Adrian Vatter (Hrsg.): Vom Schächt- zum Minarettverbot

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Adrian Vatter Herausgeber

Vom Schächt- zum Minarettverbot Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie

Verlag Neue Zürcher Zeitung

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Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der UniBern Forschungsstiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Umschlaggestaltung: unfolded, Zürich Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03823-671-9 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

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Grund


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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

5

A d r i a n Vat t e r

1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Einleitung  Fragestellung und Zielsetzung des Buches  Forschungsstand und Forschungslücken  Theoretisches Erkenntnisinteresse und Leithypothese  Forschungsstrategie und Untersuchungsschritte  Methodik und Datengrundlage  Aufbau und Gliederung des Buches

15   15   20   22   24   28   32

D e n i z Da n a c i

2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2.

Theoretische Grundlagen  Abstimmungsverhalten  Vorlagenspezifische Merkmale  Bevölkerungszusammensetzung  Effekte der direkten Demokratie auf das Politikergebnis

35   35   36   42   44

Christian Bolliger

3.

Niederlassungs-, Glaubens- und Kultusfreiheit der Juden: die eidgenössischen Volksabstimmungen von 1866  3.1 Einleitung  3.2 Der Weg zur Niederlassungsfreiheit für Juden (1848–1866)  3.3 Der Weg zur Gewährung der Glaubens- und Kultusfreiheit (1866–1874)  3.4 Das Stimmverhalten der Kantone bei den Abstimmungen von 1866  3.4.1 Erwartete Einflussfaktoren auf das Stimmverhalten der Kantone  3.4.2 Methodisches Vorgehen  3.4.3 Empirische Resultate  3.5 Schlussfolgerungen

48   48   50   53   55   56   60   61   68

Christian Bolliger

4. 4.1

Die eidgenössische Volksabstimmung über das Schächtverbot von 1893    70 Einleitung    70

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4.2 4.3

Das Ja zur Volksinitiative von 1893 für ein Schächtverbot  Vom Schächtverbot in der Verfassung zum Tierschutzgesetz der 1970er-Jahre  4.4 Die Revision des Tierschutzgesetzes in den 2000er-Jahren  4.5 Das Stimmverhalten bei der Abstimmung von 1893 über das Schächtverbot  4.5.1 Einleitung  4.5.2 Mögliche Einflussfaktoren auf das Stimmverhalten  4.5.3 Empirische Ergebnisse  4.6 Schlussfolgerungen

www.

73    77    81    84    84    85    87    91

D e n i z Da n a c i

5.

Volksabstimmungen zur Anerkennung christlicher, jüdischer und muslimischer Glaubensgemeinschaften in den Schweizer Kantonen  5.1. Einleitung  5.2. Erklärungsfaktoren für die unterschiedlich hohe Unterstützung der Abstimmungsvorlagen  5.3. Kurzporträts der 15 Abstimmungen  5.3.1 Die verworfenen Abstimmungsvorlagen  5.3.2 Angenommene, aber umstrittene Abstimmungsvorlagen  5.3.3 Die unumstrittenen Abstimmungsvorlagen  5.4. Argumente der opponierenden Parteien  5.5. Weitere Befunde  5.6. Schlussfolgerungen

93    93    94    96    97   100   102   102   106   108

D e n i z Da n a c i

6.

6.1 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6.

Gesellschaftsstruktur und Stimmverhalten: eine Analyse der Abstimmungen zur Anerkennung religiöser Glaubensgemeinschaften auf Gemeindeebene  Einleitung  Theoretische Grundlagen  Untersuchungsanlage und Fallauswahl  Variablen und Messungen  Resultate  Schlussfolgerungen

109   109   110   111   113   114   118

Anna Christmann

7.

7.1

Direkte Demokratie als Damoklesschwert? Die indirekte Wirkung der Volksrechte auf die Anerkennung für Religionsgemeinschaften    121 Einleitung    121

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7.2

Anerkennungsregeln für Religionsgemeinschaften in den Schweizer Kantonen    123 7.2.1 Liberalisierungen der allgemeinen Anerkennungsregelungen    124 7.2.2 Möglichkeiten zur Liberalisierung nicht genutzt    127 7.3 Indirekte Wirkungen der direkten Demokratie auf Religionsgemeinschaften    128 7.4 Analyse: direkte Demokratie als Damoklesschwert in den Parlamentsdebatten    133 7.5 Schlussfolgerungen    141

A d r i a n Vat t e r , T h o m a s M i l i c u n d Ha n s H i r t e r

8.

Das Stimmverhalten bei der Minarettverbots-Initiative unter der Lupe  8.1 Einleitung  8.2 Die Stimmbeteiligung  8.3 Der Mobilisierungsprozess  8.4 Der Informationsprozess  8.5 Der Meinungsbildungsprozess  8.6 Das Abstimmungsprofil der Befürworter und Gegner  8.7 Die Entscheidungsmotive der Stimmenden  8.8 Die Pro- und Kontra-Argumente der Befürworter und Gegner  8.9 Multivariate Analyse des Stimmentscheids zur Minarett­verbots-Initiative  8.10 Schlussfolgerungen

144   144   146   148   152   152   155   159   160   163   169

A n n a C h r i s t m a n n , D e n i z Da n a c i u n d O l i v e r K r ö m l e r

9.

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Ein Sonderfall? Das Stimmverhalten bei der MinarettverbotsInitiative im Vergleich zu anderen Abstimmungen und Sachfragen  Einleitung  Die Stimmbeteiligung bei der Minarettverbots-Initiative im Vergleich zu anderen Abstimmungen  Die Rolle der Menschenrechte für die Stimmbürger  Sonderfall Islamophobie?  Schlussfolgerungen

171   171   172   179   185   188

Anna Christmann

10.

Die Rolle direktdemokratischer Instrumente in Moscheeund Minarettkonflikten in der Schweiz und in Deutschland    191 10.1 Einleitung    191 10.2 Theoretische Überlegungen    193

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10.3 Die Praxis in der Schweiz und in Deutschland  10.3.1 Der angedrohte Bürgerentscheid  10.3.2 Der durchgeführte Bürgerentscheid  10.3.3 Das für ungültig erklärte oder nicht zugelassene Bürgerbegehren  10.3.4 Der Versuch, Volksabstimmungen über Moscheeund Minarettbauten einzuführen  10.3.5 Die Volksabstimmung über die Minarettverbots-Initiative  10.4 Motive und Argumente der Akteure  10.4.1 Einstellungen zu Grundrechten und direkter Demokratie in Bezug auf Moscheekonflikte  10.4.2 Strategische versus funktionale Nutzung direkter Demokratie in Moscheekonflikten  10.5 Schlussfolgerungen

www.

198   200   202   203   203   204   205   206   208   211

A d r i a n Vat t e r u n d D e n i z Da n a c i

11.

Mehrheitsdemokratisches Schwert oder Schutzschild für Minoritäten? Minderheitenrelevante Volksentscheide in der Schweiz  11.1 Einleitung  11.2 Forschungsstand  11.3 Theoretische Grundlagen und Hypothesen  11.3.1 Vergleich der minderheitenrelevanten Entscheide bei repräsentativ- und direktdemokratischen Prozessen  11.3.2 Erklärungsdeterminanten bei Volksabstimmungen zu Minderheiten  11.4 Untersuchungsanlage, Fallauswahl und Methodik  11.5 Empirische Befunde  11.5.1 Direkte Effekte: Vergleich der minderheitenrelevanten Entscheide bei repräsentativ- und direktdemokratischen Prozessen  11.5.2 Indirekte Effekte: Vergleich der minderheitenrelevanten ­Entscheide bei repräsentativ- und direktdemokratischen Prozessen  11.5.3 Erklärungsdeterminanten bei Volksabstimmungen zu Minderheiten  11.6 Schlussfolgerungen

215   215   217   220   220   223   226   227

227

231   232   235

O l i v e r K r ö m l e r u n d A d r i a n Vat t e r

12.

Wer diskriminiert wen? Das Stimmverhalten bei minderheitenrelevanten Abstimmungen in der Schweiz    238 12.1 Einleitung und Forschungsfrage    238

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12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7 12.8

Definition des Minderheitenbegriffs  Theorien des Wahl- und Stimmverhaltens  Das Untersuchungsmodell  Hypothesen  Untersuchungsanlage, Daten und Variablen  Empirische Analyse  Schlussfolgerungen

240   242   243   247   251   252   259

A d r i a n Vat t e r

13.

Synthese: religiöse Minderheiten im direktdemokratischen System der Schweiz  13.1 Einleitung  13.2 Religiöse Minderheiten in der Schweizer Direktdemokratie: einzelne Etappen und wichtige Befunde  13.2.1 Die Abstimmungen in den 1850er- und 1860er-Jahren: Ja zur wirtschaftlichen Freiheit der Juden, Nein zur Glaubensund Kultusfreiheit  13.2.2 Die Kulturkampfabstimmungen in den 1870er-Jahren: Ja zur Verschärfung der Ausnahmeartikel für Katholiken in der neuen Bundesverfassung von 1874  13.2.3 Die Schächtverbotsabstimmung von 1893: ein weiteres Nein zur jüdischen Kultusfreiheit  13.2.4 Knappes Ja für die späte Streichung der konfessionellen Ausnahmeartikel aus der Bundesverfassung  13.2.5 Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften in kantonalen Abstimmungen: spätes Ja für Katholiken und Juden, klares Nein für Muslime  13.2.6 Die Minarettverbotsabstimmung von 2009: Nein zur muslimischen Kultusfreiheit  13.3 Weitere Befunde zu den Wirkungen der direkten Demokratie auf den Schutz von Minderheiten  13.4 Folgerungen: der Umgang mit religiösen Minderheiten im direktdemokratischen System der Schweiz

264   264   265

265

269   271   273

276   278   281   283

Anhang

Tabellenverzeichnis  Abbildungsverzeichnis  Literatur  Quellenverzeichnis  Herausgeber- und Autorenverzeichnis

291   294   295   315   316

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A d r i a n Vat t e r

1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Zielsetzung des Buchs Im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs steht eine Frage, die im politischen System der Schweiz eine hohe politische und gesellschaftliche Relevanz besitzt: Bietet die direkte Demokratie einen besonderen Schutz für religiöse Minderheiten oder führt sie vielmehr zu einer verstärkten Diskriminierung konfessioneller Minoritäten? Auf der Grundlage einer systematischen Analyse kantonaler und eidgenössischer Volksabstimmungen, die religiöse Gemeinschaften betreffen, setzt sich das Buch das Ziel, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage von zunehmender Aktualität zu leisten. Darüber hinaus werden unter Einbezug der Erkenntnisse von thematisch ähnlichen Volksabstimmungen, die andere Minderheiten betreffen, konkrete Folgerungen für die Gestaltung direktdemokratischer Abstimmungsprozesse in der Schweiz gezogen, bei denen die Minderheitenrechte im Mittelpunkt stehen. Die Behandlung der Fragestellung nach den Folgen direktdemokratischer Entscheide für die Anerkennung konfessioneller Minderheitenanliegen wird dabei bewusst aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive vorgenommen. Entsprechend stehen im Zentrum der Beiträge die politischen Akteure und ihre Strategien im Vorfeld der Abstimmungen, die Motive, Argumente und das Verhalten der Stimmbürger sowie die längerfristige Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien bei den im Zentrum stehenden Volksentscheiden. Die stetige Zunahme religiöser Minderheiten in der Schweiz hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass ihre Forderungen in den Blickpunkt der öffentlichen Debatte gerückt sind. Bekannte Stichworte hierfür sind die Errichtung religiöser Bauten, das Kopftuchverbot, die Gestaltung des Religionsschulunterrichts, die «Friedhofsfrage» und das rituelle Schlachten. Diese Themen werden aufgrund ihrer zunehmenden Politisierung im schweizerischen System der halbdirekten Demokratie immer häufiger mittels Volksentscheide auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene entschieden. Aktuelle Beispiele sind die verschiedenen kantonalen Volksabstimmungen über die öffentlich-rechtliche Anerkennung nicht christlicher Religionsgemeinschaften, die kommunalen Volksentscheide zugunsten der Fortführung des Fachs «Biblische Geschichte» im Primarschulunterricht in einzelnen Gemeinden sowie die Abstimmungen über die Lockerungen der Bestattungsordnungen. Das bekannteste Beispiel ist aber zweifellos die Volksabstimmung über die Minarettverbots-Initiative vom 29. November 2009, womit nicht nur religiöse

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Sakralbauten, sondern generell der Umgang mit religiösen, insbesondere nicht christlichen Minderheiten in einem direktdemokratischen System erstmals landesweite Aufmerksamkeit in der Schweiz erhalten hat. Die aus rechtsbürgerlichen Kreisen lancierte Volksinitiative mit dem Ziel, den Bau von Minaretten in der Schweiz generell zu verbieten, brachte die zahlreichen lokalen Konflikte um muslimische Sakralbauten, die unter anderem in Wangen, Wil oder Langenthal entbrannt waren, erstmals auf nationaler Ebene vor das Stimmvolk. Die überraschende Annahme der Minarettverbots-Initiative führte nicht nur innerhalb der Schweiz zu einer heftig geführten Kontroverse über den Umgang mit religiösen Minderheiten in modernen Gesellschaften, sondern sorgte auch international für grosse Aufmerksamkeit und insbesondere Proteste aus muslimischen Ländern. Für viele Beobachter lieferte der umstrittene Volksentscheid zum Bauverbot von Minaretten in der Schweiz neue Nahrung für die weitverbreitete These, dass die plebiszitäre Demokratie schädlich sei, Minderheiten diskriminiere und die Grundrechte gefährde. Erlaubt die unmittelbare Gesetzgebung durch das Volk eine Tyrannei der Mehrheit, vor der bereits Alexis de Tocqueville in seinen Schriften gewarnt hat, oder bildet der rousseausche «volonté générale» den Garanten für den Schutz aller Gesellschaftsmitglieder, also auch von Minderheiten? Die Analysen des vorliegenden Bandes versuchen Antworten auf diese klassische Frage zu liefern. Volksabstimmungen in der Schweiz über die Rechte religiöser Minderheiten wie diejenige über das Minarettverbot sind allerdings kein neuartiges Phänomen. Bereits in der ersten Verfassungsabstimmung von 1866 kam es auf eidgenössischer Ebene zu einem Volksentscheid über die Gewährung der Niederlassungsfreiheit für Juden und über die Glaubens- und Kultusfreiheit für Nichtchristen. Während Volk und Stände die Niederlassungsfreiheit für Juden mit 53 Prozent knapp annahmen, verwarfen sie die Glaubens- und Kultusfreiheit, weshalb die jüdische Gemeinschaft bis zur Revision der gesamten Bundesverfassung von 1874 warten musste, bis sie ihren Glauben in der Schweiz frei ausüben durfte. Die formale Gleichstellung der Juden währte allerdings nur knapp 20 Jahre, bis diese mit der Annahme der allerersten Verfassungsinitiative zum Schächtverbot in einem wesentlichen Punkt wieder zurückgenommen wurde. Obwohl auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts sowie insbesondere in neuerer Zeit die Anliegen religiöser Glaubensgemeinschaften in den Mittelpunkt direktdemokratischer Auseinandersetzungen gerückt sind, besteht bis heute keine vertiefte Untersuchung über die Folgen und Wirkungen der direkten Demokratie für den Schutz religiöser Minderheiten. Das ideale Experimentierfeld der verschiedenen föderalen Stufen der Schweiz wurde bis heute nicht für entsprechende Analysen genutzt, während in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig eine Reihe von Studien über die ökonomischen und finanziellen

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Auswirkungen der Volksrechte in der Schweiz durchgeführt wurden (Borner et al. 1990, 1994; Feld/Savioz 1997; Freitag/Vatter 2000; Kirchgässner et al. 1999). Es erstaunt deshalb nicht, dass nach wie vor unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der demokratietheoretisch und gesellschaftspolitisch bedeutsamen Frage bestehen, in welchem Masse grundlegende Rechte religiöser Minderheiten in einem direktdemokratischen System verletzt oder geschützt werden. Für eine vertiefte und systematische Behandlung der im Zentrum stehenden Fragestellung dieses Buchs, ob die direkte Demokratie einen besonderen Schutz für religiöse Minderheiten bietet oder vielmehr zu einer verstärkten Diskriminierung religiöser Minoritäten führt, ist es in einem ersten Schritt notwendig, den Begriff der «religiösen Minderheit» zu klären. Eine Hauptschwierigkeit liegt darin, dass die Definition von «religiöser Minderheit» in der Literatur sehr unterschiedlich gehandhabt wird und eine adäquate Definition dem flexiblen und wandelbaren Charakter religiöser Minderheiten gerecht werden muss und nicht auf ein essentialistisches Kulturverständnis aufbauen sollte (Sutter 2006). In aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen wird Religion als ein Aspekt von Ethnizität betrachtet (Fox 1999: 294). Ethnizität beschreibt den «Prozess der kulturellen Differenzierung von Bevölkerungsgruppen in Form der Selbst- und Fremdzuschreibung innerhalb von Staaten, aber auch staatsübergreifend» (Orywal 1999: 100). Der kontrovers diskutierte Begriff «Bevölkerungsgruppen» findet dabei in Elwerts We-Groups eine Alternative: Durch vielseitige Einschluss- und Ausgrenzungsprozesse und durch Prozesse von Selbst- und Fremdzuschreibungen von ethnischen Bevölkerungsgruppen formieren sich sogenannte We-Groups, wobei diese Prozesse zur Folge haben, dass sich We-Groups in der Regel in liminalen gesellschaftlichen Zonen befinden (Elwert 1997). Diese We-Groups, zu denen religiöse Minderheiten gezählt werden, können ihrer Zugehörigkeit durch ein bestimmtes «kollektives Inventar» Ausdruck verleihen, wie beispielsweise in Form von Riten, Herkunftsmythen, ethnischen Namen, Speisegesetzen, Musiktypen, religionsgesetzlichen Normen und Sprachen (Sokolovskii/Tishkov 2002: 192). Im Gegensatz zu andern ethnischen Minderheiten definieren sich religiöse Minderheiten primär über ihre Zugehörigkeit zu einer religiösen Tradition. Diese religiöse Zugehörigkeit ist nicht statisch, sondern wird andauernd von Neuem sozial konstruiert und reproduziert sowie von den Subgruppen und Individuen einer Minderheit heterogen gelebt. Religiöse Minderheiten können somit als eine Spezifizierung ethnischer Minderheiten beschrieben werden (Barnard/Spencer 2002: 603; Elwert 1999), die gekennzeichnet sind durch kollektive, oft familienübergreifende und familienumfassende, selbstzugeschriebene Formen von Zugehörigkeit. Die Selbstzuschreibung steht dabei in einem komplexen Wechselverhältnis zur Fremdzuschreibung.

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50 %

Protestantisch Römisch-katholisch

40 %

Jüdische Glaubensgemeinschaft

30 %

Islamische Gemeinschaften

20 %

Andere christliche Kirchen und Gemeinschaften

10 %

Andere Kirchen und Religionsgemeinschaften

0%

1970

1980

1990

2000

Keine Zugehörigkeit Quelle: Bovay/Broquet (2004).

Abbildung 1.1: Religionszugehörigkeit der Schweizer Wohnbevölkerung (2000)

In der Regel steht religiösen Minderheiten staatsintern oder staatsübergreifend eine religiös divergierende Majorität gegenüber. In der Schweiz bilden gemäss der Volkszählung aus dem Jahre 2000 Bürgerinnen und Bürger römisch-katholischer (41,3 %) und protestantischer Zugehörigkeit (35,3 %) mit rund 77 Prozent nach wie vor die religiöse Mehrheit, wobei beide Konfessionsgruppen in den letzten Jahrzehnten einen starken Mitgliederschwund erfahren haben (vgl. Abb. 1.1). Die stärkste Zunahme hatten im selben Zeitraum diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die keiner Religionsgemeinschaft mehr angehören und heute die drittgrösste Gruppe bilden. Innerhalb der religiösen Glaubensgemeinschaften ist es die islamische Gemeinschaft mit 4,3 Prozent, die heute nicht nur die grösste religiöse Minderheit in der Schweiz darstellt, sondern auch die höchste Zuwachsrate seit 1970 aufweist, als nur gerade 0,3 Prozent der in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung sich als Muslime bezeichnete.1 Andere christliche Kirchen und Gemeinschaften bestehen im Jahr 2000 aus Mitgliedern der christkatholischen Kirche (0,2 %), der christlichorthodoxen Kirchen (1,8 %) und weiteren christlichen Gemeinschaften (0,2 %). Die jüdische Glaubensgemeinschaft in der Schweiz ist vergleichsweise klein und umfasst im Jahr 2000 nur 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung. Andere Kir1

Gesamtschweizerisch stützen sich die neuesten offiziellen Zahlen auf die Volkszählung aus dem Jahr 2000. Für den Kanton Zürich kommen Widmer/Strebel (2008: 22) zum Schluss, dass der Anteil der Muslime zwischen 2001 und 2007 von 6,3 % auf 7,9 % gestiegen ist.

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chen und Religionsgemeinschaften machen 0,8 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz aus, wozu beispielsweise dem Buddhismus, Hinduismus oder Sikhismus angehörende religiöse Gemeinschaften zählen.2 Werden religiöse Minderheiten im Kontext der Schweizer Demokratie betrachtet, so fällt auf, dass es aufgrund der föderalistischen Grundsätze zu unterschiedlichen Anerkennungssystemen kommt. Ob eine religiöse Minderheit öffentlich-rechtliche Anerkennung erfährt oder nicht, unterscheidet sich von Kanton zu Kanton (Baumann/Stolz 2007; Cattacin et al. 2003; Pahud de Mortanges 1998; Pahud de Mortanges et al. 2000). Sobald Religionsgemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkannt werden, werden sie zu «Körperschaften des öffentlichen Rechts [...], wodurch z. T. staatliche Rechtsnormen auf sie anwendbar sind» (Pahud de Mortanges 1998: 23). Die Politiken der öffentlichrechtlichen Anerkennung orientieren sich dabei an vermeintlichen «kulturellen Identitäten» und gehen in ihrem Entscheid, welche religiösen Minderheiten eine «kulturelle Identität» aufweisen und somit öffentlich-rechtliche Anerkennung erhalten, sehr selektiv vor (Sutter 2006). Kulturelle Identität wird dabei, wie in der Theorie des kanadischen Philosophen Will Kymlicka, als etwas Homogenes und in sich Geschlossenes betrachtet. Als Vertreter des sozialen Liberalismus befasst sich Kymlicka (1999, 2003) in seiner Theorie zu Gruppenrechten von Minderheiten mit der Frage, welche Gruppen von Minderheiten3 Anspruch auf solche Rechte und somit auf eine eigene gesellschaftliche Kultur haben sollen. Diesen Punkt kritisiert Sutter sowohl an der schweizerischen Identitätspolitik als auch an wissenschaftlichen Konzepten wie jenem Kymlickas (1999, 2003), der gemäss Sutter Kollektivmythen theoretisch zu untermauern versucht. Sutter (2006: 12) schliesst sich dabei Benhabibs Kritik an, Kymlicka (1999, 2003) tendiere dazu, «den kulturellen Kontext der nationalen Gruppe als eine homogene Ganzheit zu idealisieren». Sutter (2006) schlägt deshalb vor, dass Minderheiten nicht ihrer kulturellen Identität wegen öffentlich-rechtliche Anerkennung erhalten sollen. Vielmehr soll diese Form der Anerkennung durch das Konzept der «kulturellen Ausgleichsrechte» ersetzt werden. Darunter versteht Sutter (2006: 14) «besondere Rechte für Angehörige und/oder Organisationen kultureller Minderheiten-Gruppen, die mit dem Ziel verbunden sind, gruppenspezifische, kulturell bewirkte Benachteiligungen im Kontext einer staatlich verfassten Mehrheitsgesellschaft auszugleichen. Damit wird mehr postuliert als nur die Bekräftigung des Schutzes 2 3

Für Subgruppen bzw. Minderheiten innerhalb der genannten Religionsgemeinschaften in der Schweiz vgl. Schmid/Schmid (2003). Kymlicka (1999, 2003) nimmt eine idealtypische Unterscheidung von nationalen (homogenen, kollektiven) und ethnischen eingewanderten (heterogenen) Minderheitengruppen vor und weist den beiden Gruppen je andere Ausgestaltungen von Minderheitenrechten zu.

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Anna Christmann

7. Direkte Demokratie als Damoklesschwert? Die indirekte Wirkung der Volksrechte auf die Anerkennung für Religionsgemeinschaften 7.1 Einleitung28 Die Ergebnisse der vergangenen Kapitel deuten darauf hin, dass Muslime in Volksabstimmungen bereits Ende des 20. Jahrhunderts schlechter abschnitten als andere Religionsgemeinschaften, insbesondere da rechts stehende Parteien die Frage des Islam in den Abstimmungskampagnen stets politisierten (vergl. Kap. 5). Diese Ergebnisse vermögen allerdings nur die halbe Wahrheit aufzuzeigen, wenn es um die Frage der Wirkung direkter Demokratie auf die Rechte religiöser Minderheiten in den Schweizer Kantonen geht. Betrachtet man ausschliesslich den Ausgang von Volksabstimmungen, ist es lediglich möglich, die sogenannte direkte Wirkung ausgebauter Volksrechte zu erfassen. Referendum und Initiative haben aber nicht nur Auswirkungen auf Politikergebnisse, indem das Volk an der Urne Gesetze zu Fall bringt oder neue Verfassungsartikel einführt. Auch ohne dass eine Abstimmung stattfindet, können sie den parlamentarischen Prozess wesentlich beeinflussen. Diese indirekte Wirkung der Volksrechte ist hinlänglich bekannt, wird in empirischen Studien aber immer wieder vernachlässigt – ob im Bereich der Minderheitenpolitik oder auch in andern Politikfeldern (Obinger/Wagschal 2000). Gerade wenn Minderheiten betroffen sind, stellt sich jedoch die Frage, inwiefern sich das Parlament bereits während des legislativen Prozesses von einer möglichen Ablehnung einer Vorlage durch eine Volksmehrheit beeinflussen lässt. Insbesondere bei schlecht integrierten Minderheiten – wie den Muslimen im Falle von religiösen Minderheiten – ist aus theoretischer Sicht zu erwarten, dass das Parlament eher bereit ist, minderheitenfreundlich zu entscheiden als das Volk (siehe Abschnitt 7.3 sowie Kap. 2 dieses Bandes). Es befindet sich also in einem Dilemma, da es eine Ablehnung an der Urne befürchten muss, wenn es besonders minderheitenfreundliche Vorlagen zur Abstimmung stellt.

28 Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung des Artikels «Damoklesschwert Referendum? Die indirekte Wirkung ausgebauter Volksrechte auf die Rechte religiöser Minderheiten», der 2010 in der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft 16(1): 1–41 erschienen ist.

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Nachdem also die direkte Wirkung der Volksrechte in den vorausgegangenen Kapiteln dargestellt wurde, hat dieses Kapitel zum Ziel, das Bild durch die Analyse der indirekten Wirkung zu komplettieren. Dafür werden nicht die Volksabstimmungen selbst, sondern der parlamentarische Prozess in den Mittelpunkt gerückt. Während die direkte Wirkung direkter Demokratie eindeutig anhand des Ausgangs einer Volksabstimmung festgestellt werden kann, sind indirekte Wirkungen weniger offensichtlich. Es gilt festzustellen, ob ein Gesetz nicht allein die Präferenzen des Parlamentes darstellt, sondern den vermuteten Präferenzen des Medianwählers angepasst wurde. Das gewählte Vorgehen orientiert sich an der Studie von Gerber (1996), in der das Politikergebnis – in unserem Fall die Anerkennungsregeln für Religionsgemeinschaften in den Schweizer Kantonen – die abhängige Variable darstellt. Es wird untersucht, ob es einen systematischen Zusammenhang zwischen Referendumsdrohung und der Ausgestaltung dieser Anerkennungsregeln gibt. Unterscheiden sich die Anerkennungsregeln in Fällen, in denen die Furcht vor einem möglichen Referendum thematisiert wurde, systematisch von Anerkennungsregeln, in denen mögliche Volksabstimmungen keine Rolle gespielt haben, kann von indirekten Effekten gesprochen werden. Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Untersuchungsgegenstand – die parlamentarischen Prozesse zu Anerkennungsregeln für Religionsgemeinschaften – näher vorgestellt und typologisiert, um deutlich zu machen, um welche Thematik und Prozesse es sich handelt. Anschliessend werden die theoretischen Überlegungen angestellt und Hypothesen gebildet. Die im ersten Abschnitt ausgewählten Legislativprozesse werden dann mithilfe einer FuzzySet Qualitative Comparative Analysis (fsQCA) untersucht. Diese noch junge Methode erscheint für die hier betrachtete Fragestellung besonders geeignet und zeigt sich im Methodenteil als erklärungskräftig. Die Ergebnisse dieses Kapitels können schliesslich an die bisherigen Befunde in diesem Band anknüpfen. Religiöse Minderheiten – insbesondere Muslime – schneiden in parlamentarischen Prozessen tendenziell besser ab, wenn keine Furcht vor einem Referendum besteht. Es kann also eine restriktive indirekte Wirkung festgestellt werden. Allerdings wird auch dargestellt, dass Parlamentarier Strategien entwickelt haben, um diese restriktive Wirkung zu vermeiden. Die Einbettung der strittigen Änderungen von Anerkennungsregeln in Totalrevisionen der Kantonsverfassungen vermeidet eine öffentliche Debatte und ermöglicht so Liberalisierungen.

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7.2 Anerkennungsregeln für Religionsgemeinschaften in den Schweizer Kantonen Bevor die theoretischen Überlegungen erfolgen, ist es notwendig, auf die aktuelle Rechtslage für Religionsgemeinschaften in den Schweizer Kantonen einzugehen, da diese Regelungen und ihre Entstehung die Grundlage des weiteren Vorgehens darstellen. In der Schweiz sind die Kantone für die Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat zuständig (Art. 72 Absatz 1 BV). Die Vorgaben aus der Bundesverfassung gehen nicht über das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und das allgemeine Gebot der Rechtsgleichheit hinaus. Das Verhältnis von Religionsgemeinschaften und Staat wird üblicherweise in der Verfassung oder in Form von Gesetzen geregelt. Dabei gibt es die grundsätzlichen Varianten des Laizismus oder der Verschränkung von Kirche und Staat.29 Sind Staaten nicht laizistisch, werden in der Regel in der Verfassung diejenigen Religionsgemeinschaften aufgezählt, die vom Staat anerkannt und gewissen Regeln und Gesetzen unterstellt sind. Tabelle 7.1: Kantone nach anerkannten Religionsgemeinschaften Kanton

RK

EV-REF CK

JUD

GE, NE AR, AI, GL, GR, JU, NW, OW, SZ, TI, TG, UR, VS, ZG AG, BL, LU, SH, SO,

0.5 1 1

0.5 1 1

0.5 0 1

0 0 0

VD

1

1

0

0.5

FR

1

1

0

1

ZH

1

1

1

0.5

BS, BE, SG

1

1

1

1

Daten: Kantonsverfassungen, eigene Recherchen. Anmerkungen: 0 = nicht anerkannt, 0.5 = öffentlich (symbolisch) anerkannt, 1 = öffentlichrechtlich anerkannt. RK = römisch-katholisch, EV-REF = evangelisch-reformiert, CK = christ­ katholisch, JUD = jüdisch.

Wie in Tabelle 7.1 deutlich wird, erkennen die Kantone unterschiedlich viele Religionsgemeinschaften an. Die beiden grossen christlichen Kirchen sind seit den 1970er-Jahren in fast allen Kantonen öffentlich-rechtlich anerkannt, in neun Kantonen auch die christkatholische. Seit Waadt 2002 als letzter Kanton auch die römisch-katholische Kirche vollwertig anerkannt hat, ist ein etwa 150-jähriger Prozess der Anerkennung der jeweiligen christlichen Minderheitenkonfession in den Kantonen abgeschlossen. 29 In der Religionswissenschaft wird teilweise noch detaillierter zwischen verschiedenen Varianten dieser Dichotomie unterschieden, die für die hier vorliegende Untersuchung aber nicht relevant sind (Minkenberg 2002: 115).

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Die jüdischen Gemeinden sind mittlerweile in sechs Kantonen in verschiedener Form anerkannt. 1972 hat Basel-Stadt als erster Kanton diese Öffnung durchgeführt, der letzte war Zürich 2005. Diese Anerkennungen sind zum grossen Teil auf Gesuche der jeweiligen israelitischen Gemeinde zurückzuführen. Neben den drei christlichen und den jüdischen Gemeinschaften gibt es keine weiteren, die in einem Kanton öffentlich-rechtlich anerkannt wären. Im europäischen Vergleich erkennt die Schweiz damit eher wenige Religionsgemeinschaften öffentlich-rechtlich an (Pahud de Mortanges 1998: 23). Wie es zu weiteren Anerkennungen kommen kann, ist in den Kantonen unterschiedlich geregelt. Es gibt die Möglichkeit, Anerkennungsregeln für weitere Religionsgemeinschaften festzulegen, also einen in Verfassung oder Gesetz vorgesehenen Prozess, wie weitere Religionsgemeinschaften (meist auf deren Antrag) anerkannt werden können. Das Spektrum reicht von überhaupt keiner Erwähnung einer möglichen Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften bis zum einfachen Parlamentsbeschluss, der eine Anerkennung bewirken kann. Diese grosse Varianz der Anerkennungsregeln bietet sich als Ausgangspunkt für die Untersuchung des Verhältnisses der jeweiligen Kantone zu nicht christlichen Religionsgemeinschaften an und ist Gegenstand dieses Kapitels. In 20 Kantonen hat mindestens einmal eine Debatte zur Ausgestaltung der Anerkennungsregeln im Parlament stattgefunden. Tabelle 7.2 gibt einen systematischen Überblick über sämtliche Änderungen der Anerkennungsregeln, die recherchiert worden sind.30 Die Parlamentsprozesse in den Kantonen sind nach Verhandlungsgegenstand und ihrem Ergebnis hinsichtlich Anerkennungsregeln in zwei Gruppen unterteilt. Innerhalb der Gruppen sind die Prozesse nach ihrer jeweiligen institutionellen Form – Total- oder Teilrevision der Verfassung oder Gesetzesänderung – unterteilt. Ausgehend von dieser Typologisierung werden die Anerkennungsprozesse von Religionsgemeinschaften in den Kantonen in einem kurzen Überblick dargestellt. 7.2.1 Liberalisierungen der allgemeinen Anerkennungsregelungen In Gruppe 1 befinden sich alle Prozesse, in denen Liberalisierungen erfolgreich umgesetzt wurden. Unter Liberalisierungen werden neue Anerkennungsmöglichkeiten für weitere Religionsgemeinschaften oder eine Verdeutlichung bisheriger Möglichkeiten (wie im Kanton Waadt 2002) verstanden.

30 Die Prozesse wurden anhand des Jahrbuchs Année Politique Suisse (APS) und entsprechenden Zeitungsartikeln, die von dessen Mitarbeitern zum Thema Kirche und Staat gesammelt wurden, sowie den Homepages der Kantone recherchiert. Nicht erfasst wurden womöglich Prozesse, die zu keiner Gesetzes- oder Verfassungsänderung führten und in der Presse keine Beachtung fanden. Diese mögliche Lücke musste aufgrund begrenzter Ressourcen in Kauf genommen werden.

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Einen Sonderfall stellt der Kanton Schaffhausen 2004 dar, wo die Anerkennungsregeln nicht liberalisiert wurden, sondern eine Verschärfung der geltenden Regeln verhindert werden konnte. Liberalisierungen in Form der Anerkennung einer bestimmten, in den Schweizer Kantonen stets einer jüdischen Religionsgemeinschaft, werden hier nicht berücksichtigt, da sie keine allgemeine Öffnung gegenüber andern Glaubensgemeinschaften darstellen. Tabelle 7.2: Genese der Anerkennungsregelungen für nicht christliche Religionsgemeinschaf­ ten in den Schweizer Kantonen Liberalisierungen der allgemeinen Anerkennungsregelungen Bei Totalrevision in Verfassung liberalisiert In eigener Verfassungsänderung eingeführt AR 1908 NW 1965

GL 1988 VD 2002 (wN)

VS 1974 BE 1979

OW 1968

GR 2003

FR 1982

JU 1977

SH 2004 (wN)

BL 1989

AG 1980

BS 2005

(SR, Gesetz,

BL 1984

LU 2007

aber obl. Ref.)

SO 1986 Möglichkeiten zur Liberalisierung nicht genutzt Keine Liberalisierung in neuer Verfassung

In Abstimmung Liberalisierung abgelehnt

SZ 1992 SG 2001

FR 1986 BE 1990

ZH 2005

ZH 1982, 2003

Anmerkung: SR = sehr restriktive Anerkennungsgesetze, wN = wenig Neuerung.

Acht Kantone haben bereits verhältnismässig früh eine offene Anerkennungsregelung für weitere Religionsgemeinschaften in ihre Verfassung aufgenommen (AR 1908 bis GL 1988). Diese Prozesse verliefen zumeist relativ geräuschlos und ohne grosse Diskussion. Besonders in der parlamentarischen Debatte im Kanton Aargau wird von allen Seiten betont, dass alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln seien und daher die Möglichkeit der Anerkennung für alle gleichermassen vorhanden sein müsse (Protokoll Verfassungsrat Aargau, 15.9.1976: 837 ff.). In Appenzell Ausserrhoden ist die Anerkennungsregelung ebenso wenig umstritten. Ein Referent betont in der vorbereitenden Kommission, dass die Heraushebung der beiden Landeskirchen nur noch aufgrund ihrer Grösse verständlich sei (Protokoll Totalrevision AR 1992: 2). In Basel-Landschaft ist die Einführung der allgemeinen Anerkennungsmöglichkeit 1984 durchaus Gegenstand einer Debatte in Kommission und Plenum. Diese verläuft jedoch konstruktiv und nicht antimuslimisch. Ein Bezug zum Islam ist in den älteren Debatten noch nicht gegeben. Die weiteren Anerkennungsmöglichkeiten wurden jedoch bisher nicht genutzt, kein Kan-

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ton in dieser Gruppe hat weitere Religionsgemeinschaften neben den christlichen Konfessionen anerkannt. Kantone, die seit 2000 ihre Verfassung revidiert haben, führten alle eine Debatte um die Anerkennungsregeln in den verfassungsgebenden Organen, sei es im Kantonsparlament oder im Verfassungsrat. In fünf von sieben Totalrevisionen seit 2000 wurden die Regeln liberalisiert. Die Debatte war in den meisten Fällen vom Widerstand von rechts geprägt. In Luzern versuchte die SVP die Anerkennungsmöglichkeit zu streichen, in Basel-Stadt wollte sie diese 2005 nur unter der Bedingung eines obligatorischen Referendums zulassen (Protokoll Verfassungsrat Basel-Stadt 2002: 9). In Schaffhausen versuchte sie die für eine Anerkennung erforderliche Parlamentsmehrheit auf ein Zweidrittel-Quorum zu erhöhen (Protokoll Grosser Rat des Kantons Schaffhausen 2002: 469). In allen Fällen wurde die SVP jedoch klar überstimmt. Ebenfalls Vertreter der SVP fokussierten die Debatte dabei stets auf den Islam, den sie als terrorgefährlich einstuften. Sie betonten die abendländische Kultur der Schweiz und warnten vor einer möglichen Legitimierung des Islams per Gesetz (z. B. Kanton Zürich Samuel Ramseyer, SVP: «(...) Untergang des Christentums» in: Protokoll Grosser Rat Zürich 2003: 15111). Zudem war es die SVP, die verlangte, dass das Volk das letzte Wort haben müsse. SP und Grüne votierten in allen Fällen für offene Anerkennungsregeln. Sie sehen in der Anerkennung eine Chance der Integration und gerade eine Verhinderung des Extremismus. In den Abstimmungsdebatten im Rahmen von obligatorischen Referenden zu Totalrevisionen von Kantonsverfassungen wurden die neuen Anerkennungsregeln für Religionsgemeinschaften meist wenig thematisiert. Abgelehnt wurde nur die Schaffhauser Verfassung beim ersten Anlauf, jedoch nicht aufgrund der neuen Anerkennungsregeln. In mehreren Kantonen rangierten die neuen Regelungen in den Vernehmlassungen allerdings eher im unteren Bereich der Zustimmung.31 Drei Kantone haben erfolgreich neue Anerkennungsregeln in einer Verfassungsänderung umgesetzt, die nicht innerhalb einer Totalrevision stattfand. Dem letzten dieser Kantone gelang dies jedoch 1982. Die Debatten in Freiburg und Bern waren nicht sehr kontrovers. Die Abstimmungskämpfe liefen eher ruhig ab und es gab noch keinen Islamfokus. Basel-Landschaft verabschiedete 1989 das Ausführungsgesetz zur neuen Anerkennungsregel in der Verfassung, beschränkte diese Anerkennung jedoch auf das christliche und jüdische Glaubensbekenntnis. Diese Einschränkung, 31 Etwa in der Vernehmlassung in Basel-Stadt 2005 wurde die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften von 41 % der Befragten als schlecht eingestuft, 9 % bezeichneten sie als einen Stolperstein für ihre Zustimmung zur Verfassung. In Luzern waren 32 % der Befragten gegen die entsprechende Änderung.

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welche die Regierung mit Berufung auf die christlich-abendländische Kultur vorgenommen hatte, war in der Debatte hoch umstritten. Bereits in der Vorbereitungsphase wurde beantragt, sie zu streichen. Begründet wurde dies mit dem Gebot der Toleranz und der zunehmenden Zuwanderung der Muslime, die deren Anerkennung in absehbarer Zeit zum Thema machen würde (Messerli 1998: 336). Mehrfach wurde erwähnt, dass eine Öffnung für alle Glaubensgemeinschaften die Annahme der Vorlage beim Volk gefährden würde. Vor allem die Grünen setzten sich stark gegen die Einschränkung ein, konnten sich aber nicht durchsetzen. Dabei stellte die grüne Landrätin Widmer auch die Rechtmässigkeit einer solchen Regelung infrage (Protokoll des Landrates Basel-Landschaft 1989: 1793), Experten geben ihr in dieser Frage recht (vgl. Cattacin et al. 2003: 20). 7.2.2 Möglichkeiten zur Liberalisierung nicht genutzt In einigen Kantonen gab es Liberalisierungsbemühungen, die nicht erfolgreich umgesetzt werden konnten. Entweder scheiterten sie bereits im Parlament oder an der Urne. Zwei Kantone revidierten ihre Verfassung in den letzten Jahren, nahmen aber keine Änderungen der Anerkennungsregeln vor. In Zürich war kurz vor der Totalrevision 2003 ein neues Anerkennungsgesetz an der Urne gescheitert, auch in St. Gallen wurde bewusst auf die Einführung eines Anerkennungsverfahrens für weitere Religionsgemeinschaften verzichtet. In beiden Fällen hat es eine ausführliche Diskussion des Themas gegeben, die aber jeweils zu einer sehr restriktiven Regelung – nämlich keiner Anerkennungsmöglichkeit – geführt hat. Schwyz hat 1992 die Chance, in einer Überarbeitung des Kirchengesetzes eine Anerkennungsregelung einzuführen, nicht genutzt. Alle Religionsgemeinschaften werden hier auf private Vereine verwiesen. Die Regierung hatte bereits in der Vorlage unter Berufung auf die abendländische Tradition diese Restriktion eingeführt. Sowohl geplante Verfassungsänderungen als auch Anerkennungsgesetze scheiterten in vier Fällen an der fehlenden Zustimmung der Stimmbürger. Es handelt sich teilweise um Änderungspakete, bei denen sich die Frage stellt, inwiefern die neuen Anerkennungsbestimmungen den Ausschlag für die Ab­­ lehnung gaben. In zwei Fällen, Bern 1990 und Zürich 2003, sind die Einschätzungen eindeutig, dass die vermeintliche Gefahr der Islamisierung durch die Öffnung gegenüber andern Religionsgemeinschaften ein entscheidender Grund für die Ablehnung war (siehe Kap. 5 in diesem Band; NZZ, 1.12.2003: 35). In den Fällen Zürich 1982 und Freiburg 1986 ist dieser Zusammenhang nicht so offensichtlich. 2003 hatte die Evangelische Volkspartei (EVP) in Zürich bereits während der parlamentarischen Debatten davor gewarnt, dass die Anerkennungsregeln zum

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Scheitern der Gesamtvorlage führen könnten, die noch andere Neuerungen zur Entflechtung des Verhältnisses von Staat und Kirche enthielt (Protokoll Grosser Rat Zürich, 27.01.2003: 15297). Die SVP bekämpfte die Vorlage im parlamentarischen Prozess bereits vehement. Aber auch Vertreter der FDP politisierten gegen die Öffnung. In der Parlamentsabstimmung wurden alle Streichungsanträge jedoch abgelehnt, an der Urne scheiterte die Anerkennung schliesslich. 7.3 Indirekte Wirkungen der direkten Demokratie auf Religionsgemeinschaften Aufbauend auf der oben ausgeführten Situation von Religionsgemeinschaften in den Schweizer Kantonen werden in diesem Abschnitt die Rolle der direkten Demokratie in diesen Prozessen diskutiert und die Hypothesen für die folgende empirische Analyse formuliert. Die entscheidende Frage besteht dabei darin, warum es einen Unterschied machen sollte, ob ein Parlament oder das Volk über eine Sachfrage entscheidet, zumal das Parlament durch das Volk gewählt wurde. Im Gegensatz zu den wenigen empirischen Studien zu dieser Frage gibt es ein breites Angebot an theoretischen Hinweisen, dass es einen Unterschied macht, wer über Minderheitenanliegen entscheidet. Parlamentarische Prozesse weisen eine Reihe von Eigenschaften auf, die Abstimmungsdebatten abgehen – vor allem wird ihnen ein höherer Deliberationsgrad zugeschrieben. Im parlamentarischen Prozess sind diskursive Filter eingebaut, wie Kommissionssitzungen oder Expertenhearings, die zu einer breiteren Inklusion von Argumenten und deren ausführlichem Austausch ­führen (Bolliger 2007: 424). Zudem sind Debatten vor allem dann deliberativ, wenn sie nicht öffentlich stattfinden, was offensichtlich eher in Parlamenten der Fall ist (Bächtiger et al. 2005). Der parlamentarische Prozess besitzt eine höhere Integrationskraft, da dieselben Akteure über einen längeren Zeitraum hinweg miteinander verhandeln und auch Tauschgeschäfte möglich sind ­(Bolliger 2007: 424). Durch sogenanntes «logrolling» werden Stimmen unter den Parteien «getauscht», indem gegenseitig Vorlagen unterstützt werden. Zudem werden in solchen Verhandlungen die Prioritäten von Präferenzen berücksichtigt, was in Volksabstimmungen kaum umsetzbar ist (Clark 1998: 456 f.). Eine Minderheit kann so ein ihr besonders wichtiges Anliegen durchsetzen, indem sie dafür auf eine für sie weniger bedeutsame Forderung verzichtet. Aus diesem Grund können sich in repräsentativen Systemen auch Minderheitenmeinungen durchsetzen. Im Gegensatz zu Parlamentsentscheidungen, in denen Politiker ihre Position in der Regel den Wählern erklären müssen, sind Volksabstimmungen anonym. Es gilt das Wahl- und Stimmgeheimnis, und jeder Stimmbürger kann frei und ohne Rechtfertigungsdruck seinen Entscheid in die Urne werfen. Sachabstimmungen begünstigen dadurch die «Hervorkehrung des jeweils

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‹schlechteren Ichs› des Bürgers, weil sie, ex ante wie ex post, von diskursiven Anforderungen und dem Zwang zur argumentativen Rechtfertigung völlig entlastet sind» (Offe 1998: 87). Müssten sie sich vor ihren Mitbürgern erklären, würden sie sich womöglich im Sinne der Allgemeinheit entscheiden, im Schutz der Anonymität ist ein individualistisch geprägter Entscheid wahrscheinlicher (Papadopolous 1998: 177). Neben der unterschiedlichen Entscheidungslogik gibt es aber auch Hinweise für Differenzen in der inhaltlichen Grundhaltung zwischen Volk und Elite. Begründen lassen sich diese einerseits mit dem geringeren Bildungsniveau der Bevölkerung im Vergleich zur Elite. Andererseits spielen aber auch das direkte Umfeld und die eigene Perspektive für politische Einstellungen eine wichtige Rolle. Eliten bewegen sich in internationalen Strukturen und sind stärker mit anderen Kulturen konfrontiert. Die breite Bevölkerung bewegt sich hingegen eher im unmittelbaren Umfeld des Wohn- und Arbeitsortes und ist bei Weitem nicht so mobil wie die Elite. Daher ist sie eher von diffusen Ängsten gegenüber fremden Kulturen geprägt (Widmer 2003: 19). Auch Religionsrechtler schätzen die Einstellung des Volkes gegenüber unbekannten Religionen skeptisch ein und sehen den Handlungsauftrag beim Staat. Dieser müsse ein Klima für mögliche Anerkennungen schaffen, indem er über fremde Kulturen und Religionen aufkläre (Hafner/Gremmelspacher 2005: 84). Auch hier wird also eher von einer Ablehnung der Anerkennung fremder Religionsgemeinschaften ausgegangen. Die Präferenzen des Volkes und der politischen Elite im Parlament liegen nach diesen Überlegungen in der Anerkennungspolitik auseinander, wenn wenig integrierte religiöse Minderheiten betroffen sind (siehe auch Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppe in Kap. 2). In einer repräsentativen Demokratie könnte das Parlament dennoch ein Gesetz nach seinen Präferenzen umsetzen, ohne dafür Konsequenzen zu befürchten, insbesondere wenn die nächste Wahl noch nicht allzu bald droht. In einer halbdirekten Demokratie sind unterschiedliche Präferenzen von Volk und Politikern jedoch ausschlaggebend für das Policy-Outcome. Zur Erklärung wird dafür das Modell des Medianwählers aus der «public choice»-Theorie verwendet, der die Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit widerspiegelt (Downs 1957; Mueller 2003). Durch die drohende Referendumsgefahr werden Vorlagen bereits im Voraus auf eine breite Konsensfähigkeit überprüft und in Richtung der Präferenzen des Medianwählers verändert, um eine Ablehnung zu verhindern. Unabhängig davon, ob Referenden tatsächlich stattfinden, rückt die Politik so näher an den Medianwähler heran (Hug 2004; Gerber/Hug 2002). Abbildung 7.1 veranschaulicht diese Überlegungen in einem räumlichen Modell nach Gerber (1996). Das obere Modell zeigt die Präferenzen von Parlament und Medianwähler für wenig integrierte Minderheiten, das untere für

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integrierte Minderheiten. Bei wenig integrierten Minderheiten wird angenommen, dass das Parlament eine liberalere Position einnimmt als der Medianwähler. In einem repräsentativen System würde es Gesetz 1 (G1) verabschieden. In einem direktdemokratischen System muss die Legislative jedoch damit rechnen, dass G1 in einem Referendum keine Zustimmung finden würde. Es muss ein Gesetz vorschlagen, das nahe genug bei den Präferenzen des Medianwählers liegt (G2), um auf Zustimmung hoffen zu können. Verabschiedet das Parlament G2, ist ein indirekter Effekt eingetreten. Anders stellt sich die Situation dar, wenn es um gut integrierte Minderheiten geht. Hier ist zu erwarten, dass die Präferenzen des Parlaments und des Medianwählers identisch sind oder zumindest nahe beieinander liegen. Daher wird das Parlament in einem repräsentativen wie in einem direktdemokratischen System G3 vorschlagen und kann davon ausgehen, dass dieses Gesetz auch vom Stimmvolk angenommen wird. Liberale Haltung gegenüber wenig integrierten religiösen Minderheiten

Liberale Haltung gegenüber integrierten religiösen Minderheiten

G1

G2

Parlament

Medianwähler

G3 Medianwähler Parlament

Restriktive Haltung gegenüber wenig integrierten religiösen Minderheiten

Restriktive Haltung gegenüber integrierten religiösen Minderheiten

Abbildung 7.1: Medianwählermodell nach Gerber (1996)

Aus diesen Überlegungen kann die erste Hypothese abgeleitet werden: H 1: Droht bei einer Liberalisierung der Anerkennungsregeln ein Volksentscheid, führt dies zu restriktiveren Anerkennungsgesetzen für religiöse Minderheiten. In öffentlichen Debatten in der Schweiz in den letzten Jahren zeigt sich, dass hinsichtlich Religionsgemeinschaften vor allem zwischen dem Islam und den übrigen Glaubensrichtungen unterschieden werden muss. Muslime stellen mittlerweile die drittgrösste religiöse Gruppe in der Schweiz (Bovay/Broquet 2004) und lösen in der Bevölkerung Ängste aus. Es scheint sich dabei um

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eine Mischung aus allgemeiner Xenophobie und konkreten Vorbehalten gegenüber dem Islam zu handeln. 2007 möchten 21,9 Prozent der Schweizer Bevölkerung keinen Muslimen als Nachbarn haben (Helbling 2010: 69). Der jüdische Glaube ist dem christlichen näher als andere und seit dem Zweiten Weltkrieg hat der Antisemitismus stark abgenommen oder ist zumindest aus der Öffentlichkeit verbannt. «In den Nachkriegsjahren hat sich die Situation der Schweizer Juden konsolidiert: Sie sind institutionell und gesellschaftlich als religiöse Minderheit anerkannt» (Rosenkranz Verhelst 2008). In diesem Kapitel wird daher nur zwischen dem Islam und den übrigen Religionsgemeinschaften unterschieden. Geht es bei der Ausweitung von Anerkennungsregeln konkret um den Islam, ist zu erwarten, dass diese restriktiver ausgestaltet werden. H 2: Wird der Islam im Parlament thematisiert, werden die Anerkennungsregeln restriktiver ausgestaltet. Auch Parlamentarier, insbesondere in der Schweiz, wissen um die Wirkung der direkten Demokratie (Christmann 2009: 42 ff.). Es ist daher zu erwarten, dass sie Strategien entwickeln, wie sie ihre Präferenzen (G1) trotz Referendumsgefahr umsetzen können. Da die Gegnerschaft von Gesetzesvorlagen durch Kampagnen überproportional mobilisiert wird (Kriesi 2005b: 313), besteht eine mögliche Strategie darin, eine Kampagne zu einer neuen Regelung zu verhindern. Dies kann erreicht werden, wenn die entsprechende Neuerung nicht im Mittelpunkt steht – etwa weil es viele Abstimmungsvorlagen an einem Termin gibt, oder weil eine einzige Vorlage mehrdimensional ist und sich so verschiedene Diskussionen überlagern. Im Fall der Anerkennungsregeln wurden etliche Änderungen innerhalb von Totalrevisionen der Kantonsverfassungen umgesetzt. In der Parlamentsdebatte wurde dabei teils darauf hingewiesen, dass man keine zu weitgehenden Änderungen innerhalb einer Totalrevision durchführen könne, da eine solche Regelung nicht nebenbei umgesetzt werden dürfe. Dabei ging es zumeist um die vollständige Trennung von Kirche und Staat (z. B. Bericht Totalrevision St. Gallen 1989: 8). Dieser Hinweis macht deutlich, dass kleinere Änderungen, wie es Anerkennungen von Religionsgemeinschaften im Vergleich zu grundlegenden institutionellen Änderungen wie Wahlrecht, Wahlsystem oder Regierungssystem sind, in einer Totalrevision nebenbei umgesetzt werden können. Würde über sie allein abgestimmt werden, stünden sie hingegen im Mittelpunkt der Debatte, würden dadurch mehr Gegner mobilisieren und womöglich abgelehnt werden. Zudem wird durch eine Totalrevision das «unbundling» (Matsusaka 2005a: 194; Besley/Coate 2008), das normalerweise mit Volksabstimmungen verbun-

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den ist, ausser Kraft gesetzt. Dass über einzelne Sachfragen anstelle eines gesamten Bündels wie etwa einem Wahlprogramm abgestimmt wird – das wesentliche Kennzeichen der direkten Demokratie – führt dazu, dass eine Mehrheitsentscheidung zu einer Sachfrage zustande kommt, die sonst nicht im Mittelpunkt der Wählerentscheidung gestanden hätte. Dies kann mit einer Totalrevision einer Verfassung vermieden werden. Die niedrigen Zustimmungsraten zu Liberalisierungen von Religionsgemeinschaften in den Vernehmlassungen zu den Kantonsverfassungen (siehe Fussnote 4) verdeutlichen, dass die Regelungen womöglich nicht angenommen worden wären, wenn sie als einzelne Verfassungsänderungen vors Volk gekommen wären. Wie oben beschrieben, haben obligatorische Volksabstimmungen zudem deutlich grössere Annahmechancen als fakultativ zustande gekommene Referenden. H 3: In Totalrevisionen werden liberale Anerkennungsregeln umgesetzt. Teilrevisionen von kantonalen Verfassungen führen zu restriktiven Regelungen. Kapitel 5 hat gezeigt, dass die direkten (negativen) Effekte von Volksentscheiden auf die Rechte muslimischer Glaubensgemeinschaften stets mit einer Mobilisierung durch die politische Rechte einhergingen. Daher wird auch für diese Analyse der indirekten Effekte die Stärke der Rechtsparteien mit einbezogen. Diese engagieren sich in der Regel für eine restriktive Ausländerund Migrationspolitik (Kitschelt 1998: 20; Kailitz 2006: 312) und treten eher für die Erhaltung der nationalen Traditionen ein. Somit ist zu erwarten, dass sie sich gegen eine Öffnung gegenüber neuen Religionsgemeinschaften einsetzen. Dieser Effekt ist dabei keineswegs nur bei einer Parlamentsmehrheit einer rechtspopulistischen Partei zu erwarten. Aus zwei Gründen kann allein eine starke Stellung einer rechtspopulistischen Partei die Ausgestaltung der Anerkennungsregeln beeinflussen. Zum Ersten wird in Parlamentsdiskursen nicht ausschliesslich mehrheitlich abgestimmt. In vorbereitenden Kommissi­ onen werden in der Regel gemeinsame Positionen gesucht und jedes einzelne Kommissionsmitglied kann die Vorlage massgeblich mit beeinflussen. Die Fraktionsdisziplin ist in der Schweiz zudem nicht so stark ausgeprägt wie in andern Staaten (Schwarz 2009: 193; Lüthi 2006: 143). Der zweite Grund ist wieder bei der direkten Demokratie zu suchen. Wie bereits Neidhart (1970) ausgeführt hat, ist die Konkordanz, also die Aufnahme aller wichtigen politischen Kräfte in die Regierung, im Wesentlichen auf die ausgebaute direkte Demokratie in der Schweiz zurückzuführen. Oppositionsparteien nutzen direktdemokratische Instrumente häufiger (Vatter 2002: 341) und so wird versucht, ihre Position bereits im Voraus zu antizipieren, um ein Referendum zu verhindern.

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Der gleiche Mechanismus ist im Bereich der Anerkennungsregeln zu erwarten. Auch wenn eine Partei womöglich keine Mehrheit hat, so kann sie doch durch eine – ausgesprochene oder unausgesprochene – Referendumsdrohung Einfluss auf den parlamentarischen Prozess ausüben. Gerade rechtspopulistische Parteien sind dabei für die «Solidarisierung mit dem Volk» und die starke Nutzung direktdemokratischer Instrumente als populistisches Mittel bekannt (Canovan 1999; Christmann 2009: 55). H 4: Ist eine rechtspopulistische Partei stark in die Debatte involviert, werden die Anerkennungsregeln restriktiver ausgestaltet. Insgesamt ist zu erwarten, dass die in den vier Hypothesen beschriebenen Faktoren nicht unabhängig voneinander wirken. Die Thematisierung des Islams und ein drohender Volksentscheid könnten etwa gemeinsam eine Grundlage für die Argumentation einer rechtspopulistischen Partei darstellen, die in diesem Fall anders gegenüber dem Volk politisieren könnte, als wenn der Islam kein Thema wäre. 7.4 Analyse: direkte Demokratie als Damoklesschwert in den Parlamentsdebatten Die Erkenntnisse aus den Parlamentsdebatten sollen im Folgenden systematisiert werden, um entsprechend der Hypothesen diejenigen Faktoren he­raus­zufiltern, die zu liberalen oder restriktiven Anerkennungsregeln führen. In insgesamt 13 der in Tabelle 7.2 dargestellten Kantone konnten die Parlamentsdebatten anhand von Protokollen und Kommissionsberichten nachvollzogen werden. Es handelt sich dabei jeweils um die letzte Debatte, die in den Kantonen zu Anerkennungsregeln stattgefunden hat. Die Analyse geschieht mittels einer Fuzzy-Set Qualitative Comparative Analysis (fsQCA)32. 32 Diese Methode wird aus insgesamt drei Gründen verwendet: (i) In allen vier aufgestellten Hypothesen werden Bedingungen formuliert, die zu liberalen oder restriktiven Anerkennungsregeln führen. Eben solche Bedingungen zu finden, ist Ziel einer QCA. (ii) Zum Zweiten spricht für QCA, dass v. a. die Kombination verschiedener Faktoren berücksichtigt und nicht nur die Erklärungskraft jeder einzelner Variablen getestet wird (Sager 2006: 434). (iii) Mit den Schweizer Kantonen als Untersuchungseinheiten könnten wir auf max. 26 Fälle kommen. Da es aber in etlichen keine Diskussion um Anerkennungsregeln gab, liegt die Fallzahl mit N = 13 noch deutlich darunter. Diese ist für eine tief gehende qualitative Fallanalyse zu gross und für quantitative, statistische Methoden eher zu klein. Von der Literatur wird für eben solche Untersuchungsdesigns eine QCA als Methode empfohlen, auch wenn für diese ebenfalls höhere Fallzahlen verlässlichere und weniger komplexe Ergebnisse bringen (Blatter et al. 2007: 191).

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Die Voraussetzung für die Durchführung einer fsQCA ist eine tief gehende Kenntnis der Fälle, die durch die Studie der entsprechenden Parlamentsprotokolle erarbeitet werden konnte. Das Ziel besteht darin, hinreichende und notwendige Bedingungen für ein Ereignis, in unserem Fall für einen liberalen Anerkennungsindex, zu finden. Ein Faktor ist eine notwendige Bedingung, wenn er eine Voraussetzung für liberale Anerkennungsregeln ist und eine hinreichende Bedingung, wenn man aus seiner Präsenz schliessen kann, dass liberale Anerkennungsregeln umgesetzt werden.33 Entsprechend der Hypothesen werden vier Faktoren zur Erklärung der unterschiedlichen Anerkennungsregelungen in den Kantonen herangezogen. Inwiefern das Damoklesschwert der Volksrechte über der Entscheidung zu Anerkennungsregeln hing (Hypothese 1), untersuchen wir anhand der jeweiligen Debatte. Hier werden alle Wortmeldungen gezählt, in denen argumentiert wurde, dass das Gesetz restriktiver ausgestaltet werden müsse, um eine Chance auf Annahme durch das Stimmvolk zu haben. Die Grenze für eine Gruppenzugehörigkeit wird auf drei Wortmeldungen gesetzt, da erst hier von einer Debatte gesprochen werden kann. Bei nur zwei Wortmeldungen handelt es sich zumeist nur um einen Einwand und eine Erwiderung. Die Schwierigkeit liegt in diesem Fall darin, dass nur geäusserte Bedenken gemessen werden können und keine, die die Beteiligten stillschweigend tragen.34 Ebenso wird für Hypothese 2 anhand der Wortmeldungen in der Parlamentsdebatte gemessen, inwieweit der Islam in der Debatte thematisiert wird. Für Hypothese 3 muss lediglich festgestellt werden, ob eine Totalrevision vorlag oder nicht, dies ist durch eine dichotome Variable operationalisierbar. Aus Tabelle 7.3 wird deutlich, dass in neun der 13 betrachteten Fälle die Änderung der Anerkennungsregeln innerhalb einer Totalrevision durchgeführt wurde. Bei den andern vier Fällen handelt es sich um drei Teilrevisionen der Kantonsverfassung, sodass ein obligatorisches Referendum zu erwarten war, sowie um eine Gesetzesänderung (Bern), die dem fakultativen Referendum 33 Für detaillierte Erklärungen der Methode fsQCA siehe Christmann (2010) und Schneider/Wagemann (2007). 34 Zusätzlich zu den direkt in der Debatte geäusserten Bedenken könnte auch die Ausprägung der direkten Demokratie, also die «rules in use» und die «rules in form» im jeweiligen Kanton betrachtet werden. Da jedoch in allen Kantonen vergleichsweise niedrige Hürden für das Ergreifen von direktdemokratischen Instrumenten vorliegen (Stutzer/ Frey 2000) und verschiedene Autoren darauf hingewiesen haben, dass ein Zusammenhang zwischen niedrigen Hürden und starker Nutzung direktdemokratischer Instrumente nicht zu erkennen ist (Vatter 2002: 340), wird darauf bewusst verzichtet. Wie oft Abstimmungen in dem jeweiligen Kanton stattfinden, wird ebenfalls nicht mit einbezogen, da auch hier (insbesondere bei Totalrevisionen) unklar ist, inwiefern die Anzahl Abstimmungen im Zusammenhang mit der Furcht vor einer Abstimmungsniederlage steht.

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unterlag, das auch tatsächlich ergriffen wurde. Da aber nur dieser eine Fall eines fakultativen Referendums zur Verfügung steht, wird entsprechend Hypothese 3 nur der Unterschied zwischen einer Totalrevision und einer Teilrevision sowie einer Gesetzesänderung betrachtet. Der Unterschied des Einflusses eines obligatorischen oder eines möglichen fakultativen Referendums kann mit nur einem Fall eines fakultativen Referendums nicht untersucht werden. Ob eine starke rechtspopulistische Partei an der Debatte beteiligt war (Hypothese 4), wird anhand des Wähleranteils der SVP bei der letzten kantonalen Wahl vor der entsprechenden Parlamentsentscheidung gemessen. Sie ist abgesehen von Kleinstgruppierungen im Schweizer Parteiensystem am weitesten rechts angesiedelt und setzt sich für die Bewahrung nationaler Traditi­ onen und gegen Immigration ein (Bornschier/Helbling 2005: 34). Ihr Wähleranteil entspricht der parlamentarischen Stärke zum Zeitpunkt der untersuchten Debatten. Diese Prozentwerte wurden in Fuzzy-Werte umgerechnet.35 Die Grenze ist hier der Wähleranteil in Luzern von 19,2 Prozent. Hier besteht eine grosse Lücke zum nächst tieferen Wert von 14,5 Prozent im Aargau. Entsprechend der theoretischen Überlegungen benötigt die SVP eine kritische Grösse, um die Debatte relevant zu beeinflussen und wirkungsvoll eine Referendumsgefahr auszustrahlen.36 Das zu erklärende Ereignis im Modell sind Anerkennungsregeln für Religionsgemeinschaften, die aus den Parlamentsdebatten hervorgegangen sind.37 Um diese miteinander vergleichen zu können, wird ein sechsstufiger Index erstellt. Mit null sollen die restriktivsten Regelungen bewertet werden, mit eins die liberalsten. Es bekommen diejenigen Kantone eine Null, die keine Regelungen für weitere Religionsgemeinschaften verabschiedet haben. In diese Gruppe fällt zum Beispiel Zürich, da jeder Versuch, eine solche Regel aufzunehmen, in Volksab-

35 Als Abstufung wurde 0,1 gewählt, der Indifferenzwert 0,5 wurde nicht vergeben. Trotz der feinen Abstufung handelt es sich nicht um eine verkappte metrische Skala, da die Werte als Grad der Mitgliedschaft der Gruppe «Starke SVP» verstanden werden können («degree of membership», Ragin 2008: 30 ff.). Siehe Kodierungstabelle auf S. 142. 36 Einen strittigen Punkt könnte die Kodierung der SVP im Kanton Bern darstellen. Sie gilt oft als liberaler und hat den Kurs der Zürcher SVP nur zögerlich mitgemacht (Vetsch et al. 2005: 106). In der Berner Debatte setzt sich jedoch auch die SVP für die Beschränkung der Anerkennung auf christliche und jüdische Bekenntnisse ein und äussert sich skeptisch gegenüber dem Islam (Protokoll Grosser Rat Bern, 8.2.1989: 74 f.). Dies macht den gleichen Bewertungsmassstab wie in den übrigen Kantonen plausibel. Zudem bleibt die Kodierung so objektiv nachvollziehbar. 37 Die Ergebnisse der Parlamentsprozesse sind identisch mit den Regelungen, die heute noch in den Kantonen bestehen, mit Ausnahme des Kantons Bern. Hier wurde die vom Parlament angestrebte Änderung in einer Volksabstimmung 1990 abgelehnt. Hier wird der Wert für das vorgesehene Gesetz vergeben.

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stimmungen gescheitert ist und sich das Parlament zuletzt gegen die Aufnahme einer Regelung entschieden hat. Mit 0,2 werden diejenigen Kantone bewertet, in denen zwar eine Anerkennungsregel besteht, diese aber auf christliche und jüdische Glaubensbekenntnisse beschränkt ist. Basel-Landschaft weist eine solche Regelung auf. Kantone, die ein sogenanntes zweistufiges Verfahren vorsehen, indem das Gesuch der Religionsgemeinschaft zunächst von der Regierung angenommen und dann noch ein eigenes Gesetz vom Parlament verabschiedet werden muss, bekommen eine 0,4. Hier ist der Weg der Anerkennung beinahe so schwer, oder sogar schwerer, als wenn es keine Regelung gäbe. In Bern sollte ein solches Gesetz verabschiedet werden (siehe Fussnote 7). Mit 0,6 werden jene Kantone bewertet, die die Anerkennung per Gesetz vorsehen. Hier sind zwar keine weiteren Restriktionen vorgesehen, es muss aber auch ein eigener Gesetzesprozess in Gang gebracht werden. Graubünden hat diese Regelung gewählt. Die übrigen Kantone lassen sich zu grösseren Gruppen zusammenfassen. 0,8 und 1 werden an diejenigen vergeben, die eine Anerkennung per Parlaments- oder Regierungsbeschluss in die Verfassung aufgenommen haben. 0,8 geht an solche, die auf diese Weise eine öffentliche Anerkennung ermöglichen, 1 an solche, die eine öffentlich-rechtliche Anerkennung durch Beschluss vorsehen. Damit führten über die Hälfte der untersuchten Parlamentsprozesse zu liberalen Anerkennungsregeln, und fünf zu eher restriktiven. Tabelle 7.3: Untersuchte Fälle und Fuzzy-Set-Daten, sortiert nach Anerkennungsindex38 Kanton

Jahr

Totalrevision SVP

DDDebatte IslamDebatte

Anerkennungsindex

ZH SG

2005 2001

1 1

1 0.8

1 0.2

1 0.2

0 0

SZ

1992

0

0.7

0.2

0.2

0

BL

1989

0

0.3

1

1

0.2

BE

1990

0

1

0.2

1

0.4

GR

2003

1

0.8

0

0

0.6

BS

2005

1

0.3

0.2

1

0.8

VD

2002

1

0.3

0

1

0.8

FR

1982

0

0.2

0.2

0

0.8

GL

1988

1

1

0

0

1

AG

1980

1

0.4

0.2

0.2

1

SH

2004

1

1

0

0.2

1

LU

2007

1

0.7

0.2

1

1

38 Quellenangaben und Kodierungsschlüssel befinden sich im Anhang (S. 142 f.).

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Die Untersuchung erfolgt in zwei Schritten: Zunächst werden die Daten auf notwendige Bedingungen überprüft, anschliessend erfolgt die Analyse der hinreichenden Bedingungen. Beide Schritte werden sowohl für einen liberalen Anerkennungsindex als auch für einen restriktiven Index durchgeführt.39 Als Lesehilfe für die folgenden Darstellungen der Ergebnisse ist noch zu erwähnen, dass die Unterscheidung zwischen den durchgängig gross geschriebenen vorhandenen Faktoren und den durchgängig klein geschriebenen abwesenden Faktoren entscheidend ist. Dies wird sich aber auch aus der Interpretation der Ergebnisse erschliessen. Die Analyse der notwendigen Bedingungen (Tab. 7.4) zeigt auf, dass liberale Anerkennungsregeln nur dann entstehen, wenn keine Debatte über eine mögliche Ablehnung in einem Referendum geführt wird (dddebatte = 0,92) und eine Regelung in einer Totalrevision eingebettet war (TOTALREVISION = 0,82). Letzter Wert ist allerdings zu gering, um eine Totalrevision tatsächlich als notwendig für liberale Anerkennungsregeln zu bezeichnen (Schneider/ Wagemann 2007: 234). Für restriktive Anerkennungsregeln erhält die Bedingung einer starken SVP mit 0,81 den höchsten Konsistenzwert. Offenbar war die SVP oft stark im Parlament vertreten, wenn es zu restriktiven Regelungen kam, allerdings nicht notwendigerweise. Tabelle 7.4: Notwendige Bedingungen Liberale Anerkennungsregeln Konsistenz Abdeckung

Restriktive Anerkennungsregeln Konsistenz Abdeckung

TOTALREVISION DDDEBATTE SVP ISLAMDEBATTE

0.82 0.34 0.67 0.47

0.69 0.47 0.60 0.53

0.52 0.69 0.81 0.59

0.31 0.67 0.52 0.47

totalrevision dddebatte svp islamdebatte

0.18 0.92 0.46 0.53

0.35 0.73 0.78 0.65

0.48 0.59 0.37 0.41

0.65 0.33 0.44 0.35

39 Bei einer QCA handelt es sich dabei keinesfalls um tautologisches Vorgehen, sondern um einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Als Assoziationsmass zwischen Bedingung und Outcome wird in der QCA eben keine einfach umkehrbare Korrelation betrachtet, sondern Mengenbeziehungen. Diese sind keinesfalls immer symmetrisch, womit auch respektiert wird, dass Prozesse in der sozialen Welt ohnehin nicht immer umkehrbar sind (Schneider/Wagemann 2007: 123).

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Der nächste Schritt besteht in der Analyse der hinreichenden Bedingungen40 für liberale Anerkennungsregeln, deren Ergebnis in Tabelle 7.5 dargestellt ist. Tabelle 7.5: Ergebnis der Analyse der hinreichenden Bedingungen für liberale Anerkennungsregeln41 Rohabdeckung

Alleinige Abdeckung

Konsistenz

TOTALREVISION*svp*dddebatte+ TOTALREVISION*dddebatte*ISLDEBATTE

0.33 0.37

0.08 0.12

0.92 0.87

Gesamtabdeckung: Gesamtkonsistenz:

Vereinfacht: TOT*ddd (svp + ISL) → INDEX

0.45 0.89

Der vereinfachte Pfad lässt sich wie folgt interpretieren: Liberale Anerkennungsregeln kamen in parlamentarischen Prozessen zustande, wenn die Änderung innerhalb einer Totalrevision stattfand und nicht ausführlich über die Gefahr der Ablehnung durch das Volk diskutiert wurde sowie entweder die SVP schwach im Parlament vertreten war oder eine Debatte über die Anerkennung des Islams geführt wurde. Letzteres ist erstaunlich, da wir erwartet hätten, dass der Islam eher zur Ablehnung liberaler Anerkennungsregeln führt. Zu restriktiven Anerkennungsregelungen kam es hingegen, wenn über die Gefahr der Ablehnung durch das Volk und den Islam debattiert wurde (Tab. 7.6). In diesem Fall spielt es offenbar keine Rolle, ob es sich um eine Totalrevision handelt oder wie stark die SVP im Parlament vertreten ist (Zeilen zwei und drei des Outputs). Zum Zweiten kam es zu restriktiven Anerkennungsregeln, wenn es sich um keine Totalrevision handelte, die SVP stark im Parlament vertreten war und eine mögliche Ablehnung durch das Volk keine Rolle gespielt hat. Mit 0,86 weist die Lösung wiederum eine vertretbare Konsistenz auf und deckt mit 0,67 mehr Fälle ab als die hinreichenden Bedingungen für liberale Anerkennungsregeln.

40 Die Wahrheitstafeln, die dieser Analyse vorausgehen, sind im Anhang (Tab. 7.9 und 7.10) dargestellt. 41 Das Ergebnis einer Analyse hinreichender Bedingungen stellt sich in Kombination der betrachteten Faktoren dar, die zu dem gewählten Ereignis, also hier den liberalen Anerkennungsregeln, geführt haben. Die ausschliesslich gross geschriebenen Bedingungen waren vorhanden, die klein geschriebenen abwesend.

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Tabelle 7.6: Ergebnis der Analyse der hinreichenden Bedingungen für restriktive Anerkennungsregeln Rohabdeckung

Alleinige Konsistenz Abdeckung

totalrevision*SVP*dddebatte+ totalrevision*svp*DDDEBATTE*ISLDEBATTE+ TOTALREVISION*SVP*DDDEBATTE*ISLDEBATTE

0.28 0.17 0.26

0.24 0.13 0.26

Gesamtabdeckung: Gesamtkonsistenz:

Vereinfacht: DDD*ISL + tot*SVP*ddd → index

0.67 0.86

0.88 1.00 0.78

Durch die Analyse der hinreichenden Bedingungen konnten Pfade, also die Kombinationen von verschiedenen Faktoren, aufgezeigt werden, bei denen es zu der einen oder andern Ausgestaltung dieser Regeln kam. Insbesondere die Tatsache, dass die Gefahr eines Referendums in Kombination mit einer Debatte über den Islam zu restriktiven Anerkennungsregeln führt, entspricht dem Präferenzmodell aus Abschnitt 7.3 und bestätigt Hypothesen 1 und 2. Weiterhin ist die Totalrevision eine gute Ausgangslage für die Einführung liberaler Regeln, wenn nicht über die Gefahr der Ablehnung der Vorlage durch das Volk diskutiert wird. Hypothese 3 hat sich damit ebenfalls bestätigt. Totalrevisionen bieten offenbar entweder den nötigen Anlass, solche Regelungen einzuführen, wenn der Handlungsbedarf für eine separate Regelung nicht gross genug war. Zum andern ist die Ausgangslage für die Annahme einer liberalen Regelung durch das Stimmvolk innerhalb der Verfassung besser als bei einer eigenen Regelung, in der sich die öffentliche Debatte leicht auf Details einer solchen Anerkennungsregel konzentrieren kann. In Zürich wurde 2005 dennoch auf eine Lockerung der Regeln innerhalb der Totalrevision verzichtet, da aufgrund einer zweimaligen Ablehnung durch das Volk die Ausgangslage für eine Annahme im Volksentscheid schlecht war, was auch ausführlich in der entsprechenden Parlamentsdebatte thematisiert wurde. In St. Gallen wurde 2001 ebenfalls keine Möglichkeit der Anerkennung für weitere Religionsgemeinschaften in die neue Kantonsverfassung aufgenommen. Leider können die Gründe hier nicht mit Sicherheit ermittelt werden, da der parlamentarische Prozess aufgrund mangelnder Protokolle nur schwer nachvollzogen werden kann. Ersichtlich ist jedoch, dass es offenbar die Regierung war, die letztlich gegen eine liberale Regelung entschieden hat. Die vorberatenden Kommissionen sprachen sich noch für eine Öffnung aus. In einem Schlussbericht der vorbereitenden Arbeitsgruppen findet sich jedoch der Hinweis, dass «mit Rücksicht auf die Volksmeinung» ein «behutsames Vorgehen» im Bereich der Anerkennungsregeln empfohlen werde (Bericht Totalrevision St. Gallen 1989: 9). Die Furcht vor der Ablehnung durch das Volk scheint also durchaus eine Rolle gespielt zu haben.

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Zusätzlich zur Totalrevision war die SVP im Parlament nur schwach vertreten oder es hat eine Debatte über den Islam stattgefunden. Während der erste Befund die Hypothese 4 bestätigt, dass rechtspopulistische Parteien eine Öffnung gegenüber nicht christlichen Religionsgemeinschaften bremsen, scheint das Vorhandensein einer Islamdebatte gerade bei der Einführung liberaler Regelungen der Hypothese 2 zu widersprechen. Auf den zweiten Blick zeigt es jedoch den Unterschied zwischen repräsentativer und direktdemokratischer Arena auf, der ebenfalls im Präferenzmodell in Abschnitt 7.3 angesprochen wurde. Besteht keine Sorge, dass das Volk eine Vorlage ablehnen könnte, führt eine Islamdebatte im Parlament nicht automatisch zu restriktiven Regeln. Hier wird offenbar bewusst eine Öffnung gegenüber dieser in der Schweiz neuen Religionsgemeinschaft durchgeführt. Auch für Bern 1990 gilt diese Tatsache insofern, als im Parlament der Islam ein beherrschendes Thema war, aber eine Vorlage mit einer Öffnung für weitere Religionsgemeinschaften beschlossen wurde, wenn auch relativ restriktiv. Die in Bern wählerstarke SVP politisierte jedoch in der folgenden Abstimmungsdebatte gegen den Islam und erreichte so eine Ablehnung durch das Stimmvolk. Hier zeigt sich, dass der Islam im Parlament nicht zu restriktiven Regelungen geführt hat, in der Volksabstimmung hingegen schon. Es ist zu vermuten, dass Politiker sich zudem gerade auf solche Beispiele beziehen, wenn sie bereits im Voraus der Abstimmung auf eine Liberalisierung verzichten. Innerhalb einer Totalrevision führt die Thematisierung von Muslimen offenbar nicht automatisch zu restriktiven Regelungen. Wenn die Befürchtung eines drohenden negativen Volksentscheids jedoch trotz Totalrevision besteht, wie es in Zürich und vermutlich in St. Gallen der Fall war, entschied sich die Legislative dennoch für restriktive Regeln. Dies wird auch in der Betrachtung der hinreichenden Bedingungen für restriktive Anerkennungsregeln deutlich. In diesem Fall führen die Kombination einer Islamdebatte und einer Debatte über eine mögliche Ablehnung zum Verzicht auf eine Öffnung. Zudem kommt es zu restriktiven Regeln, wenn sie nicht im Schutz einer Totalrevision eingeführt werden und es eine starke SVP im Parlament gibt. In diesen Fällen wurde nicht explizit über die mögliche Ablehnung durch das Volk debattiert. Der einzige Kanton, der ausserhalb einer Totalrevision mit einem Wert von 0,8 relativ liberale Anerkennungsregeln umsetzen konnte, war Freiburg. Dies war jedoch im Jahr 1982, als es noch keinen Islamfokus gab und die Bevölkerung für dieses Thema noch nicht sensibilisiert war. Offen bleibt, inwieweit die Bedenken der Parlamentarier vor einer Ablehnung durch das Volk auch eine Rolle gespielt haben, wenn sie nicht explizit in einer der Debatten geäussert wurden. Nicht in allen Fällen gibt es zugängliche Protokolle aller vorbereitenden Kommissionen, sodass es durchaus möglich

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ist, dass die Furcht vor einem negativen Volksentscheid in mehr Fällen von Bedeutung war, als erfasst werden konnte. In manchen Fällen werden solche Bedenken womöglich auch nicht ausdrücklich erwähnt. 7.5 Schlussfolgerungen Die oft postulierte indirekte Wirkung der Volksrechte auf den parlamentarischen Prozess kann durch die vorliegende Analyse gestützt werden. Ausserhalb von Totalrevisionen wurden kaum liberale Anerkennungsregeln umgesetzt, die Gefahr der Ablehnung durch das Volk schien zu gross. Mehrfach wurde eine Debatte über das mögliche Scheitern der Vorlage im Plenum geführt und bewirkte restriktive Regelungen. Der Einfluss der Debatte um die Muslime zeigt, dass es nicht der Islam an sich ist, der die Parlamente zu restriktiven Anerkennungsregelungen bewegt, sondern Bedenken, dass das Volk bei einer solchen Liberalisierung nicht mitziehen würde. Der erwartete Unterschied zwischen einer Liberalisierung für integrierte und weniger integrierte Religionsgemeinschaften hat sich bestätigt. Die Analyse stützt damit die These, dass nicht von einer allgemeinen Wirkung direkter Demokratie auf Minderheiten in die eine oder andere Richtung gesprochen werden kann, sondern es entscheidend ist, um welche Minderheit es sich handelt. In der Literatur des Religionsrechts wurde eine für religiöse Minderheiten eher negative Wirkung der direkten Demokratie schon länger vermutet, und es finden sich einige Appelle, die die Situation für die Religionsgemeinschaften verbessern sollen. Hafner und Gremmelspacher (2005: 80) fordern etwa eine rechtliche Überprüfbarkeit: «Aus der im Zusammenhang mit der Einbürgerungspraxis der Kantone eingeleiteten bundesgerichtlichen Rechtsprechung dürfte sich ergeben, dass Entscheide, mit denen öffentlich-rechtliche Anerkennungen verweigert werden – analog zu den Einbürgerungsentscheiden –, der rechtlichen Überprüfung im Hinblick auf die Beachtung des Diskriminierungsverbots zugänglich sein sollten.» Eine Regelung wie in Basel-Landschaft, die die Anerkennung nur für christliche und jüdische Glaubensbekenntnisse vorsieht, würde einer solchen Überprüfung kaum standhalten. Insgesamt haben Volksabstimmungen im 20. Jahrhundert also vor allem einen Ausbau der Rechte für muslimische Religionsgemeinschaften verhindert – und zwar sowohl auf direkte (siehe Kap. 5) als auch auf indirekte Weise, wie dieses Kapitel zeigen konnte. Dieser Trend scheint sich im 21. Jahrhundert noch zu verschärfen – mit der Minarettverbots-Initiative wurde zum ersten Mal nicht nur eine Erweiterung von Rechten verhindert, sondern eine Einschränkung der Rechte muslimischer Minderheiten beschlossen. Die nächsten drei Kapitel in diesem Band zeigen auf, dass der Islam im 21. Jahrhundert noch stärker ins Zentrum der öffentlichen Debatte rückt und dass die direkte Demokratie eine restriktive Wirkung auf die Rechte muslimischer Religionsgemein-

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schaften behält. Auch indirekte Wirkungen der Annahme der MinarettverbotsInitiative sind bereits auszumachen. So stehen die jüngsten Debatten über islamische Grabfelder in Schweizer Kantonen und Gemeinden auch unter dem Zeichen der hohen Zustimmung zum Minarettverbot. Gemeindepräsidenten fürchten, mit der Erlaubnis eigener Grabfelder für Muslime den Stimmbürger zu verprellen, und legen bereits angeschobene Projekte auf Eis (KiPa 10.6.2010). Anhang Tabelle 7.7: Kodierung SVP Kanton

SVP Parteistärke in %42

Fuzzy-Wert43

ZH SG

33.9 22.6

1 0.8

SZ

20.9

0.7

BL

10.8

0.3

BE

32.3

1

GR

24

0.8

BS

11.5

0.3

VD

11.9

0.3

FR

6.5

0.2

GL

27.1

1

AG

14.5

0.4

SH

37.5

1

LU

19.2

0.7

Tabelle 7.8: Kodierung Debatten und Anerkennungsindex DD + Islam Debatte44

Anerkennungsindex

Fuzzy-Wert

Keine Wortmeldung Eine Wortmeldung

Keine Regelung Einschränkung auf christliche und jüdische Glaubensgemeinschaften Zweistufiges Verfahren: Regierungsentscheid und Gesetz für weitere Anerkennung notwendig Gesetz für weitere Anerkennung notwendig Nur öffentliche Anerkennung möglich, diese aber per Beschluss Öffentlich-rechtliche Anerkennung per Beschluss möglich

0 0.2

Zwei Wortmeldungen Drei Wortmeldungen Vier Wortmeldungen Mehr als vier Wortmeldungen

0.4 0.6 0.8 1

42 Quelle: Ladner (2003) bzw. jeweilige Internetseiten der Kantone. 43 Fuzzy-Werte wurden in Schritten von 3 Prozentpunkten vergeben, also 0–3 % = 0 und über 27 % = 1. 44 Quellen: Parlamentsprotokolle der jeweiligen kantonalen Entscheide.

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Tabelle 7.9: Wahrheitstafel für liberale Anerkennungsregeln totalrevision

svp

dddebatte

isldebatte

number

index

consist

1 1

0 1

0 0

1 1

2 1

1 1

0.90 0.89

1

0

0

0

1

1

0.80

1

1

0

0

4

0

0.74

0

0

0

0

1

0

0.73

0

1

0

1

1

0

0.40

1

1

1

1

1

0

0.33

0 0

1 0

0 1

0 1

1 1

0 0

0.22 0.22

Ab einem Konsistenzwert von 0.80 wird eine 1 für das Outcome «index» vergeben, da sich anschliessend eine grössere Lücke zum Wert 0.74 auftut. Zudem gilt als Konvention, dass eine solche Grenze möglichst über 0.85, aber nicht unter 0.75 liegen sollte (Kent 2008: 4). Tabelle 7.10: Wahrheitstafel für restriktive Anerkennungsregeln totalrevision

svp

dddebatte

Isldebatte

number

~index

consist

0 0

1 0

0 1

0 1

1 1

1 1

1.00 1.00

0

1

0

1

1

1

0.80

1

1

1

1

1

1

0.78

0

0

0

0

1

0

0.45

1

0

0

0

1

0

0.40

1

1

0

0

4

0

0.32

1

1

0

1

1

0

0.32

1

0

0

1

2

0

0.29

Anmerkung: Cut-off-Punkt ist wieder der erste Wert über 0.75, in diesem Fall 0.78.

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis Herausgeber und Autor Adrian Vatter, Prof. Dr., geboren 1965, Matura in Zürich, Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Bern. Politikwissenschaftliche Promotion (1994) und Habilitation (2001) an der Universität Bern. Post Doc an der University of California at Los Angeles. Gründung eines privaten Büros für Politikforschung & -beratung in Bern (Büro Vatter AG). Von 2004 bis 2007 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz und von 2008 bis 2009 Professor für Schweizer Politik an der Universität Zürich. Seit 2009 Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Ordinarius für Schweizer Politik. Zu seinen Schwerpunkten zählen die schweizerische Politik, Föderalismus, direkte Demokratie, Konkordanz sowie vergleichende Demokratieforschung. Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9; vatter@ipw.unibe.ch Weitere Autoren Christian Bolliger, Dr. rer. soc., geboren 1969, Matura in Liestal (BL), Grundkurs Journalismus am Medienausbildungszentrum (MAZ) in Luzern, Studium der Politikwissenschaft und des Staatsrechts an den Universitäten Bern und Genf. Von 2002 bis 2009 Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Mitarbeit an verschiedenen Nationalfondsprojekten. 2006 Promotion an der Universität Bern über Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz. Seit 2006 Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Büro Vatter AG, Politikforschung & -beratung, Bern. Büro Vatter AG, Politikforschung & -beratung, Gerberngasse 27, CH-3011 Bern; bolliger@buerovatter.ch Anna Christmann, M. A., geboren 1983, Abitur in Ilsede (D), Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Mathematik in Heidelberg und Zürich. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Schweizer Nationalfondsprojekt «Direkte Demokratie und religiöse Minderheiten» (NFP58), zunächst am Institut für Politikwissenschaft an der Universität

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Zürich, anschliessend an der Universität Bern. Ihre Dissertation untersucht die rechtlichen Grenzen direkter Demokratie in der Schweiz und Kalifornien. Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Unitobler, Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9; anna.christmann@ipw.unibe.ch Deniz Danaci, lic. phil., geboren 1977, Matura in Einsiedeln, Studium der Politikwissenschaft in Zürich. Seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand, zunächst am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, danach an der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die Einstellungen und das politische Verhalten gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten sowie die Effekte der direkten Demokratie auf besagte Gruppen. Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Unitobler, Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9; deniz.danaci@ipw.unibe.ch Hans Hirter, Dr. rer. pol., geboren 1948, Matura in Bern, Studium der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie und des Staatsrechts in Bern. Von 1976 bis 1983 Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Promotion zum Thema Arbeitskämpfe in der Schweiz. Seit 1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, Leiter des Jahrbuchs «Schweizerische Politik» und Verfasser der VOX-Abstimmungsanalysen. Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Unitobler, Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9; hirter@ipw.unibe.ch Oliver Krömler, lic. phil., geboren 1974, Matura in Zürich, Studium der Politikwissenschaft, Sozialpädagogik und Sozialgeschichte in Zürich. Seit 2008 Assistent am Lehrstuhl für Schweizer Politik in Zürich, danach am Institut für Politikwissenschaft in Bern. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Wahl- und Abstimmungsverhalten in der Schweiz. Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Unitobler, Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9; oliver.kroemler@ipw.unibe.ch Thomas Milic, Dr. phil., geboren 1971, Matura in Zürich, Studium der Politikwissenschaft, Allgemeinen Geschichte und Publizistik in Zürich. Seit 2001 Assistent und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und seit 2009 Oberassistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Er hat seine Dissertation zum Thema Abstimmungsverhalten in der Schweiz verfasst und war für zahlreiche VOX-Abstimmungsanalysen in unterschiedlichen Funktionen, zuletzt als Projektleiter, tätig. Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft, Unitobler, Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9; milic@ipw.unibe.ch

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Grundschrift: Schrift 10/12p; Auszeichnungsschriften: Schrift; Anzahl Zeichen/Seite: 0000


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