Staub: Regulierung in der Krise

Page 1


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlag, Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-896-6 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung


Meinen Eltern, meiner Frau und meinem Sohn



Inhalt Vorwort........................................................... 9 Einleitung....................................................... 12 1  Systemrisiko und Systemstabilität. . ..................... 16 1.1  Begriffe und Mechanismen.............................. 16 1.2  Krisendiagnose und Regulierung........................ 18 1.3 Résumé..................................................... 20 2  Regulierung des Eigenkapitals.. .......................... 21 2.1 Begründung................................................ 21 2.2  Wirkungsweise und Varianten.. ........................ 23 2.3 Basel III..................................................... 27 2.4  Operationelle Risiken.................................... 34 2.5  Immobilien- und Hypothekarmarkt................... 36 2.6 Résumé.................................................... 38 3  Regulierung der Liquidität............................... 40 3.1 Begründung............................................... 40 3.2  Neue Methodologie...................................... 43 3.3 Résumé..................................................... 46 4  Systemrelevanz und «Too big to fail»................... 48 4.1 Problemstellung.......................................... 49 4.2  Massnahmenpaket der Schweiz........................ 50 4.3 Beurteilung................................................ 56 4.4 Résumé.................................................... 58 5  Makroprudentielle Regulierung......................... 60 5.1  Begriff und Ursprung..................................... 60 5.2 Ausprägungen............................................ 61 5.3  Antizyklischer Kapitalpuffer............................ 63 5.4  Institutionelle Ausgestaltung........................... 70 5.5 Résumé..................................................... 75


6  Governance und Aufsicht................................. 76 6.1  Corporate Governance................................... 76 6.2 Vergütungssysteme...................................... 80 6.3  Reform des Prüfwesens.................................. 83 6.4  Revision der Bankenrechnungslegung................ 85 6.5 Résumé.................................................... 88 7  Probleme und Herausforderungen...................... 90 7.1  Komplexität und Dynamik.............................. 90 7.2  Harmonisierung und Gleichschaltung................ 95 7.3  Anreizeffekte und Shadow Banking................... 97 7.4  Fehlende Gesamtsicht................................... 99 7.5  Unzureichende Wirkungsprognosen................. 102 7.6 Résumé................................................... 108 8  Leitlinien für die Zukunft. . ............................... 110 8.1  Konsolidierung und Koordination.................... 110 8.2 Differenzierung.......................................... 112 8.3 Wirkungsanalysen........................................ 113 8.4 Selbstregulierung....................................... 114 8.5  Restrisiken und Eventualplanung. . ................... 116 8.6  Zusammenarbeit und Dialog.......................... 118 8.7 Résumé.................................................... 119 Glossar: Wichtige Begriffe und Gegensatzpaare.......... 120 Abkürzungsverzeichnis...................................... 123 Literatur....................................................... 125 Der Autor...................................................... 131


9

Vorwort Im Zusammenhang mit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise ist unverkennbar, dass die Regulierung von Banken seit einigen Jahren von einer ausserordentlichen Dynamik geprägt ist. Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene sind zahlreiche regulatorische Anforderungen an Banken wesentlich verschärft worden. Substanzielle Änderungen sind bereits in Kraft getreten, andere befinden sich in der Pipeline. Banken und Bankenregulierung haben in der medialen Berichterstattung und öffentlichen Perzeption klar an Bedeutung gewonnen. Nicht wenige Entwicklungen sind aus akademischer wie regulierungspolitischer Sicht kontrovers. Das ist die Kulisse, vor der in der vorliegenden Schrift eine kritische Lagebeurteilung vorgenommen werden soll. Dabei liegt eine zweifache Motivation zugrunde: Erstens geht es mir darum, für die interessierte Öffentlichkeit in kompakter und verständlicher Form eine Synopsis der Bankenregulierung in der Schweiz aufzuzeigen. Durch den Text soll den Lesern ein Überblick über getroffene Massnahmen nach der Finanzkrise vermittelt und eine kritische Sicht der aktuellen Herausforderungen ermöglicht werden. Dabei mögen die Ausführungen insbesondere hilfreich sein, wenn einzelne regulatorische Massnahmen oder regulierungspolitische Diskussionen vor dem Hintergrund eines breiteren Kontextes situiert und beurteilt werden sollen. Meine Erfahrungen aus internationalen und nationalen Gremien der Bankenregulierung, insbesondere aus meiner Tätigkeit in den beiden Nationalen Arbeitsgruppen «Umsetzung Basel III» und «Liquidität», sind in die Akzentsetzung und Darstellung eingeflossen. Zweitens spielt ein praktischer Auslöser eine wesentliche Rolle: Im Rahmen meiner mehrjährigen Tätigkeit als Lehrbeauftragter für «Banken- und Finanzmarktregulierung» an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel habe ich meinen Studierenden jeweils kein Lehrbuch guten Gewissens empfehlen können, das den Stoff meiner Vorlesung auf geeignete Weise hätte abdecken können. Das liegt daran, dass es bisher mei-


10

Vorwort

nes Wissens keine entsprechende Darstellung gibt, die auf einer soliden ökonomischen Basis eine Gesamtschau vornimmt und dabei einen expliziten Bezug zu den institutionellen Gegebenheiten und aktuellen Entwicklungen in der Schweiz aufweist. Dieser Beitrag soll durch den vorliegenden Text geleistet werden. Dabei sollen einerseits die relevanten ökonomischen Konzepte vermittelt werden, die zur Beurteilung regulatorischer Fragen wesentlich sind. Andererseits wird bewusst ein Bezug zur spezifischen Ausgangslage und aktuellen Situation in der Schweiz hergestellt. Ich wünsche mir, dass die vorliegende Lagebeurteilung sowohl einer allgemeinen Leserschaft als auch meinen Studierenden in den nächsten Jahren nützliche Dienste leisten wird. Selbstverständlich wird sie nicht eine Vorlesung im Master-Programm ersetzen können; meine Hoffnung ist jedoch, dass der Text die im Unterricht vermittelten Inhalte in didaktisch geschickter Weise flankiert. Das vorliegende Buch entstand im Sommer und Herbst 2013. Dieser Zeitpunkt scheint vor dem Hintergrund bisheriger, laufender und absehbarer Entwicklungen der Bankenregulierung für die beabsichtigte Standortbestimmung günstig zu sein. Ich danke meiner Familie von Herzen, dass sie in dieser Zeit häufig auf mich verzichtete, mich in allen Belangen unterstützte und mir die Verfassung der vorliegenden Schrift ermöglichte. Ohne den grossen Rückhalt und das Verständnis meiner Frau Stéphanie Staub-LeibundGut und meines Sohnes Benjamin Staub wäre ein solches Unterfangen nicht möglich gewesen. Ein spezieller Dank geht an Herrn Prof. Dr. Heinz Zimmermann (Universität Basel), der mich zu diesem Projekt ermutigt und in verschiedenen Fragen freundschaftlich beraten hat. Sein fundiertes und konstruktives Feedback und seine Unterstützung waren sehr hilfreich. Angela Knuchel (Leiterin Immobilien- und Konsumfragen) und Stephanie Lorenz (Wissenschaftliche Mitarbeiterin), die beide bis Ende 2013 bei der Schweizerischen Bankiervereinigung beschäftigt waren, danke ich für die kompetente Durchsicht des Manuskripts und ihre wertvollen Verbesserungsvorschläge.


11

Auch meinen Ansprechpartnern von NZZ Libro möchte ich herzlich danken, insbesondere Herrn Hans-Peter Thür als Verlagsleiter und Frau Ursula Merz als Programmleiterin. Ich weiss die speditive Abwicklung und die gute Zusammenarbeit sehr zu schätzen. Der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel danke ich aufrichtig für die grosszügige finanzielle Unterstützung zur Realisierung dieses Buches. Die im Text vertretenen Einschätzungen stimmen nicht notwendigerweise in allen Punkten mit der offiziellen Position der Schweizerischen Bankiervereinigung überein. Selbstverständlich sind jedoch nebst vielen Erfahrungen aus der Praxis auch zahlreiche Anregungen aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen bei der Schweizerischen Bankiervereinigung wie auch an der Universität Basel eingeflossen; ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank. Markus Staub Bottmingen, Februar 2014


12

Einleitung Zwischen der Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre und den beobachteten Entwicklungen der Bankenregulierung besteht ein enger Zusammenhang. Zahlreiche Anpassungen, beispielsweise der Eigenkapital- oder Liquiditätsregulierung, sind als direkte Reaktionen auf die Finanzkrise zu interpretieren, indem sie dem Risiko zukünftiger Krisen entgegenwirken sollen. Das ist die eine Bedeutung des Titels. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie sich das Bild der verschiedenen regulatorischen Reaktionen auf die Finanzkrise mittlerweile präsentiert bzw. wie und aus welchen Überlegungen während und nach der Krise reguliert wurde. «Regulierung in der Krise» ist jedoch durchaus auch doppeldeutig gemeint, indem sich nach der hier vertretenen Auf­ fassung auch die Bankenregulierung selbst in einer Art Krise ­be­findet. Manche der in Kraft gesetzten oder beschlossenen Verschärfungen sind insbesondere zur Verbesserung der sogenannten Systemstabilität in einem gesamtwirtschaftlichen Sinne wünschenswert. Bei anderen ist die Nutzen/Kosten-Bilanz hingegen fraglich bzw. muss die ökonomische Beurteilung differenzierter ausfallen. Und teilweise fehlen die guten Ideen bzw. überzeugenden Ansätze zur Optimierung der Bankenregulierung weiterhin. Selbstverständlich erheben diese Ausführungen nicht den Anspruch auf eine vollständige Darstellung der Bankenregulierung in der Schweiz oder der entsprechenden aktuellen Entwicklungen. Die Breite und Komplexität der verschiedenen Regulierungsfelder würden eine derartige, um Vollständigkeit bemühte Synopsis gar nicht zulassen, zumindest nicht in der angestrebten übersichtlichen Form. Vielmehr liegt eine bewusste Schwergewichtsbildung zugrunde, die bestimmte Subthemen in den Vordergrund stellt. Die entsprechende Prioritätensetzung und Auswahl einzelner Bereiche und Regulierungsinstrumente erfolgt zum einen mit Blick auf deren praktische Bedeutung, zum anderen haben diese exemplarischen Charakter und dienen der Illustration von Aspekten mit genereller Relevanz.


13

Die Darstellung und Beurteilung regulatorischer Entwicklungen erfolgt aus einer ökonomischen, teilweise auch politisch-ökonomischen Perspektive. Selbstverständlich wären auch andere Sichtweisen durchaus legitim, insbesondere eine mehr juristisch betonte, die naturgemäss die Einzelheiten von Bankenund Finanzmarktrecht stärker hervorheben würde. Gerade bei der Banken- und Finanzmarktregulierung handelt es sich um einen Untersuchungsgegenstand in der Schnittmenge unterschiedlicher Disziplinen, der entsprechendes Potenzial für eine interdisziplinäre Analyse bietet (Law and Economics). Die ausgeprägte Gewichtung der ökonomischen Aspekte resultiert nicht nur aus dem fachlichen Hintergrund des Autors, sondern auch aus der erwähnten Zielsetzung, diese Schrift als Grundlage einer wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesung zu verwenden. Aus methodischer Sicht weist die ökonomische Betrachtung von Fragen der Bankenregulierung verschiedene Stärken auf. Die Wirtschaftswissenschaften verfügen beispielsweise über geeignete Methoden, um regulatorische Interventionen aus einer Perspektive der (sozialen) Optimalität bzw. Effizienz zu beurteilen und zu vergleichen (Allokationstheorie, Pareto-Effizienz). In verwandtem Zusammenhang enthält das ökonomische Instrumentarium auch Ansätze, um die Nutzen- und Kostenwirkungen regulatorischer Eingriffe zu systematisieren und abzuwägen, was das Denken in regulatorischen Varianten zu unterstützen vermag (Kosten/Nutzen-Analysen, Wirkungsanalysen, Regulierungsfolgenabschätzungen). Dabei kann unter anderem auch die Abschätzung der mit regulatorischen Auflagen verbundenen Wettbewerbswirkungen bzw. Auswirkungen auf die Wettbewerbs­ fähigkeit eine wesentliche Rolle spielen. Ebenfalls stehen Möglichkeiten zur Untersuchung der Verteilungswirkungen regulatorischer Massnahmen zur Verfügung, was speziell bei asymmetrischen Effekten auf verschiedene Kategorien von Beteiligten von Bedeutung ist. Weitere Beispiele für die Vorzüge einer ökonomischen Betrachtung sind die Möglichkeit zur Modellierung von Konstellationen mit asymmetrischer Information (Informationsökonomie) oder zur Analyse von Situationen mit strategischer Interaktion (Spieltheorie).


14

Einleitung

Die Darstellung der verschiedenen Regulierungsinhalte erfolgt absichtlich mit einem ausgeprägten Bezug zur aktuellen Situation in der Schweiz. Verschiedene Aspekte der institutionellen Ausgestaltung der schweizerischen Banken- und Finanzmarkt­ regulierung sind im internationalen Vergleich speziell. Im Sinne von stilisierten Fakten zählen zu diesen Besonderheiten insbesondere die grundsätzliche Trennung zwischen der Verantwortung für die Geldpolitik (Schweizerische Nationalbank, SNB) und der Verantwortung für die Aufsicht (Eidgenössische Finanzmarktaufsicht, FINMA), die Trennung zwischen Systemaufsicht (SNB) und Institutsaufsicht (FINMA), die Integration der Aufsicht über verschiedene Kategorien von beaufsichtigten Finanzmarktteilnehmern bei der FINMA, das dualistische Aufsichtssystem (mit privaten Prüfgesellschaften als «verlängertem Arm» der FINMA) sowie der überdurchschnittlich hohe Selbstregulierungsgrad (z. B. Richtlinien der Schweizerischen Bankiervereinigung, SBVg). Diese Besonderheiten der schweizerischen Bankenund Finanzmarktregulierung bilden den Hintergrund, vor dem die einzelnen Fragestellungen zu analysieren und zu beurteilen sein werden. An dieser Stelle ist eine Bemerkung zur Terminologie angebracht. Sie betrifft die beiden Begriffe der «Regulierung» (Regulation) und der «Aufsicht» (Supervision). Im Bewusstsein, dass diese Begriffe in Literatur und Praxis nicht einheitlich verwendet bzw. voneinander abgegrenzt werden, wird hier «Regulierung» in der Regel für die Definition bzw. Festlegung der Regulierungsinhalte bzw. der regulatorischen Anforderungen (Normensetzung) verwendet, während «Aufsicht» die Kontrolle der Einhaltung dieser Anforderungen im Sinne der Überwachung (Beaufsichtigung, inkl. Durchsetzung bzw. Enforcement und Sanktionierung) bezeichnen soll. Häufig allerdings, und teilweise auch in diesem Text, wird «Regulierung» auch in einem allgemeinen Sinne gebraucht und schliesst Aufsicht und Überwachung mit ein. Das Buch ist folgendermassen strukturiert: Kapitel 1 legt die Grundlage für die anschliessenden Ausführungen, indem es die Begriffe «Systemrisiko» und «Systemstabilität» einführt und diskutiert. Die Perspektive der Systemsta­


15

bilität wird den Referenzpunkt für die anschliessenden Über­ legungen bilden. Kapitel 2 behandelt den Themenkomplex der Eigenkapitalregulierung, wobei aus naheliegenden Gründen Basel III, die Gesamtheit der neuen Eigenkapitalstandards des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht, im Vordergrund steht. Kapitel 3 beleuchtet demgegenüber Fragen der Liquiditätsregulierung. Weil sich diese auf internationaler wie schweizerischer Ebene noch stark im Fluss befindet und die definitive Ausgestaltung noch nicht vollständig absehbar ist, erfolgt die Darstellung bewusst etwas knapper als beim Eigenkapital. Kapitel 4 behandelt das Problem von «Too big to fail» und diskutiert spezifische Anforderungen an systemrelevante Banken. In Kapitel 5 werden Zielsetzungen, Instrumente und Möglichkeiten der institutionellen Ausgestaltung der neuen sogenannt «makroprudentiellen» Regulierung dargestellt. Als prominentes Beispiel wird der vor Kurzem eingeführte antizyklische Eigenkapitalpuffer besprochen. Kapitel 6 stellt weitere bedeutsame Regulierungsprojekte der letzten Zeit im Überblick dar. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit geht es dabei insbesondere darum, den Lesern einen Eindruck der inhaltlichen Breite verschiedener Regulierungsthemen zu vermitteln. Kapitel 7 nimmt eine kritische Lagebeurteilung vor. Dabei werden bestehende und absehbare Probleme und Herausforderungen der Bankenregulierung aus einer ökonomischen Perspektive diskutiert. Schliesslich findet sich in Kapitel 8 eine Zusammenfassung mit regulierungspolitischen Schlussfolgerungen. Diese enthält wünschbare Leitlinien für die Weiterentwicklung und zukünftige Ausgestaltung der Bankenregulierung in der Schweiz. Im Interesse der Übersichtlichkeit findet sich am Schluss jedes Kapitels ein kurzes Résumé mit den zentralen Punkten des jeweiligen Kapitels. Der Anhang enthält ein Glossar mit Definitionen wichtiger Begriffe, das während der Lektüre situativ beigezogen werden kann.


48

4  Systemrelevanz und «Too big to fail» Im einführenden Kapitel zu Systemrisiko und Systemstabilität haben die besonderen Risiken Erwähnung gefunden, die von sogenannt «systemrelevanten» Instituten ausgehen können. Auf die damit zusammenhängenden Fragen, Probleme und Lösungen soll in diesem Kapitel vertieft eingetreten werden. Bereits in einer frühen Phase der regulatorischen Reaktionen auf die Finanzkrise, nämlich im Dezember 2008, hat die FINMA verschiedene Anforderungen an die beiden Schweizer Grossbanken verschärft. Mit der expliziten Zielsetzung einer Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Grossbanken und des Finanzsystems als eines Ganzen hielt die FINMA in einer entsprechenden Verfügung verschiedene Verschärfungen bezüglich des Eigenmittelregimes für die UBS und die Credit Suisse fest. Einerseits wurde die Zielgrösse des Eigenkapitalbestands, gemessen an den Standards von Basel II, auf 150 bis 200 Prozent erhöht. Andererseits wurde, in Vorwegnahme der internationalen Entwicklungen, für die Grossbanken eine Leverage Ratio (Verschuldungsobergrenze) eingeführt. Das Verhältnis zwischen dem Kern­kapital und der Bilanzsumme sollte minimal 3 Prozent (Ebene Konzern) bzw. 4 Prozent (Ebene Einzelinstitut) betragen. Als Frist für die Umsetzung wurde 2013 angesetzt. Die Anforderungen dieser Verfügung sind mittlerweile durch zwischenzeitliche Entwicklungen, namentlich das schweizerische Regulierungspaket im Bereich «Too big to fail», übersteuert worden (Phasing out). Bemerkenswert sind jedoch insbesondere die frühe Fokussierung auf die Grossbanken als Institute mit sogenannter Systemrelevanz und die makroprudentielle Zielsetzung des Systemschutzes. Wenngleich in diesem Kapitel vorwiegend regulatorische Massnahmen der letzten Jahre im Zentrum stehen, ist zu betonen, dass die Idee von «Too big to fail» als Regulierungsmotiv deutlich älter ist als die jüngste Finanzkrise. Während der Begriff der Systemrelevanz erst in letzter Zeit breite Verwendung gefunden hat, geht die Bedeutung des Themas von «Too big to fail» im Bankensektor und seine Diskussion im Regulierungszusammenhang deutlich weiter zurück.


49

4.1 Problemstellung

4.1 Problemstellung Im Kern der Diskussion um «Too big to fail» (TBTF) steht aus ökonomischer Sicht ein Verhaltensrisiko im Zusammenhang mit der Risikowahl durch systemrelevante Banken. Soweit eine systemrelevante Bank antizipiert, dass sie im Falle einer (drohenden) Schieflage von staatlicher Hilfe wird profitieren können, kann das dazu führen, dass die Bank im Rahmen ihrer Risikowahl grössere Risiken eingeht als in einer Situation ohne Aussicht auf staatliche Unterstützung oder Rettung. Beispielsweise könnte die Erwartung einer Liquiditätshilfe der Zentralbank im Rahmen des «Lenders of Last Resort» Anreize zu einer exzessiven Risikoübernahme beinhalten. Auch die Erwartung direkter Unterstützung durch die Regierung (Staatshilfen, Garantien etc.) kann eine Rolle spielen. Dieses Verhaltensrisiko (Moral Hazard) wird üblicherweise als «Too big to fail»-Problem bezeichnet. Die betroffene Bank verlässt sich darauf, dass sie aufgrund ihrer Bedeutung für die Volkswirtschaft bzw. aufgrund ihrer Systemrelevanz zu gross ist, als dass der Staat sie untergehen lassen könnte. Um den negativen Auswirkungen dieses Moral Hazard zu begegnen, kann die Zentralbank versuchen, sich nicht im Voraus auf die Rettung von Banken festzulegen, sondern diese in der Ungewissheit zu lassen, ob im Krisenfall mit staatlicher Hilfe gerechnet werden darf (Constructive Ambiguity). Das ökonomische Problem liegt aber letztlich darin begründet, dass die damit verbundene Drohung, eine Bank gegebenenfalls auch nicht zu retten, typischerweise nicht glaubwürdig ist, zumindest nicht, solange ex post die (volkswirtschaftlichen) Kosten eines Ausfalls der betroffenen Bank grösser sind als die Kosten der Rettung. «Constructive Ambiguity» ist in diesem Sinne nicht teilspielperfekt. Aus Sicht des Staats stellt sich die Frage der Finanzierung (und Finanzierbarkeit) entsprechender Rettungsmassnahmen bzw. impliziter Staatsgarantien («Too big to be rescued») und die politische Frage des Steuerzahlerschutzes: «Die jüngste globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass die Schieflage einer systemrelevanten Bank eine erhebliche Bedrohung für eine Volkwirtschaft darstellen kann. Sie gefährdet nicht nur die Stabilität des Finanzsystems, sondern damit einhergehend unmittelbar


50

4  Systemrelevanz und «Too big to fail»

alle Bereiche der Realwirtschaft. Ein Ausfall eines solchen Finanz­ instituts wird somit zum Systemrisiko. Der Staat kann und wird ein solches Institut im Krisenfall nicht untergehen lassen, wenn die Weiterführung systemrelevanter Funktionen nicht gesichert ist: Das Institut ist ‹too big to fail› und geniesst somit eine implizite Staatsgarantie. Entsprechende Stützungsmassnahmen verzerren den Wettbewerb und könnten im Extremfall die finanzielle Handlungsfähigkeit der betroffenen Staaten überfordern» (Expertenkommission zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen, 2010a, S. 4/5). 4.2  Massnahmenpaket der Schweiz In der Schweiz sind im Rahmen der Umsetzung von Lehren aus der Finanzkrise substanzielle Massnahmen im Bereich von «Too big to fail» getroffen worden. Das entsprechende Regulierungspaket ist dabei zu einem Zeitpunkt in Kraft getreten, zu dem sich die internationale Diskussion, insbesondere im Rahmen von Financial Stability Board (FSB) und Basler Ausschuss für Bankenaufsicht (BCBS) noch in vorbereitenden Phasen befindet (SIFIs, Systemically Important Financial Institutions). Das Paket der Schweiz darf deshalb im internationalen Vergleich als «Pionierleistung» gewürdigt werden. Es ist per 1.3.2012 (Stufe Bankengesetz, Bundesgesetz über die Banken und Sparkassen, BankG) bzw. per 1.1.2013 (Stufe Bankenverordnung und Eigenmittelverordnung) in Kraft getreten. Vorangegangen waren die Einsetzung der bereits erwähnten Expertenkommission (Expertenkommission zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen) durch den Bundesrat sowie verschiedene Vernehmlassungen zu den involvierten Regulierungsebenen. Aus ökonomischer Sicht ist die Definition der Systemrelevanz von besonderem Interesse. Während das Schlagwort «Too big to fail» suggeriert, dass in erster Linie die Grösse eines Finanz­ instituts Systemrelevanz begründen und unerwünschte Anreize zur Risikoübernahme generieren könne, zieht die schweizerische TBTF-Gesetzgebung richtigerweise auch weitere Faktoren heran. Vereinfachend lässt sich sagen, dass als Kriterien zur Beurteilung der Systemrelevanz eines Finanzinstituts auf dessen Grösse und


51

4.2  Massnahmenpaket der Schweiz

Marktanteil («Too big to fail» im engen Sinne), auf seine Vernetzung innerhalb des Banken- und Finanzsektors («Too interconnected to fail») sowie auf den Grad der Substituierbarkeit seiner Dienstleistungen durch andere Anbieter (Substitutability) abgestellt wird. Die Kompetenz zur Feststellung der Systemrelevanz einer Bank liegt bei der Nationalbank. Gemäss den erwähnten Kriterien gelten im Status quo in erster Linie die beiden Grossbanken als systemrelevant. Zusätzlich hat die Nationalbank im November 2013 verfügt, dass auch die Zürcher Kantonalbank (ZKB) als Finanzgruppe systemrelevant im Sinne des Bankengesetzes ist (SNB, 2013c). Entsprechend wird auch die ZKB die schweizerische Gesetzgebung im Bereich von «Too big to fail» einzuhalten haben. Grossbanken und ZKB sind bisher die einzigen Adressaten der TBTF-Gesetzgebung. Inhaltlich lässt sich das schweizerische TBTF-Paket anhand von vier thematischen Komponenten oder Kernmassnahmen charakterisieren, wobei bereits die Expertenkommission betonte, dass es sich um aufeinander abgestimmte Massnahmen bzw. ein kohärentes Gesamtpaket (Policy Mix) handelt. Von ihrer Zielrichtung her sind die einzelnen Massnahmen teils dem präventiven und teils dem kurativen Bereich zuzuordnen: Im präventiven Sinne sollen sie das Risiko einer finanziellen Schieflage systemrelevanter Institute begrenzen, im kurativen Sinne sollen die negativen Auswirkungen einer Insolvenz minimiert und gleichzeitig die Weiterführbarkeit der systemrelevanten Funktionen im Insolvenzfall sichergestellt werden. Eine erste Dimension des Massnahmenpakets betrifft die Eigenkapitalregulierung (vgl. Kapitel 2). Im Zentrum steht dabei ein Kapitalmodell, das aus drei Komponenten besteht: Die Basis­ anforderung soll das Minimum zur Aufrechterhaltung der normalen Geschäftstätigkeit enthalten; sie beträgt 4,5 Prozent (Eigenkapital in Relation zur Summe der risikogewichteten Assets) und ist in Form von Common Equity (hartes Kernkapital) zu halten. Hinzu kommt ein Eigenmittelpuffer in Höhe von 8,5 Prozent; dieser muss zu mindestens 5,5 Prozent als Common Equity verfügbar sein, die restlichen 3 Prozent dürfen als sogenannte CoCos


52

4  Systemrelevanz und «Too big to fail»

gehalten werden. CoCos (Contingent Convertible Bonds) sind bedingte Pflichtwandelanleihen, die im Bedarfsfall von Fremdin Eigenkapital umgewandelt werden können (vgl. Forderungsverzicht als Alternative). Dieser zusätzliche Puffer soll es systemrelevanten Banken erlauben, Verluste zu verkraften, ohne dass die Basisanforderung unterschritten wird oder die normale Geschäftstätigkeit eingestellt werden muss. Er darf phasenweise unterschritten werden, um entsprechende Verluste zu absorbieren. In Ergänzung der Basisanforderung von 4,5 Prozent und des Eigenmittelpuffers von 8,5 Prozent sieht das Konzept eine progressive Komponente von maximal weiteren 6 Prozent Eigenkapital vor, die normalerweise ebenfalls in Form von CoCos gehalten wird. Diese soll einen ausreichenden Spielraum für die Bewältigung einer Krise einer systemrelevanten Bank gewährleisten. Sie steigt mit zunehmender Systemrelevanz in progressiver Weise an (Zuschläge für Bilanzsumme und bestimmte Marktanteile), was einen Anreiz zur Beschränkung der Systemrelevanz schaffen soll. In der Summe über die drei Komponenten – und auf der Basis bestimmter Annahmen über die Grösse und Marktanteile der betroffenen Banken – ergibt sich eine Eigenkapitalanforderung von 19 Prozent Total Capital. Falls eine Bank gewisse Anforderungen im organisatorischen Bereich (Sanierbarkeit bzw. Abwicklungsfähigkeit) übertrifft, so besteht die Möglichkeit der Eigenmittelrabattierung bezüglich der progressiven Komponente. Für den mit diesen hohen Anforderungen verbundenen Kapitalaufbau gelten Übergangsregelungen, die sich im Wesentlichen an den Einführungsrhythmus von Basel III anlehnen. An dieser Stelle ist auf das Zusammenspiel zwischen Eigenkapitalanforderungen mit und solchen ohne Risikogewichtung zurückzukommen. Das «Too big to fail»-Paket stipuliert einerseits, dass systemrelevante Banken die oben skizzierten Anforderungen einzuhalten haben, die sich auf die Summe der risikogewichteten Aktiven (RWA) beziehen und deshalb einer risikogewichteten Eigenkapitalvorschrift entsprechen. Andererseits verlangt das Paket jedoch auch, dass betroffene Institute eine Leverage Ratio im Sinne einer Anforderung an das Eigenkapital pro Bilanzsumme (ohne Risikogewichtung) einhalten.


53

4.2  Massnahmenpaket der Schweiz

In diesem Rahmen wird erstmals mit der gebotenen Klarheit die Frage beantwortet, in welcher Weise risikogewichtete und risikoungewichtete Anforderungen interagieren. Das schweizerische TBTF-Paket sieht nämlich vor, dass die Leverage Ratio als zusätzliches Sicherheitsnetz zu konzipieren und so zu kalibrieren ist, dass ihre Anforderungen im Normalfall leicht unterhalb der risikogewichteten Anforderungen zu liegen kommen. Mit anderen Worten soll die Leverage Ratio einen Schutz vor den Auswirkungen möglicher Mängel der risikogewichteten Vorschriften (Modellrisiko) bieten, jedoch unter «normalen» Umständen nicht bindend sein. Diese Philosophie der Kalibrierung erscheint insgesamt als geeignet, um einer zusätzlichen Leverage Ratio die Funktion eines Sicherheitsnetzes zu geben, ohne dass die risikogewichtete Rechnung ausgehebelt und auf Risikosensitivität der Eigenkapitalregulierung a priori verzichtet wird. Ein zweiter Bereich des Massnahmenpakets gehört zur Liquiditätsregulierung (vgl. Kapitel 3). Die diesbezüglichen Anforderungen des TBTF-Pakets entsprechen im Grossen und Ganzen dem neuen Liquiditätsregime für die beiden Grossbanken, das bereits im Juni 2010 in Kraft trat. Die Inhalte der damals getroffenen Vereinbarung zwischen SNB, FINMA und den Grossbanken wurden mit anderen Worten auf eine entsprechende rechtliche Basis gestellt. Der Ansatz geht von Stressszenarien für die Liquiditätssituation und daraus resultierenden Modellierungen der Liquiditätszu- und -abflüsse aus. Inwiefern dieses Regime durch die laufende Umsetzung der Liquiditätsbestimmungen aus Basel III, die grundsätzlich für den ganzen Bankensektor gelten wird, noch Anpassungen erfahren wird, ist derzeit eine offene Frage. Auf einer dritten Ebene umfasst das TBTF-Paket auch Massnahmen zur Verbesserung der Risikoverteilung bzw. zur Verhinderung oder Begrenzung von Klumpenrisiken. Vorschriften zur Risikoverteilung regeln die maximal zulässige Exposure einzelner Institute gegenüber spezifischen Gegenparteien. Dadurch soll insbesondere ein Beitrag an die Reduktion des Ansteckungspotenzials (Dominoeffekte) innerhalb des Finanzsektors geleistet werden. Die in der Schweiz vollzogenen Verschärfungen reihen


54

4  Systemrelevanz und «Too big to fail»

sich in die auch in anderen Jurisdiktionen, namentlich in der EU, vorgenommenen Revisionen ein. Zielsetzung ist in erster Linie, die Verflechtung innerhalb des Bankensektors (Interbankforderungen) zu verringern und somit auch die Abhängigkeit anderer Banken von systemrelevanten Instituten zu reduzieren. Die vierte und letzte Dimension der schweizerischen TBTF-Gesetzgebung betrifft die Organisation einer systemrelevanten Bank. Im Gegensatz zu den bereits besprochenen drei Kernmassnahmen ist sie naturgemäss primär in Form qualitativer Anforderungen formuliert, enthält aber Bestimmungen, die bezüglich des nötigen Umsetzungsaufwands und der erhofften Wirkung nicht unterschätzt werden dürfen. Die vorgesehenen organisatorischen Massnahmen bezwecken, im Falle einer (drohenden) Insolvenz einerseits die Weiterführung systemrelevanter Funktionen sicherzustellen und andererseits die Sanierung oder Abwicklung der restlichen Teile des systemrelevanten Unternehmens zu gewährleisten. Damit ist diese Dimension im kurativen Bereich anzusiedeln und bezieht sich auf ein Restrisiko, das mit den drei vorgängig erwähnten Dimensionen nicht ausgeschlossen werden kann. Als systemrelevante Funktionen stehen insbesondere der Zahlungsverkehr sowie inländische Teile des Einlagen- und Kreditgeschäfts zur Diskussion. Weil es sich bei den entsprechenden organisatorischen Anforderungen um erhebliche Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit handelt, betonte bereits die Expertenkommission die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips. Grundsätzlich liegt es in der Verantwortung der jeweiligen Bank, «sich so zu organisieren, dass die Weiterführung der systemrelevanten Funktionen im Hinblick auf den Krisenfall gewährleistet ist. Kann die Bank jedoch den entsprechenden Nachweis nicht erbringen, soll die Aufsichtsbehörde die notwendigen organisatorischen Massnahmen anordnen» (Expertenkommission zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen, 2010a, S. 3). Die zentrale Stossrichtung der organisatorischen Anforderungen besteht darin, dass eine systemrelevante Bank gegenüber der Aufsichtsbehörde nachweisen können muss, dass sie


55

4.2  Massnahmenpaket der Schweiz

über eine geeignete Notfallplanung verfügt, die im Problemfall die Weiterführung des Unternehmens bzw. die Auslagerung systemrelevanter Funktionen und die Sanierung oder Abwicklung der restlichen Teile ermöglicht. In den Vorschlägen der Expertenkommission bzw. im in Kraft gesetzten Massnahmenpaket spielt dabei das Zusammenwirken der beiden Dimensionen Eigenkapital und Organisation eine wesentliche Rolle: Unterschreitet die Eigenkapitalausstattung einen bestimmten Schwellenwert (Trigger), so können die Notfallplanung ausgelöst und die systemrelevanten Funktionen beispielsweise auf einen separaten Rechtsträger (Brückenbank) übertragen werden. Gleichzeitig erfolgen ein allfälliger Forderungsverzicht sowie die Umwandlung von CoCos in Eigenkapital (Common Equity), das die Umsetzung der Notfallplanung sicherstellen soll. Auf die involvierten sanierungs- und konkursrechtlichen Einzelheiten wird hier bewusst nicht eingegangen. In Konkretisierung der im TBTF-Massnahmenpaket vorgesehenen organisatorischen Bestimmungen hat die FINMA in einem Positionspapier die Grundprinzipien ihrer Sanierungs- und Abwicklungsstrategie für global tätige systemrelevante Banken bzw. Finanzgruppen bekannt gegeben (Eidgenössische Finanzmarktaufsicht, 2013e). Vor dem Hintergrund, dass die Sanierung und Abwicklung solcher Finanzmarktteilnehmer einen Schwerpunkt der internationalen Regulierungsagenda bildet, argumentiert die FINMA, dass sie nur mit einer wirkungsvollen, glaubwürdigen und international anerkannten Strategie eine präventive Abschottung einzelner Unternehmensteile (Ring-Fencing) in anderen Jurisdiktionen verhindern könne. Grundlage bildeten die Prinzipien des Financial Stability Board (FSB) für die Ausgestaltung globaler Sanierungs- und Abwicklungskonzepte. Das hypothetische Szenario präsentiert sich wie folgt: Würde eine global systemrelevante Bank in finanzielle Schieflage geraten, so würden zunächst Massnahmen zur Stabilisierung, wie zum Beispiel Verzicht auf Ausschüttung von Dividenden oder Verkauf einzelner Geschäftsteile, ergriffen. Für den Fall eines nicht mehr gesicherten Überlebens sieht das Konzept der FINMA eine Zwangssanierung auf oberster Konzernstufe unter


56

4  Systemrelevanz und «Too big to fail»

Einbezug der Gläubiger (Bail-in) vor. Bei drohender Insolvenz einer global systemrelevanten Bank besteht die angekündigte bevorzugte Vorgehensweise der FINMA darin, eine Rekapitalisierung über verbindliche Kapitalmassnahmen (z. B. Wandlung von Fremd- in Eigenkapital) anzuordnen. Falls die angeordnete Zwangssanierung misslingt oder erhebliche Zweifel an ihrer Wirksamkeit bestehen, so wird die Bank auf Basis zuvor ausgearbeiteter Notfallpläne restrukturiert, aufgeteilt und abgewickelt (Liquidation). Zusammenfassend vertritt die FINMA die Auffassung, dass die Sanierungs- und Abwicklungsfähigkeit von global tätigen systemrelevanten Banken verbessert werden muss. Sie betont die Notwendigkeit einer wirkungsvollen und international koordinierten Sanierungs- und Abwicklungsstrategie und propagiert einen Ansatz, bei dem die Heim-Aufsichtsbehörde (Home Regulator) eine gruppenweite Sanierung und Abwicklung koordiniert (Konzept «Single Point of Entry», SPE). Auf diese Weise soll eine präventive Abschottung einzelner Unternehmensteile in den verschiedenen Märkten verhindert und eine geordnete Abwicklung auch ausländischer Einheiten sichergestellt werden. Hintergrund bildet die These, wonach ohne glaubwürdige Konkursdrohung in einem marktwirtschaftlichen System eine zentrale Disziplinierungsfunktion fehle. 4.3 Beurteilung Zur Würdigung des schweizerischen «Too big to fail»-Pakets gehört die Feststellung, dass dieses bei geeigneter Ausgestaltung der Einzelheiten und Handhabung in der Praxis tatsächlich einen Beitrag an eine bessere bzw. ökonomisch sinnvollere Risikoteilung zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen einer systemrelevanten Bank wird leisten können. Insbesondere der vermehrte Einbezug von Fremdkapitalgebern (CoCos bzw. Bail-in) – und die damit verbundene Entlastung der Steuerzahler – ist aus liberaler Sicht grundsätzlich zu unterstützen. «The bail-in ap­ proach restores discipline to the decision to invest or deposit mon-​ ey in banks. … There may be a touch of … irony in public serv­ ants endeavoring to bring a healthy dose of capitalism back to the


57

4.3 Beurteilung

capitalists. But that is how we can return banks to what they should always have been: free-market in life, free-market in death» (RAAFLAUB und BRANSON, 2013a). Eine Beurteilung der in der Schweiz getroffenen Massnahmen muss insbesondere vor dem Hintergrund denkbarer Alternativen erfolgen. Diesbezüglich scheint wesentlich, dass der schweizerische «Policy Mix» im Bereich TBTF eine wohldosierte Kombination verschiedener Instrumente oder Kernmassnahmen (Eigenkapital, Liquidität, Risikoverteilung und Organisation) beinhaltet. Er verzichtet jedoch auf zusätzliche bzw. alternative Regulierungsmassnahmen, die noch stärker in die Geschäftsmodelle von Banken eingegriffen hätten, wie beispielsweise die Einführung eines Trennbankensystems (Zerschlagung von Universalbanken), ein Verbot oder Einschränkungen des Eigenhandels, auf eigentliche Grössenbeschränkungen oder direkte Einschränkungen des Geschäftsmodells im Sinne von Narrow Banking. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung der schweizerischen Gesetzgebung im Bereich TBTF scheint der erneute Hinweis wesentlich, dass die Schweiz mit den in diesem Bereich ergriffenen Massnahmen der internationalen Entwicklung vorangegangen ist. Dies mag zum einen mit Reputationsvorteilen verbunden sein, die dem Finanzplatz Schweiz und seiner Stabilität und Reputation als Ganzes förderlich sind. Umgekehrt besteht mit den getroffenen einschneidenden Regelungen zum anderen auch die Gefahr einer wettbewerbspolitischen Benachteiligung im Vergleich mit anderen Finanzplätzen. Die Diskussion um die «richtige» Beurteilung des Pakets konzentriert sich letztlich auf die Frage, wie die verschiedenen Effekte (Vor- und Nachteile) zu substanziieren und gegeneinander abzuwägen sind. Mindestens erscheint es in diesem Licht als angemessen, dass auf gesetzlicher Stufe (Bankengesetz) eine Überprüfungsklausel (Review Clause) eingebaut wurde, wonach der Bundesrat die diesbezügliche Entwicklung auf anderen Finanzplätzen zu beobachten und einen allfälligen Handlungsbedarf aufzuzeigen hat, falls sich unverhältnismässige Diskrepanzen in der Umsetzung zwischen verschiedenen Jurisdiktionen ergeben sollten.


58

4  Systemrelevanz und «Too big to fail»

Aus einer grundsätzlichen Optik reflektiert die TBTF-Gesetzgebung einen auch in anderem Zusammenhang zu beobachtenden Trend zu vermehrter Differenzierung zwischen systemrelevanten und nicht systemrelevanten Banken. Dieser Trend ist als eine der Konsequenzen aus der Finanzkrise zu sehen, indem vorher die grosse Mehrheit bankenregulatorischer Bestimmungen generell auf sämtliche Institute des schweizerischen Bankensektors Anwendung fand. Wenngleich die entsprechende Differenzierung bzw. erhöhte Anforderungen an systemrelevante Institute mit Blick auf Systemrisiken und Systemstabilität berechtigt sein mögen, so ist doch festzustellen, dass gerade in diesem Zusammenhang neue Fragen zur Wettbewerbsneutralität von Bankenregulierung entstanden sind, nämlich betreffend die Grenze zwischen systemrelevanten und anderen Banken. 4.4 Résumé 1.  Das Problem von «Too big to fail» (TBTF) besteht im Kern aus Verhaltensrisiken bei systemrelevanten Instituten, die sich im Krisenfall auf staatliche Rettung oder Unterstützung (Lender of Last Resort, Staatsgarantien) verlassen und deshalb zu einer exzessiven Risikowahl neigen könnten (Moral Hazard). 2.  Das schweizerische Massnahmenpaket im Bereich «Too big to fail» umfasst Anforderungen in den vier Bereichen Eigenkapital, Liquidität, Risikoverteilung und Organisation (Notfallplanung). Es beinhaltet damit sowohl präventive als auch kurative Elemente (Policy Mix). Insbesondere sieht das Paket Contingent Convertible Bonds (CoCos) vor, die bei Unterschreitung bestimmter Schwellenwerte der Eigenkapitalausstattung in Eigenkapital umgewandelt werden können. 3.  Als Kriterien für die Systemrelevanz gelten die Grösse (Bilanzsumme und bestimmte Marktanteile) eines Instituts sowie dessen Vernetzung innerhalb des Finanzsystems («Too interconnected to fail») und der Grad der Substituierbarkeit seiner Dienstleistungen durch andere Anbieter (Substitutability). 4.  Im schweizerischen Massnahmenpaket ist für das Zusammenspiel zwischen risikogewichteten Anforderungen einerseits und der Leverage Ratio andererseits vorgesehen, dass letztere


59

4.4 Résumé

so zu kalibrieren ist, dass sie «im Normalfall» nicht bindet, sondern als zweites Sicherheitsnetz Modellrisiken auffangen kann. 5.  Im Bereich der Sanierung, Abwicklung und Liquidation international tätiger Finanzinstitute bestehen nach wie vor erhebliche Unklarheiten.


120

Glossar: Wichtige Begriffe und Gegensatzpaare Dieses Glossar enthält kurze De­ finitionen zu wesentlichen Begriffspaaren bezüglich verschiedener Typen und Ansätze der Bankenregulierung. Die entsprechenden ­Begriffe werden in den einzelnen Kapiteln verwendet; an dieser ­Stel­­le sind sie übersichtlich zusammengefasst und erläutert. Regulierung versus Aufsicht: Diese ­ nterscheidung wird nicht immer U trennscharf vorgenommen. Üblicherweise bezeichnet Regulierung (Regulation) den Akt der Normensetzung, während Aufsicht (Supervision) die Kontrolle der Einhaltung der entsprechenden regulatorischen Normen beschreibt (Überwachung, Beaufsichtigung, inkl. Durchsetzung/Enforcement/Sanktionierung). Kriterium zur Unterscheidung ist die Art der Tätigkeit des Regulators bzw. der Aufsichtsbehörde. Bankenregulierung versus Finanzmarkt­re­gulierung: Bankenregulierung ist eine Teilmenge von Finanzmarktregulierung. Während Bankenregulierung an Banken gerichtet ist, kann sich Finanzmarktregulierung auf verschiedene Kategorien von Teilnehmern des Finanzmarktes beziehen, also unter anderem auch auf Versicherungen, Börsen, Effektenhändler oder Vermögensverwalter. Kriterium zur Unterscheidung ist der Kreis der Adressaten der entsprechenden Regulierung.

Staatliche (öffentliche) Regulierung versus (private) Selbstregulierung: Staatliche Regulierung stammt von einer staatlichen Regulierungsbzw. Aufsichtsinstanz, beispielsweise vom Parlament (Stufe Gesetz), ­ vom Bundesrat (Stufe Verordnung), von der Schweizerischen Nationalbank (SNB) oder von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA, Stufe Verordnungen und Rundschreiben). Demgegenüber wird Selbstregulierung von privaten Trägern verfasst und herausgegeben, beispielsweise von der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg, Richtlinien und Empfehlungen), von der SIX Swiss Exchange (Richtlinien) oder von der Swiss Funds & Asset Management Association (SFAMA, Verhaltensregeln und Richtlinien). Bei sogenannt aufsichtsrechtlich anerkannten Mindeststandards handelt es sich um Selbstregulierung, die von der FINMA genehmigt und als allgemeinverbindlich erklärt wurde (FINMA-RS 2008/10). Kriterium ist also die Art des Absenders bzw. Herausgebers einer Regulierung. Regelbasierte (rules-based) versus prinzipienbasierte (principles-based) Regulierung: Diese Abgrenzung kann im Einzelfall umstritten sein. Grundsätzlich versucht regelbasierte Regulierung, durch einen hohen Detaillierungsgrad der Vorschriften Rechtssicherheit zu schaf-


121

fen. Demgegenüber konzentriert sich prinzipienbasierte Regulierung auf die Definition von Grundsätzen in eher allgemeingültiger Formulierung und schafft dadurch Spielraum für eine gezielte Umsetzung, die auf Unterschiede in der jeweiligen Ausgangslage Rücksicht nimmt. Mit anderen Worten bildet der ­Detaillierungsgrad regulatorischer Anforderungen das Unterscheidungskriterium. Präventive (prophylaktische, ex ante) Regulierung versus kurative (therapeutische, ex post) Regulierung: Präventive Regulierung ist auf die Vermeidung bestimmter Probleme (z. B. Insolvenz, Illiquidität) bzw. auf die Reduktion der entsprechenden Wahrscheinlichkeiten gerichtet (Risikoreduktion, «Brandverhütung»); typische Beispiele sind Eigenkapitaloder Liquiditätsregulierung. Um­ gekehrt bezieht sich kurative Regulierung auf die Minimierung oder mindestens Begrenzung der Auswirkungen eines unerwünschten ­Ereignisses, falls dieses trotz präventiver Bemühungen eintreten sollte (Schadensbegrenzung, «Brandbekämpfung»); Beispiele sind die Lender-of-Last-ResortFunktion von Zentralbanken oder eine Depositenversicherung. ­Kriterium zur Unterscheidung ist also die Zielsetzung einer regula­ torischen Intervention bzw. der Zeitpunkt, zu dem diese zum Tragen kommt. Regulierung von Märkten (Produkten) versus Regulierung von Marktteilneh-

mern (Institutionen): Bei dieser ­Abgrenzung geht es um die Frage, ­­ob ­mit einer regulatorischen ­Massnahme ein spezifischer Markt (unabhängig von den Anbietern, die eine entsprechende Dienstleistung erbringen), oder ob ­bestimmte Kategorien von Marktteilnehmern (z. B. bezüglich ihres jeweiligen ganzen Dienstleistungsangebots) reguliert werden s­ ollen. Unterscheidungskriterium ist demnach die Art des Gegenstands der Re­ gulierung. Quantitative versus qualitative ­Re­gulierung: Diese Differenzierung ­bezieht sich auf die Frage, ob re­ gulatorische Anforderungen in quantifizierter Form (quantitative Regulierung, z. B. Eigenkapitalan­ forderungen in Prozentsätzen) oder in nicht quantifizierter Form (qua­ litative Regulierung, z. B. Anforderungen an die Aufbau- und Ablauforganisation einer Bank oder ­an das Risikomanagement) formuliert sind. Kriterium ist also das Vorhandensein einer Quantifizierung. Regelgebundene versus diskretionäre Regulierung: Die Unterscheidung besteht in analoger Weise für die Geldpolitik. In der Regulierung betrifft sie die Frage, ob die zuständige Aufsichtsbehörde an ex ante definierte, «mechanische» Regeln gebunden ist oder im konkreten ­Zusammenhang über diskretionären Spielraum (discretion) in der ­­ Ausübung ihres Mandats verfügt. Unterscheidungskriterium ist ­damit der Grad der Handlungsfrei-


122

Glossar: Wichtige Begriffe und Gegensatzpaare

heit des Regulators in der Ausübung seiner Tätigkeit. Mikroprudentielle versus makroprudentielle Regulierung: Diese Unterscheidung bzw. der Begriff der makroprudentiellen Regulierung ­hat in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Während mikroprudentielle Regulierung auf die Sicherheit der einzelnen Institution (Bank) gerichtet ist (vgl. Institutsaufsicht), zielt makropruden­ tielle Regulierung auf die Verbesserung der Systemstabilität als eines Ganzen (vgl. Systemaufsicht). Unterscheidungsmerkmal ist das ­Regulierungskonzept auf der Ebene der Zielsetzung.


131

Der Autor

Markus Staub-LeibundGut studierte an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften und promovierte zum Thema Systemrisiko. Er war als wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Basel und Mannheim tätig. Seit 2001 ist er Lehrbeauf­tragter für Banken- und Finanzmarktregulierung an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (WWZ) der Universität Basel. Dr. Markus Staub ist als Mitglied der Direktion bei der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg) tätig, wo er den Bereich Bankenpolitik und Bankenregulierung leitet. Er ist Mitglied verschiedener internationaler und nationaler Gremien im Bereich der Bankenregulierung. In seiner militärischen Funktion ist er Chef des Kantonalen Territorialverbindungsstabs Basel-Stadt im Range eines Obersten und Mitglied des Kantonalen Krisenstabs Basel-Stadt. Markus Staub ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt mit seiner Familie in Bottmingen BL.



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.