Suvretta House St. Moritz

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S U V R E T TA H O U S E ST. M O R I T Z

VER L AG N EU E ZÜ RC H E R Z E ITU N G


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«I M PAR ADI ES» 10 0 JAH R E SUVR ET TA HO USE

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«EI N E EI N M ALIGE AU FGAB E» E I N G ESPRÄC H M IT MARTI N CAN DR IAN

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« S UVR ET TA WALK» BY M IC H EL COMTE

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B EL LE EPO Q U E IM ENGADI N DI E STIM MU NG IST AUSG EL ASSEN, MAN FR EUT SIC H DES LEB ENS.

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VO N ST E I N Z E I TJÄ G E R N , H I N T E R S A S S E N U N D Z U C K E R B Ä C K E R N

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«A BON ARBRE, BON FRUIT»

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DAS SUVR ETTA HO USE ENTSTEHT A NTON B O N R EALISI ERT EI N M EISTERWER K DER ZE ITGENÖ SSISC H EN HOTELLER I E.

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S C H LO S S , K AT H E D R A L E U N D G E M Ü T L I C H E S Z U H AU S E

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TH E ROAR I N G TWENTI ES U N D O LYMPIA TOLLKÜ H N E SKI FAH R ER, ELEGANTE EISL ÄU FER: DER WI NTERS PORT WI R D IM M ER PO PU L ÄR ER, ST. MO R ITZ IST G RO SS I N FORM.

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L A V I E E N R O S E – H OT E L L I F E I N T H E T H I RT I E S

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VA S L AV N I J I N S K Y – S E I N L E T Z T E R AU F T R I T T

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V E R ST E C K T E H O S E N T R Ä G E R U N D E I N V E R LO R E N E R E H E M A N N

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G LO C KEN DES FR I EDEN S HA NS B O N FÜ H RT DAS SUVR ET TA WEITSIC HTIG U N D ENTS C H LOS S EN DU RC H SEI N E HÄRTESTEN Z EITEN.

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« H AV E YO U E V E R S E E N H A N S B O N D R I N K I N G T E A ? »


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DI E ÄR A CA N DR I A N DI E WI RTS C HA FT WÄC HST, DAS SUVR ET TA KOM MT WI EDER I N FAH RT.

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« I N S H O RT, T H E Y C A R E »

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«SUVR E TTA LI FE » BY MIC H E L COMTE

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DI E ZEIT DER ER N EU ER U N G IM SUVR E TTA WI R D KRÄ FTIG I NVESTI ERT.

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VO M S C H A H VO N P E R S I E N U N D A N D E R E N I L L U ST R E N G Ä ST E N

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DER GROS S E UMBAU VOM KE LLE R B IS U NTE RS DAC H – IM SUVR ET TA WI R D ALLES N EU.

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« E I N E N G R O S ST E I L M E I N E S E R F O L G E S V E R DA N K E I C H M E I N E R F R AU »

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FO R GEN ER ATI ON S TO COME GROSS E P L Ä N E ZUM B E G I N N DER NÄC HSTEN H U N DERT JAH R E

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« AU F D I E S E M S C H AU K E L P F E R D S A S S I C H S C H O N VO R F Ü N FZ I G JA H R E N »

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G A ST F R E U N D S C H A F T AU S L E I D E N S C H A F T

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«SUVR E TTA S E C R E TS » BY MIC H EL COMTE

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«EI N PA R A DI ES, WAS WI L L M A N MEH R ?» DI E NÄC HSTE G E N E RATION CA N DR IAN IM G ESPRÄC H Ü B ER DI E ZU KU N FT DE S S UVR ET TA HO USE

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AN HA N G



« I M PA R A D I E S » 10 0 JAH R E S UVR ETTA HOUS E

«Im Paradies», so liess der bekannte Schweizer Filmemacher Daniel Schmid in seinem Film «Hors saison» die Grossmutter dem fragenden kleinen Enkel antworten, «im Paradies ist es so wie bei uns im Hotel, nur viel, viel grösser.» Wahrlich ein schöner, berührender Gedanke. Anton und Maria Bon dachten wohl kaum schon an das Paradies, als sie sich an die Realisierung ihres Hotelprojekts Suvretta House machten. Obwohl eine grosse Portion Weitblick nötig war, knüpften sie eher an ihre langjährige Berufserfahrung und ihre Erfolge – vom Hotel Bodenhaus in Splügen bis zum Park Hotel in Vitznau – an, um dieses mutige Vorhaben umzusetzen. Hundert Jahre lang haben sich die Nachkommen vom Mut der Gründer inspirieren lassen. Dass Courage oft nötig war, zeigt diese spannende, ereignisreiche Jahrhundertgeschichte. Unsere ausführlichen und gewissenhaften Nachforschungen lassen Vergangenes neu aufleben – staunend und stolz halten wir inne und würdigen vor allem die grosse Leidenschaft, die schier unendliche Energie und die kühne Weitsicht aller Akteure. Den künftigen Entscheidungsträgern wünschen wir ebensolche Kraft und Inspiration, damit das Suvretta House noch für viele Generationen als kleines Paradies auf Erden weiterlebt. Die interessante Historie zum grossen Jubiläumsjahr, äusserst kurzweilig aufbereitet und mit viel Herzblut verfasst von Andreas Z'Graggen, wird mit aktuellen Fotografien ausgeschmückt. Michel Comte, seit seiner Kindheit ein treuer Gast im Suvretta House, zeigt seine ganz persönlichen Eindrücke. Er entführt die Betrachter in die wundervolle Landschaft des Engadins, erlaubt Blicke hinter die Kulissen des Hotelbetriebs und erhascht Gesichter im und ums Suvretta House. Den Gästen und Stammgästen, den Mitarbeitenden, Aktionären, Lieferanten, Geschäftspartnern, Behörden und, last but not least, der Bevölkerung von St.Moritz und des Engadins danken wir herzlich für ihre Verbundenheit und Treue zum Suvretta House.

Martin Candrian Präsident des Verwaltungsrats

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S U V R E T TA WA L K BY MIC H EL COMTE






G LO C K E N D E S F R I E D E N S HA NS B ON FÜ H RT DAS S UVR E TTA WEITSIC HTIG U N D ENTSC H LO SSEN DU RC H S E I N E HÄ RTE STE N ZE ITEN.

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Das Suvretta House mit der Kapelle Regina Pacis im Vordergrund.


G LO C K E N D E S F R I E D E N S

«In Zukunft soll das Hotel auch in Stosszeiten nicht mehr überfüllt werden, um allerbeste und sorgfältigste Bedienung gewähren zu können. Besonders für Thés und Bälle muss die Platzzahl beschränkt werden, um absolut exklusiv zu bleiben.» So forderte der Suvretta-Verwaltungsrat bereits im Sommer 1924 – auch das ein Zeichen, dass sich die Zeiten zum Besseren gewandelt hatten. Hans Bon gab allerdings zu bedenken: «Falls unangemeldet eine Grösse kommt, muss sie aufgenommen, und die anderen Gäste müssen zusammengedrängt werden.» Um mehr Kapazität zu schaffen, wurde beschlossen, einige Räume der Mineralbäderanlage in Zimmer umzuwandeln. Auch für einen Eispavillon wurde ein Kredit gesprochen. Und so ging es in den nächsten vier, fünf Jahren weiter, indem aufgrund erfreulicherer Zahlen nach langer Sparphase Investitionsprojekte an die Hand genommen wurden – Modernisierung der Villa Suvretta und des grossen Festsaals, Bau eines neuen Treibhauses und einer Garage, Installation einer Telefonanlage für sämtliche Zimmer. Grosses Thema war der Wunsch der offenbar streng katholischen Maria Bon, gemeinsam mit Freunden unterhalb des Suvretta eine Kapelle samt Pfarrhaus zu errichten. Anton Bon und Charles Sidney Goldman waren dagegen, der Rest des Verwaltungsrats dafür, und so wurde Architekt Koller beauftragt, dem Willen der Seniorchefin nachzukommen. Die Kosten beliefen sich schliesslich auf rund 280 000 Franken. Neben dem Eingang zur Kapelle Regina Pacis mit ihren schönen Glasfenstern ist auf einer Inschrift zu lesen: «Zur grösseren Ehre Gottes und

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Die Kapelle wurde gebaut, weil es insbesondere Maria Bon so wünschte.


Verkleidet mit Leintüchern des Suvretta feiern Hotelgäste den Neujahrstag 1934.

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aus Dankbarkeit für die hier verlebten glücklichen Jahre wurde dieses Kirchlein 1928 erbaut von Heinrich von Riedemann, Arthur und Milli Dodd, Frau Maria Bon. Möge es den Suchenden helfen, Frieden zu finden.» Noch heute werden in der Kapelle Gottesdienste gefeiert. An den Olympischen Spielen wurden im alpinen Skifahren zwar noch keine Medaillen vergeben, doch in Tat und Wahrheit hatte das Skifahren inzwischen alle übrigen Wintersportarten an Popularität überholt. Innovativ wie stets, gründete das Hotel 1925, auf Anregung von Primus Bon, die Skischule Suvretta, die erste der Schweiz und auch heute noch eine der grössten: Die Skischule beschäftigt in der Hochsaison rund 200 Skilehrerinnen und Skilehrer. Sie wurde inzwischen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, an der die Beschäftigten beteiligt sind. Das Geschäftsjahr 1926/27 war ausgezeichnet. Nach Abschreibungen und Dividende resultierte ein Gewinn von über 350 000 Franken. Die Hypothekarschulden konnten von 3,72 auf 3,55 Millionen reduziert, die Guthaben der Lieferanten auf knapp 90 000 Franken herabgesetzt werden. Erstmals wurden Bankguthaben ausgewiesen. Das musste entsprechend gefeiert werden: Jedes Bon-Mitglied des Verwaltungsrats, inklusive Maria Bon und ihrer einzigen Tochter Mary Bally-Bon, erhielt 10 000 Franken. Obendrein wurde dem gesamten Verwaltungsrat eine Tantieme von insgesamt 85 000 Franken ausbezahlt. In den folgenden drei Jahren betrug die Dividende jeweils acht Prozent, was 1929/30 sehr grosszügig war. Denn inzwischen begann das Geschäft schon wieder arg zu harzen. Der Grund: Am 24. Oktober 1929 war die New Yorker


Mr Elliott, Rektor der britischen Eliteschule Eton College und Gast des Suvretta, übt sich im Skiwandern.

Börse infolge von Panikverkäufen zusammengekracht – bankrotte Banken, Geldentwertung, Arbeitslosigkeit, Firmenpleiten, Weltwirtschaftskrise. Die Folgen bekam auch der Tourismus in aller Härte zu spüren. Viele der einst wohlhabenden Gäste hatten mit einem Schlag ihr gesamtes Vermögen verloren, üppige Ferien in St. Moritz konnte man sich nicht mehr leisten. Deutschland auferlegte seinen Bürgern restriktive Ausreisevorschriften, England appellierte, um die Wirtschaft zu stützen, ans Volk «to stay at home». Überdies hatten inzwischen in Italien die Faschisten und später in Deutschland die Nazis die Macht übernommen – mit eigenen Ablegern auch im Kanton Graubünden. Ausdrücklich verbot die Behörde von St. Moritz das Tragen von Abzeichen mit politischem Charakter. Die düstere wirtschaftliche und politische Atmosphäre drückte merklich aufs Geschäft. Nach einigen guten bis sehr guten Jahren begann sich im Suvretta House die Abwärtsspirale zu drehen: Umsatzrückgang, Preissenkungen, Personalabbau, Auflösung von Reserven, wieder steigende Schuldenlast. Die Jahresrechnung 1931/32 schloss mit einem Verlust von 317 000 Franken. Nachdem die Verhandlungen mit mehreren Banken um einen Interimskredit gescheitert waren, drohte dem Hotel die Illiquidität. Hinzu kamen die Verluste aus Hotelbeteiligungen in Deutschland und England, wo sich die Suvretta Ltd. London mehrheitlich am dortigen Luxushaus Brown’s beteiligt hatte. Gepackt hatte die Krise auch die Bon-Hotels am Vierwaldstättersee. Nachdem man sich bereits 1924 vom Vitznauerhof getrennt hatte, wurde fünf Jahre

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später auch das Grandhotel Rigi-First verkauft. 1948 wurde es ein Raub der Flammen. Trotz der misslichen Wirtschaftslage gaben sich allerdings weder St. Moritz noch das Suvretta geschlagen. Mit beachtlicher Energie setzte sich das Tourismusgewerbe des Engadins, dessen treibende Kräfte die Familien Bon und Badrutt waren, für die Aktivierung der Saison ein – der Wintersaison im Besonderen. Denn das Skifahren war unterdessen schon fast zum Volkssport geworden. Insofern war es wichtig, dass man im Februar 1934 in St. Moritz die Skiweltmeisterschaften austragen durfte, organisiert von der Fédération Internationale de Ski (FIS). Daher heisst der Hang unterhalb von Corviglia noch immer FIS-Hang. Im Dezember desselben Jahres fuhr in Davos die wohl weltweit erste «Schleppliftbahn», ein kleiner Skilift am Bolgen. Der initiative, stets unternehmungslustige Hans Bon war sofort interessiert. Das wäre super: gleich hinter dem Suvretta eine solche Bahn für die Gäste des Hotels – und alle anderen Skifahrer. Kurzum machten Bon und Karl Koller beim SchleppliftIngenieur Ernst Constam in Zürich ihre Aufwartung, und bereits vier Monate später wurde bei der Gemeinde St. Moritz ein entsprechendes Gesuch eingereicht. Die Baukommission war dafür, die Konkurrenz dagegen. Der Besitzer des Hotels Chantarella und Initiant der Corvigliabahn, Emil Thoma-Badrutt, war ausser sich. Im Protest verliess sein Hotel den Kurverein, und in der «Engadiner Post» giftete der Mann gegen das Schleppliftprojekt: «Es handelt sich um Anlagen, die den Faulenzern dienen sollen und mit welchen möglichst viel Geld verdient

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Prinzessin Aspasia von Griechenland (links).

Gäste-Skirennen in den Dreissigerjahren.

Karli Schäfer, Weltmeister und Olympiasieger, auf dem Eisplatz des Suvretta.



1935 baute das Suvretta House den ersten Skilift der Schweiz. Er verband Chasellas mit Randolins unterhalb des Piz Nair. Sp채ter wurde er durch eine Sesselbahn ersetzt.


Plan zur Erweiterung des Skilifts von Randolins nach Plateau Nair (1937).


werden will. St. Moritz ist wahrlich nicht zu reich an Skigelände in der Nähe des Ortes; wachen wir darüber, dass uns dasselbe unverhunzt und unverschandelt erhalten bleibe. Schleppseilbahnen gehören in die Kategorie von Jahrmarkt- und Lunapark-Betrieben!» Als die Gemeinde das Baugesuch bewilligte, stellte sie mit Erstaunen fest, dass in den nachgelieferten Papieren nicht mehr wie bislang von einer «Übungsskibahn» die Rede war, sondern von einem «Skilift»: Hans Bon oder Karl Koller oder beide zusammen hatten einen Begriff erfunden, der fortan weltweit für dieses neue Transportmittel stand. St. Moritz war der Bewilligungsentscheid nicht zuletzt deshalb leichtgefallen, weil der Skilift vollumfänglich auf privatem Boden von Koller, Goldman und Suvretta House zu stehen kam. 800 Meter war er lang, 260 Meter Höhendifferenz wurden damit überwunden, 200 Personen konnten pro Stunde transportiert werden. Die Fahrt kostete einen Franken. Am 22. Dezember 1935 – Tempo Bon einmal mehr – war es so weit. Wie der Broschüre «50 Jahre Skilift Suvretta» zu entnehmen ist, «lockte ein prächtiger Wintermorgen ausser den eingeladenen Gästen auch eine grosse Anzahl Skifahrer nach Suvretta hinaus, um der offiziellen Eröffnung der Skianlage beizuwohnen. Das Durchschneiden des Sperrbandes erfolgte durch den weltbekannten Filmstar und treuen Gast von St. Moritz, Douglas Fairbanks. Er war es auch, der die erste Auffahrt nach Randolins absolvierte.» Dank dem Suvretta House hatte St. Moritz jetzt also den ersten grossen Skilift der Schweiz. Bereits zwei Jahre später erhielt der Lift eine

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Die spektakuläre Fahrt auf dem Skilift war werbewirksam, aber nicht ganz ungefährlich. Sie kostete einen Franken.


Talstation des Suvretta-Skilifts. Damals waren die Warteschlangen kleiner, dafür die Autos grösser.

Fortsetzung, von Randolins zum Plateau Nair. Erbauerin der ersten Sektion war die Skilift Suvretta AG, der zweiten die Suvretta-Piz Nair Skilift AG, die Aktionäre waren weitgehend dieselben, 1978 fusionierten die beiden Firmen. Mit der Betriebsaufnahme des ersten Skilifts wurde auf Randolins das gleichnamige Restaurant eröffnet, während unten, neben der Talstation, Karl Koller den Tea Room Chasellas baute, der später vom Suvretta übernommen wurde. Nachdem die beiden Lifte ein wahrhaft prachtvolles Skigebiet erschlossen hatten, fanden hier schon früh Slalom- und Abfahrtsrennen statt, unter anderem um den Cup einer Madame Alex Vlasov. Das Patronat hatte die Gattin von Henri Guisan. Zu Ehren des Generals und seiner Frau gab die Gemeinde St. Moritz ein Nachtessen – im Suvretta, mit «Côte de veau Suvretta» als Pièce de Résistance. Erstaunlich allerdings, dass auf Suvretta überhaupt noch Ski gefahren wurde, denn das war im Januar 1940, und inzwischen war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Das sehr lesenswerte Buch von Silvio Margadant und Marcella Maier «St. Moritz – Streiflichter auf eine aussergewöhnliche Entwicklung» berichtet ausführlich darüber, was sich damals im Engadin abspielte. Die Abwertung des Schweizer Frankens um 30 Prozent im September 1936 hatte dem Tourismus zwar nochmals einen Auftrieb verschafft, und selbst im ersten Kriegswinter 1939/40 gab es noch so etwas wie eine Saison. Doch die meisten ausländischen Gäste und Mitarbeiter waren weg. Im Unterschied zu 1914 glaubte niemand mehr an einen kurzen Krieg. Die Hotels

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Beim Planta-Haus Samedan schlug am 1.Oktober 1943 eine Bombe ein.

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Frauen aus St. Moritz arbeiteten für den Suchdienst des Roten Kreuzes.

leerten sich, das Dorf leerte sich. Deutschland hatte strengste Deviseneinschränkungen verfügt – man war sich also klar, dass man nur mit Gästen aus dem Inland rechnen konnte. Und auch diese waren nur in geringer Zahl zu erwarten, denn neue staatliche Steuern, wie die Wehrsteuer, Warenumsatzsteuer, Verrechnungssteuer und Luxussteuer, liessen die Zahl potenzieller Schweizer Gäste aufs Äusserste zusammenschrumpfen. Lebensmittel wurden immer knapper, und kaum eine Ausgabe der «Engadiner Post» erschien ohne Mitteilungen des Rationierungsamtes. Sogar in St. Moritz musste jede Familie im Rahmen des «Plan Wahlen» einen Gemüsegarten anlegen. Wer nachts unterwegs war, hatte eine Taschenlampe mit blau abgeschirmtem Glas mitzuführen. An drei Tagen in der Woche durfte kein Fleisch verkauft werden. Zudem wurden die Fliegeralarme immer zahlreicher. Über Samedan wurden sogar Bomben abgeworfen. Kur- und Hotelierverein sowie die Behörden taten alles Erdenkliche, um wenigstens Schweizer Gäste anzulocken. Nach dem Tiefstpunkt des ersten Kriegsjahres nahmen die Übernachtungen vorab im Sommer sogar wieder leicht zu. Und das, obschon sehr viele Hotels geschlossen hatten und Dutzende von privaten Villen zum Verkauf standen. Das ebenfalls bereits verriegelte, pompöse Grand Hotel wurde zwecks Einquartierung von Schweizer Soldaten wieder geöffnet; 1944 brannte es nieder. Eine Ausnahme machte Hans Badrutt, der sein Palace offen hielt. Aber auch dort war nicht mehr viel vom einstigen Jubel und Trubel zu spüren. Der legendäre Barkeeper Gustav


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Doebeli trug, um seine wenigen Kunden aufzuheitern, selbst komponierte und gedichtete Lieder vor. Curt Riess wusste zu berichten, dass im Palace offenbar Spitzel einquartiert waren. Jedenfalls schien «Berlin» gut informiert zu sein, was sich in St. Moritz abspielte. Das Suvretta House hielt bis 1941 durch, dann schloss auch dieses Hotel seine Tore. Ganze vier Personen standen noch auf der Lohnliste: Lisel Bon, die Frau von Hans Bon, Chefbuchhalter Poltera, Chefmechaniker Pfiffner und Warenkontrolleur Göldi. Der Verwaltungsrat hatte die Schliessung beschlossen, um wegen der zu erwartenden mageren Gästezahlen die äusserst angespannte finanzielle Situation nicht noch zu verschlimmern. Nachdem per Ende Geschäftsjahr 1932/33 der Schuldenberg auf über vier Millionen angewachsen war und in den Jahren bis zum Kriegsausbruch kaum abgebaut werden konnte, wäre alles andere, als den Betrieb einzustellen, unverantwortlich gewesen. Wie während des Ersten Weltkriegs ging es anderen Hotels allerdings noch viel schlimmer: Sie machten endgültig dicht, auch in St. Moritz. Château, Central, Rekord, Piz – alle waren am Ende. Das Savoy wurde von der Gemeinde erworben und zum neuen Rathaus umfunktioniert. Um das in arge Schieflage geratene Hotelgewerbe zu stützen, schuf die Regierung des Landes die Schweizerische Hotel-Treuhand-Gesellschaft (SHTG). Sie sollte die um ihre ausstehenden Kredite bangenden Banken als Gläubiger ablösen und so dem Gastgewerbe den nötigen Spielraum verschaffen. Das war auch beim Suvretta House der Fall. Hier ging es vorab darum,

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Das Grand Hotel in St. Moritz brannte 1944 nieder.


die Schweizerische Bodenkreditanstalt als Kreditgeber zu ersetzen. Das gelang nach und nach, insbesondere dank SHTG-Direktor Oscar Michel. «Dem knorrigen Oscar, um nicht zu sagen knotigen, hat die Familie Bon unendlich viel zu verdanken», wie David R. Bon, Sohn von Primus Bon, in seinem Buch «Geschichte einer Erbschaft» erzählt. Michel, der tatsächlich grosse Verdienste um das Überleben des Suvretta House hatte und später – von 1966 bis 1978 – im Verwaltungsrat des Unternehmens sass, brachte zum 70. Geburtstag des Hotels seine Erinnerungen zu Papier: «70 Jahre Suvretta House oder die Verwirklichung eines Traumes». Darin ist über die kritische Lage jener Zeit Folgendes zu lesen: «Angesichts dieser katastrophalen Verhältnisse bedurfte es eines unerschütterlichen Glaubens der massgebenden Persönlichkeiten an die Zukunft des Suvretta House. In weiten Kreisen, selbst im Verwaltungsrat der SHTG, stiess man auf die Ansicht, die Zeiten der Luxushotellerie seien endgültig vorbei. Auch den Banken fehlte jede Vision. Es war dies der Grund, weshalb sie ihre erstklassig gesicherten Forderungen zu jedem Preis liquidierten.» Dabei war es diese Luxushotellerie, die noch die beste Chance hatte, sich verhältnismässig schnell wieder zu erholen. In den kriegsversehrten Ländern war der Mittelstand weitgehend verarmt, während die Oberschicht immer noch über genügend Mittel verfügte, um sich schon bald wieder Ferien leisten zu können. Jene «massgebenden Persönlichkeiten», von denen Oscar Michel schrieb, waren Hans und Primus Bon. In all den schwierigen Jahren – Depression, Krieg, Geldnöte – blieb der Haudegen

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Primus (links) und Hans Bon nach dem «Pflichtschiessen».


G LO C K E N D E S F R I E D E N S

Hans Bon auf Deck und versuchte mit grossem persönlichem Engagement das schlingernde Schiff Suvretta House irgendwie durch die Stürme zu navigieren, während der Stratege Primus Bon im Hintergrund die Fäden zog und nicht zuletzt dank seinen finanziellen Ressourcen die Bon’sche Bonität garantierte. «Primus hatte Geld und Hans geputzte Schuhe», wie es David R. Bon in seinem Buch etwas spöttisch auf den Punkt brachte. Oscar Michel erinnerte sich an eine offenbar höchst kritische Situation: «Einmal kam es zu einem währschaften Krach, als er (Primus Bon) die Absicht äusserte, die Suvretta-Haus AG in Konkurs gehen zu lassen und die Liegenschaften zu übernehmen, mit dem Ziel, die SHTG und die Gruppe Goldman auszuschalten. Schliesslich verständigten wir uns und hatten seither keine Meinungsdifferenzen mehr.» Die Geschichte dieser Epoche wäre unvollständig, wenn man den Chefbuchhalter J. B. Poltera nicht erwähnen würde. Dazu nochmals Oscar Michel: «Er führte die Buchhaltung bis zum Abschluss in Bleistift, um sie alsdann in die Ruf-Buchhaltung zu tippen. Das Resultat dieser ‹doppelten› Buchführung: die Bilanz erschien sechs Monate nach Geschäftsabschluss, und die fertig erstellte Buchhaltung wies keine Storni auf, da er die Fehler vorgängig der Reinschrift ausradierte. Die Revision dauerte in der Regel bis morgens um zwei Uhr. Um Mitternacht griffen wir zur Belebung der Geister zur Whisky-Flasche – schon damals –, und nicht selten besuchte ich noch die Bar, wo Hans Bon mit seinem ‹Schwyzerörgeli› für Stimmung sorgte. Wenn all die hübschen englischen Mädchen zu Bett waren, lud mich Hans Bon in seine Privatwohnung zu einem Schlummertrunk.» Inzwischen, am 8. Mai 1945, war der Krieg zu Ende gegangen, und auch im Engadin läuteten die Glocken den Frieden ein. Maria Bon durfte dieses grosse Ereignis nicht mehr erleben. Im Oktober 1944 starb die «Seele des Suvretta» 87-jährig. Beerdigt wurde sie nicht auf dem Friedhof unweit des Hotels, sondern in Vitznau. Über die eindrückliche Persönlichkeit Maria Bon schrieb der berühmte amerikanische Publizist Joseph Wechsberg: «Madame Bon was the great hoteliere of the Suvretta. Up to her last years she would get up every morning at five for a thorough inspection of the entire hotel. Nothing escaped her eyes: dust under the table, provisions checked in incorrectly, the fine points of the day’s menu.» Im folgenden Winter wurde die Villa Suvretta erstmals wieder für Gäste geöffnet, das Suvretta House folgte im Sommer 1946 – gerade rechtzeitig für das langsam wieder in Schwung kommende Touristengeschäft. An der Grenze standen nun alliierte Soldaten, Amerika war zum Nachbarn geworden. Die Schweiz bemühte sich, Angehörige der Besatzungstruppen dazu zu bringen, hier ihre Ferien zu verbringen. St. Moritz beteiligte sich ebenfalls an dieser «Leave Action», wie im Buch von Silvio Margadant und Marcella Maier nachzulesen ist. Bis Ende Sommer 1946 kamen so jeweils alle fünf Tage 500 bis 600 Personen für einen längeren Urlaub nach St. Moritz. Selbst «richtige» Gäste reisten schon bald wieder ins Engadin, zuerst Schweizer, dann auch Ausländer. «The Illustrated London News» publizierte im Januar 1947 mehrere Seiten mit Zeichnungen über Wintersportler «from austere Britain» auf dem Eisfeld des Suvretta und Skifahrer hinter dem Hotel

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oder vor den Schaufenstern des Dorfs, mit der Bildlegende: «The wonders of well-stocked shops at St. Moritz: British visitors as window-gazers, counting their francs before daring to enter.» Nach der Währungsreform kamen auch die Deutschen wieder. Curt Riess: «Sie wollten fort aus ihrer Heimat, in der sie so lange eingesperrt waren, irgendwohin, wo es keine Trümmer gab, wo man nicht hungerte und fror, wo alles so war, wie es immer gewesen war.» Wie die Engländer und anderen ausländischen Gäste hatten auch die Deutschen vorerst nicht das Geld, um wie früher monatelang Ferien zu verbringen. Sie blieben meist nur für einige Tage. Und waren «still, ruhig und glücklich. Es schien, als könnten sie es gar nicht fassen, dass es keinen Fliegeralarm gab, keinen Luftschutzkeller, keinen Hunger, sie waren überaus liebenswürdig und zuvorkommend.» Auch einige wenige Prominente besuchten wieder das Engadin. Marlene Dietrich war da, der Herzog von Windsor mit Gattin, die Industriellen Heinrich Thyssen und Fritz von Opel sowie die unverwüstliche Woolworth-Erbin Barbara Hutton, die in St. Moritz die x-te Hochzeit ankündigte. Im Suvretta House logierte ein besonderer Gast, Thomas Mann. Er hatte sich in den neunzehnjährigen Franz Westermeier verliebt, Kellner im Zürcher Grand Hotel Dolder. In «Thomas Mann: Tagebücher 1949 – 1950» steht: «Ein liebeskranker alter Mann wandelt nachts auf dem Korridor des Suvretta-Hotels, beugt sich, entfernter Musik lauschend, übers Treppengeländer: es ist, als spiele der Autor eine Szene aus einem seiner Bücher nach.»

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Auch sie waren in St. Moritz: der Duke of Windsor und seine Gattin Wallis Simpson.


Im Januar 1947 berichteten «The Illustrated London News» über den Besuch kriegsgeplagter britischer Gäste im unversehrten St. Moritz – dem «land of plenty».


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Grosse Schriftsteller beim Wintersport: Thomas Mann und Hermann Hesse (rechts).


G LO C K E N D E S F R I E D E N S

Während also die Hoteliers von St. Moritz in ihren Häusern die Spinnweben von den Decken holten, das Bettzeug auslüfteten und wieder Mut schöpften, rauften sich die Gemeindeoberen die Haare. Dem Ort ging es miserabel, St. Moritz war tief in die Kreide geraten. Über fünf Millionen Franken betrug die Schuldenlast, weshalb die Gemeinde sogar unter Kuratel des Kantons Graubünden gestellt wurde, zwecks «Überwachung der Finanzgebarung». Die Situation war prekär, zudem hatten die Kriegsjahre St. Moritz den Schneid abgekauft. Es brauchte Mut, Willen, unermüdliche Arbeit und neue Ideen, um den Ort wieder in Schwung zu bringen. Einer, der diesen Willen und die neuen Ideen hatte, war Peter Kasper, seit 1946 Kurdirektor von St. Moritz. Dieser zähe Sohn eines Bergführers aus Pontresina und schon bald einmal Legende unter den Schweizer Kurdirektoren hatte früh begriffen, dass ein Ferienort wie St. Moritz nicht automatisch in Mode bleibt, sondern immer wieder neu erfunden werden muss, Saison für Saison. Sonst wird er überflügelt, gerät in Vergessenheit und ausser Mode. Ob Peter Kasper, Kurvereinspräsident Hans Bon oder Gemeindepräsident Carl Nater die treibenden Kräfte waren, die hinter der Idee standen, die Olympischen Winterspiele 1948 nach St. Moritz zu holen, steht nicht fest. Gewiss aber ist, dass sie alle Energie dafür einsetzten, dass das Internationale Olympische Komitee seinen positiven Entscheid nicht bereuen musste. Für St. Moritz, für Graubünden, ja für die ganze Schweiz war das eine grossartige Chance: Nach 20 Jahren wieder Olympia im Engadin – es sollten prächtige, unvergessliche Spiele werden. Doch es lief

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Ein Pionier der Tourismusförderung: Kurdirektor Peter Kasper (rechts).



S U V R E T TA S E C R E T S BY MIC H EL COMTE





ANHANG

A N D R E A S Z ’G R A G G E N , AU TO R

M I C H E L CO MT E , F OTO G R A F

Geboren 1944 in Luzern, studierte Andreas Z’Graggen Volkswirt-

Michel Comte, 1954 in Zürich geboren, war ab 1976 als Restaurator

schaft und Soziologie an der Universität Bern. Sein Studium schloss

zeitgenössischer Kunstwerke mit Spezialisierung auf Arbeiten von

er mit der Promotion ab. Hernach arbeitete er als Journalist, zuerst

Andy Warhol und Yves Klein tätig. Karl Lagerfeld entdeckte Michel

in Genf, dann in Zürich (Ringier-Verlag, «Weltwoche»). Bis 1992 war

Comte als Fotograf. Seine Fotografien waren schnell in renommier-

er Chefredaktor des Wirtschaftsmagazins «Bilanz», von 1996 bis und

ten Magazinen wie «Vogue» und «Vanity Fair» in Europa und den

mit 2005 Chefredaktor der «Berner Zeitung». Dazwischen studierte

USA zu sehen. Michel Comtes Interesse galt alsbald auch der doku-

er an der Stanford University in Kalifornien und leitete einen Verlag

mentarischen Fotografie, wofür er weltweit zahlreiche Konflikt-

in Polen. Seit 2006 ist Andreas Z’Graggen freiberuflich als Berater

herde bereiste. Seit einem schweren Unfall 2010 hat sich sein Fokus

und Autor tätig.

verändert: Zusammen mit Ehefrau Ayako ist Michel Comte, ausgezeichnet als «Photographer of the Year 2000», hauptsächlich als Filmer tätig und realisiert zeitgenössische Kunstprojekte.

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FA M I L I E B O N Anton Sebastian Bon, 1854 – 1915 –– Maria Nigg, Kinder Maria Gertrud Anton Sebastian Hans Rudolf

1854 – 1944 1880 – 1880 1881 – 1959 1882 – 1950

Primus Benedikt, 1884 – 1974 –– Lili Maria David, 1886 – 1963 Kinder Anton Primus Sebastian 1913 – 2003 Verena 1914 – 1944 Ursula Regina 1915 – 1926 Primus Benedikt 1916 – 1999 Hans Ulrich 1917 – 2008 Lili Irene 1919 – 2007 Martin Lienhart 1921 – 1941 David Rudolf 1927 Virginia Gertrud 1927 – 2011

Anton Sebastian Bon: Gründer und Erbauer Suvretta House

Hans Rudolf Bon: Direktion Suvretta House 1912 – 1950

3 Kinder 3 Kinder 3 Kinder 3 Kinder 5 Kinder 4 Kinder 1 Kind

Maria Flora, 1885 – 1957 –– Hans Urban Bally, 1879 – 1909 Kinder Peter Bally, 1909 – 1995 –– Anna Maria von Pirquet, 1914 – 1994 Kinder Peter 1937 3 Kinder Silvia 1939 Klaus 1941 4 Kinder Rudolf, 1887 – 1979

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Peter Bally: Präsident des VR AG Suvretta-Haus 1966 – 1981 Hotelier im Park Hotel Vitznau Mitglied des VR AG Suvretta-Haus 1981 – 1999

2 Kinder

Fritz, 1889 – 1953 –– Margaretha Barbara Betz, 1890 – 1961 Kinder Barbara 1917 – 1977 Claus 1920 – 2001 Beatrix 1922 – 2005 Monika 1924

Fritz Bon: Präsident des VR AG Suvretta-Haus 1938 – 1951 4 Kinder 3 Kinder

Claus Bon: Präsident des VR AG Suvretta-Haus 1981 – 1993

FA M I L I E C A N D R I A N Domenic Candrian, 1874 – 1916 –– Emma Menétrey, 1872 – 1931 Kinder Walter 1901 – 1986 Erna 1903 – 1982 Albert 1904 – 1985 Oskar 1906 – 1973 Nelly 1907 – 1989 Rudolf Candrian, 1910 – 1987 –– Lili Bon, 1919 – 2007 Kinder Lili 1944

Domenic Candrian: Hotelier in Nizza und Glion 2 Kinder 1 Kind 1 Kind

Rudolf Candrian: Direktion Suvretta House 1950 – 1954 1 Kind

Martin Candrian, 1945 –– Marga Mächler, 1945 Kinder Bettina 1970 1972 Patrick Natalie 1974 Reto 1978

3 Kinder 2 Kinder 2 Kinder

Christian Christina Andreas

2 Kinder 2 Kinder 2 Kinder

1947 1949 1955

Albert Candrian: Direktion Suvretta House 1954 – 1968

Martin Candrian: Präsident des VR AG Suvretta-Haus, seit 1993

Reto Candrian: Mitglied des VR AG Suvretta-Haus, seit 2008


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