erwachsenwerdens ihn umtrieben und mit welch eisernem Willen er sie überwand. Mit einer Zielstrebigkeit, die durchaus seiner Beharrlichkeit bei der Verfolgung seiner intellektuellen und beruflichen Ziele vergleichbar ist, stellte sich der junge Einstein seinen emotionalen Krisen, indem er sich für Distanz anstelle von menschlicher Wärme und für die Vertrautheit der geistigen Seelenverwandtschaft statt der Familienbande entschied. Im Verlauf der Jahrzehnte nach 1900 nahm er eine Haltung der Unbekümmertheit ein und entwickelte gleichzeitig ausgeklügelte Verteidigungsstrategien, um sich gegen häusliche und berufliche Schwierigkeiten abzuhärten: «Ich fahre immer mit meiner Harmlosigkeit, die doch zu 20 % bewusst ist, am besten.»2 Dies waren die Jahre – bis zum Frühjahr 1914 in Zürich und danach in Berlin –, in denen Einstein zunächst auf der verzweifelten Suche nach beruflicher Sicherheit war; dann musste er sich der bitteren Tatsache stellen, dass seine Ehe gescheitert war, und auch seine Beziehung zu seinen beiden Söhnen wurde zusehends schwieriger. In seinen Forschungen mühte er sich redlich damit ab, die Feldgleichungen der allgemeinen Relativität zu finden, und in Politik und Gesellschaft wurde er Zeuge des Zerfalls der alten Ordnung in Europa. Nachdem er 1919, im Alter von 40 Jahren, weltberühmt geworden war, setzte er den emotionalen Panzer in unterschiedlicher Weise ein: um sich vor den zunehmend neugierigen Blicken einer bewundernden Öffentlichkeit zu schützen, um sich gegen die Ansprüche seiner ersten Familie in 7


Zürich zu behaupten, und – nachdem er sich in diesem Jahr wieder verheiratet hatte – um sich vor den Erwartungen der zweiten Familie in Berlin abzuschirmen. Die Sorgen wegen der Geisteskrankheit seines jüngeren Sohnes, die zunehmende Entfremdung von seinem älteren Sohn, die finanziellen Schwierigkeiten seiner Zürcher Familie, seine zwiespältigen Gefühle in Bezug auf Berlin, nicht zuletzt wegen der politischen Radikalisierung und dem zunehmenden Antisemitismus – all dies verfolgte ihn weit in seine mittleren Jahre. Die umfangreiche Gesamtausgabe seiner Veröffentlichungen und Briefe, The Collected Papers of Albert Einstein3 – von der bis jetzt zwölf Bände erschienen sind –, enthält eine stattliche Sammlung von Briefen von und an Einstein, die alle Aspekte seiner Beiträge, Einflüsse und Beziehungen in den ersten 42 Jahren seines Lebens (1879–1921) berührt. Sie stellt eine wahre Fundgrube für den Leser dar, bewirkt aber gerade durch ihren Umfang und ihre Vielschichtigkeit, dass wir den Menschen Einstein aus dem Blick verlieren. Die Menschen tendieren dazu, andere nach ihren Erfolgen zu beurteilen; aber was verraten uns diese davon, was wirklich wichtig war im Leben der Betroffenen? Solch eine Annäherung bleibt an der Oberfläche ihrer Persönlichkeit und berührt kaum den ambivalenten Charakter ihrer Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Wesentlich aufschlussreicher sind spontane Überlegungen und Bemerkungen, wie sie regelmässig in Briefen auftauchen. Um eine grössere Unmittelbarkeit zu Einsteins Lebensablauf zu erreichen, müssen wir aus seiner höchst umfangreichen Korrespondenz (die mehrere zehntausend Schreiben umfasst) diejenigen substanziellen Äusserungen herausfiltern, die am unmittelbarsten sind. Glücklicherweise gibt es bei der Suche nach direkten Einblicken in das Gefühlsleben des jungen Einstein eine Reihe von Zeugen, die an seinem Leben in diesen unruhigen Jahren aktiv beteiligt waren. Dabei kommen besonders fünf Personen ins Blickfeld: Mileva Maric´, seine erste Frau, Michele Besso, sein vertrautester Freund, Hans Albert und Eduard, seine beiden Söhne, und Heinrich Zangger, ein enger Freund, der trotz seiner Bedeutung zu Lebzeiten seither dem Vergessen anheimgefallen ist. Wenn man nach der Aussagekraft dieser Beziehungen fragt, tut man jedoch gut daran, sich an Einsteins Bemerkung über die Zerbrechlichkeit solcher Beobachtungen zu erinnern: «Das geschriebene Wort [ist] eben ein gar trügerisches Übertragungsmittel der Gedanken und Gefühle, wenn es sich nicht um exakte Wissenschaft handelt.»4 Das trifft umso mehr zu, als der Zugang zu 8


Einsteins Persönlichkeit durch seine spielerischen Übertreibungen und nicht ernst gemeinte, oft ironische Äusserungen erschwert wird. Einsteins Briefwechsel mit Mileva Maric´ ist von Anfang an durch die Überzeichnung des um seine Geliebte werbenden Freiers verzerrt und später durch eine tiefe Bitternis geprägt, die nach der Scheidung 1919 nur mühsam in Schach gehalten wird. Jedoch gewähren die zwischen 1897 und 1903 ausgetauschten Briefe mit Mileva Maric´ überaus wertvolle Einblicke in Einsteins intime Vertrautheit mit der physikwissenschaftlichen Literatur seiner Zeit und in seine Interessen in Bezug auf die wissenschaftlichen Fragen, die ihn beschäftigten. Diese Briefe aus dem ersten Abschnitt ihrer Beziehung wurden als The Love Letters 1897–1903 von Jürgen Renn und Robert Schulmann herausgegeben.5 Einsteins lebenslange Korrespondenz mit Michele Besso stellt eine andersgeartete Herausforderung an den Leser dar. Das Problem liegt weniger in der Art der Korrespondenz als im Charakter von Besso. Dieser erhielt zwar eine Ausbildung als Maschinenbauingenieur an der ETH Zürich, aber er blieb ein weltfremder Mensch mit einer sanften Güte, für den die Herausforderungen einer Karriere wenig Bedeutung hatten gegenüber seinem Interesse an religiösen und philosophischen Fragen. Besso war sicherlich der beständigste Resonanzboden für Einsteins physikalische Überlegungen, und er füllte die Rolle des bestätigenden Jüngers sowohl in wissenschaftlichen Fragen als auch in persönlichen Angelegenheiten voll aus. Der Austausch zwischen den beiden Freunden ist in einem Band festgehalten, den der Schweizer Mathematikhistoriker Pierre Speziali vor 40 Jahren herausgegeben hat.6 Der Briefwechsel mit den Söhnen Hans Albert und Eduard Einstein ist erst seit Kurzem zugänglich und wurde bisher nicht publiziert; er gelangt jedoch schrittweise in den Collected Papers an die Öffentlichkeit. Ähnlich Einsteins Austausch mit Mileva Maric´ in den frühen Jahren quellen die Briefe an die Söhne von Emotionen über und widerspiegeln das Auf und Ab der Beziehung. Der Einblick des Lesers wird durch die ständigen, wenn auch berechtigten Vorwürfe der Vernachlässigung durch Hans Albert und Eduard getrübt, die durch einen fast mutwilligen Mangel an Sensibilität des Vaters erwidert werden. In dieser Sammlung von Briefen laufen die erzählenden Stimmen oft Gefahr, von Verbitterung und Misstrauen übertönt zu werden. Bei Heinrich Zangger sind es die moralische Autorität und Urteilsschärfe, die seinem schriftlichen Austausch mit Einstein einen besonderen 9


Platz zuweisen. Über mehrere Jahrzehnte hinweg gelang es Zangger, seinem Freund durch seine beruhigende Präsenz Halt zu bieten. Die Briefe zwischen den beiden sind infolge eines ihnen innewohnenden Widerspruchs besonders faszinierend: Ihr Austausch selbst über die delikatesten und persönlichsten Themen wurde auf einer sehr formalen Ebene geführt, wobei Zangger die Rolle des vertrauten, aber unbeteiligten Aussenstehenden zukam. Einstein, der ein extrem auf den Schutz seiner Privatsphäre bedachter Mensch war, war dennoch in der Lage, Zanggers moralische Rechtschaffenheit anzunehmen, weil sein Schweizer Freund immer darauf achtete, eine fast klinische Distanz einzuhalten. Einstein fasste dieses Vertrauen sehr bündig zusammen: «Wenn ich dem Zangger nicht alles offen sagen soll, wem dann?»7 Bei einer späteren Gelegenheit erläuterte er seine Einschätzung des Freundes folgendermassen: Trotzdem er kaum älter war als ich war sein Verhältnis zu mir sozusagen etwas väterlich, was hauptsächlich auf sein überlegenes psychologisches Verständnis und sein Bedürfnis zu helfen und überhaupt zum Guten zu wirken zurückzuführen ist. Er hatte ein geradezu unfehlbares Verständnis für objektive und psychologische Situationen und eine erstaunliche, angeborene Kombinationsgabe.8 In späteren Jahren wurde der schriftliche Austausch zwischen den beiden immer spärlicher. Nach Einsteins Abreise in die USA im Herbst 1933 liess dieser den Briefwechsel einschlafen und brach ihn 1947 mit einem gravierenden Vorwurf an Zangger ab. Auf dieses dramatische Ende werden wir etwas später eingehen. Der Briefwechsel begleitet Einstein und den um weniger als fünf Jahre älteren Zangger von 1910 bis 1947. Er beschreibt erst die Einführung des Jüngeren in die akademische Welt und deren soziale Netzwerke, dann die wechselnden Schicksale seines Familienlebens, die Schaffung eines öffentlichen Images und seine wachsende Empfindsamkeit gegenüber den sozialen und politischen Missständen. Gerade zu der Zeit, als Einstein anfing, Anerkennung in der Fachwelt der Physik zu bekommen, kämpfte Zangger darum, in einem akademischen Establishment Fuss zu fassen, das gleichgültig, wenn nicht sogar offen feindselig gegenüber seiner interdisziplinären Vision einer gemeinsamen Anstrengung von Recht und Medizin gegen Gefahren und Missstände eingestellt war. Und doch war Zanggers Selbstlosigkeit in dieser Zeit extremer Frustration in seiner eigenen Karriere grenzenlos. Obwohl er genauso ehrgeizig wie sein 10


Freund darin war, sich einen Namen in der Wissenschaft zu machen, widmete er sich grosszügig der Aufgabe der Förderung von Einsteins beruflichem Vorankommen und persönlichem Wohlergehen. Ohne Zanggers Einsatz und Vermittlung wäre Einstein vielleicht 1909 nie der gewaltige Sprung vom Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum, dem Patentamt in Bern, an die Universität Zürich gelungen – und sicher nicht 1912 seine Rückkehr von Prag als Professor der Physik an die ETH, seine Alma Mater. Einstein erkannte dies in einem Brief an einen gemeinsamen Freund freimütig an: «Ich freue mich riesig [auf die ETH] u. werde nie vergessen, dass ich dies allein meinem lieben Freund Zangger verdanke.»9 Wer war dieser Mensch, dieser «Plaggeist von rührender Güte»10, der Einstein so sehr durch seinen psychologischen Scharfsinn beeindruckte und der – trotz seiner unglaublich umfangreichen Korrespondenz (seine Kopialbücher umfassen allein 15 000 Schreiben!) – im Grunde ein zurückhaltender Mensch war? Der gesellschaftliche und soziale Hintergrund der beiden hätte kaum unterschiedlicher sein können. Zangger kam aus dem wohlhabenden, alteingesessenen, bäuerlichen Mittelstand des Zürcher Oberlandes, Einstein aus dem erst kürzlich assimilierten, süddeutschen Judentum, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen gesellschaftlichen und beruflichen Aufschwung erlebt hatte. Zanggers intellektuelle Fähigkeiten wurden früh erkannt und auf der Kantonsschule und an der Universität Zürich gefördert. Seine instinktive kosmopolitische Einstellung wurde durch medizinische Studien in Italien und Frankreich bestärkt und sein Aussenseiterstatus durch sein Studium der Gerichtsmedizin garantiert, ein Gebiet, das er als eine «Brücke zwischen den Naturwissenschaften und Wertwissenschaften»11 bezeichnete. Zangger, der ein fundiertes Wissen sowohl in den Natur- als auch in den Humanwissenschaften hatte, war einer der führenden Gerichtsmediziner seiner Generation. Er hatte ein enzyklopädisches Interesse an den sich überschneidenden Aspekten der Medizin, des Rechts, der Politik und der Ethik. Darüber hinaus stand er im Zentrum eines Netzwerkes von akademischen, institutionellen und humanitären Verbindungen, die er grosszügig mit Einstein teilte. Einer der angesehensten gemeinsamen Bekannten war der französische Dichter, Nobelpreisträger und Pazifist Romain Rolland. Ein Beispiel der praktischen Anwendung von naturwissenschaftlichem und technischem Wissen zum Wohl der Menschheit war Zanggers Rettungsinitiative während des Grubenunglücks von Courrie`res (Nord11


frankreich) im Jahr 1906; dieser Einsatz Zanggers hinterliess bei Einstein einen bleibenden Eindruck. Die Erfahrungen, die Zangger bei dieser Gelegenheit und bei späteren Unglücksfällen sammeln konnte, bildeten die Grundlage für den von ihm neu geschaffenen Bereich der Katastrophenmedizin. Neben seiner akademischen Karriere setzte er sich unermüdlich dafür ein, während des Ersten Weltkrieges eine bessere Behandlung für die Kriegsgefangenen auf allen Seiten zu erreichen und eine Hungerhilfe für die Deutschen und die Osteuropäer auf die Beine zu stellen, die unter der alliierten Blockade während und nach dem Krieg zu leiden hatten. Ein ähnliches Engagement stand hinter seinen Bemühungen in der Internationalen Kriminalpolizei-Kommission, welche die Einnahme von Rauschgift einzudämmen versuchte. Er bemühte sich auch als Mitglied des Internationalen Roten Kreuzes in leider erfolglosen Kampagnen, die Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von Giftgas zu schützen, und er versuchte im Alleingang, die Verwendung von Bleizusätzen im Benzin abzuschaffen. Seine zahlreichen Abhandlungen zu allen möglichen Aspekten von Gefährdungsfragen wurden fester Bestandteil der Arbeitsmedizin. Der Briefwechsel der beiden gibt keinen Hinweis auf ihr erstes Zusammentreffen; aber zwei Seiten von Zanggers etwa 1950 flüchtig zu Papier gebrachten Notizen in Schachtel 216 seines Nachlasses deuten darauf hin, dass er 1905/06, als frischgebackener ausserordentlicher Professor an der Universität Zürich, nach Bern gegangen war, um Einsteins Rat zu suchen. Letzterer, damals technischer Experte dritten Grades am Patentamt, hatte gerade seine Dissertation über eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen fertiggestellt und einen Artikel zu diesem Thema in den Annalen der Physik veröffentlicht. Nur etwa ein Jahr nachdem Einstein im Herbst 1909 eine ausserordentliche Professur an der Universität Zürich angetreten hatte, begann der Briefwechsel zwischen den beiden. In den gleichen Notizen schreibt Zangger dann, dass seine Fürsprache für Einstein bei der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich dessen Ernennung wesentlich befördert habe. Dies lässt es sehr wahrscheinlich erscheinen, dass die beiden nach ihrem ersten Zusammentreffen in Verbindung geblieben sind, wenn sich auch keine Spuren davon in der Korrespondenz finden lassen. Die Seelenverwandtschaft, die sich zwischen ihnen im Lauf der nächsten Jahre festigte, war nicht immer eine harmonische Beziehung; ihr Verhältnis war oft belastet und spannungsvoll. Wenn Zangger es für angebracht hielt, war er durchaus in der Lage, seinen Freund «in aller 12


Schärfe u. Offenheit»12 anzugehen. Bei einer Gelegenheit, als Einstein Zangger wegen eines seiner Meinung nach unangebrachten Ratschlags in Familienangelegenheiten zur Rede stellte, zögerte Zangger nicht, kräftig auszuteilen: «Glauben Sie wirklich, wir functionieren so einseitig & gedankenlos, wie Sie nach Ihrem letzten Brief zu glauben scheinen.»13 Nachdem Einstein erkannt hatte, dass er mit seinem Vorwurf der Einmischung zu weit gegangen war, tat er etwas für ihn sehr Ungewöhnliches: Er gab nach. Was die beiden – jenseits des Persönlichen – in ihrem Denken und Empfinden einte, war das, was Besso als «das sensorium commune unseres Zeitalters»14 bezeichnete. Einstein sprach genauer von der gegenseitigen Teilnahme an der «Gemeinschaft der einsamen Menschen, die immun sind gegen die Epidemieen des Hasses, die in der Abschaffung des Krieges ein erstes Ziel der moralischen Gesundung der Menschen erstreben»15. Die Betonung des «Einzelgängerstatus» kommt nicht von ungefähr. Beide Männer zogen es vor, auf das Ziel einer friedlichen Welt hinzuarbeiten, ohne sich Massenbewegungen anzuschliessen. Während Einstein trotzdem in die üblen Politikzustände der Weimarer Republik verwickelt wurde, gelang es Zangger, die organisatorischen Fallstricke zu vermeiden, die ihn Ende der 1920er-Jahre in Berlin erwarteten. Wie Zangger deutlich erkannte: «Ich passe nicht für Vermischung von Wissenschaft, Erkennung und leerer Verbreiung von Politik.»16 Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden war ihr Misstrauen gegenüber «Obrigkeit», eine Verachtung für Autoritäten. Nach erbitterten und lang sich hinziehenden Verhandlungen mit den preussischen akademischen Behörden brach es aus Zangger gegenüber einem jüngeren Kollegen heraus: «Das Scholastik-Bonzentum wird in Deutschland schon wieder direkt unerträglich.»17 Aus diesem Blickwinkel sah er auch die ganze gesellschaftliche und politische Atmosphäre der 20er-Jahre in Deutschland: «An Deutschland entsetzt mich diese Sucht zu regieren und diese Selbstverständlichkeit, dass das Volk bis zum Untergang Ausbeutung, Betrug, miserable Nahrung, toxische Ersatzprodukte ohne jede Reaktion ertragen soll.»18 Die Verachtung für elitäres Gebaren war die Grundlage für die instinktive Affinität zwischen dem verspielten, mehr impulsiven Einstein und dem strengen Zangger, wobei die Ironie darin besteht, dass beide selbstverständlich herausragende Mitglieder der intellektuellen Elite ihrer Zeit wurden. Wichtiger trotz späterer Erfolge war, dass beide sich immer 13


als Aussenseiter fühlten, die gegen festgefahrene Machtstrukturen ankämpfen mussten. Zangger, der gewiefte Taktiker und Meister der akademischen Grabenkämpfe, empfand besondere Verachtung für die Beamtenmentalität. Während er behauptete, dass der Kriegsnotstand die besten Seiten der Schweizer Bevölkerung hervorgekehrt hätte, nahm er die «neidischen Bureaukraten, die sich zurückgesetzt fühlten»19, aus. Dieses Urteil war zweifelsohne teilweise eine Widerspiegelung seiner belasteten Beziehungen mit beharrlichen und widerspenstigen Kantons- und Bundesbehörden, über deren lästige und erniedrigende Anforderungen er sich häufig beklagte: «Ich bin allerdings die letzte Zeit ziemlich gelahmt verhetzt, dass ich über der Arbeit nasse Augen bekomme, der grossen Arbeit für Behörden, sintemal Expertisen die nicht bezahlt werden, die mich noch viel kosten. So gemein ist der Staat.»20 Beider Kritik richtete sich auch gegen andere Erscheinungen der Zeit. Sie teilten unsentimentale Auffassungen über die Menschheit, die sie manchmal in ziemlich harter Form äusserten, besonders wenn es um den von beiden konstatierten Wahnsinn des Ersten Weltkrieges ging. So schrieb Zangger wenige Monate nach Ausbruch des Krieges: «Warum versagt die volle Menschliche Intelligenz heute gerade so wie in einem Familienstreit um einen kleinen Erbvorteil.»21 Der Glaube an die schliessliche Besserungsmöglichkeit der Menschheit überwog die Skepsis der beiden Freunde, obwohl ihre Bereitschaft zum Einsatz für ihre gesellschaftlichen Ideale unterschiedlich stark war. Wie Einstein in der Mitte dieses Krieges Zangger gegenüber äusserte: Sie suchen als sozial gläubiger Mensch die grauenhaften Leiden zu mildern, denen die Menschen jetzt zum Opfer fallen, und finden Trost am Wirken. Unsereiner aber wird durch die Fülle des unverstandenen Rätselhaften und unsagbar Hässlichen so abgestossen, dass er sich noch mehr als sonst in das Schneckenhaus seiner Grübelei verkriecht.22 Diese Einstellung Einsteins blieb konstant auch in den späteren Jahren. Während er sich immer mehr nach aussen wandte, nachdem er berühmt geworden war, und öffentliche Warnungen vor dem Aufstieg von Militarismus, Faschismus und der nuklearen Katastrophe verbreitete, zog er sich in sein Inneres zurück und betrachtete das Leben aus einem stoischen, fast asketischen Blickwinkel. Obwohl er seinen Namen für zahllose Anliegen und Forderungen hergab, fühlte er sich persönlich nie einer bestimmten 14


Anhängerschaft verpflichtet. Da, wo Einsteins Eintreten für soziale Gerechtigkeit ambivalent blieb, war Zanggers Einsatz unerschütterlich. Wie es sein Nachfolger am Institut für Gerichtsmedizin der Universität Zürich ausdrückte: «Der Lebensweg Heinrich Zanggers [. . .] bedeutet keine zufällige Entwicklung, sondern ein konsequentes Fortschreiten in einer Richtung [. . .] Das Ziel war: Dienst am Menschen.»23 Die Beziehung der beiden durchläuft mehrere Phasen. Die ersten Briefe (Frühjahr 1910 bis Frühjahr 1911) handeln von Zanggers Versuchen, sich mit Einsteins Arbeiten über Kolloide vertraut zu machen, vermitteln seine Gedanken über die eigenen Forschungen und seine Lektüre von Veröffentlichungen der Pioniere der physikalischen Chemie wie Fritz Haber und Isidor Traube. Die nächste Phase umfasst den Zeitabschnitt, als Einstein die Universität Zürich verlässt und für drei Semester an die Karlsuniversität in Prag geht (Frühjahr 1911 bis zu seiner Rückkehr nach Zürich im Herbst 1912). Hier liegt der Schwerpunkt vor allem auf Zanggers Bemühen, die normalen Kanäle für Einsteins Berufung an die ETH zu umgehen, ein Vorgehen, das sein Urheber als «mit Feuer blasen»24 beschreibt. Sehr einprägsam fasst er die Opposition aus einigen Teilen der ETH gegen seine Einmischung als Universitätsangehöriger zusammen: «Grosse Wut am Poly auf mich: Dies geht Z. einen Dreck an.»25 Die Uneigennützigkeit Zanggers bei diesen Manövern wird durch die Tatsache unterstrichen, dass er zu diesem Zeitpunkt sich selbst darum bemüht, ein Ordinariat an der Universität zu erhalten. Für den Fall, dass dies scheitern sollte, hofft Einstein mit wenig Feingefühl, dass Zangger eine anderweitige Stelle in Paris findet, «dass Sie bald die Antwort geben können, welche die Canaillen verdienen».26 Dann folgt ein Zwischenspiel von eineinhalb Jahren (Herbst 1912 bis Frühjahr 1914), in dessen Verlauf der frisch an die ETH berufene Einstein über seine Schwierigkeiten mit einer Anzahl von physikalischen Problemen schreibt, einschliesslich seiner Mühen, die allgemein kovarianten Feldgleichungen der Gravitation zu finden. Zangger gesteht, «im Grunde genommen hätte ich eine Personal Union Poly Uni [für Einstein] gerne gesehen».27 Nur eine Woche früher wird Zangger offiziell als Ordinarius an der Universität eingeführt – eine lange herbeigesehnte Auszeichnung, die ihren krönenden Abschluss durch die Einweihung des gerichtsmedizinischen Instituts am 12. Juli 1912 erfährt. Einstein versucht sich im darauffolgenden Jahr als gerichtsmedizinischer Sachverständiger, indem 15


er ein Gutachten über die Gefahren von Kohlenoxidvergiftungen in Zanggers neuem Institut verfasst. Der nächste Abschnitt umfasst die Zeit von Einsteins Abreise von Zürich im Frühjahr 1914, um eine Stelle an der Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin anzutreten, bis zum Frühjahr 1918, als Einstein sich endgültig zur Scheidung von Mileva Maric´ entschliesst, was zur ersten schweren Krise in der Beziehung der beiden Freunde führt. In dieser Zeit beginnt Zanggers Rolle – aufgrund einer unausgesprochenen Übereinkunft – als Sachwalter für Einsteins Familie in Zürich, die von ihrem Familienvater verlassen worden ist. Während der schwerwiegenden Erkrankung von Mileva Maric´ im Jahr 1916 fungieren Zangger und seine Frau, Mathilde Zangger-Mayenfisch, als Ersatzeltern; sie nehmen Hans Albert zu sich und kümmern sich um den kränklichen Eduard, der sich in einem Sanatorium in Arosa erholt. Darüber hinaus sorgt Zangger dafür, dass der erkrankte Einstein im kriegsbetroffenen Berlin mit Nahrungsmittelpaketen aus der Schweiz versorgt wird. Eheprobleme, finanzielle Schwierigkeiten, die schweren Erkrankungen in seiner Zürcher Familie, seine eigenen Magenprobleme sowie seine nervöse Erschöpfung an Weihnachten 1917 – zwei Jahre nachdem er die endgültige Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie vorgelegt hatte – das alles hat Einstein an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die Bestürzung über das sinnlose und immer weitergehende Blutvergiessen im Krieg stellt eine zusätzliche Belastung dar. In seine Dankbarkeit für Zanggers Hilfe in diesen überaus schweren Zeiten mischt sich aber auch ein beachtliches Mass an Groll: «Ich verbitte mir, dass man fortgesetzt über mich wie über einen Schulknaben verfügt.»28 Zangger reagiert umgekehrt auf Einsteins Entschluss, sich nach Jahren der Unentschlossenheit von Mileva Maric´ scheiden zu lassen, indem er dies als ein «Messer an der Kehle ohne jede Vorbereitung»29 verurteilt. Bald darauf löst jedoch der Tod von Zanggers älterer Tochter Gertrud bei Einstein tiefes Bedauern über den Verlust und über sein eigenes schäbiges Verhalten gegenüber dem Freund aus: «Ich will mit allen Kräften bemüht sein, es wieder gut zu machen.»30 Vom Frühling 1918 bis zum Sommer 1926 bewegt sich die Beziehung der beiden in ruhigeren Bahnen. Als Mileva sich damit abfindet, dass eine Scheidung – die im Februar 1919 ausgesprochen wird – unumgänglich ist, wird sowohl ihre Beziehung als auch die von Zangger zu Einstein reibungsloser. Einsteins neue Ehe mit seiner Cousine Elsa Löwenthal, seine Mitgliedschaft in der renommierten Preussischen Akademie, die jetzt mit 16


dem Vorsitz eines Kaiser-Wilhelm-Instituts verbunden ist, und die internationale Anerkennung im Gefolge der britischen Bestätigung einiger seiner Voraussagen durch die allgemeine Relativitätstheorie im November 1919 bescheren Einstein ein Gefühl der Stabilität – und ein grösseres Einkommen. Andererseits bedrohen das Durcheinander der jungen Weimarer Republik und das Ansteigen der Inflation und des Antisemitismus Einsteins gerade erst gefundenes Gleichgewicht. Zangger macht sich Sorgen, dass der neue Ruhm Einstein zu Kopf steigen könnte und er dadurch weniger produktiv werden würde; er schlägt erneut eine Doppelprofessur an ETH und Universität vor, um Einstein zurück nach Zürich zu locken. Einstein bestreitet entschieden, dass sein «Seelenheil» in Gefahr sei,31 und Zangger tröstet sich mit dem Gedanken, dass Einstein seine Bekanntheit «zur Klärung der heutigen menschlichen Werteverwirrung»32 nutzen könnte. Als Einstein Zanggers Unterstützung bei dem Versuch erbittet, Hans Albert davon abzubringen, Frieda Knecht zu heiraten, eine Frau, bei der Einstein den Verdacht hegt, dass sie eine erbliche Geisteskrankheit hat, rät Zangger zu Geduld. In diesem Falle muss der Vater sich allerdings mit der vollendeten Tatsache der Heirat seines Sohnes abfinden. Die letzten Briefe vom Herbst 1926 bis zum Ende ihres Briefwechsels im Jahr 1947 machen eine langsame Auseinanderentwicklung der beiden Männer sichtbar. Neue Erschwernisse belasten ihre Beziehung: wiederholte finanzielle Schwierigkeiten, der langsame Verfall von Eduards Geisteszustand, Mileva Maric´s sich verschlechternde gesundheitliche Verfassung. Der Abstieg in den Wahnsinn des Hitlerregimes wirft seine Schatten über ihre Korrespondenz. 1926 bietet sich Zangger die einmalige Gelegenheit, ein neues gerichtsmedizinisches Institut an der Universität Berlin zu gründen. Er unterhält Einstein mit seinen Eindrücken und Ansichten von der akademischen und ministeriellen politischen Landschaft in Berlin, während dieser sich darauf freut, den Schweizer Freund als Kollegen in der deutschen Hauptstadt begrüssen zu können. In dem Masse, wie sich Zanggers Begeisterung für die Stellung in Berlin abkühlt, beschreibt er verärgert die Korruption der dortigen Behörden und den Widerstand gegen seine Organisationsvorschläge. Völlig frustriert lehnt er schliesslich eine Berufung ab, die zu viele Zugeständnisse verlangt hätte. Aber noch während seiner Überlegungen zu einem Wechsel nach Berlin ist Zangger aktiv eingebunden in die Universitätspolitik in Zürich und wägt alternative Vorschläge für die Nachfolge von 17


Peter Debye (ETH) und Erwin Schrödinger (Universität) ab; in dieser Berufungsfrage unterstützt Einstein Wolfgang Pauli als «meinen StellenEnkel» an der ETH.33 Eduards geistiger Verfall beginnt mit einem schweren Anfall von Depression Ende 1929, und Zangger sorgt sich, dass Einsteins Ernennung am California Institute of Technology für drei Wintersemester den Vater noch weiter aus der Reichweite seines Sohnes entfernen wird. Wie Zangger gegenüber dem gemeinsamen Freund Michele Besso bekennt, gibt es für ihn «keine Begründung, die ich gelten lassen kann ohne Schmerz» als Entschuldigung für Einsteins Nachlässigkeit gegenüber seinem Sohn.34 Zangger selbst ist nicht in der Lage, Eduard genügend Zeit zu widmen und «vor allem bin ich kein Congruenter Vater-Ersatz».35 Einstein weigert sich, den Tatsachen bezüglich der Krankheit seines Sohnes ins Auge zu sehen und reagiert mit besonderer Geringschätzung, wenn Methoden der Psychoanalyse angesprochen werden; diese seien «eine überaus gefährliche Mode».36 Die Lage spitzt sich Ende 1932 zu, als Einstein darauf besteht, dass seine Zürcher Familie ein neues Testament anerkennt, das ungleichgewichtig seine zweite – Berliner – Familie bevorzugt, einschliesslich Elsas beide Töchter aus erster Ehe, Ilse und Margot. Falls Eduard seine Zustimmung verweigern sollte, habe dies Konsequenzen für ihre Beziehung. Zangger kann sich kaum beherrschen: «[Einstein] findet es ganz selbstverständlich, dass er auch in diesem Zustand der Gefahr des Zusammenbruches seines Sohnes seinen Willen mit dem Testament durchsetzt. Das ist mir unverständlich.»37 Einstein merkt, dass er zu weit gegangen ist, und gibt bei den Bedingungen des Testaments nach; in unrealistischer Einschätzung von Eduards Verfassung schlägt er vor, dass sein jüngerer Sohn ihn auf seine nächste Reise nach Kalifornien begleiten soll. Finanzielle Erwägungen nehmen einen immer grösseren Raum in Einsteins Überlegungen ein. Der starke Wertverfall seiner amerikanischen Papiere nach dem grossen Börsenkrach, die Beschlagnahmung seines Eigentums in Deutschland 1933 und die zusätzlichen Ausgaben für Eduards Pflege machen den Verkauf der Häuser notwendig, die Einstein in Zürich kaufen liess, um seine Familie durch Mieteinnahmen zu versorgen. Die Abwicklung der juristischen und finanziellen Vorgänge obliegt nun wiederum Zangger. Da er bei schlechter Gesundheit ist, drängt er Einstein, eine verantwortliche Person zu seiner Entlastung zu finden, wobei er besonderen Nachdruck auf eine langfristige Versorgung von Eduard legt. 18


Einstein, der im Frühjahr 1933 Deutschland endgültig den Rücken kehrt, wägt Angebote von verschiedenen renommierten Instituten in unterschiedlichen Ländern ab, ehe er sich für das Institute for Advanced Study in Princeton entscheidet. Er bagatellisiert Zanggers Befürchtungen, dass Einsteins Ruf in der Schweiz durch die bevorstehende Pfändung der Häuser in Zürich Schaden leiden könnte, und weist kaltschnäuzig darauf hin, dass er nicht vorhat, jemals wieder nach Zürich zurückzukehren; auch meint er: «Mileva [wird] aufatmen, wenn sie die ewigen Sorgen los ist und den Weg der bürgerlichen Schande gegangen ist.»38 Nachdem Mileva Einstein-Maric´ Weihnachten 1946 einen schweren Sturz erlitten hatte, der sie von da an ans Bett fesselte, starb sie eineinhalb Jahre später. Eduard verbrachte seine Jahre in der Pflege von Fremden, mit gelegentlichen Aufenthalten in der psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich, wo er 1965 starb, zehn Jahre nach seinem Vater, den er nach Mai 1933 nie wieder gesehen hatte. Der ältere Sohn Hans Albert lebte ab 1938 in den USA und starb 1973 als emeritierter Professor für Wasserbau an der University of California, Berkeley. Heinrich Zangger überlebte seinen Freund Einstein um zwei Jahre und starb 1957 in Zürich. Die Beziehung zwischen Einstein und Zangger endet nach einer längeren Phase des Auseinanderdriftens mit einem Missklang. Es gibt Phasen, in denen Einstein Zangger überhaupt nicht schreibt: Im Mai 1932 beschwert sich Zangger, dass er fünf Briefe geschrieben habe, ohne die geringste Antwort zu bekommen; im September 1938 schreibt er, dass er nur einmal in den letzten vier Jahren von Einstein gehört habe. Die Brüchigkeit der Beziehungen zwischen den beiden wird zwar durch Einsteins Abreise nach den Vereinigten Staaten im Herbst 1933 verstärkt – aber nur sekundär dadurch verursacht. Nachdem Einstein in vielen Phasen ihrer Beziehung von Zanggers Vermittlung abhängig gewesen ist, empfindet er diese Abhängigkeit unweigerlich als belastend. Es gibt jedoch einen speziellen Brief und einen tieferen Bezug, dem wir uns für eine Erklärung des Abbruchs der Beziehung zuwenden müssen. Nach einem Schweigen von acht Jahren schrieb Einstein 1947 den letzten bekannten Brief an Zangger,39 in dem er seine Nachlässigkeit auf etwas anderes als die übliche Schreibfaulheit zurückführte. Er berichtete, dass er im Innersten verletzt worden war durch eine Passage in Zanggers Brief vom Juni 1933,40 in der dieser sich zu den Verfolgungen der Juden in Deutschland kurz nach Hitlers Machtergreifung äusserte: «Das Traurige an allen diesen Aktionen ist wohl zu allen Zeiten gewesen, dass ganz 19


besonders solche getroffen werden, die in keiner Weise Grund waren dieser Aktionen.» Im Jahr 1947 sah Einstein diese Bemerkung unter dem nachträglichen Blickwinkel des Holocaust – und gleichbedeutend mit der Unterstellung durch Zangger, dass – während einige Juden schuldlos waren – andere ihr Schicksal verdient hätten. Einem Biografen schrieb Einstein einige Jahre später dazu: «Das beleuchtete blitzartig die durch Tradition bedingte unüberbrückbare Kluft.»41 Einsteins differenzierte Ambivalenz gegenüber Deutschland in den 1920er-Jahren – Stolz auf seine kulturelle Tradition gepaart mit Abscheu vor seiner politischen Militanz und seiner Machtreligion – hatte keinen Bestand mehr; seine Bitterkeit über seine früheren Landsleute war unabänderlich: «Nachdem die Deutschen meine jüdischen Brüder in Europa hingemordet haben, will ich nichts mehr mit Deutschen zu tun haben.»42 Es ist keine schriftliche Antwort Zanggers auf Einsteins Schreiben überliefert. In demselben Brief, in dem Einstein die Kluft zwischen den beiden Männern beleuchtete, fasste er jedoch auch ihre Beziehung in dem positiven Grundton zusammen, der diesen Austausch seit mehr als 30 Jahren getragen hatte: «Sie sind in dieser unvollkommenen Menschenwelt ja doch einer der Besten, die ich kennen gelernt habe, und Sie haben Ihr ganzes Leben damit zugebracht, nach Möglichkeit die Schwachen gegen die Gewaltthätigen zu schützen.»43 Das, was ihre Seelenverwandtschaft ausmachte, überdauerte. Editorischer Hinweis: Wenn in den Endnoten kein Absender oder Adressat genannt ist, bezieht sich die Quellenangabe auf die Nummerierung des Briefwechsels in diesem Band. 1

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Albert Einstein an Hans Albert Einstein, 5. November 1932, EinsteinArchiv, Jerusalem [AEA] 75–685. 17. Mai 1915, Brief Nr. 74. Princeton University Press, 1987 ff. Vor dem 8. Mai 1918, Brief Nr. 191. Princeton University Press 1992; deutsche Ausgabe: «Am Sonntag küss’ ich Dich mündlich». Die Liebesbriefe 1897–1903, München/Zürich: Piper, 1994. Albert Einstein/Michele Besso. Correspondance 1903–1955. Paris: Hermann 1972. 4. Januar 1930, Brief Nr. 316. Einstein an Carl Seelig, 20. August 1952, ETH-Bibliothek, Handschriftensammlung, Hs. 304:21. Einstein an Robert Heller, 1. Februar 1912, Nachl .H. Zangger, Schachtel 1d. 20


Zu meiner grossen Freude scheint sich die Gefahr in Europa zu verringern, seitdem der Verteidigungswille durch die Not gewachsen ist. Hoffentlich hält es vor. Mit herzlichen Wünschen für Sie und die Ihren Ihr A. Einstein.a a

A. Einstein.] handschr.

1

AE hatte Serbu früher von einer Auswanderung in die USA abgeraten: AE an Melanie Serbu, 7. Mai 1937, AEA 39–139.

377 Einstein an Zangger 19. Juni 1939 David Reichinstein ist ein Wirrkopf, darüber hinaus als Mensch unzuverlässig. HZ sollte auf keinen Fall die Publikation des vorgeschlagenen Buches unterstützen. Reichinstein hatte schon seine langjährige Bekanntschaft mit AE dazu missbraucht, um gegen seinen Willen eine Biografie über ihn zu schreiben, die ein Musterbeispiel an Täuschung war.1 Fundort: Nachl. H. Zangger 1c–50. Dokument: Folio; Typoskript mit handschriftlicher Unterschrift; Briefkopf: A. EINSTEIN, 112, MERCER STREET, NEW JERSEY, U.S.A.

Professor H.Zangger Gerichtl.Mediz.Institut Zuerich Nassau Point, Peconic, Long Island N.Y. den 19. Juni 1939 Lieber Freund Zangger: Der gute Reichinstein ist zwar nicht ohne Einfälle, aber ein hoffnungsloser Konfusionsrat. Hände weg von irgendeiner Beteiligung an einer Publikation aus seiner Feder. Er ist ferner menschlich durchaus nicht einwandfrei. Z.B. hat er seine langjährige persönliche Bekanntschaft mit mir dazu missbraucht, um gegen meinen Willen eine Art Biographie herauszugeben, die in jeder Beziehung ein miserables Machwerk ist. Natürlich sollte man versuchen, Herrn Reichinstein zu einer bescheidenen Existenz zu verhelfen, zumal er sich wirklich viel in seinem Leben geplagt hat. Seine Megalomanie aber erschwert dies nicht wenig. Herzlich grüsst Sie Ihr A. Einstein.a 574


a

A. Einstein.] handschr.

1

Reichinstein 1932.

378 Zangger an Einstein 20. Mai 1947 HZ hat im letzten Jahr während eines Besuches von Hans Albert in Zürich einige Nachrichten über AE erhalten. – Mileva hat HZ kürzlich geschrieben, dass sie sich schwer verletzt hat, als sie letztes Jahr an Weihnachten auf dem Eis hingefallen ist und sich an zwei Stellen das Bein gebrochen hat. Sie hat die letzten fünf Monate im Neumünster-Krankenhaus am Zollikerberg zugebracht und ist gestern (am 19. Mai) in die Orthopädische Universitätsklinik Balgrist verlegt worden.1 Ihre Verletzungen sind verheilt; aber ihr altes Hüftleiden hat sich verschlimmert, mit dem Ergebnis, dass sie grosse Schmerzen hat und nicht mehr gehen kann. HZ berichtet, dass nach der Aussage des behandelnden Arztes, Richard Scherb,2 keine neuen bösartigen Entwicklungen in der Hüftgegend aufgetreten sind.3 Trotz der Depression der Patientin und der Tatsache, dass HZ sie seit 10 Jahren nicht gesehen hat, ist es ihm wegen seiner eigenen Herzprobleme nicht möglich, sie zu besuchen. – HZ schlägt AE vor, die Mayo-Klinik4 für eine Untersuchung aufzusuchen, um ein für alle Mal die Art seiner Darm- und Leberprobleme herauszufinden. – Hermann Weyl wird Ende Mai für eine «zweibis dreistündige Gastvorlesung» an der ETH erwartet,5 während Peter Debye nie mehr nach Zürich zurückgekommen ist.6 Fundort: AEA 40–131. Dokument: Folio; 2v leer; Briefkopf: Prof. DR H. ZANGGER ZÜRICH.

20 V 47 Lieber Freund Einstein Letzten Sommer besuchte mich Ihr Sohn Albert, als er hier war; so hörte ich etwas von Ihnen. Wir sind wohl beide in der Zwischenzeit alt geworden, mindestens ich: alt und Herz krank. Ich kann nicht mehr reisen, schwer Treppensteigen. – Ich bekam einen Brief betr Teddy u sich, von der Mutter, die selbst Unglück hatte u das Bein doppelt gebrochen hat u lange im Neumünster Spital lag u jetzt in der orthopaed Anstalt Balgerist liegt, weil sie im früher kranken Hüftgelenk sehr Schmerzen habe u nicht gehen könne, trotzdem der Beinbruch gut geheilt scheint. Prof Scherb vom Balgerist-Spital hat mir auf Wunsch der Kranken antelephoniert (Ich sah sie seit 10 Jahren nicht)a Ich will Ihnen kurz das Wesentliche mitteilen: Die 2b Beinbrüche vom Winter seien gut geheilt; die Function werde [1v] wieder besser werden, trotz Alter etc Uber das früher kranke Hüftgelenk zeige auf c der 575


neuen Roentgenaufnahme wohl sehr schwere alte Veränderungen, Atrophien etcd aber keinen bösartigen neuen Process. (e der ja durch Sturz u Behandlung der Brüche wieder acut hätte werden können, wie die Frau fürchtete nach den Schmerzenf Es ist deshalb möglich, dass die Kranke bald Übungen machen kann. Wie Schnell das geht, ist natürlich nicht zu sagen. Aber die Schweren Befürchtungen erscheinen nach dem Befund u Roentgenbild nicht gerechtfertig. Dass alles zusammen die Frau deprimierte, ist ja klar u begreiflich. Prof Scherbg versteht das sehr gut; er will mit aller Vorsicht beweisen, dass nichts Neues Unheilbares vorliegt – umh so der Depression u Sorge Meister zui werden. Die Kranke wünschte, dass ich sie besuche; das geht nun nicht, wohlj länger nicht, weil ich Herzschwäche (auch Oedeme) u Stenocard Anfälle habe u liegen muss vorläufig. [2r] Sie hätten wieder Magen-Leberstörungen u seien durch Strenge Diät sehr herunter gekommen. Ist die Diagnose nach allen Seiten gesichert? Warum gehen Sie nicht zu einer systematischen Durch-Untersuchung in die Majo Klinik. Es gieng Bekannte von hier hin, mit sehr sachlichem gutem Resultat: Man sorgt sich sonst um Dinge, die nicht bestehen. Man hat genug zu sorgen um das, was besteht u droht und dask zu fassen ist Teddy ist jetzt bei Bleuler. Er hat noch die musikal. Fähigkeiten, u Albert wird Ihnen gesagt haben, dass Teddy sich über ein Briefchen von Ihnen sehr freuen würde; sicher auch Prof M Bleuler (Nachfolger u Sohn von Prof Eugen Bleuler) Freudiges gibt es nicht sehr viel. So schreibt man nur unter dem Druck von Sorgen Viele Grüsse, gutes Älter Werden Zangger Weyl kommt zur ETH zu Vorlesungen. Debye kam nie mehr a b c d e f g h i

(Ich . . .nicht)] nachgetr. 2] ü. d. Z. auf] ü. d. Z. Atrophien etc] ü. d. Z. )] fehlt. nach den Schmerzen] ü. d. Z. b] korr. aus «be». um] ü. d. Z. zu] ü. d. Z. 576


j k 1 2 3

4

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6

wohl] a. R. nachgetr. das] ü. d. Z. Mileva Einstein-Maric´ an HZ, 15. Mai 1947, Nachl. H. Zangger 401–1. Chefarzt am Balgrist und a. o. Professor für Orthopädie an der U. ZH. Hoher Blutdruck und ein erfolgloser Aderlass, um ihn zu senken, brachten zusätzliche, erschwerende Umstände: Mileva Einstein-Maric´ an HZ, 4. Juni 1947, Nachl. H. Zangger 1a–48. Die Mayo-Klinik in Rochester in Minnesota verband die übliche medizinische Behandlung mit ständiger Grundlagenforschung. ETH-Bibliothek, Archive, SR 2: Schulratsprotokolle 1947, Nr. 26 vom 7. Febr. 1947. 1940 verliess Debye seine Stelle als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin und wanderte in die USA aus, wo er an der Cornell U. unterrichtete.

379 Einstein an Zangger 28. Juli 1947 AE hat HZ nur ganz vereinzelt in den vergangenen Jahren geschrieben. Der Grund war nicht Nachlässigkeit, sondern HZs unempfindliche Bemerkung, die er kurz nach der Machtergreifung Hitlers in einem Brief gemacht hatte, dass die Massnahmen gegen die Juden in Deutschland nicht die wirklich Schuldigen träfen.1 Diese Bemerkung hat AE tief verletzt. Aber er ist bereit, das Vergangene ad acta zu legen; er erkennt auch an, dass HZ trotz seiner eigenen Probleme eine wichtige Stütze für Mileva war und dass er sein ganzes Leben lang sich für die Schwachen eingesetzt hat. Verzeihung ist umso mehr angesagt, da AE ein strikter Determinist ist und nicht an den freien Willen des Menschen glaubt. – Um in ausreichender Form Vorsorge für Eduard nach seinem und Milevas Ableben zu treffen, schlägt AE vor, das Haus in der Huttenstrasse zu verkaufen und eine Vormundschaft für Eduard einzurichten. Er ist sich nicht sicher, ob die Mittel, die er in der Vergangenheit bereitgestellt hat, auch in unsicheren zukünftigen Zeiten genügen werden. – Die Vernunft weicht überall gehässigen Leidenschaften. In den Vereinigten Staaten grassiert eine antisowjetische Stimmung, wobei man zugestehen muss, dass die Russen alles tun, um es ihren Feinden leicht zu machen. AE bemüht sich, ein gewisses Mass an Vernunft in der öffentlichen Diskussion einzufordern.2 – AE arbeitet weiter leidenschaftlich an seiner wissenschaftlichen Forschung, ist aber ziemlich isoliert wegen seiner Zurückweisung der Wahrscheinlichkeitsannahmen des Quantenlagers. Er hat eine neue Theorie, die aber grosse mathematische Schwierigkeiten bereitet.3 Wolfgang Pauli, der recht hatte mit seiner Rückkehr aus Princeton nach Zürich, ist überzeugt, dass sie falsch ist; er hat aber keine gute Begründung. Das Verlassen auf den Instinkt ist noch immer der beste Wegweiser in der Welt der Abstraktion. Fundort: Nachl. H. Zangger 1a–28. Dokument: Folio; Adresse auf Briefumschlag: Professor H. Zangger Zuerichbergstr. 4.a Absender: THE INSTITUTE FOR ADVANCED STUDY PRINCETON NEW JERSEY b 112 Mercer Str. USAc; Poststempel: PRINCETON, N.J. 1947 JUL 28 8–PM; ZÜRICH 1 BRIEFVERSAND 5. VIII. 47·10.

577


Princeton. 28. VII. 47. Lieber Zangger! Es ist eine ganze Ewigkeit, dass ich Ihnen nicht geschrieben habe. Aber es war nicht nur Nachlässigkeit schuld daran, sondern eine von Ihnen ausgehende Ursached, deren Sie sich gewiss nicht bewusst sind oder waren. Als in Deutschland nach 33 die Juden-Verfolgungen angingen (noch nicht die Morde engros, aber Sachen, die schon niederträchtig genug waren), dae schrieben Sie mir in einem Briefe darüber nur: «Es trifft ja doch nicht die Richtigen». Das schnitt mir in die Seele. Ich dachte, selbst der Zangger ist unser instinktiver Feind, wie schlimm muss es erst um andere bestellt sein! Deshalb brachte ich es nicht übers Herz, Ihnen wieder zu schreiben. Ich fühlte: Verkriech Dich besser in dein Schneckenhaus, denn du kannst den Abgrundf, der im Unbewussten wurzelt, doch nicht zuschaufeln. Nun sind wir beide alt geworden, und Sie haben mir freundlich geschrieben trotz Ihres Leidens. Sie haben der armen Mileva beigestanden in ihrem einsamen Elend. Sie sind in dieser unvollkommenen Menschenwelt ja doch einer der Besten, die ich kennen gelernt habe, und Sie haben Ihr ganzes Leben damit zugebracht, nach Möglichkeit die Schwachen gegen die Gewaltthätigen zu schützen. Da ist es nicht gut von mir, mich Empfindlichkeiten hinzugeben; es passt besonders nicht für einen, der so fest an die Kausalität glaubt g und über die Illusion des freien Willens immer gelächelt hat. Die Sache mit der Mileva ist so, dass ich dazu sehen muss, dass sie und ich sterben können, ohne zu komplizierte Verhältnisse für den kranken Tetl zu hinterlassen. Dazu muss das Haus verkauft und für einen zuverlässigen Vormund für Tetl gesorgt werden; beides ist notwendig, damit meine Fürsorge für ihn nicht illusorisch wird. Ich hatte einigermassen hinreichend für ihn gespart. Aber bei den unstabilen allgemeinen Verhältnissen weiss ich nicht, wie weit es reichen wird. [1v] Der Lauf der Dinge in der politischen Welt ist tragisch. Trotzdem jeder die Gefahr grenzenloser Zerstörung sehen, wenn der blöde Machtfimmel nicht verlassen wird, siegt die hässliche Leidenschaft über das bischen Vernunft, wie es von jeher der Fall war. Man hetzt hier unablässig gegen Russland, und die Russen tragen das ihre dazu bei, um diese Hetze zu begünstigen. Ich kann das ohnmächtige Bemühen nicht lassen, Vernunft in der Öffentlichkeit zu predigen. Man handelt, als ob man nicht von Skeptizismus angekränkelt ware; zu der frommen Lüge wird man gezwungen. 578


Wissenschaftlich bin ich immer noch mit derselben Leidenschaftlichkeit hinter der Wahrheit her. Ich bin gedanklich sehr isoliert, weil ich ein offener Gegner der prinzipiellen Wahrscheinlichkeits-Auffassung in der Quantentheorie bin. Ich hab auch eine sehr interessante Theorie für das Gesamtfeld. Aber die Prüfung der Theorie scheitert bis jetzt an den mathematischen Schwierigkeiten (Integration bösartiger nicht-linearer Gleichungen) Pauli ist entschieden gegen diese Theorie, er hat aber keine wirklichen Argumente dagegen. Auch in diesen Abstraktionen ist der Instinkt der eigentliche Wegweiser; ich glaube er hat ganz recht gehabt, in Zürich zu bleiben. Der wissenschaftliche Geist scheint auf lange Zeit noch an dieh europäische geistige Atmosphäre gebunden zu sein. Herzliche Grüsse und bessere Gesundheit! Ihr A. Einstein. Mein Leichnam spukt auch manchmal, aber noch nicht erheblich für die Jahre. a

b c d e f g h 1

2

3

«Zuerichbergstr. 4»] von fremder Hand korr. in «Bergstr. 25 Zuerich 44»; «44» von fremder Hand korr. in «7 Switzerld»]. «The . . . Jersey»] gedruckt. «112 . . . USA»] getippt. a] korr. aus «t». da] korr. aus «das». g] korr. aus «a». glaubt] korr. aus «***». an die] korr. aus «aus». AE bezieht sich wahrscheinlich auf HZs Brief vom 10. Juni 1933, AEA 40– 085.1 (siehe Brief Nr. 345). Ein Beispiel dafür: AEs «A reply to the Soviet Scientists», Dezember 1947, Rowe u. Schulmann 2007, S. 393 ff. Einstein 1948.

380 Zangger an Einstein 1. September 1947 HZ hat mit Manfred Bleuler und Karl Zürcher1 die materielle Absicherung von

Eduard und dessen eventuelle Entmündigung besprochen.2 Bleuler könnte Vormünder empfehlen, die Eduards persönliche und finanzielle Angelegenheiten erledigen könnten. – HZ ist sich nicht sicher, ob bei einem Verkauf des Hauses an der Huttenstrasse nach Ablösung der Hypotheken noch viel Geld übrig bleibt. Die Bedingung, dass Mileva und Eduard Wohnrecht auf Lebenszeit in dem Haus 579


behalten und die Notwendigkeit von Reparaturen werden den Preis weiter drücken. Im Grossen und Ganzen empfiehlt HZ aber den Verkauf.3 – Er schlägt AE ebenfalls vor, eine Vormundschaft für Eduard einzurichten. Der einfachste Weg wäre, Dr. Bleuler eine Handlungsvollmacht zu übertragen.4 – Eduard Einstein wurde durch Beschluss der Vormundschaftsbehörde Zürich vom 13. Februar 1948 entmündigt und die Führung der Vormundschaft dem Rechtsanwalt Heinrich Meili übertragen.5 Mileva starb am 4. August 1948 in der Eos-Privatklinik in Zürich. Eduard lebte noch 17 Jahre länger; er wohnte in Familien und am Ende im Burghölzli. Fundort: Nachl. H. Zangger 1b–12. Dokument: Folio; Typoskript; ohne Grussformel und Unterschrift.

Zürich, den 10. September 1947 Lieber Freund Einstein Wir begreifen sehr gut, dass Sie die Zukunft Ihres Sohnes Eduard nach der gesetzlichen Grundlage sichern wollen. Ich habe mit Herrn Prof. Bleuler und Herrn Bezirksanwalt Zürcher die Umstände besprochen. Herr Prof. Bleuler würde Ihnen raten und auch die Antragsstellung bei den Behörden übernehmen und Ihnen Rat geben wegen Persönlichkeiten. Herr Prof. Bleuler kennt die ganze Situation, kennt Eduard, hat seine Sympathie. Bleuler könnte einen jungen Psychiater als Vormund vorschlagen, der Eduard sympathisch, – ferner wohl einen Amtsvormund für die Besorgung der finanziellen Seite (die der Behörde Rechenschaft ablegt). Wenn alles jetzt auch nicht pressiert, so sollte doch alles vorbereitet sein zum Besten des kranken Sohnes. Hausverkauf: Da müssten Sie wohl Vollmachten geben, resp. die Gesellschaft in New York, die das Haus besitzt: Die Hauspreise sind heute ziemlich hoch, aber ich weiss nicht, ob die III. IV. Hypothek mit 55 000.– Fr. gedeckt wird, ob viel darüber hinaus erhältlich ist. Die Mieter wehren sich (Es heisst das Haus sei reparaturbedürftig, grosse Kosten) auch die Bedingung, dass die Mutter mit Eduard bis zum Tod in der Wohnung bleiben könne, kann auf den Preis drücken. – Ferner Geldanlagen sind heute eine Kalamität. Andrerseits: die Schuldbriefe III. IV. Ranges kauft heute niemand – also gäbe der Verkauf des Hauses grössere Klarheit und Beweglichkeit. Eine Rente kaufen mit dem Kapital: diese würde heute enttäuschend klein ausfallen für Zürich. (Bei Alter – Zinsfuss). Ob sich aus dem Scheidungsvertrag heute noch Verbindlichkeiten für irgendwelche Rechtshandlungen ableiten, weiss ich nicht: das sollte bei der Antragstellung auch klar sein. – Der einfachste, sicherste Weg für Eduarda gesetzlich eindeutige 580


zivilrechtliche Umstände zu schaffen wäre wohl, wenn Sie die Mutter von Eduard (nach Besprechung mit Eduard betr. Bevormundung) an Herrn Prof. M. Bleuler Kompetenz und Vollmacht, damit Auftrag erteilen würde, Antrag auf Bevormundung (mit Begutachtung) bei den Behörden zu stellen – nach Einigung über die Persönlichkeiten (Vormund, Hausverkauf etc.) Da Herr Prof. Bleuler so wie so begutachten muss, sich nach Gesetz mit Eduard besprechen muss und die Persönlichkeiten kennt, ist es das einfachste und auch sachlichste, wenn Sie Herrn Prof. Bleuler beauftragen in Ihrem Sinn bei den Behörden die einleitenden Schritte zu tun. a

Eduard] folgt gestr. «ist».

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Bleuler, der Sohn von Eugen Bleuler, war der Nachfolger von Hans W. Maier als Direktor am Burghölzli; Bezirksanwalt Zürcher war der Bruder des vor Kurzem verstorbenen Emil Zürcher. Eduard war vor Kurzem wieder versuchsweise aus dem Burghölzli entlassen worden: Manfred Bleuler an HZ, 27. Aug. 1947, Nachl. H. Zangger 410–2. Am 1. Sept. 1947 unterzeichnete Mileva – als Vertreterin der Huttenstrasse Realty Corporation – einen Verkaufsvertrag mit Walter Siegmann aus Zürich über CHF 250 000. Er wurde im Immobilien-Register-Oberstrass am 20. Oktober 1947 eingetragen; an diesem Tag wurde die Barsumme von CHF 43 000 Mileva übergeben: Stadtarchiv ZH, V.K. c.30: 6224c., Mappe 5. Einige Monate früher hatte Bleuler angeregt, Mileva solle eine Eingabe an die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich richten, um für die Zeiten vorzusorgen, «in denen der Kranke allein stehen könnte»: Bleuler an Mileva Einstein-Maric´, 10. Juni 1947, Nachl. H. Zangger 401–3. Meili an Hans Albert Einstein, 30. Juni 1948, Stadtarchiv ZH, V.K. c.30: 6224c., Mappe 9.

2

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381 Zangger an Einstein ohne Datum HZ erkundigt sich nach AEs Reiseplänen.

Fundort: Nachl. H. Zangger 1b–36. Dokument: Folio; nur Briefanfang.

Lieber Freund Einstein. Kommen Sie eigentlich selbst in die Schweiz, dass Sie keinen Menschen etwas von sich hören lassen

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Abb. 21: Heinrich Zangger im Labor an der Pariser Sorbonne, 1905. 582


Abb. 22: Heinrich Zanggers Büro mit Untersuchungsraum im Erdgeschoss des neu eröffneten Gerichtlich-Medizinischen Instituts, Zürichbergstrasse 8, aufgenommen am 2. April 1913. 583


Abb. 23: Hochzeitsbild von Albert Einstein und Mileva Maric´, aufgenommen im Atelier E. Vollenweider, Bern, am 6. Januar 1903. 584


Abb. 24: Albert und Mileva Einstein mit ihrem 채ltesten Sohn Hans Albert in Bern, um 1905. 585


Abb. 25: Heinrich Zangger mit seiner Tochter Gertrud (Trudi), etwa 1908. 586


Abb. 26: Albert Einstein im Jahr 1914. 587


Abb. 27: Heinrich Zangger. 588


Abb. 28: Heinrich Zangger auf dem Balkon in der Bergstrasse 25 in Z端rich. 589


Abb. 29: Heinrich Zanggers Ehefrau Mathilde Zangger-Mayenfisch mit den Tรถchtern Gertrud (Trudi) und Gina. 590


Abb. 30: Albert Einsteins zweite Frau Elsa Einstein-Löwenthal (1876–1936), 1. März 1929 (Foto: Georg Pahl). 591


Abb. 31: Albert Einstein. Foto mit persönlicher Widmung für Dr. Emil Zürcher und Frau, November 1920. 592


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