Schwarz et al. (Hrsg.): Religion, Liberalität und Rechtsstaat.

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Inhalt

Gerhard Schwarz / Beat Sitter-Liver Vorwort 15 I. Säkularisierung und ihre Ambivalenz 17

José Casanova Der säkulare Staat, religiöser Pluralismus und Liberalismus

19

Charles Taylor Für eine grundlegende Neubestimmung des Säkularismus

27

Jürgen Habermas Wie viel Religion verträgt der liberale Staat?

47

II. Religion in der Öffentlichkeit 53

Harold James Braucht Europa «Gott»?

55

Adrian Holderegger Religion – Säkularisierung – Postsäkularität. Marginalien zu umstrittenen Begriffen

65

Friedrich Wilhelm Graf Der freiheitliche Rechtsstaat und die Religion

79

Marianne Heimbach-Steins Religionsfreiheit – Kriterium gerechter Religionspolitik

87

11


III. Religion in der liberalen Gesellschaft 93

Wolfgang Schüssel Ende der Säkularisierung – kehren Glaubenskriege zurück?

95

Hans Joas Führt Säkularisierung zum Moralverfall? Einige empirisch gestützte Überlegungen

105

Necla Kelek Freiheit als Gesetz. Über Werte und Wertewandel in Europa und im Islam

121

Jörg Stolz / Fabian Huber Wie kann man die Integration religiöser Gemeinschaften in die Gesellschaft erklären?

137

IV. Religion und Wirtschaftsordnung 155

Jörg Baumberger Streiflichter zu Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-Nexus

157

Roland Vaubel Der Wettbewerb der Staaten und die Freiheit und Vielfalt der Religion

163

Michael Zöller Religion und Wettbewerb. Das Beispiel der USA

171

Gérard Bökenkamp Das fundamentalistische Dilemma. Demografie, Ökonomie und der politische Islam

183

V. Religion und Rechtsstaat 187

Marco Jorio Freie Kirche im freien Staat: Der schweizerische Weg vom Staatskirchentum zur Partnerschaft Kirche – Staat

189

Ernst-Wolfgang Böckenförde Der säkularisierte, religionsneutrale Staat als sittliche Idee – Reinigung des Glaubens durch Vernunft

201

Brigitte Tag Religion – eine Herausforderung für das Recht

211

12


René Pahud de Mortanges Zwischen religiöser Pluralisierung und Säkularisierung: Aktuelle Entwicklungen bei der staatlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften

225

Autorinnen und Autoren 238 Stiftung Schweiz der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste 242 Progress Foundation 245

13



Vo r w o r t

Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist von etwas besonderer Art. Am Anfang steht Marcel Studer, der leider nicht mehr unter uns weilt und dem dieses Buch gewidmet ist. Als Präsident der Progress Foundation und Vizepräsident der Stiftung Schweiz der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste hatte er die Idee, die beiden Organisationen könnten gemeinsam ein Projekt anpacken. Daraus entstand nach mehreren Gesprächen zwischen Verantwortlichen beider Seiten das Vorhaben, ein Kolloquium über «Religion, Liberalität und Rechtsstaat» durchzuführen, über ein Thema also, das nicht nur alle offenen Gesellschaften beschäftigen muss und sie, wie die Terroranschläge der letzten Zeit gezeigt haben, zunehmend auf dramatische Weise herausfordert, sondern das auch zur inhaltlichen Ausrichtung beider kooperierenden Institutionen passt und dort auf dem «geistigen Radar» stand. So fand vom 29. Mai bis 1. Juni 2014 in Schwarzenberg (Vorarlberg) unter der Moderation von Adrian Holderegger, Gerhard Schwarz, Beat Sitter-Liver und Brigitte Tag ein Workshop nach bewährtem Muster der Progress Foundation statt: 16 internationale Wissenschaftler, Publizisten (und ein Politiker) aus verschiedensten Fachrichtungen wie Ökonomie, Religionswissenschaft, Geschichte, Theologie, Soziologie, Rechtswissenschaft oder Philosophie diskutierten während zweieinhalb Tagen bedeutsame, vielfach klassische Texte, die alle in einem Bezug zum Thema des Kolloquiums standen. Sie taten dies in mehreren formellen Diskussionsrunden, aber auch in informellen Gesprächen in den Pausen, am Esstisch oder auf Spaziergängen. Sinn dieses Austauschs ist jeweils nicht ein schlüssiges Ergebnis, sondern die interdisziplinäre Anregung, das Schaffen einer Atmosphäre der Kreativität, das Aufwerfen neuer Fragen, der offene Dialog über Fachgrenzen hinweg. Unmittelbar anschliessend an das Kolloquium fand am 2. Juni 2014 in Zürich die (auch zusammen mit der Stiftung Schweiz der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste organisierte) 38. Economic Conference der Progress Foundation ebenfalls zum Thema «Religion, Liberalität und Rechtsstaat» statt. Zwar geht es dabei nicht im engeren Sinne um Ökonomie, aber 15


auch die Wirtschaft wird nicht gedeihen können ohne Bewältigung dieses Spannungsverhältnisses. Als Referenten traten zwei der Workshop-Teilnehmer auf, nämlich die Professoren José Casanova (Washington) und Harold James (Princeton). Das vorliegende Buch ist eine Frucht beider Veranstaltungen. Es enthält die Texte der beiden Referate der 38. Economic Conference, ferner haben praktisch alle anderen Workshop-Teilnehmer einen Aufsatz beigetragen, und schliesslich wurden einige der wichtigsten Texte (von Habermas, Taylor, Joas, Vaubel und Böckenförde), die dem Kolloquium zugrunde lagen, ebenfalls in den Band aufgenommen. Wir danken unseren beiden Mitherausgebern, Prof. Brigitte Tag und Prof. Adrian Holderegger, der zusammen mit der Mitarbeiterin Frau Ute Heimburger die meisten Redaktionsarbeiten übernahm, für die Mithilfe nicht nur bei diesem Buchprojekt, sondern auch bei den beiden ihm vorausgehenden Veranstaltungen. Leider kann der Motor dieser Kooperation, Dr. Marcel Studer, die Ergebnisse seines hartnäckigen Einsatzes für ihr Zustandekommen nicht mehr erleben. Er ist am 12. März 2014, also noch vor den beiden Veranstaltungen, im Alter von 84 Jahren gestorben. Die Herausgeber haben sich daher entschlossen, ganz an den Anfang des Buches eine Würdigung des vielfältigen Wirkens von Marcel Studer zu stellen. Sie verstehen dieses Buch auch als eine kleine Hommage an ihren verstorbenen Freund. Gerhard Schwarz Präsident des Stiftungsrates

Beat Sitter-Liver Präsident des Stiftungsrates

Progress Foundation Stiftung Schweiz der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste

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Wie viel Religion verträgt der liberale Staat?

Jürgen Habermas

Nach der Wahl des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens hiess die Schlagzeile (in der Süddeutschen Zeitung vom 26. Juni 2012): «Mohammed Mursi verhilft dem politischen Islam zu seinem grössten Triumph – westliche Werte lehnt er ab.» Aus welcher Perspektive ist hier von «westlichen Werten» die Rede? Die eine Kultur bringt Werte wie Freiheit und Frieden, Gleichheit und Gottesfurcht in eine andere Rangordnung als die andere Kultur. Ob Mursi die harte Linie der Muslimbrüder verfolgen oder tatsächlich ein Präsident aller Ägypter, also auch der Schiiten, Kopten und säkularen Bürger sein wird, hängt unter anderem davon ab, ob er Religionsfreiheit und andere Grundrechte einer liberalen Verfassung bloss für Werte oder aber für Prinzipien hält. Denn vernünftig begründete Prinzipien bedürfen zwar einer kontextempfindlichen Anwendung; aber sie gelten ihrem Anspruch nach für alle und stehen nicht schon prima facie in einem Spannungsverhältnis zu den «Werten» anderer Kulturen. Auch im Westen waren die naturrechtlichen Legitimationsgrundlagen der politischen Herrschaft zunächst mit Vorstellungen vom Aufbau des Kosmos und der Polis, mit Offenbarungen eines Erlösergottes oder mit den in der Schöpfung objektivierten Gedanken Gottes verwoben. Erst das moderne Vernunftrecht hat jene Prinzipien, die in den Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts positive Geltung erlangten, von den erheblichen metaphysischen und religiösen Begründungslasten solcher umfassenden Konzeptionen abgelöst. Aus dieser anthropozentrisch eingeschränkten Sicht bilden Demokratie und Menschenrechte für moderne Gesellschaften die beiden miteinander verschränkten Legitimationssäulen politischer Herrschaft. Das Gerechte und das Gute Auf die vernunftrechtlichen Begründungsversuche kann ich nicht eingehen – erwähnen will ich aber die Art der Begründung. Diese kann sich vom Kontext umfassender Weltbilder lösen, sobald wir zwischen der Idee der Gerechtigkeit und der eines höchsten Gutes differenzieren. Die gerechte 47


Ordnung orientiert sich dann nicht länger an einer exemplarischen Lebensform, die im Kosmos oder in der Heilsgeschichte fest verankert ist. Diese am konkreten Guten haftende Gerechtigkeitsperspektive wird vom Gedanken der zwanglosen Inklusion von freien und gleichen Individuen, die Ja und Nein sagen können, abgelöst. Entscheidend ist die Wendung von einer inhaltlichen Vorstellung des guten Lebens zur Idee eines Beratungsverfahrens, nach der die Beteiligten eine gerechte Ordnung selber konstruieren. Freie und gleiche Personen müssen im Zuge einer fortschreitenden Dezentrierung ihres je eigenen Selbst- und Weltverständnisses herausfinden, was gleichermassen gut für jeden von ihnen ist. Diese begriffliche Entkoppelung des Gerechten vom Guten machte Legitimitäts­vorstellungen vom Aufbau der Welt oder von der Geschichte im Ganzen unabhängig und ermöglichte damit den Gedanken einer säkularisierten Staatsgewalt. Im Westen ist eine entsprechende institutionelle Trennung von Staat und Religion in Gestalt sehr verschiedener kirchenrechtlicher Arrangements mehr oder weniger verwirklicht worden. Nichtsäkularisierte Bürgergesellschaft Aber die Säkularisierung der Staatsgewalt bedeutet nicht schon eine Säkularisierung der Bürgergesellschaft – in den USA hatte sie diese Intention von Anfang an nicht. Aus diesem Umstand ergibt sich für religiöse Bürger eine paradoxe Lage. Liberale Verfassungen gewährleisten allen Religionsgemeinschaften (unter Berücksichtigung der negativen Religionsfreiheit) den gleichen Freiraum und schirmen gleichzeitig die staatlichen Körperschaften, die kollektiv verbindliche Beschlüsse fassen, gegen die politische Einflussnahme von Seiten einzelner mächtiger Religionsgemeinschaften ab. Daraus folgt aber, dass sich dieselben Personen, die ausdrücklich dazu ermächtigt werden, ihre Religion zu praktizieren und ein frommes Leben zu führen, in ihrer Rolle als Staatsbürger an einem demokratischen Prozess beteiligen sollen, dessen Ergebnis von allen religiösen Beimengungen freigehalten werden muss. Die Antwort, die der Laizismus gibt, ist unbefriedigend. Die Religionsgemeinschaften dürfen, solange sie in der Bürgergesellschaft eine vitale Rolle spielen, nicht aus der politischen Öffentlichkeit in die Privatsphäre verbannt werden, weil eine deliberative Politik vom öffentlichen Venunftgebrauch ebenso der religiösen wie der nichtreligiösen Bürger abhängt. Wenn die schrille Polyfonie aufrichtiger Meinungen nicht unterdrückt werden soll, dürfen die religiösen Beiträge zu moralisch komplexen Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe, vorgeburtliche Eingriffe in das Erbgut und so weiter nicht schon an der Wurzel 48


R e l i g i o n s f re i h e i t – K r i t e r i u m g e re c h t e r R e l i g i o n s p o l i t i k

Marianne Heimbach-Steins

Dass Religion gegenwärtig in den Gesellschaften Europas und weltweit ein relevanter, jedoch ambivalenter Faktor des gesellschaftlichen Lebens ist, werden weder ihre Befürworter noch ihre Verächter bestreiten. In allen Religionen werden fundamentalistische Kräfte lauter, Gewalt und Terror treten nicht selten mit religiösem Anspruch auf, bedrohen Leben und Freiheit von Menschen und drohen damit, Religion als solche zu delegitimieren. Dies zeigt sich derzeit besonders bedrängend am Wüten extrem gewaltbereiter islamistischer Bewegungen wie dem sogenannten Islamischen Staat im Mittleren und Nahen Osten oder Boko Haram in Nigeria, wo mit einem religiös verbrämten, gewaltbereiten Machtanspruch unter der Bedingung schwacher Staatlichkeit Angst und Schrecken verbreitet und unvorstellbare Grausamkeiten verübt werden. Aber auch unter den Bedingungen demokratischer Gesellschaften in Europa erweist sich das religiöse Klima vielerorts als konfliktiv; man denke an erstarkende antiislamische und antisemitische Aggressionen, wie sie in Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz und anderswo zu beobachten sind. Solche Tendenzen fordern den Charakter menschenrechtsbasierter, freiheitlicher Gemeinwesen heraus. Einige Aspekte dieser Herausforderung sollen in diesem Beitrag etwas näher erörtert werden; dabei beziehe ich mich schwerpunktmässig auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Religionsfreiheit – ein hohes Gut Religion ist keine blosse Privatsache. Religiöse (wie auch nichtreligiöse, weltanschauliche) Überzeugung will praktisch werden, Ausdruck finden, in gesellschaftliches Engagement übersetzt werden, überzeugen. In einer pluralen Gesellschaft erwachsen daraus Spannungen. Eine freiheitliche, rechtsstaatlich und demokratisch strukturierte Gesellschaft verfügt über Mittel, solche Spannungen zivilisiert auszuhalten und Konflikte entsprechend auszutragen. Dafür steht an prominenter Stelle das Recht auf religiöse und weltanschauliche 87


Freiheit – ein hohes Gut und historisch alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützt mit Art. 4 die «Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses» als «unverletzlich» und gewährleistet «die ungestörte Religionsausübung». Die Trias von Religions-, Weltanschauungsund Gewissensfreiheit ist ein konstitutives Element der Freiheitsrechte jedes Menschen mit weitreichenden Implikationen für die allgemeine Handlungsfreiheit individueller und korporativer Akteure. Der Staat hat dieses Gut zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Mit der Freiheitsgarantie wird in der Gesellschaft ein Raum geöffnet und gesichert, in dem Religionen und Weltanschauungen als Quelle existenzieller Orientierung und sinnstiftender Praxen wirken können. Die Norm des Grundgesetzes bildet den Massstab der Religionspolitik in Deutschland. Das mochte selbstverständlich erscheinen, solange die überwiegende Mehrheit der Bürger einer der christlichen Grosskirchen angehörte. Heute ist dieser Massstab Gegenstand juristischer, politikwissenschaftlicher und ethischer Debatten und periodisch aufflammender öffentlicher Auseinandersetzungen. Entspricht die Orientierung an der Religionsfreiheit noch den Bedingungen der weltanschaulich stark pluralisierten Gesellschaft, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland so noch nicht vor Augen haben konnten? Freiheit der Religionsausübung – Spannungen und menschenrechtliche Konfliktlösungen Es ist ein menschenrechtliches Kernanliegen und damit zugleich eine Sache der Gerechtigkeit, das individuelle Grundrecht auf Religions-, Weltanschauungsund Gewissensfreiheit im pluralen Gemeinwesen für alle zu verteidigen. Wer das Grundrecht auf Religions(ausübungs)freiheit durch einen jederzeit rückrufbaren staatlichen Gnadenakt, durch ein staatliches Toleranzregime ersetzen wollte, würde einem Rückfall hinter die moderne Freiheitsordnung das Wort reden, die auf einer fundamentalen Ebene durch individuelle Freiheitsrechte, politische Mitwirkungsrechte, Justizgrundrechte und soziale Ermöglichungsrechte gesichert wird.1 Das religiöse und weltanschauliche Freiheitsrecht umfasst aus guten Gründen nicht nur die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit – den Schutz der höchst persönlichen Ebene der inneren Überzeugung –, sondern auch das Recht, der eigenen Überzeugung allein und gemeinschaftlich Ausdruck zu geben, entsprechende Unterweisung zu veranstalten und das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäss den eigenen religiösen Überzeugungen zu erziehen. Damit stellen sich Fragen der 88


Ende der Säkularisierung – k e h re n G l a u b e n s k r i e g e z u r ü c k ?

Wolfgang Schüssel

Religion stellt an den Menschen letztgültige Fragen: woher wir kommen, was die Substanz unseres Seins ist; wofür es sich lohnt einzutreten; was uns verbindet. In der Geschichte der Menschheit wurde immer wieder eine Verbindung von weltlicher und religiöser Macht versucht – durch himmlische Legitimierung der Herrscher, durch Loyalitätsdruck an die Untertanen, durch identitätsstiftende Gleichsetzung von Volk, Nation, Rasse oder Territorium. Darum wird seit Jahrhunderten gerungen und viele Auseinandersetzungen werden immer wieder religiös überhöht. Die Reinheit der eigenen Lehre wurde mit Feuer und Schwert verteidigt, zu Kreuzzügen oder dem Djihad gegen Andersgläubige gerufen, andere Glaubensrichtungen diskriminiert und verachtet. Es gab zwangsweise Bekehrungen und Taufen, es wurde und wird missioniert, umgesiedelt, vertrieben, massakriert. Waffensegnungen, Kriegspredigten finden bis heute statt. Manche Kritiker orten den Ursprung von Gewaltbereitschaft und Enthemmung überhaupt im Zentrum religiösen Glaubens: «Wer der Welt eine von Gott gegebene, also schöpfungsgemässe Ordnungsstruktur zuerkennt, sieht sich unter dem Zwang, die Welt, so wie sie leider ist, auf die ideale und ursprüngliche Ordnung Gottes hin zu überwinden.»1 Bischof Wolfgang Huber weist aber auch auf die vielfältigen Entwicklungsstränge hin, die sich aus ursprünglichen Ansichten heraus entwickelt haben, im Christentum ein aus der Bergpredigt abgeleiteter Pazifismus, wie auch im Buddhismus und in wichtigen Teilen des Judentums die Botschaft vom Vorrang gewaltfreier Mittel. Am Ende steht die (alttestamentliche) prophetische Vision von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollen. Geschichtlicher Rückblick Natürlich gab es auch schon im Altertum Aufrufe zu wechselseitigem Respekt; aber dies waren eher herausragende Einzelmeinungen. Erst sehr viel später wurden Begriffe wie Toleranz, Pluralismus, multireligiöse Staatsverfassungen, Trennung von Staat und Kirche selbstverständlich. Revolutionen wie in Frank95


reich erzwangen ein – oft gewaltsames – Umdenken. Aber auch aufgeklärte Herrscher wie Österreichs Kaiser Josef II. (1780–1792) legten sich mit den kirchlichen Autoritäten an, um notwendige Reformen in Staat und Gesellschaft durchzusetzen und himmelschreiende Ungerechtigkeiten und Privilegien abzustellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich zunächst in der Religionssoziologie (etwa Peter L. Berger) die Theorie der zunehmenden Säkularisierung moderner Gesellschaften durch. Mit wachsendem Wohlstand, steigender Bildung und einem Trend zur Urbanisierung würde die Bindungskraft der Kirchen abnehmen. Dies wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren allerdings immer stärker hinterfragt. Thomas Luckmann hielt in The Invisible Religion die Religiosität für unzerstörbar, solange sich der Mensch nicht selbst zerstört. Man sprach von mehreren Modernitäten, die durchaus religionsverträglich sein können. Johannes Schasching empfahl, viel stärker die Rolle von Religion und Kirche im alltäglichen Leben der Menschen zu thematisieren und so das Evangelium in das reale Leben moderner Menschen einzuweben. Eine solche Evangelisierung sei jedoch immer Dialog und keine doktrinäre Einbahn. Absolutheitsanspruch in der Religion In jüngster Zeit erleben wir hingegen ein «neues» (nur verdrängtes?) Phäno­ men: den öffentlich vertretenen Absolutheitsanspruch von Rechtgläubigen, das Verdammen des toleranten Miteinander – einer Konvivialität. Der Reichtum von Diversität, die Facetten komplexer Betrachtungen, die Farbenpracht der Unterschiede – weg damit! Eher sind einfache Antworten auf komplexe Probleme gefragt – ein Dualismus von Richtig versus Falsch, Gut oder Böse; Unbedingtheit als Gegenthese zur säkularen Welt, Rekurs auf die eigenen Wurzeln gegen den Pluralismusentwurf der westlichen Globalisierungsidee. Wie kann und soll ein liberaler Rechtsstaat darauf reagieren? Die Antwort kann nur heissen: mit Zuhören und Inklusion, nicht Abgrenzung und Abstossung. Die überwältigende Mehrheit der Buddhisten, Christen, Juden, Hindus und Muslime wollen ja friedlich zusammenleben, wollen Koexistenz und Toleranz. Die internationale Arbeitsteilung der Wirtschaft, die weltumspannende Kommunikation, das Auftreten planetarer Probleme und Herausforderungen – all dies hat mehr Verständnis und Neugier auf andere Kulturen, Menschen, Regionen geschaffen. Aber auch die Unsicherheit hat zugenommen, das Gefühl der bedrohten Identität – verstärkt durch das Erkennen der Ohnmacht und Überforderung nationaler Führungen bei der Lösung von Problemen. Politik schafft heute die wichtige Balance des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht mehr. Der Konsenswille nimmt ab, die Zentrifugalkräfte nehmen zu. 96


Die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften Umso wichtiger wäre die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die ja mehr verbindet, als an der Oberfläche sichtbar wird. Sie können Kitt für die Gesellschaft anbieten, Ligaturen, Bildung und Geborgenheit. Wo diese soziale und kulturelle Kraft schwindet, füllen Surrogate rasch das entstehende Vakuum. «When religion declines, cults appear.»2 Die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch den Staat ist daher gerechtfertigt und förderungswürdig. Die soziale Landkarte unserer Länder ist übrigens oft deckungsgleich mit dem religiösen Engagement der Bürger. Paul Zulehner hat aufgrund seiner empirischen Forschungen vom diesbezüglichen «Wärmegrad» unserer Gesellschaft gesprochen. Interessant ist in diesem Zusammenhang das rasche Wachstum christlicher Gemeinden in China. Unter Mao Zedong wurden die Christen – trotz gegenteiliger Garantien in der Verfassung – verfolgt; die Annahme einer halben Million Opfer und Zehntausenden Straflagerhäftlingen dürfte nicht falsch sein. Nach Mao erlaubte die Partei schrittweise grössere religiöse Freiheiten. Die meisten christlichen Gemeinden sind heute sogenannte «self-churches»: selbsterhaltend, ­selbstverwaltet und selbstbestimmt (d. h. ausländischem Einfluss verschlossen). Realistische Schätzungen über die Zahl der Christen sind schwer zu bekommen, 1949 gab es etwa 3 Millionen, heute schätzt man zwischen 23 und 40 Millionen. Das Pew Research Center geht sogar von fast 60 Millionen Protestanten und 10 Millionen Katholiken aus; manche Experten behaupten, es gäbe heute schon mehr Christen als Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas (87 Mio.). Parteifunktionäre scheinen darin aber mitunter keine Gefährdung des KP-Monopols zu sehen, sondern eine willkommene Stabilisierung des sozialen Zusammenhalts: Christen sind recht gute Bürger! In manchen Städten werden daher christliche Gemeinden sogar unterstützt. Noch ist die KPCh nicht so weit, den Weg der Schwesterpartei in Vietnam zu gehen, die 1990 ihren Mitgliedern offiziell gestattete, religiös Gläubige zu sein. Immerhin – unvergessen ist der Ausspruch des damaligen Parteichefs Jiang Zemin, die Religion würde wahrscheinlich noch eine Rolle spielen, wenn die Konzepte von Staat und Klassen längst untergegangen seien. Interessant ist das Engagement zahlreicher christlicher Menschenrechtsanwälte;3 auch einige namhafte Organisatoren der Pro-Democracy-Proteste in Hongkong sind unter den Christen zu finden. Religiöse Gemeinschaften waren und sind wichtig für das Aufdecken der Schwächen politischer Systeme. Denken wir nur an die friedlichen, gewaltlosen Proteste kirchlicher Gruppen vor 25 Jahren gegen das brutale ­DDR-Regime, die humanitäre Hilfe in Ungarn, Rumänien oder Moldawien. Die Muslimbrüder in 97


Ägypten, die iranischen Mullahs wurden bekanntlich nicht durch ihre Ideologie populär, sondern durch das soziale Engagement für Arme und Benachteiligte. Hinzu kamen die beklagenswerte Korruption und schreiende Ungerechtigkeit der jeweils herrschenden Systeme. Nicht innere Stärke ist für den Aufstieg fundamentalistischer Gruppen ausschlaggebend, sondern meist die Schwäche der Mitbewerber. Heute haben wir es allerdings mit ganz anderen Herausforderungen zu tun. Nicht soziales Engagement steht hier im Vordergrund, sondern die Erringung der Macht mit allen Mitteln – bis hin zur Auslöschung Andersdenkender und -glaubender. Neue Herausforderungen: Islamische Bewegungen Eine besonders bittere Konfrontation mit unseren Werten und Weltanschauungen ist das Erstarken des IS (Islamischer Staat), dem selbst ernannten Kalifat von Abu Bakr al-Baghdadi – keineswegs ein staatliches Gebilde. Diese Bewegung trat vor etwa zwei Jahren an das Licht der Öffentlichkeit und gewann mit erstaunlicher Kampfkraft innerhalb weniger Monate im Irak und in Syrien zeitweise ein grenzüberschreitendes Territorium in der Grösse der Schweiz und Österreich zusammen. Die militärisch hochgerüsteten und bestens finanzierten Verbände kämpften an mehreren Fronten und waren bis zum Beginn der amerikanischen Luftschläge sogar regulären Armeen deutlich überlegen. Auffallend ist – nicht nur beim IS – die Gleichzeitigkeit von modernster, professioneller Handhabung neuester Waffen, zeitgemässer Kommunikation bis in die globalen sozialen Netze – und der gleichzeitig fast archaisch anmutende Rückgriff auf uralte Texte, Überlieferungen und Prophezeiungen. Der irakische IS-Experte Hisham al-Hashimi glaubt, dass Baghdadi Amerika ganz bewusst in einen offenen Krieg hineinziehen möchte. Damit solle die Prophezeiung erfüllt werden, dass am Ende Christen gegen Muslime kämpfen. Bombardierungen stören diesen Wahn nicht – ein richtiger Jihad gegen die Kreuzzügler mit allen Konsequenzen (und paradiesischer Belohnung) ist das Ziel. Im Sommer sind online die ersten (englischen) Editionen des Magazins Dabiq mit Texten des IS-Führers erschienen. Danach teilt sich die Welt in zwei Lager: Muslime und Mudjaheddin auf der einen Seite; demgegenüber das Lager der Kreuzfahrer, Juden mit ihren Alliierten und dem Rest der Nationen und Religionen – «geführt von Amerika, Russland und mobilisiert von den Juden». Die Geburtsstunde der modernen islamischen Bewegungen liegt im Jahr 1928. Damals gründete der Lehrer Hasan al Banna die Muslimbrüder in Ismailia am Suezkanal. Sie wollten auf den Ruinen der Kolonialherrschaft einen 98


F re i h e i t a l s G e s e t z . Ü b e r We r t e u n d We r t e w a n d e l i n E u ro p a u n d i m I s l a m

Necla Kelek

Seit Schengen ist Europa ohne Grenzen. Ein Traum wurde wahr. Aber was macht Europa aus, wenn diese grenzenlose Freiheit zwar als Gesetz, aber nicht im Geist präsent ist? Und wie geht unsere Gesellschaft mit einer Religion um, die von ihren Gläubigen Hingabe unter ein anderes, unter Allahs Gesetz verlangt? Dies ist ein Beitrag zur Debatte, zur Frage, was den Islam ausmacht und was Europa im Innersten zusammenhält. Die Freiheit der Menschen Europa hat in seiner langen Geschichte aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, aus Niederschlagung des Faschismus und Überwindung der Teilung durch den Kommunismus seine Lektion gelernt und in fortwährendem Prozess eine gesellschaftliche Ordnung geschaffen, die seit über 60 Jahren trotz vieler Schwierigkeiten und Rückschläge nicht nur eine Phase des Friedens und Wohlstands bedeutet, sondern auch die Freiheit zum Gesetz erhoben hat. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Prinzipien der Französischen Revolution von 1789, wurden zu den Grund- und Menschenrechten, deren Kern auf den Schutz des einzelnen Bürgers zielt, seine Würde und gleiche Rechte garantiert, ihm Meinungs- und Koalitionsfreiheit und das Recht auf Widerstand gewährt, sollte diese Freiheit bedroht werden. Diese Grundrechte waren Voraussetzung für die staatlichen Ordnungsprinzipien wie Demokratie, Rechts- und Sozialstaat. Der Traum vom «Jungen Europa» ohne Grenzen von 1832 ist mit dem Schengen-Abkommen in Europa Wirklichkeit geworden. Die Idee der Nächstenliebe und der Solidarität – das sind heute die Arbeitslosenversicherung und das Krankengeld. Menschenwürde statt Almosen wurde zum Staatsziel. Zu diesen europäischen Werten gehören auch die Duldung anderer Meinungen und Lebensentwürfe wie auch die Religionsfreiheit, um die schwer gerungen wurde. In den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts, im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts wurde die Koexistenz zwischen den Religionen sowie zwischen Staat und Religion festgeschrieben. 121


Die individuellen Rechte des Einzelnen wurden von den weltlichen Machtansprüchen der Kirchen auf die Politik und das Leben getrennt. Die Trennung von Kirche und Staat gab den einzelnen Menschen die Freiheit des Glaubens und des Gewissens, welche vorher ein Fürstenrecht war. Es klärte aber auch endgültig den Vorrang von «Staatsgesetz vor Religionsgebot»,1 wie es im Verfassungskommentar zur Weimarer Verfassung festgehalten wurde und was in der Praxis bedeutet: Auch kirchliche Prozessionen haben sich an die Strassenverkehrsordnung zu halten; Moscheebauten an den Bebauungsplan. Luthers Lehre von den zwei Reichen, der mit Jesus sagte: «So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!»,2 wurde zur zentralen Idee der Religionsverfassung. Die christlichen Kirchen und insbesondere die katholische Kirche haben diese Rolle, wenn auch zunächst widerwillig, mit sanftem Zwang angenommen und mitgestaltet. Die garantierte religiöse Toleranz dieser Gesellschaft ist auch ein Ergebnis des Diskurses von Religionskritikern wie Gotthold Ephraim Lessing und seines Freundes, des jüdischen Philosophen Moses Mendelsohn. Dass die Freiheit zum Gesetz wurde, hat Europa im Wesentlichen den Philosophen und Streitern der Aufklärung, von Diderot bis Immanuel Kant, zu verdanken. Kant definiert die «Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür»3 als äussere Freiheit, lässt sie aber ohne die innere Freiheit, den kategorischen Imperativ, nicht gelten: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»4 Diese Aufforderung zur Sittlichkeit beziehungsweise das Vernunftprinzip, das sowohl staatliches wie privates Handeln bestimmen soll, ist seinem Sinn nach die Autonomie des Willens. Freiheit ist demnach keine Narrenfreiheit des Einzelnen und keine private oder staatliche Willkür. Freiheit ist immer mit der daraus erwachsenden Verantwortung zu denken. Aber diese innere Freiheit, die wir auch als Gewissen oder praktische Vernunft bezeichnen können, kann niemand erzwingen, genauso wenig wie der «Geist der Gesetze», den ­Montesquieu beschwor, einklagbar ist. Die Freiheit ist auch die Freiheit, die eigene Freiheit (nicht die anderer) zu missachten. Eine Gesellschaft braucht einen gesellschaftlichen normativen Konsens oder – profan gesprochen – eine Moral. So ist, um ein extremes Beispiel zu nennen, ein Mord nicht nur strafbar, weil es ein Gesetz gibt, sondern weil er gleichzeitig und unabhängig davon gesellschaftlich und moralisch geächtet ist.

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Islam und Migration In Europa leben zurzeit etwa 15 Millionen Bürger, die statistisch zu den Muslimen gezählt werden. Die überwiegende Anzahl der Muslime sind zugewandert, denn ausser in einigen Teilen des Balkan, wie dem Kosovo oder Bosnien, gibt es in Europa keine indigene muslimische Bevölkerung. In Deutschland ist die muslimische Bevölkerung hauptsächlich türkischen Ursprungs; dies ist eine Folge des vor 50 Jahren abgeschlossenen Anwerbungsabkommens zwischen der BRD und der Türkei. Auch ohne diesen aktuellen Hinweis sind Religion und Migration im Islam zwei Seiten einer Medaille. Der Islam war nämlich, geschichtlich betrachtet, stets eine Religion der Migration und der Eroberungen. Die Hidjra (arabisch «al-higra») gehört zum Wesen des Islam. Nicht mit dem Berufungserlebnis im Jahr 609 n. Chr., sondern mit der Vertreibung des 53-jährigen Mohammed von Mekka nach Medina im Jahr 622 beginnt die islamische Zeitrechnung und mit ihr auch die Zeit der Kriege mit seinen Verbündeten gegen die anderen Beduinenstämme, gegen die Juden, dann gegen die anderen «Ungläubigen». Seit dieser Zeit ist die Suche nach dem Ort, an dem der Allah-gefällige Kult gelebt werden kann, das Band, das die Muslime in der Umma (islamischen Gemeinschaft) verbinden soll. Und so könnte man die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa auch als Folge der Vertreibung betrachten. Mohammed, der Mekka nie verlassen wollte und bei der Rückeroberung im Januar 630 ausgerufen haben soll: «Du bist Allahs bestes Stück Erde, das ich am meisten liebe! Wäre ich nicht aus dir vertrieben worden, ich wäre nie fortgegangen.»5 Es ist diese doppelte Botschaft, die der Islam seit seiner Geburtsstunde verbreitet. Es ist zum einen das Bestreben, die Herrschaft über den Ort zu erlangen, an dem man lebt, um dort den Kult auszuüben, und zum anderen die Sehnsucht nach Medinet, den Orten, denen die Liebe Allahs gehört; für Muslime das Synonym für die Zivilisation, die perfekte Gesellschaft, nämlich Mekka und Medina. Es ist aber schwierig, über den Islam zu diskutieren, weil es, wie viele meinen, «den» Islam nicht gibt. Als Weltreligion verfügt er über keine Institution, ist in Hunderte Sekten und Religionsvereinen aufgesplittert, und nur etwa 10 bis 15 Prozent der Muslime in Deutschland lassen sich Verbänden oder Moscheevereinen zuordnen. Vor allem gibt es eines nicht: einen verbindlichen theologischen Kanon. Dies wurde von Al-Ghazali im 11. Jahrhundert durch seine Widerlegung der Philosophen begründet und von den Vorbetern in den nächsten Jahrhunderten als unnötig angesehen, weil nach dieser Lehre die Scharia, die Offenbarung als Gesetz, als Antwort auf alle Fragen 123


des Himmels und der Erde ausreichend sei. «Was im Islam Theologie genannt werden könnte, beschränkt sich wohl auch weiterhin auf die Auslegung von Texten, die im Koran versammelt sind und unmittelbar als Gottes Wort gelten. Darum müssen Moslemkinder in den Koranschulen die Suren in arabischer Sprache auswendig lernen, obwohl die meisten kein Wort davon verstehen.»6 Es gibt die Rechtsschulen der Schiiten oder Sunniten in Damaskus oder in Kairo; Imame, Mullahs oder Scheichs, die in traditioneller Weise und nach eigenem Gusto Fatwas (Rechtsgutachten) erlassen, die wiederum nur für die verbindlich sind, die sie akzeptieren. Die Aleviten, offiziell zu den Muslimen gerechnet (und Teilnehmer der Deutschen Islamkonferenz), üben einen völlig anderen Kult aus. Sie unterscheiden sich von den historisch ihnen nahestehenden Schiiten und Sunniten unter anderem durch ihre weltliche Orientierung. Sie fühlen sich für ihr Handeln im Diesseits verantwortlich und sind nicht aufs Jenseits fixiert, sie sind für die monogame Ehe, haben keine Moscheen, Frauen tragen kein Kopftuch, Männer und Frauen feiern den Gottesdienst gemeinsam. Die in der Türkei von Staats wegen herrschenden Sunniten haben die Alewiten jahrzehntelang diskriminiert und ignoriert. Und doch werden auch sie zur Umma gezählt. Was bleibt, um das Weltbild des Islam einschätzen zu können, ergibt sich aus dem Handwerkszeug der kritisch-rationalen Wissenschaftsmethodik, der sich in Europa die theologischen Wissenschaften verpflichtet fühlen. Zum einen ist die islamische Literatur der Ausgangspunkt für eine solche Betrachtung. Allem voran die kritische Lektüre der autoritativen Texte dieser Religion, also des Korans, und der Hadithe, die die dem Propheten Mohammed zugeschriebenen Worte und Taten und die in der Geschichte zum Thema verfassten Werke festhalten. Zum anderen haben wir die soziale Realität, über die wir feststellen können, wie eine sich islamisch verstehende Gesellschaft und ihre Gläubigen sich verhalten und nach welchen Werten sie leben und arbeiten. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass diese gesellschaftlichen Prozesse sich unentwegt in Bewegung befinden. Wenn wir über Werte und Wertewandel in der muslimischen Community reden, können wir nicht ähnlich wie in der europäischen Geistesgeschichte die Entwicklung des Freiheitsgedankens verfolgen. Denn diesen gibt es so, wie er in Europa verstanden wird, nicht. Der Freiheitsbegriff hat in der islamischen Gesellschaft eine ganz andere Bedeutung als in der europäischen. Auch einen zusammenhängenden Diskurs oder ein Narrativ der Staatstheorie gibt es in muslimischen Gesellschaften nicht. Das hängt mit der Geschichte des Islam zusammen: Es gab zu Zeiten der Entstehung des Islam keinen Staat, sondern nur Stammesgemeinschaften. Ein Staat als weltliche Gewalt wie in der Antike 124


Wie kann man die Integration religiöser Gemeinschaften i n d i e G e s e l l s c h a f t e r k l ä re n ?

Jörg Stolz / Fabian Huber

Einleitung 1 Geht es um die Frage, ob religiöse Gemeinschaften in die Gesellschaft «integriert» sind bzw. sich «integrieren» sollten, kommt es im politischen D ­ iskurs 2 sofort zu Streit. Die politische Rechte zeigt auf kulturelle und wertmässige Unterschiede zwischen religiösen Gemeinschaften und der Gesamtgesellschaft und stellt «mangelnde Integration» fest. Die multikulturelle Linke erkennt möglicherweise auch Integrationsunterschiede, sieht diese jedoch in Bildungs- und Einkommensunterschieden und macht hierfür rechtliche und soziale Diskriminierungen nicht zuletzt aufgrund des politischen Einflusses der politischen Rechten verantwortlich. Die Akteure sind sich weder einig, was «Integration» bedeuten soll, noch wie man sie messen könnte, noch welche Massnahmen einer Integration förderlich wären. Wie soll man sich in einer solchen Situation wissenschaftlich verhalten? Wie kann man Abstand von wissenschaftlich nicht gedeckten Werturteilen finden und vermeiden, einer der Parteien das Wort zu reden, nur weil man ihr selbst politisch näher steht? Ziel dieses Beitrags ist zu zeigen, wie die erklärende Soziologie Fragen der Integration religiöser Gemeinschaften behandeln kann. Damit verdeutlichen wir gleichzeitig, was die erklärende und nicht normative Soziologie dezidiert nicht leistet. So können wir mit diesem Ansatz weder abschliessend zeigen, dass eine religiöse Gemeinschaft «gut» oder «schlecht» integriert ist, noch können wir bestimmte gesellschaftliche Integrationsziele vorschlagen. Dies aus dem einfachen Grund, dass hierfür Werturteile gebraucht werden, die mit den Methoden erklärender Soziologie nicht gerechtfertigt werden können. Was die erklärende Soziologie jedoch in der Tat leisten kann, ist, verschiedene mögliche Integrationsdimensionen zu konzeptualisieren, Unterschiede zwischen religiösen Gemeinschaften und der Gesellschaft empirisch zu messen und diese durch soziale Mechanismen zu erklären. Wie wir an Beispielen sehen werden, lassen sich nur schon durch ein solches Vorgehen 137


viele alltägliche Annahmen über die Unterschiede zwischen einer religiösen Gemeinschaft und der Gesellschaft als haltlos aufweisen. Im Gegenzug zeigen sich oft dort Unterschiede, wo man sie gar nicht erwartet hätte. Kurz: In dieser Weise lässt sich der öffentliche Diskurs mit sozialwissenschaftlich gewonnenen Fakten konfrontieren. Im Folgenden erläutern wir zunächst die Perspektive der erklärenden Soziologie (Abschnitt 2) und gehen dann auf die Definition von Integration sowie normative und erkenntnistheoretische Überlegungen ein (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 stellen wir verschiedene mögliche Dimensionen zur Messung von Integration vor und illustrieren diese Vorschläge anhand von zwei empirischen Beispielen. Abschnitt 5 schliesslich präsentiert einige der wichtigsten erklärenden Mechanismen für die Integration religiöser Gemeinschaften. Um die Ausführungen nicht im Abstrakten zu belassen, geben wir im ganzen Beitrag eine grössere Anzahl von Beispielen, die wir meist dem Schweizer Kontext entnehmen. Die Perspektive der erklärenden Soziologie Die erklärende Soziologie ist nur eine von verschiedenen Spielarten der gegenwärtigen Soziologie. Ihr wichtigster Klassiker ist Max Weber; einige der hervorragenden gegenwärtigen Vertreter sind etwa Raymond Boudon (1983), Peter Hedström (2005), Hartmut Esser (1999) oder James S. Coleman (1990).3 Wie geht das Paradigma der erklärenden Soziologie vor? Aus Platzgründen skizzieren wir nur vier wichtige Punkte: Erklärende Soziologie sucht nach kausalen Zusammenhängen. Sie geht davon aus, dass Veränderungen in der (äusseren oder inneren) Situation von Individuen (z. B. Veränderungen von Opportunitäten, Ressourcen, u. Ä.) dazu führen, dass die Akteure sich in aus ihrer Sicht sinnvoller Weise anpassen und handeln, wodurch – infolge Verkettung und Aggregation der Handlungen – eine neue soziale Situation entsteht. Solche Erklärungen werden auch MakroMikro-Makro-Erklärungen genannt (Grafik 1).4 Erklärende Soziologie geht oft davon aus, dass Menschen «mit guten Gründen» handeln, dass wir also eine (wenn auch in verschiedener Weise begrenzte) «Rationalität» unterstellen können.5 In vielen Erklärungen werden jedoch andere Handlungsregeln angenommen, zum Beispiel traditionelles, wertorientiertes oder affektuelles Handeln. Zentral ist in jedem Fall, dass die Erklärung eine spezifische Handlungsregel angibt. Erklärende Soziologie ist immer auch verstehend.6 Es geht darum, das Handeln von Personen oder Gruppen aus ihrer subjektiv wahrgenommenen und interpretierten Situation heraus zu sehen. Soziologen und Soziologinnen 138


müssen also die Motive der Akteure verstehen, bevor sie deren Handeln erklären können. Erklärende Soziologie versucht, möglichst wertneutral zu forschen, das heisst, normatives Denken aufseiten des Forschenden möglichst zu vermeiden.7 Dies unterscheidet erklärende Soziologie von vielen Formen des sozialen Konstruktivismus, welcher meist explizite oder implizite Gesellschaftskritik enthält.8 Grafik 1: Makro-Mikro-Makro-Ebenen

Makro

Situation

Effekt

(Opportunitäten, Normen, Kultur)

Mikro

Perzeption,

(begrenzt rationale)

Präferenzen

Handlung

Was ist Integration? Eine Definition Integration meint ganz allgemein den «Zusammenhalt von Teilen in einem ‹systemischen› Ganzen und die dadurch erzeugte Abgrenzung von einer unstrukturierten Umgebung […], gleichgültig zunächst, worauf dieser Zusammenhalt beruht»9. Hierbei lassen sich verschiedene Typen von Integration unterscheiden. Eine erste wichtige Differenz lässt sich zwischen «absoluter» und «relativer» Integration treffen.10 Absolute Integration bezieht sich auf ein soziales System in seiner Gesamtheit. Man kann sich etwa fragen, wie integriert zum Beispiel Frankreich ist oder ein Freundeskreis. Relative Integration dagegen bezeichnet die Integration eines einzelnen Teilsystems in ein übergreifendes System. Beispielsweise: die Integration eines Familienmitglieds in seine Familie, eines Staates in einen Staatenbund und so weiter. In diesem Beitrag wird es vor allem um relative Integration gehen, nämlich die Integration religiöser Gemeinschaften in die Gesellschaft. Eine zweite wichtige Unterscheidung geht auf David Lockwood11 zurück. Er unterscheidet Systemintegration und Sozialintegration. Systemintegration ist 139


die Integration eines Systems durch das gute Funktionieren und Zusammenarbeiten der Subsysteme, ganz unabhängig davon, wie gut die Individuen bzw. Gruppen als solche ins System integriert sind. Sozialintegration ist die Integration der sozialen Akteure in ein gegebenes Sozialsystem. Eine Frage der Sozialintegration ist es beispielsweise, ob bzw. wie weitreichend die Frauen, die Romands oder die Muslime in die Schweizer Gesellschaft integriert sind. Die Sozialintegration einer gegebenen Gruppe in ein umgreifendes System lässt sich dann auf individueller oder kollektiver Ebene analysieren. In diesem Beitrag geht es um Sozialintegration. Wir werden zeigen, wie erklärende Soziologie etwas über die Erklärung von Unterschieden auf möglichen Integrationsdimensionen zwischen religiösen Gemeinschaften und der Gesellschaft aussagen kann. Normative Überlegungen Es genügt jedoch nicht, das Konzept «Integration» zu definieren; wir müssen auch wichtige normative und erkenntnistheoretische Überlegungen anstellen. Das Ergebnis dieser Überlegungen beeinflusst stark, was wir schliesslich beschreiben und erklären können bzw. wollen. Eine der wesentlichen Schwierigkeiten jeglicher wissenschaftlicher Inte­ grationstheorie betrifft die Tatsache, dass das Konzept «Integration» verschiedene normative Komponenten beinhaltet.12 Einerseits impliziert es die Vorstellung einer idealen, integrierten Gesellschaft. Andererseits impliziert es, dass Integration «gelingen» oder «scheitern» kann und dass Integration grundsätzlich besser ist als Nichtintegration. Fehlende Integration wird so zu einem pathologischen Zustand. Das Problem hierbei ist, dass verschiedene Personen ganz unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie die perfekt integrierte Gesellschaft aussehen sollte. Hier kommen Werturteile zum Vorschein, welche wissenschaftlich nicht gedeckt sind. Für die politische Linke etwa mag eine perfekt integrierte Gesellschaft garantierte Vollbeschäftigung für alle bei gleichem Einkommen bedeuten – eine Horrorvorstellung für die politische Rechte. Erklärende Soziologie weicht dieser normativen Schwierigkeit aus, indem sie klar macht, was sie definitiv nicht leisten kann bzw. will. Sie sagt nichts darüber aus, 1) wie die perfekt integrierte Gesellschaft aussieht; 2) was die «richtigen» Dimensionen und Indikatoren sind, um Integration zu messen (was nicht ausschliesst, gewisse Dimensionen und Indikatoren als mögliche Kandidaten vorzuschlagen); 3) wo auf einem Indikator die Grenze für «Integration» bzw. «fehlende Inte­ gration» festgelegt werden sollte.

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Das fundamentalistische Dilemma. Demografie, Ökonomie und der politische Islam

Gérard Bökenkamp

Mit den politischen Morden islamischer Terroristen in Paris und den Verbrechen der IS-Terrormiliz im Irak und in Syrien wurde wieder einmal deutlich, dass der islamische Fundamentalismus über ein erhebliches destruktives Potenzial verfügt. Der Ablehnung des westlichen Wertesystems steht aber keine staatspolitische Alternative gegenüber, die langfristig die sozioökonomischen Probleme der arabischen Welt löst und die Wünsche der Bevölkerung befriedigt. Religiöse Systeme mögen vielleicht auf der Suche nach dem individuellen Seelenheil Antworten geben, vermögen aber materielle Bedürfnisse weder zu befriedigen noch zum Verschwinden zu bringen. Fundamentalisten haben in der Regel das Ideal einer vollkommenen religiösen Ordnung, die, einmal hergestellt, sich nicht mehr verändert. Die Gesellschaft soll dann so bleiben, wie sie ist, weil sie genau so eben von Gott gewollt ist. Fundamentalistische Gesellschaften werden oft mit hohen Geburtenraten assoziiert. Hohes Bevölkerungswachstum wird von diesen nicht selten gepriesen, ist aber im Grunde eher eine Bürde als ein Vorteil; es stellt islamistische Regierungen nämlich vor ein Dilemma: Wenn die Wirtschaft stagniert und gleichzeitig die Bevölkerung wächst, dann sinkt das Pro-Kopf-Einkommen und die Gesellschaft wird früher oder später von Verteilungskämpfen und sozialen Unruhen erschüttert. Das bedeutet das Ende der stabilen gesellschaftlichen Ordnung, wie sie den Fundamentalisten vorschwebt. Oder sie setzen auf wirtschaftliches Wachstum, um all die zusätzlichen hungrigen Mäuler zu stopfen. Wachstum führt aber auch dazu, dass die Gesellschaft sich wandelt und nicht mehr dem Idealbild einer stabilen, religiös festgeschriebenen gesellschaftlichen Ordnung entspricht. Das Dilemma Das ist das Dilemma, vor dem im Grunde sowohl Ägypten als auch die Türkei stehen. Sowohl Ägypten als auch die Türkei haben bei Wahlen islamischfundamentalistische Bewegungen an die Macht gebracht. Beide verfügen anders als andere muslimische Länder nicht über genug Öl und Rohstoffe, mit 183


denen sie ihre Importe bezahlen können. Sie brauchen den Anschluss an die Weltwirtschaft, um ihre schnell wachsende Bevölkerung ernähren zu können. Beide Länder haben in den vergangenen Jahrzehnten hohe Geburtenraten gehabt und erwarten weiteres erhebliches Bevölkerungswachstum. In beiden Ländern ist die islamische Bewegung vor allem als Oppositionsbewegung gross geworden. Dort genügte die Kritik an den Defiziten des säkularen Regimes mit Hinweis darauf, der Islam sei die Lösung. Wenn diese Bewegungen an der Regierung sind, wird schnell deutlich, dass Religion nicht satt macht. Vom Glauben allein kann und will die grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht leben. Der Iran hat diese Erfahrung in dem Jahrzehnt nach der Islamischen Revolution von 1979 bereits gemacht. Nachdem sie an der Regierung waren, propagierten die Mullahs zuerst hohes Bevölkerungswachstum und betrieben die Verstaatlichung der Industrie. Bald wurde ihnen jedoch klar, welches Risiko sie damit eingingen. Bevölkerungswachstum ohne Wirtschaftswachstum legt die Lunte an die Stabilität jedes Regimes. Revolutionen werden von jungen Menschen losgetreten. Je mehr junge, unbeschäftigte, arme und frustrierte Leute es gibt, desto grösser ist die politische Detonation, wenn der Sprengsatz explodiert. Deshalb haben die Nachfolger Maos in China auf die Ein-KindPolitik und die Liberalisierung der Wirtschaft gesetzt, und die Machthaber im Iran taten es auch – denn sie wollten nicht enden wie der gestürzte Schah vor ihnen. Vom Ende der 1980er-Jahre an propagierten sie, dass Verhütung und Geburtenplanung mit dem Islam vereinbar seien, und nach der Jahrtausendwende begannen sie mit der Reprivatisierung der Wirtschaft. Die Geburtenrate im Iran liegt heute mit 1,7 unter der der USA, Tendenz weiter fallend, was auf einen gravierenden gesellschaftlichen Wandel hindeutet. Liberalisierung der Wirtschaft? Die islamistischen Regierungen können die Liberalisierung der Wirtschaft anpacken, um das Wachstum zu generieren, das sie für den Erhalt ihrer Popularität brauchen. Doch unterminiert dies früher oder später ihre strengen sozialen Ordnungsvorstellungen. Sie werden abhängig von ausländischen Investoren und Kapital, es entsteht eine Mittelschicht mit eigenen politischen Interessen; Emanzipation, Geburtenrückgang und Säkularisierung führen einen Zustand herbei, den sie eigentlich bekämpfen wollten. Oder sie versuchen, ihre Moralvorstellungen auf Kosten der wirtschaftlichen Effizienz durchzusetzen, und sehen sich bald einer sozialen Rebellion gegenüber, so wie Mursi in Ägypten. Sein Hauptproblem war, dass Ägypten vom Tourismus lebt und nicht vom Erdöl. Für Letzteres gibt es immer Abnehmer in der Welt – egal, wie das Regime 184


D e r s ä k u l a r i s i e r t e , re l i g i o n s n e u t r a l e S t a a t als sittliche Idee – Reinigung des Glaubens d u rc h Ve r n u n f t

Ernst-Wolfgang Böckenförde

Sittliche Idee oder Ausdruck der Hinnahme? Was verbirgt sich hinter der politischen Rede vom säkularisierten, religionsneutralen Staat? Verwirklicht sich in ihm eine sittliche Idee, oder ist er nur Ausdruck der Hinnahme einer gegebenen historisch-politischen Situation? Vor allem die christlichen Kirchen haben sich schwergetan, am längsten die katholische, diesen Staat nicht nur als kleineres Übel, als Notbehelf in einer gegebenen Situation zu akzeptieren. Hören wir das bekannte Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts von Klaus Mörsdorf noch aus dem Jahre 1964: «Der religiös neutrale Staat der Neuzeit erscheint der Kirche als nationale Apostasie. Als getreue Hüterin der christlichen Offenbarung kann die Kirche dem Irrtum keinerlei Rechte zugestehen und muss daher die unbeschränkte Bekenntnis- und Kultusfreiheit ablehnen; sie verkennt indes nicht, dass der konfessionell gemischte Staat in einer anderen Lage ist als der katholische des Mittelalters.»1 Das bewegt sich ganz in den Bahnen von Papst Leo XIII.: Nach dessen Lehre verbieten es Gerechtigkeit und Vernunft, dass der Staat ohne Gott ist oder, was auf dasselbe (nämlich: Atheismus) hinauslaufe, dass er sich gegenüber den verschiedenen Religionen auf gleiche Weise verhält und unterschiedslos jeder die gleichen Rechte zugesteht. Vielmehr hat er sich zu der einzig wahren Religion zu bekennen. Deshalb ist es, wie er zusammenfassend formuliert, «keineswegs erlaubt, Rede-, Lehr- und unterschiedliche Religionsfreiheit zu fordern, zu verteidigen oder zu gewähren, als wären dies Rechte, die dem Menschen die Natur gibt».2 Andererseits anerkennt die Erklärung «de libertate religiosa» des Zweiten Vatikanischen Konzils das Recht auf religiöse Freiheit als ein unabdingbares äusseres Recht der menschlichen Person: Gegründet in der Würde der menschlichen Person («ipsa dignitate personae humanae»), erstreckt es sich auf die ungehinderte private und öffentliche Ausübung der Religion, unabhängig von der Wahrheit derselben.3 201


Folgt daraus, bezogen auf das Zusammenleben der Menschen in einer gemein­ samen Ordnung, nicht die Anerkennung, ja eine eigene Legitimation des seinerseits religiös neutralen Staates, über ein blosses Zugeständnis an eine gegebene Situation und eine darauf bezogene Praxis hinaus? Und erscheint er damit doch vielleicht als sittliche Idee? Was kennzeichnet den säkularisierten religionsneutralen Staat? a) Als säkularisierter Staat hat er sich aus der Umfangenheit von der Religion, welche für die politische Ordnung in Antike und Mittelalter weithin bestimmend war, grundsätzlich gelöst. Als Staat hat und vertritt er keine Religion mehr, ist nicht länger christlicher, jüdischer oder muslimischer Staat. Staat und Religion sind vielmehr grundsätzlich unterschieden und voneinander getrennt, institutionell-organisatorische Verknüpfungen werden abgebaut, die oder eine bestimmte Religion stellt nicht mehr verbindliche Grundlage und Ferment des Zusammenlebens in der staatlichen Ordnung dar. Der Staat ist auch insofern säkularisiert, als er in der Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen allein weltliche Zwecke verfolgt. Geistliche und religiöse Zwecke, wie die Hinführung der Menschen zum ewigen Heil oder die öffentliche Gottesverehrung, liegen ausserhalb seines Befugniskreises.4 b) Gleichwohl negiert der säkularisierte Staat die Religion nicht. Er findet sie vor und setzt sich in ein Verhältnis zu ihr. Dieses wird bestimmt durch die Gewährleistung der Religionsfreiheit. Das bedeutet: Die Religion wird vom Staat freigegeben, und zwar im doppelten Sinn des Wortes. Zum einen wird die Religion in Freiheit gesetzt. Ihre Zulassung, Organisation und Ausübung ist keine staatliche Angelegenheit mehr, der Staat verzichtet auf jede Form von Religionshoheit; Religion bestimmt nicht mehr den Geist des Staates, sie wird, um an ein bekanntes Wort von Karl Marx anzuknüpfen,5 in den Bereich der bürgerlichen Gesellschaft verwiesen und existiert als Teil gesellschaftlicher Freiheit. Es gibt keinerlei Zwang oder Verpflichtung zur Religion, Religionsfreiheit garantiert nicht den Bestand, sondern nur die Möglichkeit von Religion, solange und soweit sie in Freiheit ergriffen und gelebt wird. Zum anderen wird die Religion in den allgemeinen Grenzen gesellschaftlicher Freiheit auch freigegeben zu positiver sozialer und politischer Wirksamkeit. Sie kann im Rahmen der Prozesse politischer Willensbildung nach Massgabe der Bereitschaft und des Engagements ihrer Anhänger durchaus Einfluss auf die Gestaltung und Ordnung des Zusammenlebens nehmen 202


und gewinnen. Politisches Eintreten für Ziele und Forderungen, die sich aus religiöser Motivation herleiten, ist keineswegs ausgeschlossen, freilich ohne einen Durchsetzungsanspruch kraft behaupteter göttlicher Wahrheit. c) Das Verhältnis des säkularisierten Staats zur Religion ist so gesehen ein solches der Neutralität; diese ist das Korrelat, die andere Seite der Religionsfreiheit. Der Staat identifiziert sich nicht mit der oder einer Religion, er bekämpft sie nicht, er lässt sie sich entfalten im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung, ergreift aber seinerseits in religiösen Auseinandersetzungen nicht Partei und bewertet religiöse Auffassungen nicht. Dieses Prinzip der Neutralität hat freilich unterschiedliche Erscheinungsformen ausgebildet: die distanzierende und die offene, übergreifende. Die dis­ tanzierende Neutralität, exemplarisch verwirklicht in der französischen Laïcité, verweist die Religion tendenziell in den privaten und privat-gesellschaftlichen Bereich und hält sie dort fest; der Staat weist jeden religiös-weltanschaulichen Einfluss auf sein Handeln und seine Entscheidungen zurück, macht sich davon unabhängig und autonom. Die übergreifende, offene Neutralität, wie sie vor allem in Deutschland gilt, aber nicht nur dort, gibt der Religion auch Entfaltungsraum im öffentlichen Bereich, wie beispielsweise in Schule, Bildungs- und Kultureinrichtungen und dem, was zusammenfassend als öffentliche Ordnung bezeichnet wird.6 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Form der Neutralität wie folgt umschrieben: «Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist […] als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermassen fördernde Haltung zu verstehen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.»7 Der Unterschied beider Erscheinungsformen ist allerdings mehr als ein bloss formaler. Er wirkt sich nicht zuletzt in den Bereichen aus, die zugleich einen geistlich-religiösen wie weltlich-politischen Aspekt haben. Die gibt es überall dort, wo eine Religion sich nicht auf Gottesverehrung in Form von Liturgie und Kultus beschränkt, sondern auch das Leben in der Welt und diesbezüglichen Verhaltensgebote in sich einbegreift, wie dies im Christentum, aber auch im Judentum und Islam der Fall ist. Die distanzierende Neutralität gestaltet die Rechtsordnung insoweit rein weltlich-säkular, weist die religiösen Aspekte als irrelevant und privat ab. Die offene Neutralität sucht demgegenüber einen 203


A u t o r i n n e n u n d A u t o re n

Jörg Baumberger, Dr. oec., emerit. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, wo er öffentliche Finanzen, Geldpolitik, Immobilienökonomie und Finanzgeschichte unterrichtet hat. Er äussert sich regelmässig zu aktuellen und grundsätzlichen Wirtschaftsfragen. Wolfgang Böckenförde, Dr. iur. et Dr. phil., emerit. Professor für öffentliches Recht, Verfassungs- und Rechtsgeschichte sowie Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.; 1983– 1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Gérard Bökenkamp, Dr. phil., Historiker; Referent der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit, Potsdam. Sein Forschungsgebiet ist die Geschichte der Wirtschafts- und Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. José Casanova, Dr. rer. soc., Dr. h. c., ist seit 2008 Professor für Soziologie und Leiter des Programms «Globalisierung, Religion und Säkularität» des Berkeley Center an der Georgetown University, Washington D. C.; lehrte 1987–2007 Soziologie an der New School for Social Research in New York. Friedrich Wilhelm Graf, Dr. theol., Dr. h. c., emerit. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 1997 ist er Präsident der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft; Hauptverantwortlicher für die kritische Gesamtausgabe des Werks von Ernst Troeltsch. Jürgen Habermas, Dr. phil., emerit. Professor für Philosophie und Soziologie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt a. M., war Direktor des Max-PlanckInstituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichtechnischen Welt, ab 1980 am Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften. Nicht zuletzt seine zahlreichen Gastprofessuren in den USA sorgten für internationale Rezeption seiner Schriften. 238


Marianne Heimbach-Steins, Dr. theol., Professorin für Christliche Sozialwissenschaften, Direktorin des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster; 1996–2009 Professorin für Christliche Soziallehre und Allgemeine Religionssoziologie an der Universität Bamberg. Adrian Holderegger, Dr. theol., emerit. Professor für theologische Ethik an der Universität Freiburg i. Ue., Gastsemester an verschiedenen Universitäten u. a. Tübingen, Kennedy Institute der Georgetown University, Washington D.  C., University of California in Berkeley, Université Catholique de Montréal. Fabian Huber, lic. phil., Studium der Soziologie, Religions- und Politikwissenschaft an der Uni Zürich. Doktorand/wissenschaftlicher Mitarbeiter des Schweiz. Nationalfonds an der Universität Freiburg i. Ue. Harold James, Dr. phil., britischer Historiker, Professor für Geschichte an der Princeton University und Professor für Internationale Politik an der dortigen Woodrow Wilson School of Public and International Affairs. Forschung: Deutsche Geschichte und Europäische Wirtschaftsgeschichte. Joas Hans, seit 2011 Forschungsprofessur am Freiburg Institute for Advanced Studies an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Er ist ausserdem Professor für Soziologie an der University of Chicago. 2 ­ 002–2011 Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt. Marco Jorio, Dr. phil., Historiker; 1988–2014 Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Ancien Régime, in der Revolutionszeit und in der Geschichte der katholischen Schweiz des 19. Jahrhunderts. Necla Kelek, Dr. rer. pol., ist deutschtürkische Sozialwissenschaftlerin und Publizistin; 1999–2004 Lehrbeauftragte für Migrationssoziologie an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialpädagogik in Hamburg. 2005–2009 Mitglied der Deutschen Islamkonferenz; Mitglied im Senat der Deutschen Nationalstiftung. René Pahud de Mortanges, Dr. iur. utr., seit 1992 Professor an der Rechtsfakultät der Universität Freiburg i. Ue., seit 1995 Direktor des Instituts für 239


Religionsrecht, Beratungstätigkeit für staatliche Behörden und Religionsgemeinschaften; 2007–2011 Mitglied der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58 («Religionsgemeinschaften, Staat und Gesell­ schaft»). Wolfgang Schüssel, Dr. iur., 2000–2007 österreichischer Bundeskanzler. 1975–1991 Generalsekretär des Österreichischen Wirtschaftsbundes, ­ ­1979–1989 Abgeordneter zum Nationalrat, 1989 Bundesminister für wirtschaft­ liche Angelegenheiten, 1995–2013 Obmann der ÖVP. Gerhard Schwarz, Dr. oec., seit 2010 Direktor Avenir Suisse (liberaler ThinkTank), davor Leiter der Wirtschaftsredaktion sowie stellvertretender Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung. Schwarz ist Mitglied des Executive Committee der Mont Pelerin Society und Präsident der Progress Foundation. Beat Sitter-Liver, Dr. phil., Dr. h. c., bis 2006 Professor für Praktische Philosophie an der Universität Freiburg i. Ue.; Verpflichtungen ETH Zürich, Universitäten Luzern, Basel, München. 1972–2002 Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Präsident der Stiftung Schweiz der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Jörg Stolz, Dr. phil., Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne. Forschungen zum Evangelikalismus, zu christlicher und alternativer Religiosität, Säkularisierungsphänomenen sowie zur quantitativen Erfassung und Beschreibung lokaler religiöser Gemeinschaften. Brigitte Tag, Dr. iur. utr., Professorin für Straf-, Strafprozess- und Medizinrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich; Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin sowie der Leitungsgruppe Nationales Forschungsprogramm 67 «Lebensende». Vizepräsidentin der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Charles Taylor, emerit. Professor für Philosophie an der McGill University in Montreal. Wechselnde Engagements zwischen Montreal und Oxford, wo er u. a. Soziologie und Politische Theorie lehrte. Daneben Gastprofessuren u. a. in Princeton, Berkeley, Frankfurt, Delhi. Bedeutende Beiträge zur politischen Philosophie und zur Philosophie der Sozialwissenschaften.

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Roland Vaubel, Dr. sc. pol., seit 1984 Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim, vorher Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und Gastprofessor an der University of Chicago. Mitglied u. a. des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Michael Zöller, Dr. phil., lehrt an der Hochschule für Politik in München. Davor war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Soziologie an der Universität Bayreuth. Er ist Vorsitzender des deutsch-amerikanischen Council on Public Policy. Zu seinen Arbeitsgebieten zählen u. a. Sozialphilosophie, Politische Ökonomie und die Politische Kultur der USA.

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