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Jahre bei der SBB

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Einleitung

Einleitung

Stationslehrling

Aus dem von der SBB zusätzlich angeforderten Gesundheitsattest ist zu entnehmen, dass Alfred Waldis in seiner Kindheit zweimal eine Lungenentzündung hatte, jeweils rund drei Wochen krank, ansonsten jedoch kräftig, gut proportioniert und gesund war.

In einer Voranzeige vom 22. März 1937 schrieb der Betriebschef der Betriebsabteilung Kreisdirektion II an Alfred Waldis, der noch immer an der Bleicherstrasse 6 in Luzern wohnte: «Wir bringen Ihnen zur Kenntnis, dass Ihre pädagogische und psychotechnische Prüfung wie auch die bahnärztliche Untersuchung ein für die Anstellung als Stationslehrling der SBB günstiges Resultat ergeben hat. Ihre Diensteinstellung bei den SBB ist auf den 1. Mai 1937 in Aussicht genommen.»

Und im Schreiben vom 1. April 1937 ist zu lesen: «Wir beehren uns, Ihnen mitzuteilen, dass wir Sie mit Wirkung ab 1. Mai 1937 als Stationslehrling angestellt und dass wir Ihr Taggeld für die ersten 6 Monate auf 2 Franken und 50 Rappen festgesetzt haben. Als Dienstort haben wir Ihnen Ebikon angewiesen. Für Ihr Dienstverhältnis ist im Übrigen das beiliegende Reglement No. 102 massgebend. Die Aspiranten Zeit ist von 12 auf 20 Monate ausgedehnt worden. Allfällige weitere Änderungen ihres Dienstverhältnisses bleiben vorbehalten. Den Empfang dieses Schreibens sowie der Beilagen wollen Sie uns schriftlich bestätigen; desgleichen ersuchen wir Sie, die beiliegende Verpflichtung unterzeichnet an uns zurückzusenden.»

An jenem bedeutenden Morgen, am 1. Mai 1937, der Alfred Waldis definitiv ins Berufsleben beförderte, erwartete ihn der Stationsvorstand Emil Hauri, ein kurliger Mann, der aber stets bestrebt war, seinen Lehrlingen das Beste zu geben. «Nach seiner Auffassung war Ebikon die wichtigste Station weit und breit. Wir hatten drei Barrieren von Hand zu bedienen. Im Büro gab es noch ein Stehpult. Ich hatte alles zu

erledigen; angefangen vom Abwägen und Verladen der Kälber bis zur Billet-Abgabe und später zur Zugsabfertigung, die einem das Hochgefühl von Macht und Wichtigkeit gab», ist in Waldis’ Notizen zu lesen. «Gleich zu Beginn der Lehre kaufte ich eine Schreibmaschine, die Patria. Sie kostete 150 Franken. Tante Nina lieh mir das Geld und ich musste ihr jeden Monat fünf Franken ab«Ich hatte alles zu erledigen; zahlen. Ich schrieb immer alles auf, soangefangen vom Abwägen dass ich zuletzt hunderte von Seiten hatund Verladen der Kälber bis te. Im Winter 1937–1938 war ich für einige zur Billet-Abgabe und Wochen in Luzern, denn zur Lehre gespäter zur Zugsabfertigung.» hörte auch die Ausbildung im Telegrafenbüro. Kamen zum Beispiel Extrazüge zum Einsatz, mussten diese per Telegraf den betroffenen Stationen – inklusive Zeitangabe und späterer Bestätigung – mitgeteilt werden. Gegen Jahresende arbeitete ich einige Zeit aushilfsweise in der

Verwaltung in Luzern (Zugskontrolle), danach wieder in Ebikon. Im Frühling 1939 nahm ich am Schlusskurs teil, der ausnahmsweise in Zürich stattfand. Es beteiligten sich sämtliche Lehrlinge der drei Kreise (Luzern, Zürich und Lausanne), denn es wurden damals lediglich 15 aus der Deutschschweiz ausgebildet, so klein war der Bedarf während der Krisenjahre. Ich schloss angeblich mit der besten Prüfung ab und kam folgend als Aspirant nach Rotkreuz, einer vielseitigen Station, trafen doch dort vier Einspur-Strecken zusammen. 1938 belebte ein reger Güterzugverkehr nach Süden die Route, denn die Achse Berlin–Rom wurde voll ausgenützt. Das Mittagessen nahm ich jeweils im Restaurant Bauernhof in Rotkreuz ein und bezahlte dafür einen Franken und 50 Rappen. Jeden Abend kehrte ich – wie schon während der Lehre – nach Luzern zurück.» Da er die Abschlussprüfung bereits hinter sich hatte, wurde ihm die Zeit in Rotkreuz als Weiterbildung angerechnet. Im Befähigungszeugnis ist zu lesen: «Der Aspirant Waldis Alfred in Rotkreuz, hat am 8. Mai 1939 über die Bedienung der Sicherungs-Apparate (Freigabewerk und Wärterstellwerk, Streckenblockwerke), der dortigen Stationsposten und über das Verhalten in Störungsfällen die Prüfung bestanden und ist zur

Bedienung dieser Apparate als befähigt befunden worden.»

Alles bestanden. Gut bestanden! Und ab sofort verdiente Alfred Waldis 200 Franken pro Monat, fast so viel wie sein Vater als Steuermann auf dem Dampfschiff.

Nun blühte er auf. Im Sommer 1939 bezog er Ferien und reiste erstmals mit einer Freikarte der SBB ins Ausland. Sein Ziel: Frankreich. Begeistert von Paris und noch viel mehr von Le Havre schrieb er: «Dieser grosse Hafen beeindruckte mich sehr. So lag im Hafenbecken das verbrannte Passagierschiff Paris, ein bekannter Dampfer. Zudem konnte ich der Ausfahrt der ‹Normandie› beiwohnen, das damals grösste Passagierschiff der Welt. Es war eine der letzten Transatlantikfahrten dieses luxuriösesten aller Schiffe, denn einige Wochen später brach der Zweite Weltkrieg aus, und die ‹Normandie› fiel im Hafen von New York – während des Umbaus zu einem Lazarettschiff – einem Brand zum Opfer.

Einen weiteren Ausflug ins Ausland unternahm ich ins Elsass, wo ich in Mulhouse eine Kleidung kaufte, die ich dann aber verzollen musste, was mich noch lange ärgerte (…)»

Rekrutenschule

Das Aufgebot zum Militärdienst erhielt Alfred Waldis per Post. Im Dienstbefehl ist zu lesen, dass sich der noch nicht 20-Jährige am 30. Mai 1938, um 7.45 Uhr in Luzern, Kaserne Allmend, «zum Zwecke der Bestehung der Rekrutierung» in Zivilkleidung zu stellen habe.

Am 17. Juli 1939 musste Alfred Waldis in Luzern einrücken. Er wurde der Infanterie zugeteilt und gehörte den Leich te-Maschinen-Gewehr-Schützen (LMG) an. Zum ersten Mal dauerte die Rekru tenschule vier Monate, ein Beschluss, der schon vor Jahren gefällt worden war.

Alfred Waldis als Rekrut

Waldis war nicht begeistert, klagte über Mühe beim Springen, weil er über 80 Kilos wog. Gusti Zehnder, ein ehemaliger Schulkamerad, sowie Otti Wagner aus Stans halfen mehrmals, indem sie Waldis beim Springen das Gewehr abnahmen und auch anderweitig behilflich waren.

Mit der Zeit diente Waldis vermehrt im Schulbüro. Der Schulkommandant, Oberst Willimann, war der Vater eines ehemaligen Schulkollegen. Anfang September wurde das Ausbildungsprogramm wegen der inzwischen erfolgten Mobilmachung geändert und die Rekruten wurden ins Eigenthal versetzt, wo sie den Taktschritt übten. Für Waldis war «diese Angelegenheit furchtbar» und er war für die Verlegung nach Rickenbach und Beromünster dankbar.

Er schreibt später: «Ich war ein miserabler Schütze, so ziemlich der schlechteste, wobei ich bei den Übungen so wenig als möglich schoss, um den Gewehrlauf nicht zu stark zu verschmutzen, um ihn so weniger reinigen zu müssen. Am 9. November wurden wir entlassen und da ich beim Betriebsdienst der SBB tätig war, konnte ich – nach Artikel 13 der Militärorganisation – bereits am 11. November 1939 meine Militärausrüstung im Zeughaus zurückgeben und wurde dienstfrei.»

Stationsbeamter bei der SBB

Wieder im Arbeitsleben angekommen, folgten Einsätze an verschiedensten Orten; manchmal für wenige Tage oder Wochen. Ab November 1939 arbeitete Alfred Waldis für kurze Zeit in Malters, später versetzte man ihn nach Beromünster, Baar und Zug. Abends reiste er zurück nach Luzern, wo er nach wie vor an der «Damals, bei der SBB, da war Bleicherstrasse wohnte. Von Baar aus man noch ‹der King mit der zeichnete er auch für die Ablösungen roten Kelle› und konnte selber in Horgen Oberdorf und in Oberrieeingreifen, wenn ein Zug den Dorf verantwortlich. umgeleitet werden musste.» Während dieser Einsätze genoss er es – abgesehen von Zugsabfertigungen im Sonntagsdienst –, dass er nicht mit allzu viel Arbeit ausgefüllt war. Er überbrückte die Lücken mit Lesen und verschlang Bücher über

Astronomie und die Fliegerei.

Alfred Waldis als Stationsbeamter in Brunnen

Im Februar 1940 wurde er als Stationsbeamter nach Brunnen versetzt. Dort wohnte Alfred Waldis bei Mathilde Schaller in Untermiete. Ihr 1938 verstorbener Mann war der frühere Bahnhofvorstand von Flüelen gewesen, ihr Sohn (1908–1985) der spätere Basler Nationalrat Dr. Alfred Schaller. 1940 begann die Invasion Hollands und Belgiens, was bedeutete, dass viele Nordländer nach Basel flüchteten. Freunde von Mathilde Schaller aus Basel wollten ihrerseits in die Innerschweiz und suchten eine sichere Unterkunft. So musste Alfred eine neue Bleibe suchen und fand diese gleich gegenüber dem Bahnhof bei Familie Burkhart.

«Der einzige Nachteil war, dass das Zimmer über dem Bierdepot der Brauerei lag, und dort begann man meistens morgens um 6 Uhr mit dem Verladen der Harassen, sodass ich, wenn ich nach 5 Uhr in der Frühe vom Nachtdienst nach Hause kam, überhaupt nicht schlafen konnte. Brunnen war eine interessante Station: auf der einen Seite Doppelspur, auf der anderen – nach Sisikon-Flüelen – hingegen einspuriger Verkehr. Zur selben Zeit begann man jedoch auch mit dem Bau der zweiten Spur. Ich hatte drei Dienstschichten zu leisten, einmal Früh- dann Mittel- oder wieder Nachtdienst, eine Tätigkeit, die mir zusagte», ist in

Waldis’ Aufzeichnungen zu lesen. In einem Interview mit der Neuen Luzerner Zeitung vom 17. März 2005 sagte er: «Damals, bei der SBB, da war man noch ‹der King mit der roten Kelle› und konnte selber eingreifen, wenn ein Zug umgeleitet werden musste. 1941 feierte die «Die Betrachtung des nächtli- Schweiz ‹650 Jahre Eidgenossenchen Sternenhimmels war und schaft›. Da gab es einen grossen Bebleibt für mich stets ein tiefes trieb, vor allem mit Schulkindern, Erlebnis und vermittelt mir Klassenausflügen und Gesellschafein Gefühl für Raum und Zeit.» ten, die auf das Rütli wollten. Aber während der Nachtdienste fand ich immer wieder Zeit für die Astronomie: die Betrachtung des nächtlichen Sternenhimmels war und bleibt für mich stets ein tiefes Erlebnis und vermittelt mir ein Gefühl für Raum und Zeit. Zudem spüre ich eine grosse Ruhe und Befriedigung.»

Der Zweite Weltkrieg

Am 1. September 1939 begann – mit dem Überfall auf Polen – der Zweite

Weltkrieg, der bis zum 8. Mai 1945 dauern sollte. Alfred Waldis war bei Kriegsausbruch knapp 20 Jahre alt. In einem späteren undatierten Interview, möglicherweise Ende der 1990er-Jahre, sagte er: «Man hat wenig gewusst und lediglich Nachrichten gehört, Zeitung gelesen und mit Kollegen gesprochen. Aber ich war viel zu jung, um mir eine eigene Meinung zu bilden. Ich glaube, wir Jungen haben damals – anfänglich auf jeden Fall – den Ernst der Lage nicht realisiert.» Erst viel später sei man informierter gewesen und habe – bruchstückhaft – auch mehr gewusst.

In dem Interview verwies er jedoch auf die Erschiessung der Landesverräter vom 11. November 1942 und berichtete: «In einem Waldstück am Fusse des Pilatus, nahe der Hergiswaldbrücke oberhalb Kriens, hat man Landesverräter erschossen. Das war in den lokalen Medien ein grosses Thema und die Tat ‹quasi vor der Haustür›.» Waldis ergänzte, dass er einen der Erschossenen gekannt und dass ihn diese Begebenheit damals stark belastet habe.

Als Bähnler war Waldis vor allem als Bahnhofvorstand in Brunnen mit dem Thema «Zweiter Weltkrieg» konfrontiert. In jener Zeit erlebte er auch den ersten Fliegeralarm. «Nach Mitternacht, genau um 1 Uhr, ertönte die Sirene. Der Gotthard-Schnellzug befand sich eben zwischen Goldau und Brunnen. Ich erhielt einen Anruf aus Goldau mit dem Auftrag, den Zug aufzuhalten, diesen in den nahe gelegenen Oelbergtunnel einfahren zu lassen und dann den Strom auszuschalten. Sobald der End-Alarm erfolgte, musste ich den Strom wieder einschalten, und der Zugführer erhielt den Auftrag, seine Fahrt fortzusetzen. Damals transportierten wir zwischen Deutschland und Italien und umgekehrt sehr viel Material im Güterverkehr.»

Der Transitverkehr durch die Schweiz gewann in jenen Jahren an Bedeutung. Für die SBB war der Güterverkehr eine wichtige Einnahmequelle. An einer Konferenz in München wurde im April 1941 vereinbart, dass täglich 27 Kohlezüge die Schweiz nach Italien und zurück durchqueren sollten. Das dadurch erzeugte «Wohlwollen» der Achsenmächte sah man 1943 mitunter als Grund, «dass unser Land bis heute noch nicht angegriffen wurde» und die Versorgung der Schweiz mit Rohstoffen gewährleistet blieb. 1944 geriet die Schweiz vonseiten der Alliierten jedoch unter Druck und die Kapazitäten mussten stark reduziert werden. Bei den Verhandlungen in London ging die schweizerische Delegation weitgehend auf die Vorschläge ein: «Wir werden uns immer an jede neue Situation anpassen», hat es geheissen.

Während der Freizeit leistete sich Waldis nun öfter Bahnfahrten, wie zum Beispiel nach Chiasso. Immer mit dabei: Bücher über Astronomie und Aviatik. «Die Zugfahrten wurden dadurch nie langweilig, aber es galt ja auch immer, die Landschaften zu geniessen.»

Über weitere Ausflüge ist in seinen Erinnerungen zu lesen: «Einmal fuhr ich mit der Bahn auf die Furka und nahm mein Velo mit.

Später konnte ich das ganze Reusstal hinunterradeln. Zu jener Zeit traf ich oft auch meinen Vater am Schifflandesteg von Brunnen, vor allem dann, wenn er den Spätkurs nach Flüelen steuerte. Mehrmals durfte ich mit ihm im Steuerhaus mitfahren. Zu den besonderen Ereignissen gehörten die Föhnstürme, die ich bei diesen Fahrten erlebte und die ich nie vergessen werde, spritzte die Gischt doch bis ins Steuerhaus hinauf. Etliche Male konnten wir deswegen in Bauen nicht anlegen.»

Obwohl ihm der Stationsdienst in Brunnen gefiel, wollte er wieder zurück nach Luzern. Tante Nina besorgte ihm an der Hirschmattstrasse 33 ein Zimmer. Da sie nur wenige Hausnummern entfernt wohnte, konnte Alfred am Abend bei ihr essen. Im Gegenzug erledigte er für ihr kleines Lebensmittelgeschäft die Buchhaltung und die Abrechnungen sowie die Zusammenstellung der Rationierungsmarken.

Kreisdirektion II in Luzern

Am 30. April 1942 bekam Alfred Waldis einen Brief von der SBB: «Wir teilen Ihnen mit, dass Sie mit Wirkung ab 1. Mai 1942 zum Verwaltungsgehilfen (20. Besoldungsklasse) ernannt worden sind, unter Erhöhung Ihrer Besoldung von 3580 auf 3860 Franken pro Jahr. Dienstort ist Luzern und zwar das Fahrplanbüro.»

Zuerst kam der junge SBB-Verwaltungsgehilfe ins Büro für den Jahresfahrplan. Später fragte man ihn an, ob er bereit wäre, ausserhalb der Arbeitszeit eine Studie über den Fahrplan zu schreiben, was er – trotz des vollen Pensums – gerne tat. Zusammen mit seinem Cousin, Josef Eigensatz, bewältigte er die Aufgabe. Die beiden lernten viel dabei und gewannen zudem das Vertrauen des Vorgesetzten, Emil Meister.

«Die Arbeit im Fahrplanbüro war anspruchsvoll, sowohl das Erstellen der Fahrpläne als auch das Zeichnen der grafischen Fahrpläne. 1943 wechselte ich ins Büro für Extrazüge und war dort für deren Fahrordnung – namentlich für die Militärtransporte – zuständig.»

In einem Interview erzählte er über diese Transporte und dass er Tabellen habe erstellen müssen, um allen Wünschen gerecht zu werden. «Bei Mobilmachungsübungen wurden – neben unglaublich vielem Material – Kompanien, Bataillone und Regimente (die Männer wohnten im Hotel National in Luzern) transportiert. Zur Sicherheit

brachte man damals nach der Lokomotive immer einen leeren Wagen, ein Gepäck- oder Postwagen an, um die Leute im ersten Personenwagen zu schützen.»

In einem anderen Interview berichtete er, dass es in diesem Zusammenhang einmal derart viel Arbeit gegeben habe, dass er – zusammen mit Arbeitskollegen – drei Tage und zwei Nächte habe durcharbeiten müssen. Immerhin: Für die Verpflegung sei das Hotel Rebstock zuständig gewesen. Und er erzählte die Geschichte vom Transport des Regimentes 37 von Innertkirchen nach Faido über den Brünig nach Luzern: «Das war eine Übung! Der Dampfbetrieb über den Brünig verlangte, dass auf der Passhöhe die Lokomotive gekehrt wurde. Später in Luzern musste alles Material von der Brünigbahn (Schmalspurbahn) auf die SBB (Normalspur) umgeladen werden. Aber das ganze Regiment – samt Material – traf pünktlich in Faido ein. Bei Teilmobilmachungsübungen wurden immer wieder neue Fahrpläne erstellt.»

Ehrgeizig, tüchtig und nicht zu bremsen

Waldis war im Element: ein Wissenshungriger! Ein an vielem Interessierter! Einige sagen, er sei ein Streber gewesen. Er nahm an Kursen, Vorträgen und Abendveranstaltungen teil, zum Beispiel über Elektrizität, Körper und Seele, alte und neue Kunst, belegte eine Einführung in das Obligationenrecht, Sachrecht und Betriebsbuchhaltung. Am Konservatorium lernte er «Die Kunst, Musik zu hören», er büffelte Englisch und Italienisch und informierte sich bei Professor Lorenz Fischer über «Licht-Welt in Strahlen».

Die Winterferien 1942/43 verbrachte er im Eisenbahnerheim von Brenscino und machte Bekanntschaft mit den zwei Bähnlern Ruedi Hänggi und Walter Hirt. Letzterer brachte ihm später das Skifahren bei. Mit ihm unternahm er über längere Zeit auch grössere Reisen. Immer aber ging es Waldis ums Lernen und Perfektionieren: Daher vertiefte er im Sommer 1943 an der Scuola Magistrale Cantonale in Locarno seine Italienischkenntnisse.

Schliesslich begann er auch mit journalistischen Arbeiten: Versammlungsberichte am Anfang, später – vorwiegend für die damaligen

Luzerner Neueste Nachrichten – Reportagen über die Eisenbahn, über Reisen in fremde Länder, denn – das schien bereits damals klar – das Unterwegssein, das Kennenlernen fremder Kulturen, würde für ihn immer ein Teil seines Lebens sein. Reisen setzte er jedoch immer mit Bildung und nicht mit Freizeitspass gleich. Er studierte jeweils Land und Leute, verbreitete seine Kenntnisse und Erfahrungen später schweizweit in ausgiebigen und allseits beliebten Vorträgen. Zu diesen gehören Themen wie «Griechenland», «Land der Mitternachtssonne», «Portugal», «Vom Nordkap zum Kap der Guten Hoffnung», «Von den Pyrenäen zu den Pyramiden», um nur einige zu nennen.

Beruflich verlief seine Laufbahn bei der SBB abwechslungsreich und stets einen weiteren Schritt nach oben. Waldis arbeitete bei der Zugskontrolle, beim Güterdienst, im Vertrags- und Rechnungsbüro. Immer wieder meldete er sich bei seinen Vorgesetzten, schrieb Bewerbungen um eine Beförderung und war dabei erfolgreich: Er wurde Verwaltungsbeamter in der SUVA-Abteilung der SBB, dann zum Sekretär und später zum Bürochef befördert und erhielt mehr Lohn. 1945 fing er die Ausbildung zum Schulreferenten an. Er, der an allem, was die Technik betraf, interessiert war und alles las, was es an Publikationen über die Eisenbahn und den Verkehr gab, war damit am richtigen Ort. Nach dem Abschluss begann er nebenberuflich das, was ihn ein Leben lang begleiten sollte und was mit seinen Reisereportagen und Vorträgen bereits seinen Anfang genommen hatte: «Ich gab Vorträge an Schulen über den Bahndienst und leitete fortan eisenbahntechnische Studienfahrten mit dem ‹Roten Pfeil› auf der Gotthardstrecke.» Als Schulreferent baute er den Schulreferentendienst der SBB auf. Einer, der bei solchen Studienfahrten im Führerstand dabei war, ist der heute 89-jährige Franz Peyer, jüngster Bruder von Lily Peyer, der künftigen Frau von Alfred Waldis. Der damals 13-jährige Junge erzählt im hohen Alter immer noch begeistert von diesen Reisen mit Alfred auf der Gotthardstrecke. «Er war unglaublich belesen, wusste Bescheid über die Entstehung der Transportwege von allen Anfängen an, kannte jede Brücke mit der dazugehörigen Geschichte, erzählte über die Meisterleistungen der Kehrtunnels und wie sie gebaut wurden, wusste aber auch haargenau Bescheid über die Steigungen von Erstfeld bis Göschenen.»

1947 wechselte Alfred Waldis zum Rechtsdienst der SBB im Gotthardgebäude. Dank seiner Interessen an allem, was er anpackte, wurde er zum Kanzleivorstand befördert. Seine Arbeit umfasste Haftpflichtfälle, Personen- und Transportschäden, Verstösse gegen die Bahnpolizei sowie Abklärungen für den Abteilungschef. Als NichtJurist konnte er diese Arbeit bis zur Prozessführung begleiten. Er sei ein Einzelgänger gewesen. Mit seinem Wissensdurst und dem steten Drang, mehr zu leisten als alle anderen, sei er bei Kollegen angeeckt, sagt einer, der namenlos bleiben will.

Heirat und Familiengründung

Tante Nina hatte in ihrem kleinen Lebensmittelgeschäft an der Hirschmattstrasse 41 soeben eine neue Mitarbeiterin eingestellt. Eine hübsche junge Frau, die 45 Jahre später – anlässlich des 70. Geburtstags von Alfred Waldis – geschrieben hat:

«Damals, am 16. August 1944, stand ich voll Erwartung, als ungelernte Ladentochter im kleinen Lebensmittelgeschäft deiner Tante Nina, an der Hirschmattstrasse. Am Ende dieses ersten Tages, kurz vor Feierabend, öffnete sich nochmals die Ladentür. Du kamst herein, schautest mich verwundert an und bliebst wie angewurzelt stehen. Ich sah in ein junges, freundliches Gesicht mit braunen Augen und vollem schwarzen Haar. Ich vermutete einen Italiener und fragte Dich nach Deinen Wünschen. Dann erfuhr ich, dass Du jeweils am Abend zu deiner Tante Nina zum Nachtessen kommst und ihr auch die Buchhaltung besorgst. Bald zeigte sich, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Mein Vorsatz, noch einige Jahre im Berufsleben tätig zu sein, fiel bald ins Wasser, denn nach anderthalb Jahren haben wir geheiratet.»

Auch Alfred Waldis machte zu diesem wichtigen Tag in seinem Leben einen Eintrag in sein Tagebuch:

«Mitte August lernte ich Lily kennen. Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung. Wie gewohnt ging ich bei Tante Nina ins Geschäft, erblickte hinter dem Ladentisch eine hübsche Tochter, und es war um mich geschehen. ‹Fräulein Peyer von der Villa Rosengut›, erklärte mir Tante Nina. Fortan trafen wir uns öfters und ich begleitete Lily ab und zu an den Grünring 4, wo sie bei ihrer Mutter wohnte. Am

19. November 1944 – es war Elisabethen-Tag – reisten wir mit den Ski erstmals zusammen auf die Rigi und befuhren die Kaltbadmatte. Im März 1945 sprach ich bei ihrer Mutter, Josy Peyer-Bühler, vor und bat ganz offiziell um die Hand von Lily. Am 9. September des gleichen Jahres verlobten wir uns, am 18. April 1946 fand die zivilrechtliche Trauung statt und am 23. April heirateten wir in der Pauluskirche in Luzern. Eine ansehnliche Gästeschar genoss anschliessend im Hotel St. Niklausen das Hochzeitsfest. Die Hochzeitsreise führte nach Zermatt. Mit dabei waren die Ski. Wir unternahmen täglich Aufstiege zum und Abfahrten vom Gornergrat. Zum Abschluss dieser Hochzeitsferien reisten wir über Genf wieder nach Luzern zurück.»

Es war Tante Nina, die Alfred Waldis im Herbst 1945 anregte, am Brambergrain 6 ein Dreifamilienhaus zu kaufen. «Das Haus kostete lediglich 78 000 Franken und verfügte neben den drei Vierzimmerwohnungen noch über zwei Mansarden. Wir bezogen das neue Heim nach unserer Hochzeit. Anfänglich wohnte Tante Nina bei uns in der Wohnung, und zwar im vorgesehenen Kinderzimmer, meine beiden Brüder Seppi (1911–1953) und Hans (1913–1977) bezogen die Mansardenzimmer. Die beiden anderen Wohnungen waren vermietet. Bis später Tante Nina und Bruder Seppi in die unterste Wohnung wechselten.

Freude bereitete uns der Garten. Dort gab es Kirschbäume, zusammen mit Spalier von Aprikosen-, Pfirsich-, Äpfel-, Birnen-, Zwetschgen- und Quitten-Bäumen. Wir genossen im Frühling jeweils die prächtige Blütenpracht und im Sommer und Herbst die erspriessliche, genüssliche Ernte.»

Im Bramberg – gegenüber der ausgedehnten Anlage der Stadtgärtnerei – war es damals sehr ruhig. «In kurzer Zeit erreichte man die Stadt und der Arbeitsweg ins Büro im Gotthardgebäude dauerte lediglich 10 Minuten.»

Alfred Waldis arbeitete nach wie vor im Rechtsdienst. Neben der Arbeit begann für ihn und seine Frau eine Zeit der Unbeschwertheit. Sie unternahmen ausgedehnte Wanderungen und ebenso anspruchsvolle Skitouren, manchmal über mehrere Tage. Auch das Stadtleben und das Kulturangebot von Luzern gehörte zu ihrem damaligen Leben: Sie pflegten Freundschaften, besuchten Konzerte und Ausstellungen und empfingen oft Besuch. In jener Zeit begegneten die beiden Xaver Feer,

23. April 1946: Alfred Waldis und Lily Waldis-Peyer an ihrem Hochzeitstag

Lily auf einer gemeinsam Skitour im Oberalpgebiet, fotografiert von Alfred Waldis

der Alfred Waldis animierte, dem kurz zuvor gegründeten Montana Club, der späteren Gesellschaft zur Waage, beizutreten, was er auch tat. Dieser Institution sollte er sein ganzes Leben lang treu bleiben.

Bald schon organisierte und begleitete Waldis nebenberuflich auch Alpenflüge nach Sion. «Anfänglich unterstützte mich, was die Organisation betraf, Walter Rüetschi von der Swissair, später realisierte ich diese und die Flugbegleitung im Alleingang. Die ersten Flüge wur-

den noch mit einer DC-2, später mit der DC-3 durchgeführt. Damit verhalf ich vielen Menschen zu herrlichen Alpenflügen und einer grossen Zahl von Teilnehmenden zur Lufttaufe, das heisst zum Erstflug.»

Als Sohn Rolf am 5. Juli 1949 auf die Welt kam, veränderte sich das Leben von Lily und Alfred: «Der Familienzuwachs brachte Umstellungen und für mich völlig neue Verhältnisse», ist in den Notizen von Waldis zu lesen.

Trotz der veränderten Umstände begleitete er immer öfter Studienfahrten mit dem «Roten Pfeil». Inzwischen besass er nicht nur ein grosses Wissen über bahntechnische Themen, sondern auch über das Streckennetz der SBB. Vermehrt schrieb er journalistische Beiträge, bearbeitete ein Reisehandbuch und leistete Mithilfe bei der Publikation Kleine Wirtschaftskunde. Wann immer es die Zeit erlaubte, brach er auf und ging auf Reisen, die er aus dem kleinen Entgelt von Reportagen und Vorträgen finanzierte. Er blieb in jeder Hinsicht ein begeisterter Bähnler, der sich absolut und nimmermüde mit der SBB identifizierte. Immer wieder betonte er, dass er stolz sei, für die SBB zu arbeiten: «Sie

Einer der ersten von Alfred Waldis organisierten Alpenrundflüge nach Sion

fordert Disziplin, Zuverlässigkeit und Genauigkeit.» Und: «Ich habe gelernt speditiv zu arbeiten, nicht danach zu fragen, wie lange eine Arbeit dauert. Und vor allem habe ich gelernt zu dienen, Erfordernisse, die mir im weiteren Leben sehr geholfen haben», erklärte er in einem späteren Interview und ergänzte: «Die Mitarbeitenden sagten ‹unsere SBB› und meinten das auch. Wir waren so etwas wie eine grosse Familie. Übrigens war das auch bei der Post und der Swissair so. Heute aber leben wir in einer ganz anderen Arbeitswelt.»

Immer wenn Alfred Waldis über die SBB erzählte, spürte man seine grosse Dankbarkeit für alles, was er lernen durfte. In diesem Zusammenhang war und blieb er auch den ehemaligen Vorgesetzten zutiefst verbunden. In seinen Notizen ist zu lesen: «Mitarbeit auf verschiedensten Gebieten und Tätigkeiten fügten sich zu einem Gesamtbild zusammen und trugen dazu bei, dass ich mich in zahlreichen Bereichen bewähren konnte.»

Trotzdem: Er, der sich immer als glücklichen SBB-Beamten bezeichnet hatte, bewarb sich am 5. Dezember 1951 beim Präsidenten des Verwaltungsrats der Vitznau-Rigi-Bahn, Hans Pfyffer von Altishofen (1866–1953), als Betriebsdirektor. In diesem Brief ist unter anderem zu lesen:

«In meiner 15-jährigen Praxis im Aussen- wie Verwaltungsdienst der SBB erhielt ich einen guten Einblick in das Verkehrswesen im Allgemeinen und den Eisenbahnbetrieb im Besonderen. Dieser wurde durch die Tätigkeit als Schulreferent und vor allem als Leiter der eisenbahntechnischen Studienfahrten noch vertieft. An diesen Besichtigungsfahrten, von denen ich über 100 durchführte und die jeweils mit technisch oder wirtschaftlich interessierten Gruppen von 70–100 Teilnehmenden durchgeführt wurden, galt es nicht nur Fachreferate vorzubereiten, sondern ich musste auch in der Lage sein, Auskunft über die verschiedensten Gebiete des Bahnwesens zu geben. Dadurch habe ich mir im Laufe der Jahre umfassende Kenntnisse in kommerzieller, technischer, wirtschaftlicher, touristischer und geschichtlicher Hinsicht angeeignet, die sich mit diesem Posten vorteilhaft auswerten liessen. Seit jeher habe ich mich neben technischen Themen besonders auch für den schweizerischen wie internationalen Tourismus interessiert. Meine vielen Reisen in ganz Europa gestatteten mir, den Kontakt mit ver-

schiedensten Reiseagenturen aufzunehmen und später meine Erfahrungen praktisch auszuwerten. Als weiterer Vorteil bei der touristischen Werbung kommt noch in Betracht, dass ich ohne weiteres in der Lage bin, in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache «Es war seit jeher mein Wunsch, Berichte zu verfassen und Voreinem Betrieb vorstehen zu träge zu halten. Zudem nehme können, und es wird auch hier ich sämtliche Fotografien (farbige mein Bestreben sein, das Beste Diapositive wie andere) selber zu leisten und dem Unternehauf, womit bei einer kombinier- men jederzeit uneingeschränkt ten Propaganda Wort und Bild zur Verfügung zu stehen.» aufeinander abgestimmt sind und dadurch der Erfolg erhöht wird. Ich bin mir bewusst, dass ich für einen solchen Posten dem Alter nach an der unteren Grenze sein werde. Dafür kann ich Ihnen versichern, mich mit umso grösserer Freude und Initiative für das Unternehmen einzusetzen. Es war seit jeher mein Wunsch, einem Betrieb vorstehen zu können, und es wird auch hier mein Bestreben sein, das Beste zu leisten und dem Unternehmen jederzeit uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen. Zudem wäre es für mich noch eine ganz besondere Genugtuung, in der Heimatgemeinde meines Vaters tätig sein zu dürfen.»

Besser als dieses Schreiben zeigt kein anderes Dokument, was Alfred Waldis mit 32 Jahren zu bieten hatte. Die ganze Palette seiner Kenntnisse und Erfahrungen brachte er hier zu Papier. Dies allerdings vermochte den Herrn Pfyffer von Altishofen nicht zu beeindrucken. Waldis bekam neun Monate später eine Absage.

Das Bewerbungsschreiben zeugt jedoch auch davon, dass Waldis durchaus gewillt war, die SBB zu verlassen, um nach Höherem zu streben. Es sollte noch eine Weile dauern.

Die Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu finden, zeigte sich bereits zu jener Zeit als eines von Waldis’ Lebensthemen. Nach der Geburt des zweiten Kinds, Silvia, am 22. November 1952, brachte eine Kinderpflegerin die nötige Unterstützung. Bei Lily meldeten sich im Zusammenhang mit Schlafproblemen gesundheitliche Störungen. Zur Erholung reiste sie nach Bad Wörishofen zur Kur. Dort kam sie – wie auch später mehrmals – wieder zu Kräften.

Familienferien in Lungern 1955

Als der Efficiency Club 1954 mit einer gecharterten DC-6 eine Reise in die USA organisierte, begleitete Waldis die Gruppe als Hilfsreiseleiter. Während die Leute in New York Ausflüge unternahmen, besuchte er Verwandte von Lilys Seite und aktivierte alte Beziehungen. «Ferien mit der Familie gehörten zum Schönsten, was ich in meinem Leben erlebte.» Für ihn war es die erste Reise in die Vereinigten Staaten, die auf dem Rückflug über Mexiko, Kuba, die Bermudas und die Azoren zurück in die Schweiz führte. Es war auch für Waldis die erste «richtig grosse Reise», wie er selber feststellte. In seinem langen Leben sollten noch viele weitere folgten: Doch davon wusste er damals noch nichts. Auch die junge Familie in Luzern verlangte nach Ferien, und so reiste man in die Berge, wo sich Eltern und Kinder jeweils wohlfühlten.

Alfred Waldis sagte in einem späteren Interview: «Ferien mit der Familie gehörten zum Schönsten, was ich in meinem Leben erlebte.»

Reise nach Bern verändert das Leben

Am 14. Dezember 1956 reiste Alfred Waldis für eine Gelbfieber-Impfung nach Zürich. Diese brauchte er für seine im Februar 1957 geplante Afrikareise zum Thema «Auf den Spuren von Walter Mittelholzer»,

dem Schweizer Flug- und Luftfahrtpionier. In Zürich begegnete er Hamlet Schiavini, einem Luzerner, der ihn zum Abendessen einladen wollte. Waldis lehnte mit der Begründung ab, dass er am folgenden Morgen mit dem Frühzug nach Bern reisen müsse und daher gerne zeitig zu Hause sei. Schiavini erklärte, dass er mit demselben Zug nach Bern fahre.

«Ich schlug ihm vor, sich im Erstklasswagen am Schluss des Zuges zu treffen, weil ich – aus meiner Erfahrung vom Rechtsdienst her – den hinteren Zugteil bevorzugte. Schiavini beharrte aber, im vordersten Erstklasswagen zu reisen, da er dies gewohnt sei. Ich erklärte mich einverstanden.»

Waldis war zu jener Zeit Sekretär des Oltener Verbands, einer beruflichen Organisation von SBB-Chefbeamten, und musste zu einer Vorstandssitzung nach Bern. Eigentlich hätte die Sitzung schon früher stattfinden sollen, wurde aber auf eben diesen 15. Dezember verschoben.

«Nun, am anderen Morgen verpasst Schiavini den Zug. Ich war im vordersten Erstklasswagen und traf dort Paul Kopp, meinen ehemaligen Lehrer und damaligen Stadtpräsidenten von Luzern. Dieser war allein und lud mich ein, neben ihn zu sitzen. Während der Fahrt kamen wir ins Gespräch. Er erkundigte sich nach meinem Grund der Reise. Kurz vor Bern sagte Paul Kopp, er müsse an einer Sitzung für das geplante Verkehrshaus teilnehmen, diese hätte bereits im November stattfinden sollen und sei nun auf den 15. Dezember verschoben worden. Man möchte jetzt vorwärts machen und suche einen Leiter, weil man das Projekt verwirklichen wolle. Ich war über das Vorhaben nicht orientiert und liess es mir von Paul Kopp erklären. Beim Aussteigen sagte ich beiläufig, dass mich diese Aufgabe eigentlich interessiere.

Am Abend fuhren wir zufällig wieder mit demselben Zug nach Luzern zurück. Da eröffnete mir Paul Kopp folgendes: Er habe mein Interesse an der Sitzung des Leitenden Ausschusses vorgebracht und der Präsident, Dr. Raphael Cottier, sei sofort einverstanden gewesen. Auch sei er vom Generalsekretär der SBB, Dr. Max Strauss, unterstützt worden, der gesagt habe, dass er mich von Studienfahrten und Fachreportagen her kenne: ich sei schon der richtige Mann. Die SBB würden mich ab Januar 1957 beurlauben und ich könne gleich mit der Tätigkeit für das Verkehrshaus beginnen. Der Lohn werde vorläufig von der SBB

bezahlt, ebenso könne ich mein Büro für diesen Zweck behalten. So einfach war das.

Dass es aber so weit kam, bedurfte das Zusammentreffen mehrerer Zufälle wie der von langer Hand geplante Mittelholzerflug und die dafür notwendige Impfung am Vortag, die Vereinbarung der Wagenbenützung mit Schiavini im vordersten Erstklasswagen, sein Verpassen des Zuges, die Verschiebung der Sitzung von Paul Kopp, betreffend Verkehrshaus sowie auch die Verschiebung des Oltener Verbandes auf dieses Datum. Hätte nur eine dieser Begebenheiten nicht stattgefunden, wäre ich nie zum Verkehrshaus gekommen und mein Lebensweg hätte wohl einen anderen Verlauf genommen.»

Das alles klingt fast wie ein Märchen. Alfred Waldis musste keine Bewerbungsunterlagen einreichen. Es gab keine persönliche Vorstellung. Es brauchte kein Gesundheitsattest und auch keine Referenzen: Alfred Waldis, dieser Name war bereits bekannt! Waldis verfügte über einen einwandfreien Ruf, galt als initiativ, facherfahren, kreativ, und obendrauf war er bereits damals ein genialer Netzwerker und Kommunikator, sozusagen ein Profi, der sich in mehreren Sprachen mündlich und schriftlich bestens ausdrücken konnte.

Waldis selbst war überrascht. Am Abend kam er mit einem absolut neuen Lebensplan nach Hause. Er hatte keinerlei Fachwissen über Museen, verfügte weder über einen Managementabschluss noch war er Akademiker, sondern ein Selfmademan, einer, der sich durch unermüdlichen Einsatz nach oben gearbeitet hatte. Doch genau das hatte das Gremium überzeugt: Dank seiner gewinnenden Persönlichkeit, dank seines bisherigen umfassenden Wirkens in verschiedensten Sparten des Verkehrswesens setzte man auf ihn.

Vom Eisenbahnmuseum zum Verkehrshaus der Schweiz

Mit der zunehmenden Bedeutung der Eisenbahn als Transportmittel wuchs in der Schweiz das Bedürfnis, die Entwicklung des Schienenverkehrs darzustellen. So regte bereits 1883, im Anschluss an die erste Landesausstellung in Zürich, der Technische Inspektor des damaligen Eisenbahndepartements, Ernest Dapples, die Gründung eines Eisen-

bahnmuseums an. Dieser Gedanke wurde 1897, aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Schweizer Bahnen, von Dr. ing. Friedrich Wrubel, einem Mitarbeiter von Adolf Guyer-Zeller, Initiant und Direktor der Jungfraubahn, erneut in die Öffentlichkeit getragen.

Doch erst die Landesausstellung von 1914 in Bern bot die Gelegenheit, einige Fahrzeuge aus der Frühgeschichte der Eisenbahn zu zeigen. Ein Jahr später griff der Obermaschineningenieur der 1902 gegründeten SBB, Alfred Keller, die Idee eines Eisenbahnmuseums auf, und kurz danach stellte die Generaldirektion der SBB in den Räumen der Güterverwaltung im Güterbahnhof Zürich einige Lokale zur Verfügung. Hier bauten die SBB eine bescheidene Sammlung von Modellen und Archivalien aus der Eisenbahngeschichte auf. Diese Lokale wurden zur Heimstätte des 1918 eröffneten Eisenbahnmuseums. Eine grosse Zahl weiterer interessanter Objekte konnte hingegen aus Platzgründen nicht ausgestellt werden. Diese wurden an verschiedenen Orten in der Schweiz eingelagert.

Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Landesausstellung 1939, die «Landi», in Zürich, regte Dr. Raphael Cottier, Direktor des Kreises III der SBB, 1937 die Errichtung eines eigentlichen Verkehrsmuseums an, in dem neben der Eisenbahn auch die übrigen Transportmittel ausgestellt werden sollten. 1939 schliesslich richtete die Kreisdirektion III der SBB einen Brief an den Bundesrat. In diesem wird erstmals auf Ingenieur Eugène Fontanellaz hingewiesen, der von den SBB mit der Erstellung der Pläne für die Rekonstruktion der ersten Dampflok, der Spanisch-Brötli-Bahn, beauftragt worden war, selbst eine wertvolle Sammlung von Eisenbahnobjekten besass und für eine spätere Leitung eines Verkehrshauses der Schweiz sehr geeignet schien.

Fontanellaz, ehemals im Lokomotivbau und -export tätig, war zu diesem Zeitpunkt infolge der Weltwirtschaftskrise beim Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit in Bern tätig. Dank der Unterstützung der Eidgenössischen Zentralstelle für Arbeitsbeschaffung konnte er die für ein künftiges Verkehrsmuseum notwendigen wissenschaftlichen und konzeptuellen Grundlagen erarbeiten. Für eine schnelle Konkretisierung fehlten jedoch die Voraussetzungen, obwohl von den verschiedenen Organen der Landesausstellung die Errichtung eines Verkehrsmuseums begrüsst wurde.

1940 wurden ein Initiativkomitee und eine Studienkommission gebildet, der die massgebenden Verkehrsträger angehörten. Der als Geschäftsführer eingesetzte Fontanellaz besorgte neben der Sicherung und dem Erwerb interessanter Museumsobjekte die laufenden Geschäfte. Zudem formulierte er Inhalt und Aussehen eines künftigen Verkehrsmuseums mit einer eigenen Baute für jeden Verkehrsträger (Pavillonsystem), verbunden mit gedeckten Korridoren und einem zentralen Eingang. Eine Liliput-Modelleisenbahn im Freien «zu Belehrungszwecken und mit elektrisch beheizten Dampflokomotiven …» sowie eine didaktische Eisenbahnmodellanlage im Inneren sollten das Angebot abrunden.

Fontanellaz’ Vision wurde von Architekt Ernst Bangerter aus Bern in Zeichnungen umgesetzt. Aufgrund der säuberlich abgelegten Abschriften von Besuchsberichten (datiert 1942) muss davon ausgegangen werden, dass Fontanellaz von zwei Museen Kenntnis hatte, die auch das spätere Verkehrshaus beeinflussten: das Science & Industry Museum New York und das Kindermuseum im Londoner Science Museum in South Kensington.

Am 26. Februar 1942 wurde in Zürich der Verein Verkehrshaus der Schweiz gegründet und der SBB-Direktor Raphael Cottier als Präsident gewählt.

Während mehrerer Jahre versuchte man, das Museum in Zürich zu verwirklichen und suchte nach geeigneten Standorten. Aus verschiedenen Gründen – wobei auch der Widerstand des damaligen Zürcher Stadtrats Edgar Woog das Seinige dazu beitrug – blieben entsprechende Bemühungen in der Stadt Zürich, in Wollishofen und in Kloten erfolglos. 1946 vernahm der Luzerner Stadtpräsident, Dr. Max Wey, bei einer Vorstandssitzung der Schweizerischen Verkehrszentrale – deren Präsident der Luzerner Armin Meili, seinerzeitiger Direktor der «Landi», war – von den erfolglosen Bemühungen. Max Wey erkannte die Chance für Luzern. Am 16. Mai 1946 gelangte der Stadtrat von Luzern, auf Anregung von Verkehrsdirektor Dr. Eduard Schütz und Max Wey, an die Generaldirektion der SBB, mit dem Vorschlag, den Sitz des Vereins nach Luzern zu verlegen und dort auch das Verkehrshaus zu errichten.

1950 gab der Stadtrat von Luzern seine Bereitschaft bekannt, das erforderliche Land zur Verfügung zu stellen. Im selben Jahr nahm der Verein das Angebot an und entschied sich von den verschiedenen verfügbaren Grundstücken – sowohl auf dem linken wie rechten Seeufer, im Schönbühl und Brüelmoos – für das etwa 20 000 Quadratmeter grosse Areal im Brüelmoos. 1954 kam der Baurechtsvertrag zwischen der Einwohnergemeinde Luzern und dem Verein Verkehrshaus der Schweiz zustande, nachdem ein Jahr zuvor Paul Kopp die Nachfolge von Max Wey als Stadtpräsident angetreten hatte. Am 2. Juni 1954 und 17. Oktober 1955 genehmigte der grosse Stadtrat von Luzern die Baurechtsverträge, an deren Zustandekommen der Stadtpräsident und spätere Präsident des Verkehrshauses, Paul Kopp, sich bleibende Verdienste erworben hatte.

Aber noch war die Finanzierung nicht geregelt. Schliesslich jedoch trugen die folgenden Entscheidungen zur Verwirklichung des Projekts bei: Der Verwaltungsrat der SBB beschloss, die 1952 aus Anlass des Jubiläums «50 Jahre SBB» geschaffene Rücklage für den Bau der Eisenbahnhallen im Verkehrshaus von 300 000 Franken auf eine Million Franken zu erhöhen. Der Betrag wurde für die geplanten Hallen Schienenverkehr reserviert. Und die PTT liessen 1954 die beiden für die Schweizerische Fremdenverkehrs- und Internationale Kochkunst-Ausstellung (HOSPES) in Bern vorgesehenen Hallen in Stahl konstruieren, sodass diese danach in Luzern wiederverwendet werden konnten.

Bereits im Lauf des Jahrs 1956 wurde mit dem aufwendigen Herrichten des Terrains begonnen. 1957 wurde mit dem Aufrichten der Hallen begonnen. Als 1958 auch seitens des Strassenverkehrs Mittel zugesichert wurden und die Eidgenossenschaft den Beitrag von einer Millionen Franken à fonds perdu und von 0,4 Millionen Franken als verzinsliches Darlehen gewährte, konnten die übrigen Gebäude gebaut werden.

Als das Verkehrshaus der Schweiz 1959 eröffnet wurde, bezweifelten viele, dass es erfolgreich sein würde. Der erste Direktor Alfred Waldis (1919–2013) wollte partout einen musealen Charakter vermeiden und realisierte ein interaktives Haus. Es wurde bereits im ersten Betriebsjahr zum meistbesuchten «Museum» der Schweiz. Waldis erweiterte «sein Verkehrshaus» schon kurze Zeit nach der Eröffnung. So entstand 1968 etwa das erste Planetarium der Schweiz, und vier Jahre später, 1972, eröffnete die Halle Luft und Raumfahrt.

Eine Biografie über den visionären Autodidakten, Museumspionier, Familienmenschen, beispiellosen Netzwerker und genialen Kommunikator: eine Schweizer Erfolgsgeschichte!

«Egal wie mancher Direktor noch kommt: Alfred Waldis wird immer ‹Mr. Verkehrshaus› sein und bleiben.» LNN

«Ohne Alfred Waldis hätten weder Luzern noch die Schweiz einen repräsentativen, einprägsamen Aushang über Verkehrsgeschichte und entwicklung.» Adolf Ogi, alt Bundesrat, im September 1989

«Als Mitinitiant des Nationalen Gotthardmuseums (1982–1986) war und wurde Alfred Waldis auch einer der besten GotthardSpezialisten. In der Sicht auf die grossen Zusammenhänge, die er historisch, technisch, menschlich, als einmaliger Erzähler verstand, bleibt er mutmasslich unersetzlich.» Pirmin Meier

«Der Pionier, dem wir das Verkehrshaus der Schweiz zu verdanken haben, dürfte sicherlich auch die jüngere Generation interessieren und begeistern, die zwar das Verkehrshaus kennt, jedoch nicht die Persönlichkeit von Alfred Waldis. Für mich ist das vorliegende Buch eine Wiederbegegnung mit einem unvergesslichen Freund, Mentor, Visionär und Macher.» Claude Nicollier

ISBN 9783907291658

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