Helmut Stalder: Der Günstling. Kaspar Stockalper – Reichtum, Macht und der Preis des Himmelreichs

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Helmut Stalder, Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Politische Wissenschaften in Zürich, Frankfurt/a.M. und New York. Er war Redaktor beim Schweizer Tages-Anzeiger, stv. Chefredaktor bei der Zeitschrift Beobachter und Redaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung. Er ist Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher im Bereich der Verkehrs-, Wirtschafts-, und Technikgeschichte und seit 2021 Verlags­ leiter von NZZ Libro. Zuletzt erschien von ihm «Verkannte Visionäre. 25 Schweizer Lebensgeschichten» (2020).

In Europa tobt der Dreissigjährige Krieg. Kaspar Stockalper erkennt, dass er am Simplonpass im Wallis an einer Schlüsselstelle sitzt. Er nutzt die Gunst der Stunde, um einer der einflussreichsten und wohlhabendsten Männer des Alpenraums zu werden. Sein rasanter Aufstieg und spektaku­ lärer Erfolg ist geprägt von politischem Kalkül und unter­n ehmerischer Schlauheit, von Risikofreude und Skrupellosigkeit, von barocker Prunksucht und religiöser Inbrunst – und von den Komplotten neidischer Feinde. Quellenstark, anschaulich und spannend erzählt, zeigt dieses Buch Stockalper nicht nur als Kapitalisten, Macht­menschen und frommen Wohltäter, sondern auch als europäischen Akteur, der mitten im kontinentalen Krieg die Neutralität als Geschäftsmodell entdeckt. Ein Sitten­g emälde mit erstaun lichen Parallelen zur Gegenwart.

ISBN 978-3-907291-92-4 I S B N 978-3-907291-92-4

Umschlaggestaltung : Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Umschlagbild vorn: © mauritius images / Anthony Palmer / Alamy Umschlagbild hinten: © Porträt von Kaspar Stockalper vom Thurm (1609–1691): Stockalperschloss, Brig. Foto: Thomas Andenmatten.

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783907 291924

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Helmut Stalder

© Dom i n ic Büt tner

Der

Günstling

Helmut Stalder

Der

Günstling Kaspar Stockalper Reichtum, Macht und der Preis des Himmelreichs

Die Lebensgeschichte von Kaspar Stockalper (1609–1691) erscheint wie ein Königsdrama von Shakespeare: Als junger Mann aus angesehenem Haus führt er eine französische Prinzessin mit Gefolge über den winterlichen Simplon. Schlagartig ist er an Europas Fürstenhöfen bekannt. Entschlossen bringt er sich am Alpenpass in Stellung und bietet, was Europa im Dreissigjährigen Krieg dringend braucht: eine sichere Verbindung zwischen Norditalien und Atlantik. In einem Balancespiel zwischen den Grossmächten verschränkt er Politik und Geschäft, schliesst Geheimabkommen, tauscht Transitrechte, Söldner und Kredite gegen Salz und Handelsprivilegien, sammelt Ämter und Titel, kauft Ländereien zusammen, deklassiert Konkurrenten und sichert sich als Mäzen gesellschaftliches Ansehen. Auf dem Zenit seiner Macht sieht er sich als «Gottes Günstling». Doch die Hybris wird zu viel. Was klingt wie ein shakespearesches Bühnenstück, ist von der Wirklichkeit bereitgestellt. Kaspar Stockalpers Geschäftsgebaren, sein politisches Agieren, sein religiöses Denken, der spekta­ kuläre Aufstieg und das dramatische Ende des ungekrönten alpinen Sonnenkönigs sind in seinen Rechnungsbüchern und vielen Tausend Seiten Korrespondenz erhalten. Daraus lässt sich das wirtschaftliche, politische und spirituelle Universum Stockalpers erschliessen, das nahezu das ganze 17. Jahrhundert umfasst.



Helmut Stalder

Der Günstling Kaspar Stockalper Reichtum, Macht und der Preis des Himmelreichs

NZZ LIBRO


Für Karin und Theo Stalder

© 2022 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Erstausgabe 2019, Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig. Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © mauritius images / Anthony Palmer / Alamy Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ISBN Print 978-3-907291-92-4 ISBN E-Book 978-3-907291-93-1 – Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.


Inhalt Vorwort �

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»Ich habe begonnen, mich in Brigs Politik einzumischen« � Gefährliche Zeiten �

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»Kurtze und mhere Sicherheit der Strassen« � Mit der Prinzessin über den Pass Gute Partien �

»Annus prosperrimus« �

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Salz – das weisse Gold

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Der Blutexport füllt die Kassen �

»Nichts hat Bestand ausser Grund und Boden«

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»SOSPES LUCRA CARPAT« Das Schloss � Im Zenit

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Der Sturz

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Flucht und Exil

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189

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Der letzte Triumph Anmerkungen

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Quellen und Literatur

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CERNIS UT EX TRUNCO TANDEM FIT SURCULUS ARBOR ET RENOVAT STIRPIS FULGOREM FRUCTIBUS AUREIS SOSPES LUCRA CARPAT NOMEN ET OMEN

Du erkennst, wie aus dem Strunk doch endlich ein Spross wird zum Baum und er den Glanz des Geschlechts mit goldenen Früchten erneuert. Gottes Günstling soll die Gewinne abschöpfen. Name und zugleich Vorbedeutung. 1


Kaspar Stockalper vom Thurm 1609 – 1691

© Stockalperschloss, Brig. Foto: Thomas Andenmatten.



Vorwort Am Anfang war die Verwunderung. Einmal reiste ich von Italien her über den Simplonpass ins Wallis. Im Grenzort Gondo hatte ich den alten Stockalperturm hinter mir gelassen und später auf der Passhöhe beim Alten Spittel haltgemacht, diesem mächtigen, granitenen Schutzbau mit seinem eigenwilligen Glockentürmchen, der seit rund 350 Jahren die Hochebene beherrscht. Ich fuhr von der Passhöhe hinunter und bog hinter der Ganterbrücke auf die alte Simplon­ strasse ein, die sich am Hang entlang abwärts schlängelt. Nach einer scharfen Kurve öffnet sich der Blick über das weite Rhonetal und das Städtchen Brig am Fuss des Simplons. Mittendrin steht dieses Schloss, sichtbar schon von Weitem mit seinen drei Türmen und den goldglänzenden Zwiebelhauben. Noch heute erkennt man von blossem Auge: Der Stockalperpalast in seiner feudalen Grösse und barocken Pracht spottet an diesem Ort allen Grössenverhältnissen. Wie mussten sich ahnungslose Pass­ reisende vor 350 Jahren gewundert haben, wenn sie ihn das erste Mal erblickten: Ein gewaltiger vierstöckiger, kastellartiger Kubus mit ­Gewölben und Prunksälen erhebt sich über den kleinen Passort. Der angebaute Arkadenhof ist von atemberaubender Schönheit, in seinen Ausmassen und seiner Eleganz einzigartig in diesen Breitengraden, und dient nichts anderem als der Zurschaustellung von Reichtum und Überfluss. Die geometrisch angelegte Parkanlage mit ihren künstlichen Wasserläufen und Springbrunnen ist sichtlich den Lustgärten französischer Schlösser nachempfunden. Und die drei hoch aufstrebenden Türme künden von der Bedeutung, dem absolutis­ tischen Herrschaftswillen und dem religiösen Sendungsbewusstsein ihres Erbauers. Mitten im Wallis hat Kaspar Stockalper vom Thurm 9


um 1660 den grössten weltlichen Barockbau der Schweiz und des ganzen Alpenraums errichten lassen, eine einzige übersteigerte Allegorie seiner Macht, seines Reichtums und seiner selbst. Zur Verwunderung kam die Neugier. Ich wollte verstehen, wie es möglich war, dass ein Einzelner sich derart aufschwingen und fast ein Jahrhundert lang nahezu alles in der Republik Wallis bestimmen konnte. Kaspar Stockalper erkannte als junger Mann mit strate­ gischem Scharfblick, dass der Simplon als direkte Verbindung von Oberitalien Richtung Atlantikküste geopolitische Bedeutung erlangen würde. In den Wirren des Dreissigjährigen Krieges von 1618 bis 1648 und darüber hinaus machte er sich die Rivalität zwischen Frankreich und dem habsburgischen Spanien-Mailand in einem ständigen Pendelspiel zunutze. Er brachte die lukrativen Monopole des Landes für den Warentransit über den Pass und die Salzversorgung unter seine Kontrolle, zog ein Söldnerunternehmen auf, verschränkte diese Geschäfte und machte sich damit bei den europäischen Grossmächten unentbehrlich. Er tauschte Kompanien und Kredite gegen Salz und Handelsprivilegien, verkehrte mit Königen, Kaiser und Päpsten und dehnte sein Wirtschaftsimperium über den halben Kontinent aus. Mit dem wachsenden Reichtum verschaffte er sich im Wallis stetig mehr Einfluss, schuf Loyalitäten und Abhängigkeiten in den Führungsfamilien und konnte bald die Regeln nach seinen Interessen bestimmen. Am Übergang vom Feudalismus zum Früh­ kapitalismus installierte er ein spezifisches »System Stockalper«, mit dem er fast jedes einträgliche Geschäftsfeld und jeden politischen Bereich dominierte. Das 17. Jahrhundert kann im Wallis das »Stockalpersche Jahrhundert« genannt werden. Auch wenn die Auffassung, dass »grosse« Männer »Geschichte machen«, inzwischen verpönt ist – bei Stockalper trifft es zu: Jahrzehntelang sass er an den entscheidenden Hebeln, griff in die geschichtliche Entwicklung ein und drückte ihr seine Signatur auf. Der Handelsherr und Staatsmann aus Brig, der schon zu Lebzeiten als der »Grosse Stockalper« bezeichnet wurde, steht als singuläres Phänomen da, nicht einzig in seiner Art, aber einmalig in 10


seiner Zeit und in seinem Wirkungsraum. Er ist ein Faszinosum, anziehend durch seine Schaffenskraft und seinen Gestaltungswillen, abstossend zugleich durch seine Raffgier, seine Egomanie und die Rücksichtslosigkeit, mit der er seinen Willen durchsetzte. Dieses Individuum zu verstehen, seine Handlungsweisen und Beweggründe zu erklären und auch seine Bedingtheit durch die sozioökonomischen Umstände, die strukturellen und institutionellen Gegebenheiten im Ancien Régime und die internationalen Ereignisse zu erkennen, ist die Absicht dieser Lebensbeschreibung. Zur Verwunderung über das Phänomen Kaspar Stockalper und zum Bedürfnis, ihn in seiner Zeit und seinem Kontext zu verstehen, kam etwas Drittes hinzu. Es war der Drang, diese aussergewöhnliche Lebensgeschichte mit erzählerischen Mitteln darzustellen. Ich hatte mich schon mehrfach mit Stockalper beschäftigt.2 Aber je mehr ich mich in die Zeitgeschichte, die Quellen und die Vielzahl der Studien vertiefte, desto mehr schälte sich heraus: Dies ist ein Stoff für ein »Königsdrama« shakespearschen Zuschnitts. Alles ist da: Ein allein agierender Protagonist, der mit eisernem Willen, Gerissenheit und Härte sein Ziel verfolgt, Reichtum und Macht zu erlangen. Es gibt die Konkurrenten und Widersacher, die gegen ihn arbeiten. Es kommt zum Höhepunkt, als der Held sich mit Pomp und Pracht in seinem Erfolg sonnt und gar als Gottes Günstling die ewige Seligkeit erwerben will. Wenn die Hybris zu viel wird, folgt wie im klassischen Drama der unerwartete Umschlag: Die Gegner und Neider verbünden sich, betreiben hinterlistige Ränkespiele, bis sie ihn zu Fall bringen. Was tönt wie ein fabulierter Plot für ein Bühnenstück, ist jedoch von der Wirklichkeit bereitgestellt. Tausende Seiten über­ lieferten Quellenmaterials lassen das Bild einer vielschichtigen, von unterschiedlichsten Einflussfaktoren geprägten Lebensgeschichte entstehen, die sich über Jahrzehnte in verschlungenen Handlungssträngen, in sich überlappenden Aktionsfeldern und in vielfältig verknüpften Personengruppen entfaltet. Kernstück sind die vierzehn erhaltenen Bände seiner Handelsund Rechnungsbücher, etwa 8000 meist zweispaltig und mehrspra11


chig beschriebene Seiten, die das Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums der Schweizerischen Stiftung für das Stockalperschloss in Brig in zehnjähriger Arbeit ediert hat.3 Darin hielt Kaspar Stockalper von seinem ersten Begleitzug über den Simplonpass 1634 bis kurz vor seinen Tod 1691 alle wichtigen Transaktion, Verträge und Ereignisse fest, sodass sich sein Geschäftsgebaren, seine Handlungsmaximen, sein politisches Agieren und seine religiösen Motive rekonstruieren lassen. In ihnen teilt sich von Tag zu Tag sein ganzes merkantiles, politisches und spirituelles Universum mit. Hinzu kommen im Stockalperarchiv rund 1200 Seiten Korrespondenz und mehr als 15 000 Dokumente aus dem 17. Jahrhundert, von denen viele über sein Leben Auskunft geben. Erhalten sind weitere Tausende Seiten Landratsabschiede und amtliche Akten im Archiv der Burgerschaft Sitten und im Staatsarchiv des Wallis, von denen viele ebenfalls Stock­ alper und sein Jahrhundert erhellen. Auf diesem umfangreichen Quellenfundus basiert die vorliegende Biografie. Natürlich übersteigt die schiere Masse der Stockalperschen Lebenszeugnisse das Fassungsvermögen jedes Historikers. Auch ich habe bei Weitem nicht alle Schriftstücke lesen, geschweige denn kontextualisieren und einordnen können. Aber ich war in der glücklichen Lage, dass sich eine lange Reihe von Forscherinnen und Forschern vor mir des gewaltigen Nachlasses angenommen hat. Seit der ersten Stockalperbiografie von Peter Arnold 1953 ist keine umfassende Lebensdarstellung mehr entstanden. Aber zahlreiche Studien und Abhandlungen haben inzwischen ein breites Spektrum unterschiedlicher Aspekte und Themen behandelt und entsprechende Quellentexte erschlossen: Stockalpers Unternehmensführung, seine Wirtschafts-, Handels-, Verkehrs- und Aussenpolitik im Krisenjahrhundert, der Einfluss seiner Finanzkraft und sozialen Netzwerke auf die Politik und vieles mehr. Auf all diese Arbeiten stützt sich dieses Buch, um die Vita dieses Mannes in seiner Zeit darzustellen. Mein grosser Dank gilt deshalb dem Kreis der Wissenschaftler am und um das Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums in Brig: Stockalperkenner Louis Carlen und Gabriel Imboden und ihnen nachfolgend 12


Marie-Claude Schöpfer, Gregor Zenhäusern und Philipp Kalbermatter legten mit ihren Unter­suchungen das Fundament für dieses Buch und haben es zum Teil mit Ratschlägen und handfester Recherchearbeit gefördert. Mein Dank geht auch an Heinrich Bortis, Markus A. Denzel, Holger Th. Gräf, Mark Häberlein, Hans Steffen, Anselm Zurfluh und viele weitere, deren Arbeiten mir eine grosse Hilfe waren. Schliesslich danke ich Stefan Loretan für die Durchsicht dieses Buches und seine ebenso kritischen wie kenntnisreichen Hinweise. So versucht diese Lebensdarstellung mehr als sechzig Jahre nach der letzten grossen Biografie auch eine Synthese der seither geleisteten Forschungsarbeit und verfeinert, ergänzt und retuschiert im Licht neuerer Erkenntnisse und zusätzlicher Blickwinkel das Bild Kaspar Stockalpers. Der Stoff ruft nach einer erzählenden Darstellung. Die hier gewählte Form gehört der Gattung der narrativ-dokumentarischen Biografie an.4 Sie verfolgt keine pädagogischen, ästhetisierenden oder gar hagiografischen Absichten. Sie vermeidet es auch, mit undifferenzierten Analogien um jeden Preis Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart zu schaffen oder mit behaupteten Kausalitäten die Gegenwart partout als Folge dieser Vergangenheit zu erklären. Vielmehr folgt die Erzählung in kritischer, aufklärerischer Absicht den Leitfragen: Wer tat was, wann, wie und wo, in welchem Kontext, unter welchen Voraussetzungen, aus welchen Beweggründen, zu welchem Zweck und mit welcher Wirkung? Die Darstellung bedient sich dazu der Mittel der historischen Reportage, die Unmittelbarkeit, Anschaulichkeit und Authentizität ermöglichen. Im historischen Präsens folgt sie aus nächster Nähe dem Lauf der Ereignisse und den Handlungen der Akteure. Dabei versucht sie mit Rückblende und Vorblende, Schnitt und Montage, Weitwinkel und Zoom den zeithistorischen und gesellschaftlichen Kontext sowie Detail- und Tiefen­ schärfe herzustellen. Die unmittelbare Teilnehmerperspektive wechselt mit der distanzierteren Beobachterperspektive und wird durch analytische, thematische Exkurse erweitert. Jede historische Darstellung ist eine Konstruktion. Es ist daher 13


kühn, um nicht zu sagen vermessen, wenn ein Historiker eine Lebens­ geschichte rekonstruieren will, die mehr als 350 Jahre zurückliegt. Auch wenn die Quellenlage wie im Fall Kaspar Stockalper dank seiner Lebensbuchhaltung, der vielen Selbst- und Fremdzeugnisse und weiterer Archivalien vergleichsweise reichhaltig ist. Zahlreiche Vorgänge im Wallis und im Haus Stockalper aus dieser Zeit sind sehr gut dokumentiert, bei andern sind die Quellen jedoch fragmentarisch, und an vielen Punkten klaffen Leerstellen. Ich habe grossen Wert auf Quellentreue gelegt. Jede Feststellung ist nach Möglichkeit durch nachprüfbare Quellen belegt. Wo die Interpretation der historischen Überreste nicht eindeutig möglich war oder sich unüberbrückbare Lücken auftaten, behalf ich mir vorsichtig und deklariert mit der jeweils plausibelsten Deutung oder mit Schweigen. Ernst genommen wurde das »Vetorecht der Quellen«, also das Gebot, keine Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes als falsch oder als unzulässig erscheinen können.5 Direkte Zitate Stock­ alpers und anderer Personen sind allesamt schriftlichen Aufzeich­ nungen, Briefen, amtlichen Aktenstücken und zeitgenössischen Chroniken entnommen. Oftmals musste ich aus dem Latein, dem Französischen und dem Italienischen übersetzen, wobei ich möglichst nahe am Wortlaut und Wortsinn blieb. Bei deutschen Quellen behielt ich die damalige Ausdrucksweise bei, um den authentischen Eindruck zu vermitteln; einzig um der Verständlichkeit willen nahm ich geringfügige Anpassungen der Schreibweise vor. Zugunsten von Anschaulichkeit, Spannung und Unterhaltung sind einige Schlüssel­ ereignisse szenisch gestaltet, als wäre ich Augenzeuge gewesen. Auch bei diesen Szenen achtete ich auf eine quellengestützte Rekonstruktion von Örtlichkeiten, Kleidung, Handlungen und Aussagen. So ist diese Lebensgeschichte, obwohl unvermeidlich eine Konstruktion, der Wahrheit und Richtigkeit verpflichtet. Im Wissen, dass jedes Bild der Vergangenheit ein vorläufiges ist und auch Historiker irren können, setze ich darunter jene mehr hoffnungsvolle als zweifelsfreie Zeile, mit der Kaspar Stockalper seine Einträge zu beglaubigen pflegte: »Ita est« – »So ist es.« Helmut Stalder, Juni 2022 14


»Ich habe begonnen, mich in Brigs Politik einzumischen« Ein leichtes Frösteln rieselt über seinen Nacken, als er vom bernischen Waadtland herkommend die steinerne Bogenbrücke über die Rhone im Engnis bei Saint-Maurice überquert. Der Winter kündigt sich früh an in diesem Spätherbst 1628, von den Höhen herunter zieht ein rauer Wind durch das Tal. Bei der Festung am Schattenhang mustert ihn ein mürrischer Wächter und gibt mit einem knappen Kopfnicken den Weg frei.6 Der stattliche Jüngling mit dem dichten schwarzen Haar, dem markanten Gesicht und der hohen Gestalt zieht den langen Reitermantel enger, spannt die Muskeln und gibt dem Pferd die Sporen. Er hat noch einen weiten Weg vor sich, als er nach der Brücke auf die Reichsstrasse ins Walliser Kernland einbiegt – das Rhonetal hinauf, vorbei an Sitten mit seinen mächtigen Stadtmauern, wo im Schloss Majoria der Fürstbischof residiert, dann durch den düsteren Pfynwald nach Siders und rasch vorbei an Leuk, diesem Nest der Bosheit und Hinterlist, hinauf nach Turtmann, ­Raron, Visp, bis in sein Heimatstädtchen Brig am Fuss des Simplonpasses. Vor gut einem Jahr hat Kaspar Stockalper 7 das Wallis verlassen, um fernab von den politischen Wirren an der Jesuitenakademie zu Freiburg im Breisgau zu studieren. Wie ihn seine Heimat jetzt empfangen wird, weiss er nicht. Eine Zeit lang hat der Jüngling mit sich gerungen. Doch jetzt steht sein Entschluss fest. Er wird nicht in den Jesuitenorden eintreten, wie Familienmitglieder befürchten. Er will in die Politik. »Anno 1629 incepi me rebus publicis immiscere Brygae« – »1629 habe ich begonnen, mich in Brigs Politik einzu­ mischen« – wird er Jahre später in einer Rückschau auf diese Zeit des 15


Umbruchs schreiben.8 Kaspar Stockalper, erst zwanzig Jahre alt, hat damit eine Entscheidung getroffen, die weitreichende Folgen haben wird, für ihn selbst und sein Geschlecht, für das Wallis, ja gar für die Geopolitik in diesem Krisenjahrhundert. Der junge Mann, der da selbstbewusst und zielstrebig die politische Bühne betritt, ist nicht irgendwer. Kaspar Stockalper wurde am 14. Juli 1609 in eine angesehene, wohlhabende Oberwalliser Patrizierfamilie hineingeboren und gehörte damit schon in der Wiege der Elite an. Die Vorfahren hatten die auf 1500 Metern gelegene Stock­ alpe im Gantertal oberhalb Berisal auf der Nordseite des Simplonpasses bewirtschaftet. Als der Wald dort gerodet wurde, um Weideland zu gewinnen, blieben die Wurzelstöcke stehen – daher der Name und die drei Strünke im Familienwappen. Seit 1366 stellte die Stock­ alpersippe mehrfach den Meier und damit den führenden Mann im Gerichts- und Verwaltungsbezirk Ganter. Im 15. Jahrhundert siedelte das Geschlecht nach Brig am Fuss des Simplon um, und viele seiner männlichen Vertreter übernahmen Führungsämter im Zenden Brig, einem der sieben kleinen Staatswesen des Wallis. Auch auf Landesebene tat sich das Stockalpergeschlecht hervor. Besonders erfolgreich war Kaspars Urgrossvater Peter I. Stockalper (ca. 1495 – 1563). Er zog dreimal als Hauptmann und Kompanie­ führer für den französischen König in den Krieg, amtete zweimal als Grosskastlan und damit oberster Richter und Präsident des Zenden Brig und regierte als Landeshauptmann zweimal die Landschaft ­Wallis. Er besass reichlich Grundbesitz in Brig, Glis, Brigerberg, ­Ganter und Simplon und baute in Brig ein herrschaftliches Haus, seither der Stammsitz der Familie. Ein zweiter bedeutender Mann aus der weiteren Sippschaft war Peter Owlig (ca. 1500 – 1545). Owlig war Grosskastlan und Bannerherr von Brig, hatte 1536 bei der Eroberung der Gebiete um Monthey im Unterwallis sowie des Chablais südlich des Genfersees die Walliser Truppen gegen den Herzog von Savoyen geführt und hielt zwei Jahre lang das Amt des Landeshauptmannes inne. Eine seiner Enkelinnen, Margaretha Owlig, heiratete Crispin Stockalper, den Grossvater Kaspar Stockalpers. So hat die 16


Familie, als der junge Mann auf die Bühne tritt, zwei Walliser Regierungschefs in ihrer Ahnenreihe vorzuweisen.9 Stockalpers Vater Peter II. war ein dem Schöngeistigen zuge­ neigter »Doctissimus Artium atque Excellentissimus Philosophus«, der als öffentlicher Notar in Brig amtete und im Jahr von Kaspars Geburt Grosskastlan von Brig wurde. Kaspar Stockalpers Mutter Anna Im Hoff entstammte einer alten, begüterten Familie aus Brig, mit Ursprüngen in Zwischbergen jenseits des Simplonpasses und im Lötschental. Peter II. starb früh, 1611, sodass Kaspar vaterlos aufwuchs. Nach der Grundschule in Brig schickte man ihn 1621 ans Jesuitenkollegium von Venthône ob Sitten, das später nach Brig übersiedelte. Nach den üblichen sechs Jahren »Humanoriam« schrieb er sich im Herbst 1627 an der Jesuitenuniversität in Freiburg im Breis­ gau ein. Dort besuchte er ein gutes Jahr Vorlesungen in »Dialecticis« (Logik), was ihn für den Beruf des Juristen und für das Amt des ­öffentlichen Notars befähigte. Er erhielt von den papsttreuen Jesuiten, die nach dem Wahlspruch »Omnia ad maiorem Dei gloriam« – »­ Alles zur grösseren Ehre Gottes« – lebten, offenkundig eine starke Bindung an die katholische Kirche vermittelt und trotz der Kürze seiner akademischen Unterweisung eine solide humanistische Bildung. Sechs Sprachen beherrschte er am Ende der Schulzeit – Latein, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und wohl auch etwas Griechisch – und damit auch, wie sich bald zeigen sollte, eine Weltläufigkeit und einen Horizont, der weit über das Wallis hinausreichte. Einen akademischen Titel bringt der junge Kaspar Stockalper nicht mit, als er im kühlen Spätherbst 1628 ins Wallis zurückkehrt. In der Tasche hat er wohlverwahrt lediglich ein Testat, datiert auf den 24. Oktober. Es bescheinigt ihm den einjährigen Aufenthalt an der Akademie und bezeichnet ihn als »ingenia et magna spes adolescens ex Valesia«, also als jungen Mann aus dem Wallis von Verstand und eine grosse Hoffnung. Von gewissenhafter Gründlichkeit, von Fortschritten und Erfolg ist darin die Rede und davon, dass er Vorbild und Beispiel für seine Mitschüler sei.10 Das erste Amt, das er nach der Rückkehr nach Brig übernimmt, ist noch kein politisches, son17


dern eine Polizeifunktion: Er wird Kommissär der Pestwache bei der alten Landmauer in Gamsen, jener mittelalterlichen Talsperre westlich von Brig, wo wie auf den Pässen und den anderen Zugängen zur Seuchenbekämpfung der Verkehr kontrolliert wird. Bei Verdacht muss Stockalper Waren und Reisende zurückhalten und mehrere Wochen in Quarantäne nehmen. Wer Einreiseverbote missachtet, wird schwer gebüsst oder in Halseisen gelegt.11 Der ehrgeizige junge Rückkehrer aus der Briger Führungsschicht tut gut daran, sich zunächst mit einem solchen Amt die Sporen abzuverdienen und sich noch nicht politisch zu exponieren. Denn die Lage in der Landschaft Wallis ist äusserst angespannt.

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Gefährliche Zeiten Die Jahre um Stockalpers Geburt und Jugend sind im Wallis eine Epoche der Umbrüche und gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen.12 Das Wallis besteht von Osten talabwärts nach Westen gesehen aus den sieben Zenden Goms, Brig, Visp, Raron, Leuk, Siders und Sitten sowie dem Untertanengebiet zwischen dem Flüsschen Mors (Morge) westlich von Sitten und dem Genfersee, das seit der Eroberung und Vertreibung der Savoyer sechzig Jahre zuvor als Gemeine Herrschaft der sieben Zenden von Landvögten in Saint-Maurice und Monthey verwaltet wird. Formell ist die Landschaft Wallis ein Fürstbistum, in dem der Fürstbischof von Sitten als Landesherr die geistliche und weltliche Macht innehat. Die Zenden haben jedoch die Befugnisse des Bischofs stark eingeschränkt und einen hohen Grad an Selbstständigkeit erreicht, sodass die Zendenobrigkeit in ihrer Hand gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt ­vereint. Das gemeinsame Regierungs- und Verwaltungsorgan dieser Bezirke ist der Landrat, der regulär im Mai und im Dezember für zwei Wochen zusammentritt. Er ist bestückt mit Vertretern des Domkapitels sowie Gesandten und Ratsboten der Gemeinden und Zenden, die durch die Bürgerschaft gewählt werden und meist alteingeses­ senen, vermögenden Patrizierfamilien entstammen. Dem Landrat steht der Landeshauptmann vor, neben dem Fürstbischof der höchste Magistrat im Land und oberster Repräsentant des Wallis. Er wird jeweils vom Landrat für zwei Jahre gewählt, hat die oberste legislative und exekutive Gewalt inne und sitzt auch dem höchsten Gericht vor. Im Zuge der Emanzipation der Zenden ist der Landeshauptmann mehr und mehr zum Gegenspieler des Bischofs geworden, ausgestattet mit hohem Ansehen und mit dem Respekt heischenden Titel 19


»Schaubare Grossmächtigkeit«. Unter seinem Vorsitz entscheidet der Landrat politische Geschäfte in allen Bereichen. Allerdings handeln die Ratsboten aufgrund von Instruktionen ihrer Gemeinden. Haben sie keine, nehmen sie die Beschlüsse nur »ad referendum« an und legen sie nach ihrer Rückkehr ihren Gemeinden vor. Die einzelnen Zenden können sich damit über Beschlüsse des Landrates hinweg­ setzen, schliessen alleine Verträge und Bündnisse ab und entscheiden oft auch in militärischen Belangen eigenständig. Die begrenzte Zentralgewalt des Landrats und des Landeshauptmanns sowie die Rivalitäten unter den Zenden führen zu anhaltenden Reibereien, aber doch ist der Landrat – vergleichbar mit der eidgenössischen Tag­ satzung – das Band, das den losen Walliser Staatenbund im Rhonetal zusammenhält. Drei sich überlagernde und sich durchdringende Konflikte beherrschen das Geschehen und spitzen sich in den Jahren von Stockalpers Kindheit und Jugend zu: Aussenpolitisch ist es das Verhältnis der Landschaft Wallis zur Eidgenossenschaft, zu den benachbarten Orten und zu den angrenzenden Mächten Spanien-Mailand auf der einen, zu Savoyen sowie Frankreich auf der andern Seite. Innenpolitisch sind es die konfessionelle Spaltung und die Richtungskämpfe zwischen Reformierten und Katholiken. Und institutionell ist es die Auseinandersetzung um die fürstbischöfliche Landesherrschaft und die kommunale Herrschaft der Zenden, des Landrats und des Landes­ hauptmanns. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts ist das Wallis ein sogenannter Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft und mit ihr sowie den benachbarten Herzogtümern durch mehrere, zum Teil divergierende Bündnisse verbunden. Massgeblich für das Verhältnis zu den Nachbarn ist seit jeher die geostrategische Lage des Wallis zwischen den verschiedenen Einflusssphären.13 Gut zwanzig unterschiedlich intensiv begangene Pässe verbinden das Wallis mit seinen Nachbargebieten: Nach Osten führen der Furkapass in die katholische Zentralschweiz und der Nufenenpass über das Bedrettotal in die von den 20


innerschweizer Orten beherrschte Leventina. Nach Norden ins reformierte Bern öffnen sich ein gutes halbes Dutzend Alpenübergänge, darunter der Grimselpass mit seiner Fortsetzung über den Brünig nach dem katholischen Luzern, der Lötschen-, der Gemmi-, der Rawil- und der Sanetschpass. Gegen Süden sind es sieben Passrouten: Der bedeutende Simplonpass sowie der Gries- und der Albrun­pass münden ins Val d’Ossola und damit ins Herrschaftsgebiet des spanisch-habsburgischen Herzogtums Mailand, ebenso weiter westlich der Antrona- und der Monte-Moro-Pass. Und schliesslich ins piemontesische Aostatal und somit ins Gebiet des Herzogtums Savoyen führen der Theodulpass und der seit den Römern wichtige Grosse Sankt Bernhard. Auf der Längsachse, dem Lauf der Rhone folgend, bildet das Wallis mit dem Simplonpass im Osten und dem Genfersee im Westen eine direkte Verbindung von den Handelsplätzen Mailand und Venedig in Oberitalien nach Frankreich, Burgund und weiter nach Flandern an die niederländische Küste. Lange lag die Simplonachse im Schatten der Weltgeschichte und wurde vom grossen überregionalen Warenaustausch weitestgehend gemieden. Doch mit dem Aufstieg Englands und vor allem der ­Niederlande zu Seemächten und mit der Öffnung neuer, globaler Meeres­routen verlagerten sich die Handelsaktivitäten in den Westen des Kontinents in Richtung Atlantik. Dadurch intensivierten sich die europäischen Verkehrsströme auf der westlichen Achse zwischen London und Antwerpen, zwischen den traditionellen Märkten und Messen in Flandern und der Champagne sowie in Norditalien mit den Handelsplätzen Mailand, Venedig und Genua.14 Um 1600 rücken die Alpenpässe in den Fokus der zwei euro­ päischen Grossmächte Frankreich und Spanien. Auf der geostrate­ gischen Landkarte kommt ihnen nun eine ähnliche Bedeutung zu wie den Meerengen, die es zu kontrollieren gilt. Insbesondere die Simplonroute auf der Achse Nordwest-Südost gerät in den Brennpunkt der beiden Rivalen. Seit dem Zerfall des Weltreichs Kaiser Karls V. und der Erbteilung 1557/58 gehören zur spanischen Linie des Hauses Habsburg: das Kernland Spanien auf der Iberischen 21


Halbinsel, die Königreiche Neapel und Sardinien in Süditalien, das Herzogtum Mailand als stabile Machtbasis in der Lombardei sowie die spanischen Niederlande am Ärmelkanal. Dazwischen liegt die spanische Franche-Comté, die Freigrafschaft Burgund. Spanien kann den Provinzen in den Niederlanden zwar auf dem Seeweg Truppen zuführen, viele Heeresverbände werden jedoch in Italien rekrutiert und sind in Sizilien, Neapel und Mailand stationiert. So sind für Spanien die alpinen Landkorridore als Nachschub- und Verbindungs­ linien zwischen den Herrschaftsgebieten unerlässlich. Einerseits sind es die Pässe in Tirol, insbesondere die Bündner Pässe und der Sankt Gotthard, die Spanisch-Mailand mit den habsburgischen Stamm­ landen im Osten und den spanisch-habsburgischen Gebieten im Norden und Nordwesten verbinden und als »spanische Strasse« gelten.15 Von grossem Interesse ist aber auch der Simplon-Passweg, der via die Verlängerung über den Col du Jougne im französischen Jura die direkte Verbindung von Genua und Mailand in die spanische Freigrafschaft Burgund und weiter nach den spanischen Nieder­ landen ermöglicht.16 Frankreich unter der Herrschaft der Bourbonen seinerseits sieht sich von spanischen Gebieten eingekreist, sucht die spanische Dominanz zu brechen und will vom französischen Kernland aus auf ­angrenzende Gebiete ausgreifen. Im Norden gegen Flandern und Holland, im Osten gegen die Freigrafschaft Burgund, das Elsass und Schwaben, im Süden gegen Turin und Mailand. In Oberitalien ist Frankreich eine Koalition eingegangen mit der Republik Venedig, die sich von Bergamo im Westen bis nach Istrien im Osten erstreckt. Auch für Frankreich sind die Routen über die Alpenpässe von strategischer Bedeutung für seine Interessen in Oberitalien. Vom wichtigen Handelszentrum Lyon aus führt die »Route de Piémont« via Chambéry über den Mont Cenis sowie via Briançon über den Montgenèvre nach Turin. Ferner gibt es die »Route de Savoie« über Genf, das Chablais, den Kleinen Sankt Bernhard und das Aostatal nach Turin. Eine für Frankreich wichtige Route führt zudem von Lyon via Genf und das Unterwallis über den Grossen Sankt Bernhard und das 22


savoyische Aostatal nach Turin, die andere durch das Wallis über den Simplon in die Lombardei und nach Venedig. Die exponierte geostrategische Lage des Wallis spiegelt sich in den Verträgen und Allianzen, die es mit seinen Nachbarn über die Zeit geschlossen hat.17 Seit 1416 ist es durch ein Burg- und Landrecht mit den sieben katholischen Orten Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Luzern, Freiburg und Solothurn verbunden, ein bilateraler Vertrag zur Stabilisierung der Beziehungen und zur Sicherung der Freundschaft. Das Bündnis, das auch konfessionelle Fragen betrifft, wurde 1529 erweitert und seither immer wieder erneuert, so auch 1604 kurz vor Stockalpers Geburt. Dabei versuchten die katholischen Kantone vergeblich, das Wallis in ihr Bündnis mit Spanien-Mailand einzubeziehen, das neben Solddiensten vor allem den Truppendurchzug auf dem »Camino de Suizos« hauptsächlich über den Gotthardpass in verschiedenen Varianten nach Basel und den Rhein entlang nach den spanischen Niederlanden gewährleistete. Mit Spaniens Gegenspieler Frankreich ist das Wallis ebenfalls eng verbündet, seit es sich nach der Niederlage der Eidgenossen bei Marignano als Zugewandter Ort 1516 dem »Ewigen Frieden« zwischen Frankreich und der Eigenossenschaft angeschlossen hatte und 1521 auch Teil des Hilfs- und Soldbündnisses wurde; dieses Bündnis wird 1602 erneuert. Mit dem Herzogtum Savoyen im Südosten besteht ein einigermassen stabiles Verhältnis, nachdem Herzog Emanuel Philibert von Savoyen alle Ansprüche im Wallis aufgegeben hat. 1536, als er Genf einnehmen wollte, hatte Bern die Waadt erobert und Genf besetzt. Und das Wallis hatte ungeachtet eines bestehenden Bündnisses mit Savoyen das Gebiet von Saint-Maurice bis Evian am südlichen Ufer des Genfersees eingenommen, um den Berner Truppen zuvorzukommen. 1569 im Vertrag von Thonon trat das Wallis Evian und das Tal von Abondance wieder an Savoyen ab, behielt aber das für den durchgehenden Transitverkehr wichtige Gebiet auf der linken Rhoneseite zwischen Saint-Maurice und dem Genfersee.18 Beschleunigt wurde die Einigung mit Savoyen auch durch ein Defensivbündnis, das 23


S­ avoyen 1560 mit den katholischen Orten geschlossen hatte und seither immer wieder erneuerte. Mit dem reformierten Bern, das sich in diesem Eroberungszug am Ausgang des Rhonetals am rechten Ufer festgesetzt hatte, schloss das Wallis 1589 ein Bündnis, das 1602, 1618 und auch später wieder erneuert wurde, während Bern 1617 mit ­Savoyen ebenfalls in ein Bündnis trat. Bern schloss 1615 und 1618 zusammen mit Zürich seinerseits ein Bündnis mit der Republik ­Venedig. Diese war mit Frankreich verbunden und der Kopf der anti-habsburgischen Koalition in Oberitalien. Zudem bestand seit dem Jahr 1600 eine Allianz des Wallis mit den sich zusehends stärker reformierenden Drei Bünden im Osten, eine Alpenlängsverbindung der Zugewandten Orte also, die wiederum der beidseitigen Sorge vor einem Erstarken der Position Spaniens in Oberitalien entsprang.19 Damit befindet sich das Wallis um 1600 in einer ähnlich prekären Lage wie der andere Zugewandte Ort der Eidgenossenschaft, die Drei Bünde im Osten. Dort erlangen die Bündner Alpenpässe, insbesondere San Bernardino, Septimer, Splügen, Maloja, Julier, Bernina und Umbrail, ebenfalls geostrategische Bedeutung. Die bündnerischen Passrouten sind die kürzesten Verbindungen zwischen dem spanisch-­ habsburgischen Mailand und dem österreichischen-habsburgischen Tirol. Besonders exponiert sind die von den Drei Bünden gemeinsam verwalteten Untertanengebiete Veltlin und Bormio. Aus der Sicht von Spanien-Mailand ist das Veltlin die beste Route zu den habsburgischen Stammlanden im Osten und ein mögliches nördliches Einfallstor des Protestantismus, sodass es dieses Gebiet unbedingt unter seine Kontrolle bringen will. Zudem ist Spanien bestrebt, möglichst direkte und sichere Verbindungen zwischen seinen Besitzungen in Nord­italien und in den Niederlanden zu schaffen, hauptsächlich über den Sankt Gotthard und die katholische Innerschweiz, aber auch über die Bündner Pässe, via Rhein, Bodensee und das Elsass. Die Gegenkoalition Frankreich-Venedig hat ebenso hohes Interesse, Habsburgs strategische Verbindungslinien zu behindern und insbesondere die Routen über den Splügen- und den Septimerpass, die einzigen Nordanschlüsse der Republik Venedig, nicht in habsburgi24


sche Hände fallen zu lassen. Beide Seiten finden bei den massgebenden Adelsfamilien in den Drei Bünden willige Verbündete, die sich gegen Pensionen, Soldverträge und Bestechungsgelder auf die eine oder andere Seite schlagen, die katholische Familie von Planta auf die Seite Spanien-Österreichs, die reformierte Familie von Salis auf die Seite Frankreichs. Während sich im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts der Druck der europäischen Mächte in den von Reformation und Gegenreformation zerrütteten Drei Bünden erhöht und bald in kriegerische Interventionen und Anarchie mündet, hält sich das Wallis im unübersichtlichen Geflecht von Bündnissen und Gegenbündnissen in einem stets gefährdeten Gleichgewicht zwischen den benachbarten eidgenössischen Gebieten und den rivalisierenden Grossmächten. Das Wallis selbst ist tief gespalten und erheblichen inneren Spannungen ausgesetzt. Die Bruchlinie verläuft mitten durch das Tal. In den unteren Zenden Sitten, Siders und Leuk sind die tonangebenden Familien nach Frankreich orientiert und bilden die »französische Partei«. Die oberen Zenden Brig und Goms richten den Blick und die Politik nach der Innerschweiz und Spanien-Mailand aus und bilden die »spanische Partei«, während die Zenden Raron und Visp ebenfalls eher Spanien zuneigen, diese Orientierung aber weniger trennscharf und auch schwankend ist. Überlagert wird diese Entzweiung durch die religiösen Spannungen. Die Reformation hatte das Wallis keineswegs unberührt gelassen. Im Unterwallis und in den unteren Zenden Sitten, Siders und Leuk hatten sich einflussreiche Familien zum neuen Glauben bekannt, mit Rückendeckung und Unterstützung von Bern. Dieses war darauf aus, zusammen mit den reformierten Städten Zürich, Basel und Schaffhausen sowie den Drei Bünden im Osten die katholischen Orte einzukreisen und ihnen den Verkehr mit den katholischen Ländern zu erschweren. Gegen den reformierten Glauben und ihre Vertreter opponieren die streng katholischen und papsttreuen oberen Zenden, insbesondere der mit Sitten rivalisierende Zenden Brig und das 25


Goms, die mit der katholischen Innerschweiz verbunden sind. Die innerschweizer Orte fürchten eine protestantische Umklammerung und sind angewiesen auf eine sichere Verbindung mit ihrem west­ lichen Bundesgenossen, dem Herzog von Savoyen. Der als gutmütig und nachsichtig geltende Fürstbischof Hildebrand I. von Riedmatten tut wenig zur Verteidigung des katholischen Glaubens im Wallis und damit auch für seine Stellung als Landesfürst, die im Zuge der Reformation von den städtischen Oberschichten insbesondere in den unteren Zenden immer stärker angefochten wird. Im Landrat haben die Neuerer um diese Zeit eine starke Stellung erreicht und die politischen, administrativen und judikativen Befugnisse des Bischofs weiter zurückgedrängt. Für sie ist es aus­ gemacht, nach dem Tod von Hildebrand I. von Riedmatten die ­bischöfliche Landesherrschaft ganz zu brechen und den Bischofs­ sitz aufzuheben. Die katholischen, innerschweizerischen Orte beobachten die fortschreitende Reformation des Wallis mit Sorge. Im Herbst 1602, anlässlich der Erneuerung des Bundes in Sitten, drängt eine Delegation darauf, das katholische Kirchenleben im Wallis zu stärken und in Sitten ein Kapuzinerkloster einzurichten. Im Juli des darauffolgenden Jahres kreuzt auch eine Gegengesandtschaft der reformierten Orte und der Drei Bünde auf, muss aber unverrichteter Dinge zurückkehren. Da beschliessen die fünf katholischen Orte, die Rekatholisierung des Wallis selbst ins Werk zu setzen. Mit Rückendeckung des spanischen Gubernators in Mailand, Pedro Henriquez de Acevedo Graf von Fuentes, und des Herzogs Karl Emanuel I. von Savoyen überschreitet im August 1603 eine von einem Luzerner Schultheissen und einem Urner Landammann geleitete Gesandtschaft den Furkapass. Sie hat die Instruktion, von Zenden zu Zenden zu ziehen und »den Gemeinden zuzusprechen«, also den neuen Glauben zu bekämpfen, indem sie unter Umgehung des Landrates direkt im Volk die Leidenschaften entfesselt. Die Gemeinden werden versammelt, die Anwesenden verpflichtet, für den alten Glauben Gut und Blut zu opfern. Drohung und Enthusiasmus tun ihre Wirkung: Unter begeistertem 26


Zuspruch der Bevölkerung und begleitet von bewaffnetem Volk ­ziehen die Innerschweizer Gesandten durch die Gemeinden bis nach Sitten hinunter. Der Landrat protestiert zunächst, gibt dann aber eingeschüchtert nach.20 Gestärkt durch die plebiszitäre Aufwallung, setzen der Bischof, das Domkapitel und die vier oberen Zenden 1604 mit dem sogenannten »Visper Abschied« im Landrat ein Verbot reformierter Glaubenspraktiken im Wallis durch. Die Reformierten werden aus der Regierung und aus allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Sie müssen sich zum Katholizismus bekennen, ansonsten droht ihnen die Ausweisung. Reformierte Bücher und Schriften werden untersagt, der Besuch auswärtiger protestantischer Schulen verboten. Walliser Schüler und Studenten, die in grosser Zahl protestantische Institu­ tionen in Bern, Genf, Zürich und Basel besuchen, werden heimgerufen. Die Beschlüsse sind rigoros und bringen das Land nahe an eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen oberen und unteren Zenden. Schliesslich kommt es jedoch zu einem Kompromiss und der Duldung der Protestanten. Darüber hinaus jedoch misslingt 1604 der Versuch, das Wallis in die Linie der katholischen Orte einzu­ reihen. Diese wollen das Wallis in das erneuerte Bündnis von Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Appenzell Inner­ rhoden mit Spanien einbeziehen. Die oberen Zenden unter der Führung Brigs, die auch wirtschaftlich von der Lombardei abhängen, drängen wegen der geografischen und konfessionellen Nähe und auch aus handelspolitischen Gründen auf den Beitritt. Die nach Frankreich orientierten und – vom Salz abgesehen – wirtschaftlich weniger ­abhängigen unteren Zenden stellen sich jedoch dagegen, auch weil Bern damit droht, für diesen Fall gegenüber der Festung von Saint-­Maurice bei der steinernen Brücke am Eingangstor zum Wallis eine eigene Festung zu bauen. Der Ende 1604 gewählte Bischof Adrian II. von Riedmatten bemüht sich um den Wiederaufbau des katholischen Lebens. Luzern schickt katholische Priester als Seelsorger ins Land. Für die Volks­ mission werden Kapuziner, für den Aufbau der Bildungsstätten 27


J­ esuiten gerufen. Jesuitenschulen gibt es ab 1607 an etlichen Orten, zuerst in Ernen, dann bei Siders, in Venthône und bis 1627 in Sitten und Brig. Zeitweise unterrichten sie bis zu 150 Schüler, die sie wie Kaspar Stockalper im katholischen Glauben und in der Treue zu Papst und Kirche festigen. Bischof Adrian II. von Riedmatten ruft aber auch seine Stellung als Reichsfürst über das Fürstbistum Wallis in Erinnerung. Dabei beruft er sich auf die legendäre »Carolina«, jene Schenkung, mit welcher Karl der Grosse um 800 angeblich die geistlichen und weltlichen Grafschaftsrechte über das Wallis dem Bischof Theodul übertragen hatte. Dies löst auf der Seite der Verfechter der weltlichen Landesherrschaft heftige Reaktionen aus, die bald in einem heftigen Gegenschlag münden werden.21 Während der Schulzeit Kaspar Stockalpers an den Jesuitenschulen ist die Religionsfrage im Wallis also vorerst zugunsten des Katholizismus entschieden, die Reformation auf dem Rückzug und die Rekatho­ lisierung im Gang. Offen bricht hingegen der institutionelle Streit um die fürstbischöfliche Landesherrschaft und die kommunale Herrschaft der Zenden aus. Nach dem Tod des Bischofs Adrian II. von Riedmatten 1613 verlangen Walliser Aristokraten, welche die bischöfliche Landeshoheit stets angefochten hatten und sich »Patrioten« nennen, dass der Bischof nun sämtliche weltlichen Machtbefugnisse aufgibt. Nach längerem Streit unterschreiben Würdenträger des Dom­ kapitels schliesslich eine Wahlkapitulation, in der auf die »Carolina« verzichtet wird, das heisst auf alle weltlichen Rechte, die der Fürst­ bischof von Sitten durch die Jahrhunderte über das Wallis ausgeübt hatte. Der Bischof behält zwar den Titel des Reichsfürsten, seine politische Rolle wird jedoch auf Ehrenrechte wie den Vorsitz im Landrat beschränkt. Die sieben Zenden konstituieren sich damit als Verband unabhängiger Kommunalitäten und bezeichnen sich bald als freie, demokratische »Republik Wallis«. Der Landrat wählt danach den 27-jährigen Gelehrten Hildebrand Jost zum Bischof. Dieser jedoch denkt nicht daran, auf seine Herrschaftsrechte zu verzichten, und liefert sich ein stetiges Seilziehen mit dem Landrat und dem 28


Landeshauptmann. Sein Versuch, den Erlass zu beseitigen, gipfelt 1619 in offenem Aufruhr und der Demütigung des geistlichen Landes­ herrn. Aber bis zur endgültigen Kapitulation wird sich der Streit noch über Jahre hinziehen. 1623 wählt der Landrat Johannes von Roten (1575 – 1659) zum Landeshauptmann. Als Landschreiber steht ihm bald Michael Mage­ ran (1575 – 1638) zur Seite, ein reicher Kaufmann aus Leuk, Inhaber des Monopols auf den Salzimport und den Warentransport über den Simplon, zudem Anführer der »französischen Partei« sowie der »Patrioten«, der in der Funktion des Staatskanzlers nun eine zentrale Machtposition erreicht. So überzeugt Landeshauptmann Johannes von Roten zum katholischen Glauben steht, so sehr ist er ein Feind der weltlichen Herrschaftsansprüche des Sittener Klerus und des Bischofs. 1626 flammt der Zwist zwischen den »Patrioten« und dem Bischof wieder auf, als Michael Mageran das bischöfliche Wappen, das Hildebrand Jost am Landesschulhaus in Sitten angebracht hat, mit Gewalt entfernen lässt. Der Bischof, ermutigt durch die Erfolge der kaiserlichen Heere auf den Schauplätzen des Dreissigjährigen Kriegs in Deutschland, verficht nun forscher seine Hoheitsrechte, während die Zenden in Landschreiber Mageran einen Anführer ­haben, der keine Gelegenheit auslässt, den Bischof in die Schranken zu weisen. Bischof Hildebrand Jost hatte sich die Karolinischen Schenkungen insgeheim in Wien durch Kaiser Ferdinand II. bestätigen lassen. Besonders erbost die Walliser, dass der Bischof nun droht, das Bistum zugunsten eines Ortsfremden aufzugeben. Jetzt hat Landeshauptmann von Roten einen Grund, gegen Hildebrand vorzugehen. Den ersten Schlag führt er allerdings nicht gegen den Bischof selbst, sondern gegen die Jesuiten, die als Vasallen des Papstes und heimliche Ratgeber des Bischofs gelten. Der Obere der Jesuiten greift bei einer Predigt in Raron auf die mittelalterliche Zwei-Schwerter-Lehre zum Verhältnis zwischen kaiserlicher und päpstlicher Macht zurück und predigt vom »geistlichen und weltlichen Schwert des heiligen Theodul«, beide Schwerter habe dieser einst direkt von Karl dem 29


Grossen erhalten. So bringt der Jesuit in Anwesenheit des Landeshauptmanns erneut die Karolinischen Schenkungen als Legitimation für die Landesherrschaft des Bischofs in Anschlag. Damit liefert er den »Patrioten« den willkommenen Anlass zum Losschlagen. Landeshauptmann Johannes von Roten handelt rasch und entschlossen. Er beruft im Februar 1627 den Landtag nach Leuk. Unter dem Druck insbesondere von Landschreiber Michael Mageran beschliesst dieser an einer stürmischen Versammlung kurzerhand, die Jesuiten wegen ihrer Verstrickung in den Machtkampf aufseiten des Bischofs und wegen ihrer Spanienfreundlichkeit aus dem Wallis auszuweisen. Von den Jesuiten, deren Gründer Ignatius von Loyola 1622 gerade heilig gesprochen wurde, heisst es, sie seien dem Papst hörig, würden im Geheimen Intrigen spinnen, konspirativ arbeiten und als Berater und Beichtväter der Herrschenden die Politik beeinflussen. Sie gelten als Einflüsterer der Bischöfe und Agenten des kirchlichen Absolutismus, als arglistig, habgierig und machtlüstern. All diese Ressentiments entladen sich jetzt. Die Jesuitenschulen im Wallis ­werden geschlossen, die Schüler müssen gehen.22 So auch Kaspar Stockalper. Er verlässt das Wallis Mitte September 1627 und schreibt sich am 30. September an der Jesuitenuniversität in Freiburg im Breis­ gau ein. Indem er sich ins Ausland absetzt, bringt er sich auch in Sicherheit, denn just in diesen Tagen erschüttert ein Umsturzversuch das Wallis, in den die Stockalpersippe verwickelt ist. Den Sommer über haben sich die Fronten zwischen Landesregierung und Bischof weiter verhärtet. Nun nimmt einer die Sache selbst in die Hand: Anton Stockalper. Er ist ein Enkel des ehemaligen Landeshauptmanns Peter I. Stockalper, Sohn des früheren Zendenhauptmanns und Kastlans von Brig Anton I. Stockalper und Onkel zweiten Grades von Kaspar Stockalper. Er war Meier des Freigerichts Ganter, diente als Hauptmann für Savoyen im Piemont und für Frankreich im Veltlin, amtete als Landvogt von Saint-Maurice und ist päpstlicher Ritter vom Goldenen Sporn.23 Politisch verficht er die Seite von Spanien-Mailand. Im Streit um die Landesherrschaft hat er sich gegen die »Patrioten« gestellt, Partei für Bischof Hildebrand Jost ergriffen, 30


die Beschlüsse vom Februar in Leuk zur Vertreibung der Jesuiten öffentlich heftig kritisiert und resolut deren Rückkehr verlangt. ­Anton Stockalper ist kein Politiker der feinen Diplomatie, sondern ein Heisssporn und Haudegen. Um seine Sache zu beschleunigen, schmiedet er ein Komplott und schart Parteigänger und Veltliner Söldner um sich. Er will Landeshauptmann Johannes von Roten und Landschreiber Michael Mageran töten und damit der Zendenrepublik ein Ende setzen. Doch die Verschwörung fliegt auf. Am 15. September wird Anton Stockalper bei der Sust von Leuk festgenommen und in Sitten eingekerkert. Für Landeshauptmann Johannes von Roten ist dies die Gelegenheit, den zweiten Schlag zu führen. Dreimal wird Anton Stockalper gefoltert und gesteht jedes Mal schwerere Verbrechen. Gemäss den Prozessakten bezeichnet er sich als »Spanier« und gibt zu, dass er auf der Seite Mailands und des spanischen Königs steht und alle Papstgegner als seine Feinde betrachtet. Die Anklage lautet auf Verrat, Mord, Aufruhr, Widerspenstigkeit und weitere Delikte. So habe er auch Banditen beherbergt, ihnen zur Flucht verholfen und das ­gemeine Volk gegen die Obrigkeit aufgewiegelt.24 Am 6. Oktober beginnt im Bischofsschloss von Leuk gegen den Verräter und Verschwörer ein hochpolitischer, von zahlreichen Unregelmässigkeiten begleiteter Prozess, dessen Ausgang zum Vornherein feststeht. In der Gerichtskommission, die über Anton Stockalper urteilt, sitzen seine Todfeinde der »französischen Partei« und der »Patrioten«, ­Landeshauptmann Johannes von Roten und Landschreiber Michael Mageran. Mit ihrem Schuldspruch räumen sie den gefährlichen ­Oppositionellen beiseite und nutzen die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren – gegen den Bischof und seine Herrschaftsansprüche, gegen die Bischoftreuen der »spanischen Partei« in den oberen Zenden, gegen die Vormachtstellung der Briger am Simplonpass und gegen die in Brig einflussreiche Stockalperfamilie. Am 22. November 1627 fällt das Todesurteil. Ein Zeitgenosse, der Geistliche Caspar Berodi von Saint-Maurice, der Anton Stockalper kannte und dem Klerus günstig gesinnt war, 31


Helmut Stalder, Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Politische Wissenschaften in Zürich, Frankfurt/a.M. und New York. Er war Redaktor beim Schweizer Tages-Anzeiger, stv. Chefredaktor bei der Zeitschrift Beobachter und Redaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung. Er ist Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher im Bereich der Verkehrs-, Wirtschafts-, und Technikgeschichte und seit 2021 Verlags­ leiter von NZZ Libro. Zuletzt erschien von ihm «Verkannte Visionäre. 25 Schweizer Lebensgeschichten» (2020).

In Europa tobt der Dreissigjährige Krieg. Kaspar Stockalper erkennt, dass er am Simplonpass im Wallis an einer Schlüsselstelle sitzt. Er nutzt die Gunst der Stunde, um einer der einflussreichsten und wohlhabendsten Männer des Alpenraums zu werden. Sein rasanter Aufstieg und spektaku­ lärer Erfolg ist geprägt von politischem Kalkül und unter­n ehmerischer Schlauheit, von Risikofreude und Skrupellosigkeit, von barocker Prunksucht und religiöser Inbrunst – und von den Komplotten neidischer Feinde. Quellenstark, anschaulich und spannend erzählt, zeigt dieses Buch Stockalper nicht nur als Kapitalisten, Macht­menschen und frommen Wohltäter, sondern auch als europäischen Akteur, der mitten im kontinentalen Krieg die Neutralität als Geschäftsmodell entdeckt. Ein Sitten­g emälde mit erstaun lichen Parallelen zur Gegenwart.

ISBN 978-3-907291-92-4 I S B N 978-3-907291-92-4

Umschlaggestaltung : Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Umschlagbild vorn: © mauritius images / Anthony Palmer / Alamy Umschlagbild hinten: © Porträt von Kaspar Stockalper vom Thurm (1609–1691): Stockalperschloss, Brig. Foto: Thomas Andenmatten.

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783907 291924

www.nzz-libro.ch www.nzz-libro.de

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Günstling Kaspar Stockalper Reichtum, Macht und der Preis des Himmelreichs

Die Lebensgeschichte von Kaspar Stockalper (1609–1691) erscheint wie ein Königsdrama von Shakespeare: Als junger Mann aus angesehenem Haus führt er eine französische Prinzessin mit Gefolge über den winterlichen Simplon. Schlagartig ist er an Europas Fürstenhöfen bekannt. Entschlossen bringt er sich am Alpenpass in Stellung und bietet, was Europa im Dreissigjährigen Krieg dringend braucht: eine sichere Verbindung zwischen Norditalien und Atlantik. In einem Balancespiel zwischen den Grossmächten verschränkt er Politik und Geschäft, schliesst Geheimabkommen, tauscht Transitrechte, Söldner und Kredite gegen Salz und Handelsprivilegien, sammelt Ämter und Titel, kauft Ländereien zusammen, deklassiert Konkurrenten und sichert sich als Mäzen gesellschaftliches Ansehen. Auf dem Zenit seiner Macht sieht er sich als «Gottes Günstling». Doch die Hybris wird zu viel. Was klingt wie ein shakespearesches Bühnenstück, ist von der Wirklichkeit bereitgestellt. Kaspar Stockalpers Geschäftsgebaren, sein politisches Agieren, sein religiöses Denken, der spekta­ kuläre Aufstieg und das dramatische Ende des ungekrönten alpinen Sonnenkönigs sind in seinen Rechnungsbüchern und vielen Tausend Seiten Korrespondenz erhalten. Daraus lässt sich das wirtschaftliche, politische und spirituelle Universum Stockalpers erschliessen, das nahezu das ganze 17. Jahrhundert umfasst.


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