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Umschlagabbildung: Fabian Cancellara, November 2010 © 2011 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: CPI – Clausen & Bosse, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-678-8
www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Inhalt
Prolog
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1993 –2000 : die Entdeckung eines Talents
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Silvano Beltrametti – der andere Weg 16 2001–2002 : vom Pummelchen zum Profi 21 Und täglich grüsst das Motörchen 28 2003–2005 : Zauberlehrling und Spartakus 33 Massimo Rocchi: «Das ist die Poesie des Radsports» 38 Frühling 2006 : die Metamorphose zum Meister 44 König in der Fremde 50 Sommer 2006 : der doppelte Cecchini 54 Der Krieger 60 Herbst 2006 –Winter 2007: Ehemann und Vater, Sieger und Verlierer Immer wieder Schmetterlinge 70 2008 : vom Goldglanz ins Dopingdunkel 75 Gunter Gebauer: «Die Öffentlichkeit wird ja ständig getäuscht» 81 2009 : der Schweizer 89 Fabian Cancellara: «Spritzen setzen ist kein guter Ausdruck – das tönt abwertend» 121 2010 : Momente für die Ewigkeit 132 Pontius und Pilatus – Potenzial und Profit 142 2011: Neuanfang und Abschied 146 Peter Bichsel: «Wäre Cancellara mein Enkel, ich wäre ein sehr stolzer Grossvater» 152 Epilog 161 Anmerkungen Bildnachweis
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Prolog
Tarragona, September 2010. In der Eingangshalle des Hotels steht ein Flügel. Fabian Cancellara geht mehrmals täglich daran vorbei. Und immer, wenn er den Flügel sieht, kribbelt es in ihm. Er würde sich gern hinsetzen, ein wenig spielen, «denn jaja, ein kleines bisschen kann ich es», sagt Cancellara. In der Schülerband sass er einst am Keyboard, seine Vorlieben gingen querbeet. Er mochte hart und seicht, Englisch und Berndeutsch. Guns N’Roses, Züri West, Wet Wet Wet. Doch noch fehlt ihm die Zeit. Noch bleibt keine Zeit für die Musse der Musik. Noch ist Cancellara Profisportler, ein Schweizer für die wichtigen Anlässe. Er sicherte sich einmal Olympia- und mehrmals WM -Gold; er führte während 21 Tagen den wichtigsten Wettkampf seiner Sportart an, länger als jeder andere Schweizer; er siegte im bedeutendsten Rennen in seiner Heimat; er gewann drei von fünf Classiques, in der «Hölle des Nordens» sogar zweimal. Sein Palmarès scheint gemacht für grenzenlose Faszination. Wäre er nicht Radsportler. Ausgerechnet. Der Radsport geniesst keinen guten Ruf, ein Teil des Stammpublikums hat sich abgewendet seit dem Sommer 1998 und der Aufdeckung von fast flächendeckendem EPO -Doping. Weil eine Equipe namens Festina am Ursprung der Enthüllungen an der Tour de France stand, ging der Fall als «Festina-Skandal» in die Chroniken ein – doch die französische Mannschaft stand für den ganzen Radsport, in dem das Unrechtsbewusstsein ein anderes war. Das Frisieren des Körpers war Tradition, ja, ab Ende des 19. Jahrhunderts fast jahrzehntelange Notwendigkeit, damit die Fahrer die Strapazen aushielten, die Radrennen von mehreren hundert Kilometer brachten. Zum Betrug wurde die medikamentöse Leistungsförderung erst, als der Radsport in den 1960 er-Jahren auf das Fairnessverständnis des immer mächtiger werdenden Internationalen Olympischen Komitees prallte. Denn für Olympia war Doping unmoralisch.
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Mit Alex Zülle, Laurent Dufaux und Armin Meier gestanden im Juli 1998 drei Schweizer Festina-Fahrer EPO -Doping, am 1. Oktober wurden sie
gesperrt – und am 7. Oktober erschien plötzlich ein junger Berner am verdunkelten Radhorizont. Fabian Cancellara aus Hinterkappelen, geboren am 18. März 1981, gewann Gold im WM -Zeitfahren der Junioren. Der Teenager brach auf in eine Welt, die von Doping überflutet wirkte. Der Radsport wurde seine Welt. Cancellara lernte früh, Dopingfragen zu beantworten. Und er schlug einen Weg ein, der geradeaus immer weiter führte. Cancellara träumte den Traum eines jeden Profis in dieser Welt. Zu Beginn der Karriere sagte er, sein Weg solle auf den Thron führen: an die Spitze der Tour de France. Er hat die Tour bis dato nicht gewonnen, doch im Juli 2009 lag er zum zweiten Mal fast eine Woche lang in Führung. Damals entstand die Idee für dieses Buch, das davon erzählt, wie Cancellara in seiner Karriere bald Applaus, bald Argwohn begleitet. Denn damals freute sich manch ein Schweizer über den Tour-Leader, und die meisten Medien berichteten begeistert, der Berner habe nun öfter das Maillot jaune getragen als Ferdy Kübler, der Schweizer Tour-Sieger aus dem Jahr 1950. Die Skepsis, die Cancellara im Herbst zuvor fast landesweit entgegengeprallt war, schien längst vergessen. Als jedoch im Oktober 2008 auf dem Menuplan der Dopinggerüchteküche auch der Name «Cancellara» aufgetaucht war, behauptete mehr als die halbe Schweiz: «Das ahnten wir längst, er ist ja Radsportler.» Als Cancellara zwei Wochen später vom Verdacht entlastet wurde, wusste abermals mehr als die halbe Schweiz: «Das ahnten wir, es gibt eben Ausnahmen.» Im Dezember 2008 wählte ihn das Publikum zum «Schweizer Sportler des Jahres», im Januar 2009 erreichte er in der Wahl des «Schweizers des Jahres» Rang 2 , geschlagen bloss von Eveline WidmerSchlumpf, der Bundesrätin, die ein aufwühlendes Jahr hinter sich hatte. Cancellara ist ein Aushängeschild einer Sportart, bei der immer wieder Verdächtigungen laut werden. Der 30. September 2010 hatte Symbolcharakter: Cancellara gewann als erster Radsportler zum vierten Mal WM -Gold im Zeitfahren – und der Tour-de-France-Sieger Alberto Contador berief eine Pressekonferenz ein zwecks Dementierung neuerlicher Dopingvorwürfe. Da Applaus, dort Argwohn. Wie lebt es sich in dieser Welt, in der stets Zweifel drohen? Als wichtige Elemente für das Buch dienten über 30 Gesprächsstunden, in denen Cancellara über seine Karriere sprach, nach verborgenen Erinnerungen und vergessenen Episoden kramte, zu Doping und Verdächtigungen Stellung nahm. Nicht minder
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wichtig waren unsere Erlebnisse – Erlebnisse mit Cancellara, den wir schon lange journalistisch begleiten; aber auch Erlebnisse mit dem Radsport, der uns in den letzten Jahren oft wie eine Grossstadt aus lauter Lügengebäuden erschien, wenn wieder einmal ein Profi des Dopings überführt wurde, der stets betont hatte, wie sauber er sei. Auch Cancellara scheute sich in der Vergangenheit nie vor offensiven Parolen, verweigerte sich im Gegensatz zu anderen Fahrern aber auch nie der Auseinandersetzung mit der Thematik in den Medien. Vor diesem Hintergrund ein Buch über einen Radsportler zu schreiben, mag nicht alltäglich erscheinen, weshalb sich das Buch der Person nicht alltäglich zu nähern versucht. Es umfasst nach dem Prolog 20 Kapitel – analog der 20 Etappen, die in der Regel die Tour de France, Cancellaras Traum, umfasst. Nur jedes zweite Kapitel ist biografisch; die zehn Zwischenkapitel nehmen in anderer Art Bezug auf Fabian Cancellara. Da sind Stefanie und Giuliana Cancellara, die über den Ehemann und Vater reden. Da ist der ehemalige Skirennfahrer Silvano Beltrametti, der Cancellara in der Rekrutenschule kennenlernte und kurz darauf erfuhr, wie dramatisch Sportlerträume platzen können. Da ist der Kabarettist Massimo Rocchi, der bei der Suche, was an Cancellara schweizerisch und was italienisch wirkt, hilft. Da ist der ehemalige dänische Elitesoldat B. S. Christiansen, der verrät, wie er aus Cancellara einen Leader machte. Und da sind der Schriftsteller Peter Bichsel und der Philosoph Gunter Gebauer, die aus eigener Erfahrung wissen, dass sich auch kritische Geister für Spitzensportler manchmal hell begeistern lassen. Das Inhaltsverzeichnis wurde Cancellara vorgängig vorgelegt. Er äusserte keine Einwände, stellte keine Forderungen und fand richtig, dass die Dopingthematik nicht marginalisiert, geschweige denn ausgeklammert wird – weder die Tage des Verdachts 2008 noch die Liaison mit Luigi Cecchini zwischen 2004 und 2006. Zur Arbeit mit dem umstrittenen Preparatore Cecchini steht Cancellara nach wie vor, er preist Cecchinis Erfahrungsschatz als Trainer, und er sagt: «Ob Preparatore, Caricatore, Turbatore, was auch immer – wenn ich zurückschaue, muss ich sagen: Das bedeutete mir nichts. Mir war wichtig, dass Luigi Cecchini Erfahrung in der Trainingslehre hatte.» Argwohn traf Cancellara auch im Mai 2010, als auf der Videoplattform Youtube das Gerücht kursierte, er habe sich im April 2010 auf dem Weg zum Classique-Double (Flandern-Rundfahrt, Paris–Roubaix) mit einem Rad beholfen, in dem ein Motörchen versteckt war. So entschlossen Cancellara den Verdacht von sich wies – hier und da blieb Miss-
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trauen, weil der Zweiradzirkus, seine Artisten und seine Begleiter während vieler Jahre gelernt haben, wie Verschwörungstheorien gestrickt und vervielfacht werden. Und so zweifelte plötzlich sogar Roberto Damiani, ob im Velo nicht doch irgendein verbotenes Hilfsmittel versteckt gewesen war – ausgerechnet Damiani, der Cancellara zu Beginn der Profikarriere als Sportlicher Leiter stark gefördert und ein Jahrzehnt lang vor jeglichen Dopingverdächtigungen verteidigt hatte. Die meisten Gespräche für das Buch fanden in Tarragona statt, wo im September 2010 die Vuelta a España haltmachte. Wegweisend war indes eine vorangegangene Begegnung in Ittigen, Cancellaras Wohnort. Wir sagten Cancellara, wir fänden seine Erfolge bemerkenswert, wir interessierten uns für seine Karriere und sein Leben, wir schätzten ihn als Person. Aber uns sei wichtig, dass Transparenz herrsche – deshalb: Ja, es gebe Kollegen, die sagten, wer ein Buch über Cancellara schreibe, diene bloss als Transporteur seiner Sauberkeitsbotschaften; und nein, wir könnten unser «Heimetli» nicht verwetten darauf, dass er sich wirklich sauber durchzuschlagen vermöge in einer Welt, die heillos verschmutzt und zutiefst unmoralisch schien, als er am Horizont auftauchte. Cancellara antwortete: «Dafür habe ich Verständnis. Es ist wichtig, dass ihr mir das sagt; es ist besser, als dass ihr mir sagt: ‹Hey, alles easy.› Ich bin euch nicht böse, ich kann nicht mehr tun als sagen, dass ich sauber bin. Aber ihr habt eure Meinung, die kann ich nicht ändern. Und vielleicht ändert sie sich doch.» Damit herrschte Offenheit. Cancellara wusste, dass wir ihm nicht blindes Vertrauen schenkten; und wir wussten, dass es Cancellara nicht störte, kein blindes Vertrauen zu geniessen. Denn er ist Radprofi. Ausgerechnet. Das ist also keine Sauberkeitsbotschaft. Die Welt von Fabian Cancellara besteht nicht nur aus der Geschichte vom Zwiespalt zwischen Applaus und Argwohn, sondern auch aus dem Traum eines Buben, der aus einfachen Verhältnissen stammt, vom Tour-de-France-Sieg träumt, Millionär wird – und in Gesprächen manchmal wirkt, als sei er noch immer der ganz normale Berner Junge, der bald auf dem Velosattel, bald am Keyboard sitzt.
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Herbst 2006 –Winter 2007: Ehemann und Vater, Sieger und Verlierer
Wichtigste Erfolge: 2006 | WM-Gold im Zeitfahren 2007 | Sieg Prolog und 9. Etappe (Zeitfahren) Tour de Suisse 2007 | Sieg Prolog und 4. Etappe Tour de France 2007 | WM-Gold im Zeitfahren
Donald? Jacques-Maynes? Sutherland? Die Tour of California 2007 begann mit einem Prolog, 3,1 Kilometer durch die Innenstadt von San Francisco, vorbei an Geschäftsvierteln, Sehenswürdigkeiten, Coffeeshops. Als Sieger kam eigentlich nur einer infrage: Fabian Cancellara. Aber er gewann nicht. Er wurde nicht Zweiter, nicht Dritter, nicht Vierter. Er wurde Fünfter. Geschlagen von Levi Leipheimer, Jason Donald, Ben Jacques-Maynes und Rory Sutherland. Der Routinier Leipheimer, der bekannte Amerikaner, entschied ein paar Tage danach die Gesamtwertung für sich. Aber wer waren Donald, Jacques-Maynes, Sutherland? Zwei Amerikaner und ein Australier, die noch nie ein Profirennen gewonnen hatten und schneller waren als Cancellara? Schneller als der Spezialist aus der Schweiz, der vier Monate davor mit grossem Vorsprung Weltmeister im Zeitfahren geworden war? Das Leben Cancellaras war im Frühjahr 2007 nicht mehr, wie es einst gewesen war. Im August 2006 hatte er Stefanie das Ja-Wort gegeben, zivil im Schloss Bümpliz, kirchlich in Solothurn, und im Oktober war in Bern Giuliana zur Welt gekommen. Auf einmal war Cancellara lieber zu Hause als unterwegs, und wenn er trotzdem unterwegs war, dachte er nur daran, was er zu Hause wohl verpasste. «Ich hatte Mühe zu verstehen, warum ich von daheim weg musste, wenn es dort so viel schöner gewesen wäre», sagt er heute. Eines Tages fragte seine Frau, ob sie und die Tochter schuld daran seien, dass er keine Motivation mehr für den Radsport verspüre. Cancellara antwortete: «Natürlich nicht.» Er müsse sich nur an die neuen Um-
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stände gewöhnen. Das Feuer, das ihn im September 2006 zum Weltmeistertitel im Zeitfahren angetrieben hatte, war erloschen. Und Cancellara war nicht bereit, die Flamme früher als nötig wieder anzuzünden. Er wird nachdenklich, wenn er vier Jahre später daran zurückdenkt. Sucht ungewöhnlich lange nach Worten. Findet schliesslich eines jener exklusiven, nicht immer leicht verständlichen Wortbilder, wie nur er sie kreiert: «Es ist wie mit dem Backen. Erst muss die letzte Scheibe abgeschnitten und gegessen sein, ehe ein neues Brot zubereitet werden soll.» Die Saison 2006 war bis dato die intensivste der Karriere gewesen. Der Sieg bei Paris–Roubaix, die Nichtnomination für die Tour de France, die Aufregung um die Zusammenarbeit mit Luigi Cecchini, die Heirat – als Cancellara im Spätsommer 2006 auch noch die WM -Vorbereitung in Angriff nahm, kam es ihm vor, als hätte er zuletzt für zwei gelebt. Aber er erinnerte sich des Vorsatzes von Anfang Jahr, das WM -Zeitfahren zu gewinnen, und versuchte, den Ärger über die verpasste Tour hinunterzuschlucken. Er empfand es im Stillen als Strafe, dass er im Juli ins Trainingslager im belgischen Spa und an die Sachsen-Rundfahrt geschickt wurde. Als Wendepunkt entpuppte sich die Dänemark-Rundfahrt im August, wo er zwei Etappen und die Gesamtwertung gewann. Aus dem Norden hetzte er heim an die Hochzeit – und reiste ein paar Tage später weiter gen Süden. Die erste Teilnahme an der Vuelta a España beendete er vorzeitig, im Zeitfahren hatte er sich David Millar mit ein paar Hundertstel Rückstand beugen müssen. Der Brite war soeben von einer zweijährigen Dopingsperre zurückgekehrt, und auf einmal war er neben Cancellara der meistgenannte Favorit für die WM. Doch an den Titelkämpfen in Salzburg blieb Millar als 15. nicht der Hauch einer Chance. «Superman fliegt»23 , titelte die NZZ euphorisch. Nach zwei Siegen bei den Junioren, Platz 2 in der U -23 -Kategorie und der Bronzemedaille im Vorjahr wurde Cancellara erstmals Elite-Weltmeister. Die Gegnerschaft distanzierte er um anderthalb Minuten und mehr. Zweiter wurde der Amerikaner David Zabriskie, Dritter der Kasache Alexander Winokurow. Cancellara hatte erreicht, was ihm seit Teenagerzeiten prophezeit worden war, was acht Jahre davor schon der Junioren-Nationaltrainer Yvan Girard vorausgesagt hatte: Er war der Beste der Welt im Rennen gegen die Uhr. Und hätte nun am liebsten die Zeit angehalten, um in Ruhe verarbeiten, abschliessen, vorwärts schauen zu können. Superman wollte erst einmal nicht mehr fliegen. Und hatte danach mehr Mühe als erwartet, wieder abzuheben.
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Donald? Jacques-Maynes? Sutherland? Die Niederlage am Prolog zur Tour of California im Februar 2007 konnte Cancellara noch verschmerzen, trotz fast unbekannten Fahrern, die ihn geschlagen hatten. Enttäuschungen in Vorbereitungsrennen sind nur halbe Rückschläge. An der Frühjahrs-Classique Mailand–Sanremo stieg er in der Abfahrt vom Poggio, dem letzten Hügel vor dem Ziel, vom Rad und gesellte sich am Strassenrand zu einer Gruppe von Zuschauern, die das Rennen am Fernsehen verfolgte. Er ahnte offensichtlich, dass die Form nicht rechtzeitig für Paris–Roubaix zurückkommen würde, jedenfalls sagte er in einem Interview: «Mir fehlt ein Monat Erholung. Ich hatte im letzten Jahr mehr erreicht, als man sich eigentlich vorstellen kann, es passierte mehr, als ich verkraften konnte.»24 Er behielt recht. Auch im Parkhotel im westflämischen Städtchen Kortrijk, wo sich das Team von Bjarne Riis auf die Flandern-Rundfahrt und Paris–Roubaix vorzubereiten pflegt, fand er nicht zur Ruhe. Im Gegenteil. Journalisten en masse riefen an, und wenn Cancellara das Zimmer verliess und durch die Lobby zum Frühstück schritt, wurde er um Autogramme gebeten. Er war der Vorjahressieger, der Favorit. Alles drehte sich um ihn, auf der Strasse, in den Bars und Cafés, in den Redaktionsstuben in Paris, Brüssel und Amsterdam. Aber er hatte keine Ahnung, wie er mit der Aufmerksamkeit der radsportverrückten Fans aus Frankreich, Belgien und Holland umgehen sollte. «Ich machte alles mit», sagt er, «ich nahm jeden Termin wahr.» So sei er halt, «ich will die Leute nicht enttäuschen». Am Ende enttäuschte er sich selber: Platz 53 an der Flandern-Rundfahrt, Platz 19 bei Paris–Roubaix. Gleichwohl stand er nach dem staubigen Rennen auf dem französischen Kopfsteinpflaster nicht in der Kritik, als er sagte: «Ich habe nichts falsch gemacht.»25 Ausgerechnet der Routinier Stuart O’Grady, der sieben Jahre ältere Team- und Zimmerkollege von Cancellara, war in die Bresche gesprungen und als Erster im Vélodrome in Roubaix eingetroffen. Der Erfolg lenkte vom schlechten Ergebnis des Vorjahressiegers ab. «Stuart war meine Rettung», sagt Cancellara. «Ich stand als Held da, weil ich ihn fahren gelassen hatte, obwohl die Teamtaktik auf mich ausgerichtet gewesen wäre.» Superman war zurück. Noch nicht mit Superkräften, aber immerhin mit einem supergrossen Herzen für Mannschaftsgefährten – und mit dem Wissen, Niederlagen inzwischen gelassener hinnehmen zu können. Denn nach der Geburt Giulianas freuten sich zu Hause zwei Frauen auf seine Rückkehr. Dort war er fortan Ehemann und Vater, nicht Sieger oder Verlierer. «Das Daheim», sagt er, «ist wichtiger als alles andere.» Daheim
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sitzt er schon mal mehrere Stunden vor dem Computer, wenn sich Stefanie einen neuen Klingelton für ihr Handy wünscht. Daheim spielt er auf dem Kinderzimmerboden «Tschutschu-Bahn», wie Giuliana vergnügt erzählt. Daheim verbringt er mit der Familie ganze Wochenenden am Wasser, bei Freunden, auf der Terrasse. «Die Karriere als Radprofi ist ein kleiner Teil des Lebens», sagt er – und erst noch einer, der irgendwann vorbei ist. Anders die Familie. Zwischen ihm und Stefanie hat schon oft zu reden gegeben, dass er in der ersten gleich die grosse Liebe fand. Manchmal fragt sie ihn, ob er nie das Bedürfnis nach Abwechslung habe. Als er im Spätsommer 2010 davon erzählt, wird er sehr ernst und sagt: «Schublade auf, Schublade zu, neue Frau? Nein, der Typ bin ich nicht, das ist nicht meine Art. Ich sehe meine Eltern – und ich weiss: Das will ich auch. Ich will auch, dass wir für immer glücklich sind zusammen.» Die Familie hat Cancellara entspannter werden lassen. Manchmal muss er sich an der Nase nehmen, dass er sich morgens rechtzeitig aufs Velo setzt und nicht erst nach dem Mittagessen. Im Training fährt er Abfahrten langsamer, im Rennen sieht er Grenzen, wo früher keine waren – was nicht heissen soll, dass er ein Weichei geworden sei, wie er 2009 betonte.26 Aber ein übermütiger Draufgänger war er auch vorher nicht. Weder hier noch dort, weder im Sport noch im Privaten. «Man kann auch Spass haben, ohne zu saufen», sagt er – und fügt an, als wolle er betonen, kein Langweiler zu sein: «Klar habe ich auch schon zu viel getrunken, aber meistens nur in der Winterpause, und manchmal mit Stefanie.» Es kommt vor, dass das Team an einer langen Rundfahrt abends auf der Hotelterrasse sitzt, fast alle sich ein Bier gönnen – und Cancellara als Einziger ein Panaché trinkt. Er hat sich des Nachts auch schon davongestohlen, wenn ihn die ewiggleichen Hotelzimmer anödeten, hat sich schick gemacht und eine Disco aufgesucht. «Und dann tanzte ich, allein für mich, nach ein paar Stunden kehrte ich zurück, und es ging mir wieder gut.» Cancellara ist nicht wie der Belgier Tom Boonen, der Classique-Jäger, der schon zweimal positiv auf Kokain getestet wurde. Nicht wie einst Millar, der Zeitfahren-Spezialist, der vor seinem Dopinggeständnis dem Leben mit schönen Frauen, wilden Partys, schnellen Autos frönte. Nicht wie Alessandro Petacchi, der Sprinter, gegen den italienische Behörden wegen Steuerhinterziehung ermittelten. Der Umzug in eine Steueroase? War nie ein Thema. Lange Partynächte weit weg von zu Hause? Reizen ihn nicht. Lieber überrascht er seine Frau zum Geburtstag mit einem Tanzkurs, geschehen im Januar 2007 – mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass sie den
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Gutschein auch vier Jahre später noch nicht eingelöst hat. Nicht aus Nachlässigkeit, wie sie eiligst betont. Sondern weil die Zeit fehlt. Denn meistens ist Cancellara eben doch ausser Landes. 2006 liess das gedrängte Rennprogramm nicht einmal einen ordentlichen Heiratsantrag zu. Und im Frühsommer 2007 musste er den verkorksten Frühling und das verpasste Wintertraining gutmachen. Am Giro d’Italia wärmte er sich auf, an der Tour de Suisse verschaffte er sich mit den ersten Siegen (Prolog und Zeitfahren) seit neun Monaten etwas Luft, und an der Tour de France war es, als hätte Superman nur kurz ein Nickerchen gemacht und wäre nie richtig weggewesen. In London liess er sich von geschätzt 2 Millionen Zuschauern zum zweiten Prolog-Sieg nach 2004 tragen – und mit 53,66 Kilometer in der Stunde erreichte er das drittschnellste Stundenmittel nach Chris Boardman 1994 und 1998. Worauf wieder auf die Metapher des fliegenden Helden zurückgegriffen wurde. Die NZZ am Sonntag titelte: «Cancellara auf Höhenflug».27 Und auf der 3. Etappe, ausgerechnet der längsten der Tour, düpierte er die Sprinter, indem er einen Kilometer vor dem Ziel in Compiègne Reissaus nahm. Donald? Jacques-Maynes? Sutherland? Die unbekannten Drei von der Tour of California kamen Cancellara Ende September 2007 an den Weltmeisterschaften in Stuttgart nicht mehr in die Quere – sie waren nicht einmal anwesend. Der Titelhalter seinerseits wusste nicht, ob die Form zum Sieg reichen würde. Im Vorfeld äusserte er sich zurückhaltend, an den Start ging er ohne Erwartungen. Und erhielt im Rennen erstmals eine Ahnung davon, mit welcher Überlegenheit er diese Disziplin in den nächsten Jahren noch dominieren sollte, selbst wenn er nicht in Bestform ist. Er siegte, 52 Sekunden vor dem Ungarn László Bodrogi, 57 Sekunden vor dem Niederländer Stef Clement. Reiste heim, beendete die Saison. Und war froh, wieder Zeit für die Familie zu haben. Was er in diesem Jahr gelernt hatte? Über die Feiertage sagte er in einem Interview: «Ich bin ein Mensch, keine Maschine.»28 Und bestenfalls sporadisch Superman.
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