ISBN 978-3-03810-288-5 www.nzz-libro.ch
Monument Europa NZZ Libro
Jürgen Tietz
Europa ist allgegenwärtig in unserem Wissen, Handeln und Fühlen. Die Monumente, die uns umgeben, sind Speicher dieses Wissens. Doch der Europa-Enthusiasmus der Nachkriegszeit ist heute einer müden Gleichgültigkeit gewichen. Der Autor nimmt uns mit auf eine kulturgeschichtliche Reise zu Orten und Monumenten, Epochen und Ereignissen – zu den Eckpfeilern in einer sich wandelnden Welt. Seine grenzüberschreitenden Beobachtungen, laden dazu ein, uns in Europa wiederzuerkennen und den Prozess des Wandels aktiv und gemeinsam zu gestalten.
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EUROPA Wie Baukultur europäische Identität stiftet Jürgen Tietz
NZZ Libro
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen Umschlag, Gestaltung, Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-288-5 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
INHALT Geleitwort 7 Vorspiel 11 Europäische Erinnerungen 19 Europa als kulturelles Projekt 27 Europäische Reise 33 Grenzüberschreitungen 45 Europas Städte 53 Europas Monumentenspeicher 59 Europäisches Erbe 75 Zukunft Europa 87 Dank 111 Anmerkungen 112 Literaturauswahl 114 Der Autor 117
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VORSPIEL
Im Dezember 2015 lud die CDU -nahe KonradAdenauer-Stiftung in Berlin zum Auftakt einer neuen Veranstaltungsreihe über «Europabilder» in ihr Haus am Rand des Berliner Tiergartens ein. Das Thema klang interessant, zumal in einem Jahr, in dem das mediale Europa-Bashing angesichts von Euro-, Griechenlandund sogenannter Flüchtlingskrise ungeahnte Dimensionen angenommen hatte. Da kann es nur helfen, mit unterschiedlichen Blicken auf Europa zu zeigen, dass Europa gerade durch seine Vielfalt, durch seine unterschiedlichen Facetten seine besondere Qualität gewinnt und sich nicht allein auf die Europäische Gemeinschaft beschränkt. Für den ersten Vortrag war Georges Santer eingeladen, Botschafter des Grossherzogtums Luxemburg in Deutschland. Doch der hufeisenförmige Saal der Stiftung füllte sich nur zögerlich. Interessiert Europa wirklich so wenige Menschen? Oder liegt es daran, dass allein in Berlin dutzendweise Veranstaltungen zu Europa stattfinden? Also ein Überangebot? Ist der Markt für Europainteressierte gesättigt? Während wir auf den Beginn des Vortrags und die anschliessende Diskussion warten, laufen an der Rückwand des Saals «europäische» Bilder in einer Endlosschleife. Aus ihnen soll Santer seine Europabilder auswählen. Neben bedeutenden Politikern sind es vor allem europäische Monumente, die an die Wand projiziert
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werden. Zu gern würde ich wissen, wer sich hier im Raum bewusst macht, wie sehr wir diese europäischen Sehenswürdigkeiten verinnerlicht haben, wie tief wir bis in unsere demokratische Diskussionskultur hinein in der europäischen Kulturgeschichte verankert sind. Europa, das ist meine Arbeitshypothese, ist so allgegenwärtig in unserem Wissen, Handeln und Fühlen, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen. Und die Monumente, die uns allerorten umgeben, gehören zu den zentralen Speichern dieses europäischen Wissens. Nehmen wir nur die Architektur, die uns in der Berliner Adenauer-Stiftung umgibt: Schon der Saal, in dem wir uns aufhalten, ist Europa pur. Mit seinen abfallenden Sitzreihen, die im Halbkreis zur Bühne hin ausgerichtet sind, erweist er sich als eine moderne Adaption eines antiken griechischen Theaters. Und das ganze übrige Haus, das der Kölner Thomas van den Valentyn vor rund zwanzig Jahren beim Hauptstadtumzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin entworfen hat, spielt von dem bekrönenden Doppelzylinder der Dachlandschaft bis zum Sichtbeton mit den Assoziationen an die Bauten des französisch-schweizerischen Architekten Le Corbusier an, den einflussreichsten Vertreter der – europäischen – Moderne im 20. Jahrhundert. Wir haben Europa im Blut, in der Seele, in der Architektur und auf dem Teller. Aber haben wir es auch im Herzen? Auf dem Podium beschreibt Georges Santer in diplomatischer Eloquenz Europa als ein soziales und vor allem als ein Friedensprojekt. Das zustimmende Kopfnicken in den Reihen ist ihm gewiss, in denen die ältere Generation klar dominiert. Eines der Bilder, anhand derer
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Santer sein Europa erläutert, zeigt den ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, den italienischen Premierminister Alcide De Gasperi, den französischen Aussenminister Robert Schuman, der ja recht eigentlich als der Vater des Europäischen Einigungsprojekts bezeichnet werden darf, den niederländischen Aussenminister Dirk Uipko Stikker sowie den luxemburgischen Aussenminister Joseph Bech. In dem vereinheitlichenden SchwarzWeiss des Fotos sind sie auf einem Flur im Rahmen einer Sitzung des Europarats ins Gespräch vertieft. Wohlgemerkt, des Europarats. Den Europäischen Rat gab es damals noch gar nicht. Wer jetzt seine mediengewandten Töchter und Söhne fragen würde, was denn der Unterschied zwischen den beiden Institutionen sei, dann wette ich, dass die meisten Jugendlichen erst Google befragen müssten, ehe sie antworten könnten. Sosehr sich unser Europaverständnis längst aus der Krümmung der Gurken berechnet, so gleichmütig selbstverständlich nehmen wir es als gegeben hin und verschwenden in der Ausbildung unserer Schüler kaum einen expliziten Gedanken an den Wert und die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Was für eine Arroganz spricht daraus gegenüber unserer Vergangenheit! Um 1950, als das Foto entstand, war Europa eine Herausforderung. Es war ein verheissungsvolles Ziel, das es vor dem Hintergrund der Erfahrung von zwei grausamen Weltkriegen in nur einem halben Jahrhundert und mehrerer Millionen toter Europäer zu befrieden und zu einen galt. Ein weiter Weg, der seither beschritten wurde. Der Enthusiasmus von damals ist heute einer müde wirkenden Gleichgültigkeit gewichen, die immer
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Vorspiel
mehr in eine Europaaversion umschlägt. Das zu oft bemühte Argument der Alternativlosigkeit zieht immer weniger, vielleicht, weil sich zu wenige noch an das uneinige, das kriegerische Europa erinnern? Derweil versichert man sich bei unserer Berliner Veranstaltung gegenseitig, wie wichtig Europa sei, wie – eben – alternativlos, aber zugleich fragil es wäre und geht anschliessend in die kühle Berliner Nacht hinaus. Ach, Europa! Du lockst uns an deine Strände und auf deine Gebirge, du bist unser gelebter Alltag. Doch der Abend liefert mir mehr Fragen als Antworten. Wer eigentlich interessiert sich überhaupt für Europa ausser ein paar älteren Herrschaften – und seinen lautstarken Kritikern? Grund genug, sich zu vergewissern, wie wir uns in den vergangenen siebzig Jahren jenen Zielen genähert haben, die Winston Churchill – ausgerechnet ein Brite – in seiner Zürcher Rede von 1946 beschwor. 1 «Dieser edle Kontinent», sagte Churchill damals, «der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und ein gemässigtes, ausgeglichenes Klima geniesst, ist die Heimat aller grossen Muttervölker der westlichen Welt. Hier sind die Quellen des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmass.» Was für eine Vorstellung!
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Nach dem – überraschenden – Ende des Kalten Kriegs dachten viele, jene paradiesischen Zustände endlich, endlich erreicht zu haben. Was für eine Täuschung. Und Churchill fuhr fort: «Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch so viel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in der sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen. Das Vorgehen ist einfach. Das Einzige, was nötig ist, ist der Entschluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, recht statt unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung zu ernten.» Streicht man das üppige Nachkriegspathos aus der Rede, dann bleibt ein ziemlich einfacher Kern übrig: Wir müssen Europa wollen! An der Umsetzung dieser Vision arbeitet inzwischen bereits die dritte Generation von Europäern. Trotz aller Veränderungen und vieler Fortschritte ist Europa – wie 1950 – noch immer eine Herausforderung, ist immer noch ein verheissungsvolles Ziel. Der Weg bis hierher hat uns immerhin eine der längsten Friedensepochen in der europäischen Geschichte überhaupt geschenkt. Ein Geschenk, das wir nicht geringschätzen sollten. Doch was tun wir Europäer? Wir behandeln unser Europa allzu oft, wie ein kleines Kind sein Spielzeug behandelt. Es schätzt es nicht wert, weil es nichts anderes kennt. Wir lassen uns gehen, aber niemand ruft uns zur Ordnung.
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Ein paar Tage vor der Berliner Veranstaltung der Adenauer-Stiftung dachte die Jugendbuch-Bestsellerautorin Cornelia Funke in einem Beitrag des Deutschlandfunks über Deutschland und Europa nach. Wie winzig diese europäischen Länder doch wären im Vergleich zum grossen Amerika, stellte sie aus der Perspektive ihrer kalifornischen Wahlheimat Los Angeles fest. Europa mit seinen Grenzen und seinen ewigen Streitereien. Wie seltsam. Wie recht sie hat. Aber warum fällt es uns Europäern – und ausgerechnet den Engländern – so schwer, Churchills Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa zu folgen? Warum hängen wir in einer globalisierten Welt an dem überlebten Nationalstaatenmodell des 19. Jahrhunderts so fest wie eine Klette? Warum ruft die Idee der Gemeinsamkeit eher Grausen als Begeisterung hervor? Wieso gelingt es uns nicht, Europa als unsere Heimat zu begreifen? Warum berührt Europa nicht (mehr) unsere Herzen? Und warum tun wir uns so schwer, etwas dagegen zu tun? Dabei hat uns Cornelia Funke eigentlich schon an die Hand gegeben, was wir zu tun haben: Was wir brauchen, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen Perspektivenwechsel, um uns in Europa (wieder) zu erkennen, unsere Chancen, unsere Potenziale und unsere gemeinsame Geschichte. Diese eröffnet Europa eine Perspektive, fordert es auf, aus dem reichen Reservoir seines kulturellen Erbes zu schöpfen. Dabei erweisen sich eigentlich diese kleinteiligen regionalen Fundamente als eine erstaunlich tragfähige Basis für das gemeinsame Haus. Den Blick für die Facetten und Potenziale zu schärfen, ist Ziel eines Europäischen Jahrs des
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kulturellen Erbes 2018; es gleicht einer ausgestreckten Hand, die die Europäer zurückführen kann – zurück zu sich selbst.
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GRENZÜBERSCHREITUNGEN
Europas politische, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen beschränken sich nicht auf die Topografie, auf Flüsse oder Berge. Sie besitzen auch eine bauliche Gestalt, wie der heute zum Welterbe der UNESCO zählende Limes und der Hadrianswall, die vor 2000 Jahren das Römische Imperium gegen die Barbaren aus Germanien und Britannien abgrenzten –, was freilich keine Seite davon abhielt, kräftig und zum eigenen Vorteil Handel zu treiben, ehe man sich im Streit um Interessenssphären kurz darauf wieder gegenseitig die Schädel einschlug. Die 1600 Jahre nach dem Limes entstandenen militärischen Befestigungsanlagen des legendären barocken Festungsbaumeisters Marquis de Vauban in Luxemburg oder Saarlouis stehen für die im Lauf der Jahrhunderte immer aufwendigeren und kunstvolleren Formen der Stadtbefestigung und sind heute, erneute 400 Jahre später, längst von ihrer militärischen Funktion befreit und dienen, sofern sie sich erhalten haben, als touristische Sehenswürdigkeiten. Ihre Überwindung ist fester Bestandteil jeder Grenze – wie beim Gotthardpass, der einen Weg über die Alpen weist und als Teil eines europäischen Strassenund Wegesystems zum Transport von Waren und Informationen beiträgt. 1789 entstand das Brandenburger Tor in Berlin, am Ende der repräsentativen Prachtstrasse Unter den Linden, die der Grosse Kurfürst ein Jahrhundert zuvor
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angelegt hatte, ein erstes Signal für den Aufschwung der kleinen preussischen Residenzstadt nach dem Grauen und den Verwüstungen des Dreissigjährigen Kriegs. Als architektonisches Schmucktor ist das Brandenburger Tor mehr als ein Stadtzugang, es ist zugleich Zeugnis eines Machtgefüges und eines Repräsentationswillens. In ihm reflektierte sein Architekt Carl Gotthard Langhans die antiken Athener Propyläen, die er selbst freilich nie selbst gesehen hatte, sondern nur aus den Veröffentlichungen der Engländer James Stuart und Nicholas Revett kannte. Gleichwohl fügte Langhans der europäischen Bau- und Kulturgeschichte der Antikenrezeption mit seinem Tor ein weiteres Kapitel hinzu. Während etliche Stadttore im 19. Jahrhundert zusammen mit den Stadtbefestigungen verschwanden, blieb das Brandenburger Tor erhalten. Allerdings erfüllte auch die zwischen 1866 und 1869 grösstenteils entfernte Befestigung um die barocke Stadterweiterung Berlins bereits keine militärische Funktion mehr, sondern diente als Zollmauer lediglich der Warenkontrolle und damit der Staatsfinanzierung durch Zölle. Neben seiner Tor-Funktion stieg das Brandenburger Tor zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Symbol der Befreiung Preussens auf. Dabei handelte es sich gleichsam um eine Retourkutsche gegen die Franzosen: Die hatten unter Napoleon 1806 die preussische Hauptstadt eingenommen und die Quadriga des Bildhauers Johann Gottfried Schadow, die das Tor bekrönte, nach Paris entführt. In Erinnerung an die Rückkehr des von den Franzosen geraubten Viergespanns wurde der Name des Platzes 1814 geändert. Hiess er zuvor aufgrund seiner barocken quadratischen Form Quarré, wurde er nun zum Pariser Platz. Die Bedeutung des Tors aber hatte sich ver-
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selbstständigt. Es wurde zum Symbol, an dem sich immer mehr Bedeutungsschichten ablagerten, die zum Teil auch als Zeitschichten in seiner Gestaltung und Restaurierung erkennbar sind. Lebhaft erinnere ich mich an meinen ersten Besuch als Kind am Brandenburger Tor, der mit einem bedrückenden kribbeligen Gefühl verbunden war. Von einer hölzernen Aussichtsplattform am Rand des Tiergartens aus blickten wir vom freien Westteil Berlins auf die Berliner Mauer, die unmittelbar vor dem Tor verlief und weiter auf den brachliegenden Platz dahinter, dessen umsäumende Bebauung abgeräumt war. Weder kannte ich damals den Namen des Platzes, noch wusste ich etwas von seiner früheren Gestalt oder gar, weshalb dort diese Leere herrschte. Die Erwachsenen murmelten Unverständliches vor sich hin, zeigten auf irgendetwas, das ich nicht erkennen konnte, und stiegen anschliessend mit bedrücktem Gesichtsausdruck und kopfschüttelnd die Stufen von der Plattform hinab, während neue Schaulustige hinaufdrängten. Nach dem 13. August 1961 hatte das Brandenburger Tor die nächste Bedeutungsschicht angelagert. Es wurde zum Symbol des Mauerbaus und der deutschen Teilung, die auch eine europäische Teilung war. Erst 1990 drehte sich diese Bedeutungsschicht erneut, und das Tor wurde zum Symbol der Wiedervereinigung. Als die Mauer am 9. November 1989 erste Löcher bekam, begann in Berlin das grosse Warten: «Macht das Tor auf!», wurde ungeduldig skandiert. Immer wieder lief ich an kalten Winterabenden von der Technischen Universität, an der ich damals studierte, die Strasse des 17. Juni hinunter bis zum Tor, wo gerade wieder eine
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Fernseh-Liveübertragung stattfand. Doch es verging noch etwas Zeit, bis das Tor im Sommer 1990 endlich geöffnet wurde. Es war diese seltsam euphorische und ungläubige Zeit des Staunens, eine einzigartige Zwischenzeit von nicht mehr ganz DDR und noch nicht wirklich Bundesrepublik. Dann endlich durfte man das Tor offiziell passieren. Es war ein Gänsehautgefühl, das erste Mal neben den Langhans’schen Säulen zu stehen, in den Händen zwei Taschen, voll mit günstig in Berlin-Mitte gekauften Büchern aus Restbeständen von DDR -Verlagen. All die unterschiedlichen Bedeutungsschichten, die das Brandenburger Tor durchlief, führen nach Europa: Mit seiner dorischen Säulenordnung führt es zurück an die Quellen aller europäischen Kultur, zur Klassik des 5. Jahrhunderts vor Christus in Athen, derer sich die Klassizisten wie Langhans für ihre Architektur freudig bedienten. Es steht für die Eroberungskriege Napoleons und sein Niederringen in den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es steht für den Eisernen Vorhang, der sich durch Europa zog und für seine Überwindung und damit symbolisch für die Grenzen Europas – und deren Überwindung. Ein paar Jahre später sprach mich an einem Berliner Sommerabend eine junge Touristin in Sichtweite des Brandenburger Tors an der Ebertstrasse an. Ob ich ihr nicht bitte erklären könnte, wo denn die Grenze verlaufen sei. In ihrem Rücken das Grün des Tiergartens, vor ihr die neuen Vertretungen der deutschen Bundesländer in den ehemaligen «Ministergärten», stand sie praktisch auf dem ehemaligen Todesstreifen. Doch wie sollte ich ihr begreifbar machen, dass vor zwanzig Jahren an derselben Stelle, an der sie jetzt
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mit Touristen aus aller Welt zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz auf der Suche nach dem historischen Berlin flanierte, scharf auf sie geschossen worden wäre? Seitdem hatte sich die Stadt, zum Glück, dramatisch verändert. Doch in solchen Momenten bleibt Geschichte abstrakt. Selbst für diejenigen, die diese Ereignisse miterlebt haben, sind sie im Nachhinein kaum begreifbar. Um wie vieles schwieriger muss das für die Nachgeborenen sein? Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gelungen ist, der jungen Frau auf der Ebertstrasse zu erklären, wie es hier vor rund zwanzig Jahren wirklich aussah. Ich schlug ihr vor, sie solle doch während ihres Berlinbesuchs zur Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Strasse gehen. Es ist der einzige Ort in Berlin, an dem der Zustand während der Teilung annähernd nachvollziehbar wird. Dort lässt sich erahnen, was die Mauer wohl war und was die Grenze für die Menschen bedeutete – mit ihren Wachtürmen und Panzersperren, mit Selbstschussanlagen und Kameraüberwachung. Denn ansonsten sind die Wunden der Grenze in der Stadt fast narbenlos geschlossen. Die Bernauer Strasse ist ein Ort des Geschehens, der freilich durch ein Mahnmal, die schöne Kapelle der Versöhnung und das Dokumentationszentrum bereits selber eine vielfältige architektonische, künstlerische, pädagogische und damit historische Überformung erfahren hat. Gleichwohl besuche ich ihn mit jedem meiner Berliner Besucher gerne – und kaum jemand bleibt unbeeindruckt. Mich selbst überfällt dabei gelegentlich ein leises Unbehagen. Einerseits, weil auch an der Bernauer Strasse
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nur noch wenig originale Mauerreste stehen, und andererseits, weil das Umfeld trotz allen Erklärens des Grauens, der Geschichte der Strasse, der Teilung der Stadt und der Mauertoten eine so schöne Parkanlage geworden ist, dass ich mich immer wieder frage, ob solche Lernorte des Grauens eigentlich eine derart hohe Schönheit besitzen dürfen. Erkennen und Erschrecken liegen auch auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn bei Helmstedt ganz dicht beieinander. Während der Verkehr gleich nebenan auf der Autobahn ungehindert die Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen passiert, kann man sich kaum etwas Banaleres vorstellen als die Laubsägearbeiten in den ehemaligen DDR -Grenzabfertigungsbaracken mit ihren einfachen Förderbändern für die Pässe und Ausweise der Transitreisenden. Auf einmal ist es wieder da, dieses Unbehagen, das ich von zahlreichen Fahrten über die «Interzonenstrecke» kannte, wie die Autobahn aus der Sicht Westberlins genannt wurde. Maximal mit Tempo 100, begleitet vom regelmässigen Dadamm-dadamm, das beim Zuckeln über die Nähte der Betonplatten der Autobahn entstand. Obwohl man beim Transit durch die DDR nicht jene Kontrolltorturen über sich ergehen lassen musste wie bei einer Einreise, war dennoch das Abschreckungspotenzial bei jeder Fahrt gewaltig. Als Standardwitz galt die Begegnung mit dem «unbekannten sächsischen Grenzer» bei der Einreise in die DDR : «Sag mal einen Satz mit Gänsefleisch. Gen se fleischt mal den Gofferaum uffmache?» Im Schritttempo näherte man sich einer Reihe von Kontrollpunkten, kurbelte das Seitenfenster seines
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Autos herunter, wurde nach Waffen und Munition gefragt (als wenn man die stetig mit sich führen würde), um anschliessend aufgefordert zu werden, die Sehhilfen (Brillen) abzunehmen. Der Personalausweis musste ausgehändigt werden, um über Laufbänder zum nächsten Kontrollhäuschen weiter vorne befördert zu werden. Selbst wenn kaum Andrang herrschte, dauerten die Kontrollen oft ewig. Nun sass ich nicht mehr im Wagen, die Grenzposten sind für immer fort. Stattdessen stand ich auf der anderen Seite des Wachhäuschens und sah auf die primitive Ausstattung der ehemaligen Grenzabfertigungsbaracken. So alltäglich sie auf den ersten Blick erscheinen, bilden solche materiellen Relikte doch die unverzichtbare erste Stufe auf dem langen Weg des Begreifens, wie ein repressives Regime wie die DDR trotz banalster Mittel allein über Einschüchterung und Angst jahrzehntelang funktionieren konnte. Die Geschichte von Grenzen und ihrer Überwindung, der Transformation und der Ablagerung von Bedeutungsschichten liesse sich genauso wie am Gotthardpass oder am Brandenburger Tor auch anhand zahlreicher Brücken erzählen. Immer wieder ist Europas Geschichte durch das Setzen von Grenzen einerseits und deren Überwindung andererseits gekennzeichnet. Kleinere kulturelle Einheiten dehnen sie aus, reiben sich aneinander im besten Fall im kulturellen, im schlechtesten Fall im kriegerischen Funkenflug –, gehen in grösseren kulturellen Einheiten auf. Aus anfänglicher Abgrenzung und Ablehnung wird im Verlauf Austausch und Weiterentwicklung. Dieser kulturelle Transfer, der mit den Grenz-
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überwindungen einherging, ist zentral für die europäische Entwicklung. Er steht für ein Verschmelzen aus dem bereits vorhandenen Eigenen eines Orts und einem neu hinzugekommenen, einem neu angeeigneten Fremden. Zusammen bilden sie ein neues Gemeinsames. Dieser Prozess der aktiven Aneignung, des bewussten Anverwandelns führt auf gewundenen Wegen und Umwegen vom antiken Griechenland und der römischen Welt zum Christentum des Mittelalters, zu den gotischen Kathedralen, den Vorarlberger Barockbaumeistern und letztlich bis zum Bauhaus und zur Nachkriegsmoderne. Der Altphilologe Manfred Fuhrmann hat diese Wechselwirkungen in seinem Buch Bildung: Europas kulturelle Identität auf den Punkt gebracht: «Europa war, von Anfang an, seit der Völkerwanderungszeit, ein System kommunizierender Röhren, sodass stets alle zugehörigen Länder, die einen früher die anderen später, am jeweiligen Wandel der Stile und an den jeweils neuen Entdeckungen und Erfindungen Teil hatten. Und wenn sich ein Land in einem bestimmten Bereich besonders hervortat, so wurde daraus gleichwohl über kurz oder lang ein allen Europäern gemeinsamer Kulturbesitz.» 7 Wie eng diese kulturellen Verflechtungen und Bezugnahmen Europas sind, wird an seinem gebauten Erbe erlebbar. In jeder einzelnen Säule blinzelt uns bis heute die 2000 Jahre alte griechisch-römische Antike entgegen. In ihnen gewinnt das europäische Motto einer Vielfalt in Einheit konkrete Gestalt.
114 LITERATURAUSWAHL - Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, Mathes und Seitz: München 1996. - Pim den Boer (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte, Oldenbourg Verlag: Berlin 2016. - Günter Buchstab (Hrsg.), Die kulturelle Eigenart Europas, Herder Verlag: Freiburg 2010. - Françoise Choay, Das architektonische Erbe, eine Allegorie. Geschichte und Theorie der Baudenkmale, Bauwelt Fundamente 109, Vieweg Verlag: Wiesbaden 1997. - Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege, Leitsätze zur Denkmalpflege in der Schweiz, vdf Hochschulverlag: Zürich 2007. - Hans Magnus Enzensberger, Ach Europa! Wahrnehmungen aus 7 Ländern, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1998. - Manfred Fuhrmann, Bildung. Europas kulturelle Identität, Reclam Verlag: Stuttgart 2002. - Manfred Fuhrmann, Der europäische Bildungskanon, erweiterte Neuausgabe, Inselverlag: Frankfurt am Main und Leipzig 2004. - Hans-Georg Gadamer, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft, herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung 1985. - Sigfried Giedion, Raum Zeit und Architektur, Neuausgabe, Birkhäuser Verlag: Basel 2015. - Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, Fischer Verlag: Frankfurt am Main 2009. - Wolfgang Götz, Beiträge zur Vorgeschichte der Denkmalpflege. Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich, Bd. 20, vdf Hochschulverlag: Zürich 1999. - Elain Harwood, Space, Hope, and Brutalism: English Architecture, 1945-1975, Yale University Press: New Haven 2015. - Stéphane Hessel, Empört Euch!, Ullstein Verlag: Berlin 2011.
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Literaturauswahl
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Deutschen Nationalkomitees für das Europäische Denkmalschutzjahr). Cees Nooteboom, Wie wird man Europäer?, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1993. Cees Nooteboom, Eine Karte so gross wie der Kontinent. Reisen in Europa, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2008. Pierre Nora (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, Beck Verlag: München 2005. Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt, Bauwelt Fundamente 41, Birkhäuser Verlag: Basel, Berlin und Boston 1973. Karl Schlögel, Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent, Carl Hanser Verlag: München 2013. Walter Siebel, Die Kultur der Stadt, Suhrkamp Verlag: Berlin 2015. Wolf Jobst Siedler; Elisabeth Niggemeyer; Gina Angress, Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Strasse, Platz und Baum, Herbig Verlag: Berlin 1964. Felix Zwoch, Idee, Prozess, Ergebnis: die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt, Ausstellungskatalog Frölich & Kaufmann: Berlin 1984.
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DER AUTOR Jürgen Tietz (* 1964), Dr. phil., studierte nach seiner Ausbildung zum Buchhändler in Berlin Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, Ur- und Frühgeschichte. Er arbeitet freiberuflich als Architekturkritiker, Publizist, Kurator und Moderator. Für die Neue Zürcher Zeitung schreibt er regelmässig über aktuelle Themen aus Architektur, Denkmalpflege und Baukultur.
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Jürgen Tietz
Europa ist allgegenwärtig in unserem Wissen, Handeln und Fühlen. Die Monumente, die uns umgeben, sind Speicher dieses Wissens. Doch der Europa-Enthusiasmus der Nachkriegszeit ist heute einer müden Gleichgültigkeit gewichen. Der Autor nimmt uns mit auf eine kulturgeschichtliche Reise zu Orten und Monumenten, Epochen und Ereignissen – zu den Eckpfeilern in einer sich wandelnden Welt. Seine grenzüberschreitenden Beobachtungen, laden dazu ein, uns in Europa wiederzuerkennen und den Prozess des Wandels aktiv und gemeinsam zu gestalten.
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