MAG 92
Tomasz Konieczny singt Wotan
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Editorial
Der Kunstfrühling bricht aus Verehrtes Publikum, es hat nicht viel gefehlt und Richard Wagners Bayreuth wäre in Zürich errichtet wor den. Ein bisschen weniger Grössenwahn und etwas mehr Zurückhaltung im ausser ehelichen Liebesdrang beim Komponisten, eine Spur mehr Unvernunft bei den Schweizer Freunden, der plötzliche Auftritt eines hiesigen Gönners mit der Kunstver narrtheit und der Verschwendungssucht von Ludwig II. – und der Grüne Hügel erhöbe sich heute über dem Zürcher Kreis 2. Die Idee jedenfalls stand vorübergehend ganz konkret im Raum, als Richard Wagner in Zürich lebte. Und was wäre wenn? Würden die Staatsgäste, Industriekapitäne und Wagnerverrückten, Angela Merkel, Thomas Gottschalk und Roberto Blanco dann heute an den Zürichsee pilgern? Hätte Adolf Hitler seiner Nazifreundin Winifred und ihrer antisemitischen Verwandtschaft auch in der Schweiz die Aufwartung gemacht? Wäre Wagners Werk dann heute weni ger belastet mit den bleischweren Fragen nach der Mitverantwortung für die deutsche Geschichte? Kaum auszudenken, all das. Wenn wir am Opernhaus Zürich jetzt eine Neuproduktion von Richard Wagners Ring des Nibelungen wagen und uns und Ihnen noch einmal ins Gedächtnis rufen, wie eng dieses Werk mit der Stadt Zürich verbunden ist, weil Wagner grosse Teile hier konzipiert und komponiert hat, wollen wir nicht nachholen, was Zürich erspart ge blieben ist. Wagners Festspielhaus steht im Fränkischen – und das ist gut so. Interesse für den Komponisten und sein faszinierendes künstlerisches Schaffen wollen wir bei den Zürcherinnen und Zürchern allerdings schon erzeugen. In erster Linie natürlich mit dem vierteiligen Werk selbst, das von Gianandrea Noseda dirigiert und von Andreas Homoki inszeniert wird: Am 30. April hat Das Rheingold Premiere, Die Walküre und Siegfried folgen in der kommenden Spielzeit, Götterdämmerung dann im September 2023. Wir begleiten den Ring aber auch mit Rahmenveranstaltungen. So wird die Fassade des Opernhauses bei jeder der vier Premieren vorübergehend zur Grosslein wand für ein Licht-, Klang- und Bilderspektakel mit Musik und Handlungsmotiven aus dem Ring. Der grosse Entertainer Harald Schmidt lädt zu einer Talkshow ins Opernhaus. Ein Podcast der Dramaturgie informiert mit Musik, Briefzitaten und Geschichten über Richard Wagners ereignisreiche Zeit in Zürich. Im Opernhaus selbst ist das Wagnerfieber sowieso längst ausgebrochen: Speere werden drohend erhoben, Drachen zum Leben erweckt, Rheingoldklumpen poliert und Stabreime auswendig rezitiert. Nur in den Ballettsälen sind die Tiefen des Rheins weit weg, weil dort der Choreo graf Edward Clug seinen Ballettabend Peer Gynt erarbeitet, der am 21. Mai Premiere hat. Und das Internationale Opernstudio bereitet seine Winterthurer Produktion von Joseph Haydns Il mondo della luna vor, in der die Reise nicht zum Mond, sondern in andere extraterrestrische, psychedelische Gefilde führt. Überall bricht am Opernhaus gerade der Kunstfrühling aus. Geniessen Sie ihn mit uns. Claus Spahn
MAG 92 / Mai 2022 Unser Titelbild zeigt Tomasz Konieczny, der den Wotan singt (Foto Florian Kalotay)
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Podcast
r e n Wag rich ü Z n i Zwischenspiel Der Podcast des Opernhauses
Neun Jahre hat Richard Wagner als Flüchtling in Zürich gelebt, grosse Teile seines Hauptwerks «Der Ring des Nibelungen» sind hier entstanden, und um ein Haar wäre Zürich Fest spielstadt und Uraufführungsort des «Rings» geworden. In diesem Podcast folgen wir Wagners Spuren durch Zürich – vom Heimplatz in den Rennweg, vom Aktientheater in die Villa Wesendonck und von der Kaltwasserkur in Albisbrunn ins Nobelhotel Baur au Lac.
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Inhalt
16 Vom Urknall und anderen Weltanfängen – ein Gespräch mit dem Schriftsteller Raoul Schrott 22 Andreas Homoki beginnt mit «Rheingold» einen neuen «Ring» zu schmieden. Der Regisseur gibt Auskunft über sein Konzept 32 Der Choreograf Edward Clug über sein Ballett «Peer Gynt», das Ende Mai in Zürich Premiere feiert 38 Das Internationale Opernstudio bringt in Winterthur Joseph Haydns Oper «Il mondo della luna» auf die Bühne
Opernhaus aktuell – 6, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 15, Die geniale Stelle – 30, Der Fragebogen – 43, Volker Hagedorn trifft … – 46
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07.04.2022.20:47 + ABENDVORSTELLUNG + GIRL WIT
H A PEARL EARRING +
Der besondere Blick von Monika Rittershaus
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Opernhaus aktuell
Oper konzertant
Belcantofreuden mit Bellinis «Il pirata» Vincenzo Bellini schuf mit Il pirata den Prototypen der romantischen Oper und stimmte mit seinen weit ausschwingenden Melodiebögen einen neuen, lyrischen Tonfall an. Mit der literarischen Vorlage von Charles Robert Maturin, die zum Genre des Schauerromans gehört, traf Bellini überdies den Geschmack der damaligen Zeit: unheimliche Schauplätze in düsterer Nacht, grausame Männer-Rivalitäten und die tragischen Schicksale ätherischer Frauenfiguren. Imogene, die Sopranrolle, ist diesbezüglich eine Vorgängerin von Donizettis berühmter Lucia di Lammermoor. In unserer konzertanten Aufführung übernimmt diese Partie die Koloratursopranistin Irina Lungu, der Zürcher Publikums liebling Javier Camarena ist als Pirat Gualtiero zu erleben.
konnte man sich in Zürich schon oft überzeugen. Hier wird sie im Juni erneut als Wagners Isolde zu hören sein, und demnächst erfolgt ihr mit Spannung erwartetes Debüt als Brünnhilde im neuen Zürcher Ring. Zuvor aber ist Camilla Nylund in einem Liederabend zu erleben: Richard Strauss darf dabei natürlich nicht fehlen (u. a. Heimliche Aufforderung, Ruhe meine Seele, Morgen und Cäcilie), genauso wenig aber auch Gustav Mahler (u.a Wo die schönen Trompeten blasen, Das irdische Leben und Urlicht). Daneben erklingen Werke von Nylunds finnischem Landsmann Jean Sibelius sowie die Sieben frühen Lieder des jungen Alban Berg, die als kleiner Zyklus die Geschichte einer Liebe erzählen, vielleicht der Liebe des Komponisten zu seiner späteren Frau Helene. Am Klavier wird Camilla Nylund von Joonas Ahonen begleitet. Donnerstag, 19 Mai 2022, 19.30 Uhr Opernhaus
Vorstellungen: 1, 6, 10 Juni, Opernhaus Zürich Wiederaufnahme 6. Philharmonisches Konzert
Janine Jansen spielt Tschaikowski Die in den Niederlanden geborene Janine Jansen ist eine der renommiertesten Geigerinnen unserer Zeit. Federnde Leichtigkeit und energiegeladene Dramatik gehören zu ihren Markenzeichen ebenso wie strahlende Innerlichkeit – Qualitäten, wie sie auch in Tschaikow skis berühmtem Violinkonzert gefragt sind. Als zweites Werk dieser Sonntagsmatinee erklingt unter der Leitung von Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda Anton Bruckners eher kammermusikalisch angelegte Sechste Sinfonie, die Bruckner selbst als seine «Keckste»
und «Kühnste» bezeichnete. Zum ersten Mal erkundet hier Bruckner nach den schicksalshaften b-Tonarten die helle Sphäre von A-Dur. Als experimentell gilt besonders das Scherzo, in dem sich elfenhafte Verschattungen und fast grobschlächtige Blechbläser-Motive zu einem skurrilen Tanz zu vereinen ver suchen. Im Finale gibt sich Bruckner als Wagner-Verehrer zu erkennen: in einer zarten Melodie erklingt das «Mild und leise»-Thema des Liebestods aus Wagners Tristan und Isolde. Sonntag, 15 Mai 2022, 11.15 Uhr Opernhaus
Liederabend
Camilla Nylund Die finnische Sopranistin Camilla Nylund setzt besonders mit ihrer Interpretation der Partien Richard Wagners und Richard Strauss’ immer wieder neue künstlerische Massstäbe – davon
Lisette Oropesa singt Lucia di Lammermoor Als Lucia hat sie bereits das Publikum am Royal Opera House London und am Teatro Real in Madrid begeistert, nun ist sie mit dieser Partie endlich auch am Opernhaus Zürich zu hören: Lisette Oropesa, amerikanische Sopranistin mit kubanischen Wurzeln, über die die New York Times schrieb, sie habe «magische Bühnenpräsenz», eine «seidene Stimme» und singe mit «müheloser Grazie». In der Wiederaufnahme der Inszenierung von Tatjana Gürbaca wird Benjamin Bernheim, dessen internationale Karriere einst im Opernstudio der Oper Zürich begann, als ihr Geliebter zu hören sein. Am Pult der Philharmonia Zürich steht Dirigent Andrea Sanguineti, der als Dirigent der Verdi-Gala 2020 seinen erfolgreichen Einstand in Zürich gab. Vorstellungen 22, 26, 29 Mai; 4, 12 Jun 2022
Illustrationen: Anita Allemann, Foto: M. Simaitis
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Opernhaus aktuell
Harald Schmidt blickt hinter den Vorhang Der legendäre Talkmaster tritt ihm Rahmenprogramm zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen» auf und gibt sich mit einer Talkrunde im Opernhaus Zürich die Ehre
König der Satire oder Krawallschachtel der Nation? Der Entertainer Harald Schmidt hat bei seinen Zuschauerinnen und Zuschauern das Humorlevel an den äussersten Enden getestet. Über was gelacht werden darf, hat für den Talkmaster, dessen Intellekt und böse Zunge über Jahre die Late-Night des deutschsprachigen Fernsehens bestimmte, nie eine Rolle gespielt. Am Montag, 2. Mai, 19.30 Uhr, werfen sich nun der Mensch und die Kunstfigur Harald Schmidt, mit allem was dazu gehört, in den Opernbetrieb. Als passionierter Orgelspieler, gelernter Kirchenmusiker und Schauspieler ist ihm die Affinität zum Musiktheater eigentlich schon in die berufliche Wiege gelegt worden. Schmidt wird (hoffentlich) nicht gleich als grosser Bajazzo oder Don Giovanni die Opernbühne stürmen, aber ganz in seinem Element wird er in dem Gesprächsformat «Hinter dem Vorhang» die Menschen entdecken, die Oper erst möglich machen und sie im Rahmen einer neuen Talkr unde ins Licht zerren. Was genau ist eine Korrepetitorin? Was erlebt unser Einlasspersonal Abend für Abend im Zuschauerraum? Wieso spielt der Tenor auch E-Gitarre? Und warum wollen eigentlich alle Opern regisseure Wagners Ring inszenieren? Diese und andere Fragen stellt der legendäre Talkmaster Harald Schmidt seinen Gästen zwei Tage nach der Premiere des Rheingold, dem Auftakt des neuen Zürcher Ring des Nibelungen. Montag, 2 Mai 2022, 19.30 Uhr Opernhaus Tickets CHF 10
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L’ART DU
SILENCE
EIN FILM VON MAURIZIUS STAERKLE DRUX
AB 19. MAI IM KINO
Acht Fragen an Andreas Homoki
Tipps für die kommende Saison Herr Homoki, das Opernhaus hat den Spielplan für die Saison 2022/23 veröffentlicht. Was können Sie empfehlen? In welche Neuproduktion schicken Sie beispielsweise jemanden, der noch nie im Opernhaus war? In unsere Familienoper Alice im Wun derland, die nicht nur Kindern, sondern auch allen Erwachsenen fantasievolles Musiktheater bietet. Ich kenne die In szenierung schon, sie ist toll. Die Urauf führung war Corona zum Opfer ge fallen, jetzt holen wir sie nach.
Wo gehen die Ästheten hin? Ins Ballett. Obwohl Christian Spuck, der seine letzte Zürcher Spielzeit prä sentiert, mit seinem Programm immer mutig über das Schöne und Ästhetische hinausgegangen ist. Die zukünftige Ballettdirektorin Cathy Marston wird sich mit ihrem Ballett The Cellist vorstellen, und der für seine surreale, bildstarke Handschrift bekannte spanische Choreograf Marcos Morau kreiert ein neues Ballett mit dem Titel Nachtträume.
Was empfehlen Sie Opernbegeisterten, die schon alles gesehen haben, aber trotzdem nochmal eine neue Erfahrung machen möchten? Turandot in der Inszenierung von Sebas tian Baumgarten. Diese Oper ist ja stark vorgeprägt durch opulente, arenahafte Ausstattungskonventionen, unser Regis seur wird diesem geheimnisvollen Werk sicher neue und ungewöhnliche Sicht weisen entlocken. Auch die Besetzung ist eine Erfahrung wert, denn Piotr Beczała gibt sein Rollendebüt als Calaf und Sondra Radvanovsky singt die Turandot.
Womit machen Sie Gesangs-Afficiona dos glücklich? Mit Roméo et Juliette von Charles Gou nod und dem französischen Traumpaar Julie Fuchs und Benjamin Bernheim in den Titelpartien. Aber auch mit vielen anderen Produktionen, etwa unserem neuen Roberto Devereux.
Foto: Daniel auf der Mauer
Was kann man nur in Zürich erleben? Die Oper Eliogabalo von Francesco Cavalli, eine frühbarocke Ausgrabung über einen faszinierend exzentrischen Stoff, bei der selbstverständlich unser auf historischen Instrumenten spielendes Orchestra La Scintilla im Graben sitzt. Was empfehlen Sie Gästen, die das Aufregende suchen, vielleicht gar den Skandal wittern? Skandale bestellt man ja nicht. Deshalb kann ich das nicht sagen. Ein aufregen des Projekt ist auf jeden Fall unsere zeit genössische Oper Lessons in Love and Violence von George Benjamin, die einen blutigen, Shakespearenahen Stoff von Christopher Marlowe zum Thema hat und mit der der junge, hochbegabte Regisseur Evgeny Titov sein Regiede büt am Opernhaus gibt.
Welches Zürcher Debüt sollte man auf keinen Fall verpassen? Die Rollendebüts in unserem neuen Ring: Camilla Nylund ist unsere Brünn hilde, und Klaus Florian Vogt singt zum ersten Mal den Siegfried. Besonders freue ich mich auch auf das Regiedebüt von Max Hopp. Er ist ein grossartiger, origineller Schauspieler und reüssiert jetzt auch als Regisseur. Bei uns macht er Barkouf, eine fantastische Operette von Jacques Offenbach, die jetzt erst entdeckt wurde und die wir als zweites Haus überhaupt herausbringen. Sie haben eine pubertierende Nichte, die mit ihren Fragen und Sehnsüchten bei einem Opernhausbesuch abgeholt werden will. Wo kann sie andocken? Sie wird auf jeden Fall in Wolfgang Rihms Jakob Lenz nach Georg Büchner Stoff zum Nachdenken finden. Diese Kammeroper realisieren wir szenisch im Rahmen eines kleinen Rihm-Festivals in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Kammerorchester.
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10 Zum Krieg in der Ukraine
Ein Krieg gegen die offene Gesellschaft
Foto: Vera Martynov
Die russische Theaterkritikerin Marina Davydova hat eine Petition gegen den Angriffskrieg in der Ukraine verfasst. Kurze Zeit später floh sie nach Vilnius. Hier beschreibt sie, was der Krieg für sie bedeutet – und dass er sich nicht in erster Linie gegen ein Land, sondern gegen eine Gesellschaftsform richtet
M
itte März flog ich von Vilnius nach Sofia, um mich mit meinem Sohn zu treffen, dem es gelungen war, dorthin auszureisen. Als ich in Warschau umsteigen musste, hörte ich, dass viele Leute um mich herum Russisch sprachen – es waren so viele, dass es mir schien, als sei ich nicht am Frédéric-Chopin- Flughafen, sondern in Nischni Nowgorod oder Jekaterinburg gelandet. Wahrscheinlich kommt mir das nur so vor, dachte ich im ersten Moment. Russland befindet sich in einem politischen Lockdown, von dort nach Europa auszureisen, ist praktisch unmöglich – woher sollte diese Masse an Russen kommen? Eine Sekunde später wurde mir alles klar. Die vielen Russisch sprechenden Menschen am Warschauer Flughafen waren Ukrainerinnen und Ukrainer; der Osten des besetzten Landes, von wo in diesem Moment der grösste Flüchtlingsstrom kam, ist zum grossen Teil von ethnischen Rus sinnen und Russen besiedelt. Ausgerechnet sie wurden von den Truppen der russischen Föderation in Charkiw und Mariupol bombardiert, ausgerechnet sie wurden als erste zu Opfern der grausamen und unbarmherzigen «Spezialoperation» (das Wort «Krieg» ist in Russland verboten, wenn man es ausspricht oder schreibt, kann man zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt werden oder ins Gefängnis kommen). Später traf ich Russisch sprechende Flüchtlinge aus der Ukraine überall. In Mün chen beobachtete ich, dass am Hauptbahnhof speziell für die Geflüchteten Schilder auf Ukrainisch aufgestellt waren – nicht wissend, dass deren Muttersprache die ihrer Besatzer ist. Die Geflüchteten und die, die ihre Häuser zerstört haben, haben sehr wahrscheinlich in ihrer Kindheit ein und dieselben Lieder gesungen und ein und dieselben Zeichentrickfilme gesehen. In ihren Bücherregalen stehen die russischen Klassiker, in russischer Sprache. Nun fliehen sie vor den russischen Bomben und den russischen Panzern. Dieses Paradox geht mir nur schwer in den Kopf: Nach der offiziellen Version sind die Putinschen Truppen gekommen, um die russischsprachigen Einwohnerinenn und Einwohner der Ukraine von den Ukrainischen Nationalisten zu befreien. Und nun verstecken sich die russischsprachigen Einwohner im Keller vor ihren Rettern. «Ist unsere Kultur mitverantwortlich für das, was unsere Soldaten und Offiziere in der Ukraine anrichten?» Diese quälende Frage stellt sich die russische Intelligenzija seit dem 24. Februar immer wieder – auch ausserhalb Russlands. Im E-Mail-Postfach des «Theater-Journals», dessen Erscheinen eingestellt wurde, kurz nachdem ich eine Petition gegen den Krieg geschrieben hatte, das ich aber formal gesehen immer noch leite, finden sich viele Briefe aus der Ukraine. Ihr Pathos ist simpel: Wenn Sie wieder mal über das grossartige russische Ballett schreiben, zeigen wir Ihnen die Massen gräber in Butscha; wenn Sie wieder mal eine Kritik über ein Stück nach Dostojewski schreiben, zeigen wir Ihnen die Ruinen von Mariupol. Ich las diese Briefe, und mir fiel keine Erwiderung darauf ein. Wenn die russische Kultur diejenigen nicht erreicht hat, die in den Vororten Kiews gemordet haben, dann heisst das, sie trägt tatsächlich einen Teil der Schuld – so wie wir alle. Das Zusammentreffen mit den Menschen am Flughafen hat mich desillusioniert. Diese russischsprechenden Geflüchteten – wer waren sie? Opfer der russischen Kultur – oder ihre Träger? Was tun mit einem Land wie Russland, in dem so viele verschiedene Nationen leben? Im Verlauf zweier Kriege in Tschetschenien hat Moskau in der Hauptstadt Grosny nicht einen Stein auf dem anderen gelassen. Geflüchtete aus Tschetschenien wurden von europäischen Ländern aufgenommen. Nun kämpfen die Anhänger des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow in den Reihen der Russen, und die Gegner Kadyrows stehen auf der Seite der Ukrainer. Alle sind sie russische Staatsbürger. Können wir sowohl die einen als auch die anderen als Träger russischer Kultur bezeichnen? Meiner Meinung nach sehen wir zurzeit keine Konfrontation von Russen und Ukrainern, keinen Kampf Russlands gegen die Ukraine, sondern vielmehr eine globale Konfrontation der – um mit dem Soziologen Karl Popper zu sprechen – Vertreter der offenen und der geschlossenen Gesellschaft. Vor zwei Jahren haben sich in Weissruss-
Marina Davydova geboren in Baku, ist Festivalleiterin, Theater macherin und -kritikerin. 2016 war sie Direktorin des Schauspielprogramms der Wiener Festwochen. Ausserdem gab sie bis zum Beginn des Krieges die Zeitschrift «Journal des Theaters» heraus; hier veröffentlichte sie als eine der ersten russischen Kulturschaffenden eine Petition gegen den An griffskrieg in der Ukraine. Daraufhin haben Un bekannte Überwachungs kameras an ihrem Haus installiert, und ihre Wohnungstür wurde mit dem Buchstaben «Z» be schmiert, den die Unter stützer des russischen Angriffskriegs verwenden. Sie floh aus Moskau.
12 Zum Krieg in der Ukraine
land, das an die Ukraine grenzt, Hunderttausende gegen den illegitimen Präsidenten Lukaschenko erhoben, freie und ehrliche Wahlen gefordert und sich für eine Europa- orientierte Entwicklung des Landes ausgesprochen. Diese Ereignisse waren die Vorboten des Krieges, der nun in der Ukraine stattfindet. Die Schergen Lukaschenkos taten mit den Demonstranten ungefähr das, was die verrohten Soldaten der russischen Armee mit den Bürgern in den Dörfern der Umgebung Kiews taten – sie haben sie gefoltert. Heute verurteilen Lukaschenkos Gegner rückhaltlos den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine; Lukaschenko und seine Statthalter haben Belarus in ein Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine verwandelt. Sie alle sind Bürgerinnen und Bürger desselben Landes, in dessen Grenzen sich der Kampf verschiedener Modelle gesellschaftlicher Entwicklung abspielt. Nun hat sich diese Konfrontation in einen gross angelegten Krieg zwischen zwei Nationen verwandelt: Das Russland Putins, das sich von der Welt abschottet wie ein zweites Nordkorea, macht aus der Ukraine, die vom EU-Beitritt träumte, verbrannte Erde. Die geschlossene Gesellschaft versucht die offene Gesellschaft zu vernichten. Jeder Versuch, diesen Krieg mit der Terminologie eines ethnischen Konflikts zu beschreiben, verdreht die Tatsachen. In meiner erzwungenen Emigration tausche ich mich aus mit Menschen aus Bela rus, die gegen das Regime protestiert und ihre Heimat verloren haben, und mit Kultur schaffenden aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflohen sind. Viele von ihnen stehen mir nah. Und die Wasserscheide verläuft für mich schon lange nicht mehr zwischen Ethnien, Ländern oder Kulturen, sondern zwischen denjenigen, die in die abgründige Archaik der Politik hinuntersteigen wollen, wo die höchsten Werte die Interessen der Nation und der Regierung sind, und denjenigen, die in einer modernen Welt leben wollen, deren kostbarste Werte Freiheit und Menschenwürde sind. Die einen wie die anderen leben in allen Winkeln der Welt, sie sprechen alle möglichen Sprachen und identifizieren sich mit Belarussen, Jakuten, Tschetschenen, Russen oder Polen. Es geht nicht darum, wie sinnvoll, kompetent oder gerecht die zeitweise Aufhebung welcher Kultur auch immer in Zeiten des Krieges ist. Es geht vielmehr darum, dass die Vorstellung, eine Kultur könne verantwortlich sein für die Hölle auf Erden, die zurzeit angerichtet wird, von Grund auf falsch ist – von dieser Vorstellung ist es nur noch ein kleiner Schritt zur «Blut und Boden»-Ideologie und, als Folge davon, einer Wiederholung des Faschismus. In Belarus wird übrigens mindestens ebenso viel Russisch gesprochen wie in der benachbarten Ukraine. Die Demonstranten sprachen ebenso wie diejenigen, von denen sie im Gefängnis gefoltert wurden, zum grossen Teil Russisch. Ich nehme an, viele von ihnen lesen russische Bücher. Aber jeder zieht andere Schlüsse daraus. Aus dem Russischen von Beate Breidenbach
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Wie machen Sie das, Herr Bogatu? 15
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Schöner Wohnen: Rheingold für Zuhause Das Rheingold gibt es wirklich. Der Schatz ist nicht am Grunde des Rheins, sondern liegt in Form von Goldnuggets in Christian Schmidts Bühnenbild zur gleichnamigen Oper auf unserer Bühne. Die Nuggets entstehen in der Regel durch das Einschmelzen eines Goldschatzes durch Drachenfeuer. Doch auch wenn man keinen Drachen zur Verfügung hat, kann man Goldnuggets sehr gut selbst herstellen – denn das Rheingold macht auch auf der heimischen Fensterbank eine gute Figur. Sie brauchen lediglich einen Klumpen Ton, einen Eimer Gips und einen Eimer HATOvit. Dazu eine Dose Hartschaum, einen Flussstein, etwas Gewebefüller, Gummi milch, Folienkleber, Flammschutzmittel, Gold-Spray, Vergoldungsmilch, 10 Blatt Schlagmetall «Gold» und etwas Schelllack in Orange-Gold. Vielleicht haben Sie das eine oder andere Produkt gerade nicht da – aber nach einer kurzen Recherche im Internet sollte die Beschaffung kein Problem sein. Zunächst formen Sie aus dem Tonklumpen Ihren individuellen Nugget: Die Vorlage finden Sie nach einer Bildersuche «Goldnugget» im Internet. Den danach geformten Klumpen umhüllen Sie mit einer 1-2 cm dicken Gipsschicht, lassen aber an der Unterseite den Gips weg, damit Sie später den Ton aus der Form bekommen. Nun lassen Sie das Gebilde zwei Tage lang trocknen. Pulen Sie dann den Ton aus der Gipsform und füllen das HATOvit bis zum Rand hinein. Nach 15 Minuten schütten Sie die Form wieder aus und warten eine Stunde. In der Innenseite hat sich eine ca. 1mm starke HATOvit Haut gebildet, die von innen den Gips überzieht. Jetzt nehmen Sie den Schaumspray und sprühen den Hartschaum in die mit HATOvit überzogene Gipsform. Warten Sie maximal 30 Minuten. Nun ist der Hartschaum angetrocknet, aber noch flexibel. Vorsichtig lösen Sie die HATOvit Haut mitsamt dem Hartschaum aus der Gipsform und drücken den Flussstein in den noch feuchten Hartschaum und lassen das Ganze durchtrocknen. Bestreichen Sie das Gebilde zunächst mit Gewebe füller und anschliessend mit in Gummimilch gemischtem Flammschutzmittel, damit das Gebilde bei Kontakt mit Feuer nicht sofort in Flammen aufgeht. Mit dem Farbspray sprayen Sie das Gebilde goldig an. Jetzt sieht es nach einem mattgoldigen Stein aus. Aber der Zauber kommt erst noch: Nach dem Trocknen des Goldsprays malen Sie das Nugget mit Vergoldungsmilch an. Das ist eine Flüssigkeit, die nach ca. 30 Minuten angetrocknet ist und dann eine klebrige Schicht bildet. Auf diese klebrige Schicht drücken Sie mit einem Pinsel die hauchdünnen Goldblätter aus Schlagmetall. Das Metall ist so dünn, dass es durch die weichen Borsten in jede Ver tiefung gedrückt wird und alle Formen des Nuggets annimmt. Das Blattvergolden dauert ca. 30 Minuten, und dann haben Sie eine wirklich gold-glänzend schöne Ober fläche. Aber wehe, wenn Sie nun abbrechen: Innert weniger Tage würde das Schlag metall oxidieren und eine grünlich-bläuliche Farbe annehmen. Dazu lassen Sie es nicht kommen, sondern überziehen mit einem Pinsel das ganze Nugget mit Schelllack im Farbton Orange-Gold. Durch diesen Lack bekommt das Nugget nochmals eine be sondere Farbtiefe und ist von dem in Drachenfeuer geschmolzenen Nugget nicht mehr zu unterscheiden. Das Ganze 24 Stunden trocknen lassen und fertig ist ein Rhein goldnugget. Falls sich das nach viel Arbeit anhört: Für das Rheingold im Bühnenbild wurden mehr als 10’000 Blätter Schlagmetall verwendet. Es ist ein wahrer Schatz auf der Bühne. Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich
16 Das Rheingold
18 Das Rheingold
Worin wurzelt die Welt? Richard Wagner entfaltet in seinem «Ring des Nibelungen» einen Mythos von der Entstehung und dem Ende der Welt. Die Frage, wie alles anfing, hat Wissenschaftler und Denker zu allen Zeiten und in allen Kulturen beschäftigt. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Raoul Schrott, der sich literarisch mit dem Ursprung des Universums beschäftigt hat
Herr Schrott, Richard Wagners Rheingold beginnt mit einem berühmten Vorspiel, das mit musikalischen Mitteln die Entstehung einer Welt beschreibt: Zunächst erklingt in den Kontrabässen – quasi aus dem Nichts, an der Grenze der Hörbarkeit – ein Kontra Es, nach vier Takten folgt die Oktave in den Fagotten, und ganz allmählich breitet sich der Klang von den tiefsten Tiefen in die Höhe aus – aus dem Dunkel wird Licht. In Ihrem Buch Erste Erde. Epos beschreiben Sie, dass die verschiedenen Phasen des sogenannten Urknalls unter anderem mit Klängen einhergingen, «etwa 50 Oktaven unter dem tiefsten Ton des Klaviers». Deckt sich also Wagners Fantasie vom Uranfang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen vom Beginn des Universums? Dazu muss man zunächst wissen: Der Begriff «Urknall» war ursprünglich eine ab schätzige Bemerkung eines Gegners dieses Erklärungsmodells. Es gab keinen Knall, es war nichts zu hören, weil es ja keine Luft gab, also kein Medium, in dem sich diese Wellen hätten fortsetzen können. Und Ohren gab es noch viel weniger. Aber es gab eine Schwingungsfrequenz, die, wenn man sie übertragen würde, diese Tiefe gehabt hätte. Die Wissenschaft kann alles zurückrechnen bis zur ersten Mikro sekunde – aber was in der ersten Mikrosekunde passiert ist, das weiss kein Mensch. Insofern ist diese Erklärung über den Ursprung des Universums auch eine Ge schichte, ein Mythos. Wir lösen Dinge, um sie zu erklären, ja gern in Geschichten auf, die bekannte Gegensätze präsentieren. In praktisch allen Geschichten geht es darum, dass Gut und Böse miteinander streiten, oder eben hell und dunkel. Egal, womit wir uns beschäftigen, ob mit dem Krieg in der Ukraine oder mit dem Corona-Virus, ohne Narrative können wir die Dinge schlecht denken. Mathe matiker sind da eine Ausnahme. Wie die Welt begonnen hat, ist nach wie vor eine Erzählung, die gewisse mythische, vielleicht sogar mystische Dimensionen hat. Aber das gilt nur für die erste Mikrosekunde. Die Wissenschaft kann also bis heute den Ursprung der Welt nicht erklären? Nach der ersten Mikrosekunde greifen die Naturgesetze. Mit diesen Gesetzen lässt sich berechnen, wie die Elementarteilchen, die Atome, die Schwerkraft und die Sterne entstehen. Aber wie die Naturgesetze entstanden, weiss niemand. Dass die Welt tatsächlich aus dem Nichts entstanden ist, scheint kaum vorstellbar, weil wir uns das Nichts nicht vorstellen können…
Aus physikalischer Dimension ist das Nichts sehr lebendig – als ein Potential, das mit der Planckschen Konstante zu tun hat. Bleibt die Frage: Was war vor dem Ursprung der Welt? Die beste Antwort, die ich darauf je erhalten habe, war ein Bild, das mich seitdem zur Ruhe stellt: Die Frage danach, was vor dem Urknall war, ähnelt der Frage: Was ist südlicher als der Südpol? Wenn ich den Globus anschaue, den ich hier in meinem Arbeitszimmer neben mir stehen habe, und diese Kurve sehe – da zeigt sich: Da ist einfach nichts. Aber das sind Probleme, die damit zu tun haben, dass wir gewohnt sind, in Räumen, also in drei Dimensionen zu denken, und dass uns selbst das Denken in vier Dimensionen schwerfällt, obwohl uns das ja dauernd belastet, denn die Zeit ist ein ebenso unerbittlicher wie offensichtlicher Feind des Lebens. Wozu gibt’s sonst Feuchtigkeitscremes? Insofern sind wir nicht einmal in der Lage, das, was uns bestimmt, zu integrieren und in vier Dimensionen zu denken. Da gehen uns, wie ich sagen würde, einfach die Narrative aus. Das erzählbar zu machen, die richtigen Bilder dafür zu finden, ist eine poetische Arbeit, die weitgehend noch getan werden muss. Richard Wagner leistet in seinem Ring des Nibelungen dazu einen Beitrag, etwa mit seinem Bild von der Weltesche, dem Ur-Baum, einer Metapher für die unberührte Natur. Von dieser Weltesche, so erfahren wir in der Götterdämmerung, hat sich Wotan einen Ast für seinen Speer abgeschnitten, in den er der «Verträge Runen», also die Gesetze der Zivilisation, geschnitzt hat. Ja, aber auch andere alte Mythen sind da natürlich toll. Mythen, die von Göttern erzählen, die die Welt erschaffen, oder die Schöpfungsgeschichte bei Hesiod, die von einer Welt erzählt, die aus einem tiefen, dunklen, feuchten Abgrund kommt. Schon wieder die Dunkelheit. In Ihrem Buch berichten Sie von einem Schöpfungsmythos der Maori, in dem zuerst das Dunkel ist und daraus das Licht entsteht, ganz ähnlich der biblischen Genesis. Gibt es also in den uns bekannten Schöpfungsmythen Vorstellungen, die sich ähneln oder verallgemeinern lassen? Schöpfungsmythen gibt es wie Sand am Meer, weil sich diese Mythen immer von anderen Dingen ableiten. Meistens ist da eine Leitmetapher, die benutzt wird, um zu erklären, wie Erde und Himmel, Götter und Menschen entstanden sind. Das hängt immer vom jeweiligen Umfeld ab. Im Pazifik zum Beispiel stellen sich die Menschen vor, dass die Welt aus einem Vogelei entstand. Woher der Vogel kam, ist dabei unklar; das ist so ähnlich wie die Frage: Was war vor dem Urknall? Es wird beschrieben, dass es in dem Ei dunkel war, dass dort drin ein kleiner Fötus sitzt und so weiter. Das war den Menschen vertraut. Woanders erzählt der Schöpfungs mythos von einer Pflanze, bei der die Menschen durch einen Halm schlüpfen wie die Erbsen aus einer Schote. Es ist immer ein Extrapolieren der Umwelt, in der man aufwächst. Welche Schöpfungsmythen kennen Sie noch? Die Buschleute müssen in der Savanne überleben, ihr Umfeld sind Tiere, die sie jagen, Wurzeln, die sie ausgraben – viel mehr ist da nicht. Sich in dieser Umgebung zu überlegen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? bezieht sich auf die Umwelt. Entsprechend stellen sich die Menschen in der Savanne die Evolution so vor, dass sie einmal Tiere waren und diese Tiere irgendwann statt Hufen Hände bekamen und daraus der Mensch entstand. Für die Entstehung der Sonne gibt es eine besonders schöne Geschichte: Es gab einmal ein Wesen, das hatte Feuer unter den Achseln, und immer, wenn es die Arme hob, kam dieses Feuer heraus. Dieses Wesen hatte es gut, denn am Anfang der Welt war alles dunkel. Leider war das Wesen unfreundlich, misanthropisch, egoistisch und gab nichts von seinem Feuer
Am Anfang war der Baum Für diese MAG-Aus gabe haben wir den Schweizer Graphic Novel Künstler Thomas Ott gebeten, eine Weltesche zu zeichnen. Er arbeitet mit Cutter und Schabkarton und hat im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel «Wald» veröffentlicht.
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und seiner Wärme ab. Ein paar Kinder haben gewartet, bis das Wesen geschlafen hat und es dann an den Händen und Füssen genommen und in den Himmel geworfen. Seitdem hatten es alle hell und warm. Die Vorstellung dahinter ist, dass Achselhaare aussehen wie Sonnenstrahlen. Solche Erklärungsversuche beweisen die gleiche kreative Intelligenz wie die heutige Wissenschaft. Je nachdem, welche Dinge für mich eine Bedeutung haben, erkläre ich mir die Welt so oder anders. Also könnte man sagen, dass die verschiedenen Schöpfungsmythen über die Entstehung der Welt vor allem etwas aussagen über die Menschen und die Kultur, aus der sie kommen? Man sollte jedenfalls nicht versucht sein zu glauben, dass ein Mythos irgendwas von der Wissenschaft vorwegnimmt. Wenn es Parallelen gibt zwischen dem Schöpfungs mythos der Maori, der auf dem Gegensatz von Hell und Dunkel gründet, und dem biblischen Schöpfungsmythos mit dem Satz «Es werde Licht», dann verrät das eher etwas darüber, dass es einen ähnlich sozialisierten Fundus von gedanklichen Mustern gibt. Der Schöpfungsmythos der Maori ist deshalb besonders interessant, weil es der letzte Mythos ist, der 1850 noch entstanden ist, und zwar als Gegen konzeption zur Bibel, die die englischen Missionare mitbrachten und die ja mit der Genesis eine ganz gute Geschichte enthält. Das Gedankengut der Maori ist zudem beeinflusst aus dem indischen Raum, und die Entstehung der Götter aus dem Nichts findet man dort vorgebildet. Götter aus dem Nichts? Sind diese dann ähnlich allwissende Weltschöpfer wie der christliche Gott? In den frühen Schöpfungsmythen taucht nichts auf, was einem Gott entsprechen würde. Weder bei den Eskimos noch bei den Buschleuten, den Maya oder Inka gibt es einen allmächtigen Gott, der über allem steht. Man stellt sich eher Kulturheroen vor, die die Welt gestalten, Demiurgen also, Architekten der Welt. In den frühen Schöpfungsmythen sind es Superheroes mit übernatürlichen Kräften, die Himmel, Erde, Sonne und Mond bauen. Wie in amerikanischen Filmen streiten sie unter einander, sind hinterfotzig, abgedreht, problembelastet; das einzige, was sie vom Sterben abhält, ist, dass sie in den Himmel ziehen und seither von dort auf die Welt herabschauen. Die Religion, wie wir sie kennen, ist ja eine Entwicklung der Sess haftigkeit und nicht älter als zehntausend Jahre. Nichts an alten Höhlenmalereien oder Mythen weist darauf hin, dass es vorher schon so etwas gegeben hätte wie eine Götterverehrung. Klar, man versuchte, sich gewisse Mächte mit Opfern günstig zu stimmen. Aber das, was wir heute unter Gott verstehen – also ein Allah oder ein Herrgott –, darüber hätte man damals gelacht. Schöpfungsmythen sind also immer auch der Versuch, zu verstehen… Solche Erklärungsmuster sind ganz wesentlich, weil sie Identität stiften. Eins der Erfolgsgeheimnisse des Homo Sapiens war, dass er Erklärungsmuster hatte dafür, was der Himmel ist, wie der Tod entstand, was nach dem Tod passiert, wo man herkommt, wie die Welt funktioniert. Das war bei der Entstehung der National staaten im 19. Jahrhundert nicht anders. Für das Nachdenken darüber, was – zum Beispiel – das Deutsche ausmacht und wie es zu einer grösseren Organisation kommen kann, ist das Mythische ähnlich wichtig wie die Sprache, die Schulbildung oder das Militär, damit man sagen kann: Wir haben eine gemeinsame Vergangen heit. Wenn man von Schöpfungsmythen als Erklärungsmustern spricht, dann fragt man sich ja vielleicht nicht nur, wie die Welt entstanden ist, sondern auch, wie sie möglicherweise einmal enden wird; auch Richard Wagners Welterfindung geht in der Götterdämmerung, dem letzten Teil seiner Ring-Tetralogie, unter. Inwiefern ist den Mythen vom Anfang auch ein Ende eingeschrieben?
Das ist eher die Ausnahme, und ich empfinde es auch fast als Perversion. Das Ende vorwegzunehmen, zeigt eine apokalyptische Geisteshaltung. Ein wichtiges Element in manchen Mythen, besonders bei den Griechen, ist allerdings die Vorstellung, dass am Anfang alles besser war. Am Anfang herrschten paradiesische Zustände, so ist es ja auch in der Bibel. Die griechische und die jüdisch-christliche Kultur waren sehr eng miteinander verwandt. Eschatologie, also die Lehre von den Letzten Dingen, spielte darin eine wichtige Rolle. Man hat eigentlich immer auf den Welt untergang gewartet. Auch die jüdischen Propheten haben immer wieder die Weltzerstör ung in den Vordergrund gerückt. Und wenn man sich einmal darauf versteift, überall Weltuntergänge zu sehen, dann bleibt man darin gefangen. Aber das scheint mir, wie gesagt, eine semitisch-griechische Spezialität zu sein. Mir ist jedenfalls kein anderes Beispiel dafür bekannt. Auch im Rheingold war am Anfang alles besser: Wagners Musikdrama beginnt mit einem paradiesischen Zustand, der gleich zu Beginn zerstört wird. In der Tiefe des Rheins spielen drei Rheintöchter unschuldig mit einem Gold klumpen, und es könnte immer so weitergehen, wenn nicht Alberich das Gold stehlen und daraus den Ring schmieden würde. Auch Göttervater Wotan zerstört einen paradiesischen Zustand, indem er die Weltesche beschädigt. Beide Erzählungen nehmen im Grunde das Ende, den Weltuntergang, vorweg. Das erinnert im Kontext der Zeit, in der Wagners Ring komponiert wurde, zu nächst natürlich vor allem an Karl Marx – das Kapital und die Ausbeutung und der Wucher sind schuld am Unglück der Menschen. Interessant ist, dass man die Vor stellung einer Erbsünde nur in der christlich-jüdischen Kultur findet. Die biblische Geschichte von der Sintflut ist eine Kopie der mesopotamischen Sintflut-Geschichte. Im Original schicken die Götter den Menschen die Sintflut, weil die Menschen in den Städten so laut miteinander kopulieren, dass die Götter sich gestört fühlen. Die Schreiber des Alten Testaments machen daraus eine Sünde, die im Original nirgends vorkommt. Woher dieses plötzliche Sündenbewusstsein kommt, würde mich selbst sehr interessieren; ich weiss darauf keine Antwort. Vermutlich ging es um die Frage nach der Kollektivschuld: Was haben wir als Volk verbrochen, dass die Babylonier uns verschleppen und gefangen nehmen? Im weltweiten kulturgeschicht lichen Vergleich sind diese Motive jedenfalls eigenartig. Dieses Opferbewusstsein, dieses Schuldbewusstsein, das mag uns normal erscheinen, ist es aber keineswegs. Das Gespräch führte Beate Breidenbach Der österreichische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott ist ein grosser Kenner der Mythen und Epen der Weltliteratur. 2016 ist sein Buch «Erste Erde. Epos» beim Hanser Verlag erschienen.
Das Rheingold Oper von Richard Wagner Musikalische Leitung Gianandrea Noseda Inszenierung Andreas Homoki Ausstattung Christian Schmidt Lichtgestaltung Franck Evin Dramaturgie Werner Hintze Beate Breidenbach Wotan Tomasz Konieczny Donner Jordan Shanahan Froh Omer Kobiljak Loge Matthias Klink Fricka Patricia Bardon Freia Kiandra Howarth Erda Anna Danik Alberich Christopher Purves Mime Wolfgang AblingerSperrhacke Fasolt David Soar Fafner Oleg Davydov Woglinde Uliana Alexyuk Wellgunde Niamh O’Sullivan Flosshilde Siena Licht Miller Philharmonia Zürich Statistenverein am Opernhaus Zürich Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich Premiere 30 Apr 2022 Weitere Vorstellungen 3, 7, 10, 14, 18, 22, 25, 28 Mai 2022
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Zurück zum Ursprung Mit der Premiere von «Rheingold» hebt sich am 30. April der Vorhang zum neuen Zürcher «Ring». Regisseur Andreas Homoki gibt Auskunft über konzeptionelle Überlegungen und seine persönliche Beziehung zu Richard Wagners Mammutwerk Fotos Danielle Liniger
Richard Wagner hat den Ring des Nibelungen zum grössten Teil in Zürich geschrieben. Hat dieser Fakt für dich eine Bedeutung, wenn du die Tetralogie nun in Zürich inszenierst? Es ist schon ein besonderes Gefühl, an dem Ort zu sein und jeden Tag am Haus Zeltweg 11 vorbeizufahren, wo dieses gewaltige Werk entstand. In unserer Arbeit kehrt der Ring sozusagen an seinen Ursprung zurück. Und dieser Vorgang passt perfekt zum Ansatz der Inszenierung.
Matthias Klink als Loge, Tomasz Konieczny als Wotan
Wie ist das zu verstehen? Wir wollen in der Inszenierung auf andere Weise zum Ursprung zurückkehren, also ausgehend von Text und Musik, wie sie Wagner geschrieben hat, die Geschichte so buntscheckig und phantastisch erzählen, wie sie ist. Damit meine ich selbstverständlich nicht, was oft als «werktreue» Inszenierung bezeichnet wird, also eine, die jede Einzelheit so bringt, wie sie der Meister angeblich gemeint hat. Wir leben heute und machen heutiges Theater, anders geht es ja gar nicht. Der entscheidende Punkt ist, dass unsere Arbeit nicht die Deutung der Vorgänge bringen will, sondern die Vorgänge selbst, so spielerisch, sinnlich, emotional, traurig, lustig, überraschend und unterhaltsam wie möglich. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Wir zeigen nicht, was der Riesenwurm unserer Meinung nach bedeutet, sondern wir zeigen den Riesenwurm. Ich möchte dem Zuschauer keine fertige Deutung servieren, die er auf Treu und Glauben zu schlucken hat, sondern ihn einladen, seine eigene Deutung des Gesehenen zu finden. Auch für dich persönlich ist diese Inszenierung in gewisser Weise eine Rückkehr zum Ursprung… Ja, tatsächlich steht der Ring am Beginn meiner ernsthaften Beschäftigung mit der Gattung Oper und damit meiner Laufbahn als Regisseur. Als ich den Gedanken fasste, Opernregisseur zu werden, war ich kein grosser Kenner. Ich war hin und wieder in der Oper und eigentlich immer enttäuscht, was, wie ich bald herausfand, an den schlechten Inszenierungen lag, die das Potenzial der Gattung nicht ausschöpften. Mir wurde schnell klar, dass ich mir einen eigenen Zugang zur Oper erarbeiten musste, indem ich mir die Stücke selbst lesend und analysierend vornehme. Und angefangen habe ich mit dem grössten Brocken: dem Ring. Ich habe den Text gründlich studiert und die vier Stücke hörend, mit der Partitur in der Hand, durchgearbeitet. Das war ein faszinierendes Erlebnis. Worin bestand diese Faszination? Es war wie Kino. Kopfkino versteht sich. Aus den Dialogtexten, den detaillierten Regieanweisungen und der suggestiven Musik entstand in mir ein deutliches Bild der Wunderwelt, in die Wagner uns entführt, und der Dinge, die dort vorfallen. Dabei habe ich das Werk gar nicht in dem Sinne verstanden, dass ich seine politisch-phi losophischen Konnotationen hätte benennen können. Ich kannte einige der klugen Texte, die diese Hintergründe erklären, aber sie interessierten mich nicht, weil sie genau das nicht berührten, was mich so begeisterte. Meine Annäherung an den Gegenstand war also eher naiv als intellektuell. Und das ist bis heute so geblieben. Die überaus genauen Regieanweisungen, geprägt vom Theaterverständnis und -stil des späten neunzehnten Jahrhunderts, haben dich also nicht abgeschreckt? Im Gegenteil. Gerade diese Präzision ermöglicht ja das wunderbare Kopfkino, das ich da erlebt habe. Aber natürlich muss für eine Inszenierung das, was sich bei der Lektüre im Kopf abspielt, transformiert werden. Zum Beispiel: Wie Wagner die erste Rheingold-Szene erfunden hat, dieses Geschehen unter Wasser, wo die Rheintöchter in ihrem Element sind, während Alberich ihnen hoffnungslos unter legen ist – das ist beim Lesen ein wunderbares Bild und eine anmutig-komisch Szene. Aber dieses Bild lässt sich auf der Bühne nicht realisieren. Die Aufgabe ist
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also, für dieses Bild eine Übersetzung zu finden, die den Möglichkeiten der Bühne entspricht. Aber noch erheblich wichtiger ist es, die Beziehungen zwischen den Figuren so deutlich wie möglich zu zeigen. Denn diese sind der Kern der Sache, sie tragen das theatralische Geschehen und vermitteln seine Bedeutung. George Bernard Shaw hat eine Analyse der Tetralogie verfasst, die das Werk als allegorische Darstellung der Herausbildung des Kapitalismus deutet. Joachim Herz und Patrice Chéreau haben diesen Ansatz ihren Inszenierungen zugrundegelegt, indem sie der Erzählung das allegorische Gewand sozusagen abstreiften. Du hast einen ganz anderen Weg gewählt… Das waren mit Sicherheit zwei theatralisch sehr beeindruckende Arbeiten, die der Entwicklung unseres Wagner-Bildes wichtige Impulse gegeben haben. Ich glaube allerdings, dass es ein – sehr produktiver – Irrtum war, davon auszugehen, Wagner habe eine gewisse politische Idee vermitteln wollen, die er in ein mythisches Gewand gekleidet hat, das man einfach entfernen kann. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Wagner im Ring eine kritische Bestandsaufnahme seiner Gesellschaft unternimmt, aber er greift nicht auf den Mythos zurück, weil er ihm eine attraktive Staffage bietet, sondern weil die mythische Perspektive den Horizont erheblich erwei tert. So geht es nicht um die Geschichte einer bestimmten Gesellschaftsformation, sondern um die der Menschheit, ja des Universums insgesamt. Die Tetralogie führt vor, wie der Mensch sich zuerst seiner selbst bewusst wird, sich dadurch von der Natur distanziert und sie beschädigt, die menschliche Gesellschaft auf die Basis des Privateigentums stellt, was zu zerreissenden Spannungen führt, und schliesslich seine eigenen Lebensgrundlagen untergräbt, was in seinen Untergang mündet. Das ist ein ganz allgemein zivilisationskritischer Ansatz, bei dem der Kapitalismus nur die jüngste Phase der Entwicklung bildet. Aber das ist schon die Deutung der Geschichte. Worum es mir geht, ist immer die theatralisch wirkungsvolle Erzählung dessen, was zwischen den Figuren vorgeht. Und dafür ist das bunte Geschehen, das Wagner aufgeschrieben hat, unbedingt ergiebiger als die eher monochrome Deutung nach der Richtschnur einer materialistischen Gesellschaftsanalyse. Zeigt der Vorabend der Tetralogie also den Anfang der Welt? Ja und nein. Das Vorspiel deutet unüberhörbar auf die Entstehung der Welt und des Lebens hin. Wenn die Handlung beginnt, sind wir aber schon weiter und die Welt steht unmittelbar vor dem Sündenfall, dem Moment, wo sich die menschlichen Wesen von der Natur lossagen, und dem Moment der Entstehung des Privateigentums. Da ist dieser Goldklumpen, der keinem gehört. Er dient keinem Zweck, ist einfach nur schön und eine Freude für die Rheintöchter. Allerdings hat das Gold ein verhängnisvolles Potenzial: Wer es sich aneignet, kann daraus einen Ring formen, der ihm masslose Macht verleiht. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass er sich von der Liebe lossagt. Alberich nimmt das Gold in Besitz, verflucht die Liebe und versklavt mit der Macht des Rings die Nibelungen, die nun das Gold für ihn aus der Erde graben und so seinen Besitz mehren müssen. Von diesem Moment an breitet sich das Übel unaufhaltsam über die Welt aus: Die Gier nach Besitz und Macht zersetzt alle zwischenmenschlichen Beziehungen, bis das System zusammenbricht. Das ist die Geschichte, die uns die Tetralogie erzählt. Warum tut Alberich das? Weil ihm Liebe verweigert wird. Er macht den Rheintöchtern den Hof, aber diese stossen ihn so lange immer wieder vor den Kopf, bis er verzweifelt und bereit ist, die Liebe zu verfluchen, wenn er ja ohnehin keine Chance hat, seine Sehnsucht zu verwirklichen. Also tauscht er Liebe für Macht ein, um sich wenigstens Lust zu erzwingen. Und so unterjocht er die Nibelungen und bereitet sich darauf vor, die Weltherrschaft durch einen Krieg gegen die Götter zu erringen, wenn ihm seine Untertanen genug Gold angehäuft haben.
oben: Regisseur Andreas Homoki mit Patricia Bardon und Tomasz Konieczny rechts: Matthias Klink und Christopher Purves als Alberich unten: Patricia Bardon als Fricka und Tomasz Konieczny als Wotan
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Sein Gegenspieler ist Wotan, der auf wolkigen Höhen wohnt. Was will der? Wotan ist der oberste der Götter. Er hat schon erreicht, wovon Alberich träumt: Er hat sich die Welt untertan gemacht. Allerdings nicht mit nackter Gewalt, sondern indem er die rechtlichen Beziehungen durch Verträge geregelt hat. Aber auch er hat dafür mit einem Frevel an sich selbst und an der Natur zahlen müssen: Im Vorspiel der Götterdämmerung erfahren wir, dass er für sein Wissen und den Speer, in dessen Schaft die Verträge eingeschrieben sind, ein Auge geopfert hat. Und dann kam er auf die Idee, sich eine Burg bauen zu lassen, womit die Irrungen und Wirrungen beginnen, die das Stück in Gang halten.
oben: Christopher Purves unten: Tomasz Konieczny, Regisseur Andreas Homoki und Christopher Purves
Warum liess er sich diese Burg bauen? Wotans Streben nach dieser festen Burg zeigt seinen Wunsch, die Herrschaft über die Welt zu verewigen. Dem ständigen Wechsel des Lebens setzt er ein steinernes Monument entgegen, das scheinbar nicht dem Verfall unterworfen ist. Aber noch bevor er einziehen kann, macht ihm die Erdgöttin, die für das steht, was vor allen anderen Dinge da war und das alles jetzige Leben überdauern wird, klar, dass seine Existenz nicht von Dauer ist. Und Wotan wird die Erfahrung machen, dass er sein System umso mehr unterminiert, wie er es zu befestigen bestrebt ist. Walhall ist ein Irrtum von Anfang an, eine Fehlinvestition. Das Rheingold erzählt, wie es dazu gekommen ist. Und es erzählt vom Zerfall einer Familie. Ist es eine Tragödie oder eine Komödie? Unzweifelhaft trägt das Stück komödienhafte Züge und entwickelt sich in der Form eines Konversationsstücks. Es dürfte wohl die erste Oper sein, auf die man diesen Begriff anwenden kann. Die Trennung von Rezitativen und Arien ist vollkommen aufgehoben, das ganze Stück entwickelt sich als eine Folge lebendiger und oft ausgesprochen witziger Dialoge – das war damals etwas vollkommen Neues. Und die Familiengeschichte, die da erzählt wird, passt perfekt zu dieser Form: Das Familienoberhaupt gibt eine Villa in Auftrag und verspricht dem Bauunternehmer seine Schwägerin als Bezahlung. Nun dreht sich alles darum, wie der Göttervater sich und seine Familie mit Tricks und Lügen aus dieser Zwickmühle zu befreien versucht, wobei ihm seine zänkische Frau und ihre nicht eben intelligenten Brüder das Leben zusätzlich schwer machen.
S. 23 oben: Christopher Purves als Alberich S. 23 unten: Regisseur Andreas Homoki mit Tomasz Konieczny als Wotan und Christopher Purves S. 24 oben: Andreas Homoki mit Wotan und Fricka (Patricia Bardon)
Ein Konversationsstück basiert vor allem auf schnellen, schlagfertigen Dialogen. Ist so etwas mit Wagners Musik denn möglich? Es geht nicht um das messbare Tempo des Dialogs, sondern um den Rhythmus und das Timing. Und in diesen Punkten ist Wagner als mit allen Wassern gewaschener Theaterkenner einfach unschlagbar. Und die Sprache, die er für den Ring entwickelt hat, erweist sich im Zusammenwirken mit der Musik als erstaunlich flexibel. Allerdings müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein, damit diese besondere Qualität der Komposition zum Tragen kommt: Zum einen müssen die Vorgänge zwischen den Figuren sehr präzise inszeniert und gespielt werden, Rede und Gegenrede müssen genau aufeinander abgestimmt und ihre jeweilige Motivation und die Untertexte in jedem Moment klar verständlich sein. Zum anderen muss die musikalische Darstellung genau dieser präzisen Formung der Dialoge folgen, was eine grosse Biegsamkeit im Tempo und in der Dynamik voraussetzt, damit die Sängerinnen und Sänger in die Lage versetzt werden, ihre Partien gleichzeitig mit Freiheit und Präzision zu realisieren. Nur wenn beide Ebenen perfekt aufeinander abgestimmt sind, können sie sich gegenseitig ergänzen und stützen, und nur dann kann das Stück seine urkomische und tief berührende Kraft entfalten. Gianandrea Noseda ist dafür der ideale Partner, und ich bin sehr froh, ihn bei dieser anspruchsvollen Aufgabe an meiner Seite zu wissen. Das Gespräch führte Werner Hintze
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Ich betrachte diese Partie als meine Lebensaufgabe Der polnische Bass-Bariton Tomasz Konieczny singt den Wotan im Zürcher «Ring des Nibelungen». Er hat in den vergangenen fünfzehn Jahren viel Erfahrung mit dieser Partie gesammelt Foto Danielle Liniger
Herr Konieczny, der Wotan in Richard Wagners Ring des Nibelungen ist die zentrale Rolle in Ihrem Repertoire. Wann haben Sie angefangen, ihn zu singen? Eigentlich habe ich nur zu Beginn meiner Karriere Partien im Bass-Repertoire von Verdi und Mozart bis Smetana gesungen, denn es hat sich sehr früh gezeigt, dass meine Stimme für Wagner geeignet ist. Schon mit 25 Jahren habe ich den Wotan zum ersten Mal einstudiert und dann sehnsüchtig daraufhin gearbeitet, ihn auch auf der Bühne singen zu dürfen. Ich betrachte diese Partie inzwischen als meine Lebensaufgabe. Ein entscheidender Schritt war, als mich Ioan Holender, der ehemalige Direktor der Wiener Staatsoper, vor 15 Jahren als Alberich engagiert hat. Zwei Jahre habe ich den Alberich in Wien gesungen, dann bin ich auf den Wotan umgestiegen – nicht zuletzt dank Franz Welser-Möst, der mich sehr ge fördert hat. Ich war bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie neun Jahre lang der Wotan an der Wiener Staatsoper, worauf ich sehr stolz bin. Singen Sie heute immer noch die Partie des Alberich? Nein, von dieser Figur habe ich mich 2019 an der New Yorker Metropolitan Opera definitiv verabschiedet. Es gibt neben Wotan andere Wagner-Rollen, die jetzt in meinen Fokus rücken. Ich werde beispielsweise den Holländer an der Met präsentieren, das wird eine wichtige Partie für mich, die ich oft singen will. Ist der Wotan im Vergleich zu Alberich die attraktivere, weil reichere und emotional ausgreifendere Partie? Ja, das ist so. Der Wotan beinhaltet wirklich alle Facetten der menschlichen Natur mit allen negativen und positiven Schattierungen. Das macht die Figur so inter essant. Sie ist voller Perspektivwechsel und liefert unheimlich viele Möglichkeiten der Interpretation. Gerade in Walküre ist die Partie sehr komplex. Denken wir nur an Wotans riesige Freude zu Beginn, weil er einen Plan hat, wie er den Ring zurückgewinnen und die Götter vor ihrem Untergang bewahren kann – und dann kommt der Absturz. Freude und Selbstgewissheit wird ja oft begleitet von Arroganz. Und die hat Wotan. Er ist der typische reiche Machtmensch, der glaubt, er könne alles. Aber sehr schnell zeigt ihm seine Gattin Fricka auf, dass das nicht der Fall ist, dass er mit seinen Plänen gegen Gesetze verstösst. Der freie Held Siegmund, auf den er seine Hoffnungen setzt, ist eine inzestuöse Verbindung mit Sieglinde eingegangen, die Liebesverbindung gründet auf Ehebruch. Das kann Fricka nicht akzeptieren. Wotan ist ja ein Gott, der an Gesetze gebunden ist, und in Walküre erleben wir den Fall dieses Machtmenschen.
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Wotan zeigt starke Emotionen, etwa wenn er am Ende der Walküre Abschied von seiner Tochter Brünnhilde nimmt, aber er ist auch herrschsüchtig, brutal, rücksichtslos. Sympathisieren Sie als Sänger mit dieser Figur? Oh ja, weil Wotan, wie gesagt, sehr menschlich ist. Die Facetten seiner Persönlichkeit kommen bei uns allen vor. Wagner hat das sehr gut getroffen – die inneren Triebkräfte, die sich widerstrebenden Gefühle und Selbstwidersprüche. Es ist beispielsweise sehr berührend, wenn Wotan in seinem grossen Monolog in Walküre Brünnhilde nochmal alles erzählt, und so versucht, sich aus seiner Niedergeschlagen heit herauszuarbeiten. Er baut sich selbst wieder auf. In Rheingold redet er sich den brutalen Raub des Ringes schön und glaubt, das sei etwas Gutes. Aber Raub ist nie etwas Gutes und wird niemals etwas Gutes sein. Der Besitz des Rings macht ihn noch mächtiger und er spürt, dass die Verträge, an die er gebunden ist, ihn in seiner Machtentfaltung fesseln. Das ist wie bei grössenwahnsinnigen Herrschern, bei Putin und anderen Diktatoren: In dem Moment, in dem sie die Macht er rungen haben, wollen sie die Bedingungen und Verpflichtungen, die sie an die Macht geführt haben, abschaffen. Aber am Ende der Tetralogie scheitert Wotan doch: Er bleibt ohne Ring, hat Brünnhilde verloren, ist kein Gott mehr. Was muss man als Sänger mitbringen, um die Monsterpartie des Wotan singen zu können? Ich bin der Meinung, dass man nicht so spät damit anfangen soll. Man muss den Stoff früh kennenlernen und ihn sich zu eigen machen. Die Interpretation braucht Zeit, um wachsen und reifen zu können. Wenn man jung ist und solche Wagnerpartien singt, glaubt man, man müsse vor allem laut sein und seine stimmliche Potenz zeigen. Dann kriegt man natürlich konditionelle Probleme in der Walküre. Als Wotan muss man sich die Kräfte einteilen. Die Partie zu bewältigen, hat viel mit Erfahrung zu tun. Nach zehn Jahren Wotan in Wien kann ich sagen, ich kann mir die Partie heute viel besser einteilen im Vergleich zu damals, als ich anfing. Sie kostet mich heute weniger Stimme, aber dafür viel mehr psychische Kraft. Man kann sich kaum vorstellen, wieviel mentale Kraft diese Partie kostet. Man muss ganz in die Figur und den Text eintauchen, und in manchen Passagen einfach deklamieren, sodass auch das Orchester nur noch zuhört. Ich habe den Wotan zuletzt in Kopenhagen gesungen, im Monolog «Als junge Liebe Lust mir verblich» hat das Orchester zunächst nicht sehr sensibel gespielt, aber nach der zweiten Vor stellung haben sie plötzlich sehr leise und intensiv gespielt, einfach weil sie mir zugehört haben. Das ist der Punkt. Das hab ich in Wien gelernt. Die Kolleginnen und Kollegen der Wiener Philharmoniker haben mir gesagt, dass sie in solchen Passagen schlicht zuhören, und wenn sie das tun, spielen sie am besten mit dem Sänger zusammen. Sprachverständlichkeit ist immer ein grosses Thema bei Wotan. Unbedingt. Man muss alles durch die Sprache ausdrucken. Es ist eine Art Shakes pearerolle, die man zu spielen hat. Wie ein Hamlet. Das Gespräch führte Claus Spahn
Dieses Gespräch ist ein Auszug aus dem Podcast mit Tomasz Konieczny, der komplett auf der Website des Opernhauses und bei allen Podcastanbietern zu hören ist.
Die geniale Stelle 31
Riesenliebe Drei Takte aus Richard Wagners «Rheingold»
Hören und im Notentext mitlesen können Sie die «Geniale Stelle» hier:
«Das Wort ‹Familienbande› hat einen Beigeschmack von Wahrheit.» Wohl jeder hat sich schon in Situationen befunden, in denen er zu diesem Aphorismus Karl Kraus’ finster genickt hätte. Aber was soll erst Freia sagen, die zarte Göttin der Liebe, die erleben muss, wie das Familienoberhaupt sie ohne viel Nachdenken an zwei Bauunter nehmer verschachert? Das ist nämlich der Preis, den Wotan den beiden Riesen zu zahlen versprach, wenn sie ihm, der sich zum obersten Gott und Hüter ihrer morali schen Ordnung aufgeworfen hat, eine repräsentative Villa bauen. Da sie nun kommen, ihren Lohn zu verlangen, lassen alle Freia in ihrer Angst allein. (Vergessen wir nicht: Wotan wird erst dann aktiv, als er am eigenen Leibe erfährt, dass der Verlust der gol denen Äpfel, die sie in ihrem Garten hegt, unausweichlich zum Tod der Götter führt.) Echtes Mitgefühl erlebt sie aus einer ganz unerwarteten Richtung: Der Riese Fasolt ist es, der Wotan schwere und sehr grundsätzliche Vorwürfe macht, der deutlich aus spricht, wie falsch es ist, dass der Göttervater «Türme von Stein» höher schätzt als «Weibes Wonne und Wert». Fasolt, das schwerfällige und scheinbar so täppische Monstrum, ist der einzige in dieser ganzen Versammlung skurriler Gestalten, der echte Empfindungen hat, was unüberhörbar wird, wenn er von seiner Hoffnung auf das Liebesglück an der Seite einer Frau spricht. Und Wagners kommentierendes Orches ter lässt uns wissen, dass von allen Anwesenden Freia allein versteht, was in diesem Mann vorgeht und wie sehr er Recht hat: Wenn Fasolt seine Anklage gegen Wotan beendet hat, spielen die Violinen ganz unerwartet das der Liebesgöttin zugeordnete Motiv, allerdings in einer nur einmal, nämlich an dieser Stelle erscheinenden Variante. In seiner Grundform besteht Freias Motiv aus einem viertönigen, chromatischen An stieg, der gestisch ein zärtliches Streicheln evoziert, und einem unmittelbar folgenden jubelnden Aufschwung um eine Oktave. So klar und deutlich spricht dieses Motiv, dass jeder Hörer intuitiv weiss: Was hier musikalisch geschildert wird, ist Liebe, wirk liche, sinnliche Liebe, das überströmende Glück der physischen Nähe des geliebten Wesens. Freia versteht, dass dieser Riese sie und die Liebe, die ihr Leben ist, im tiefs ten Inneren erfasst hat. Und ihre spontane emotionale Hinwendung zu ihm drückt sich darin aus, dass ihr Motiv nun (und nur dieses eine Mal) doppelt so weit, also um mehr als zwei Oktaven ausschwingt. Freilich folgt dem Aufschwung sofort der Absturz: So aufrichtig die Liebe des Riesen sein mag, so unmöglich ist sie. Das Bild des weinen den King Kong und der zärtlich geliebten Frau auf seiner riesigen Hand drängt sich geradezu auf. Wie soll diese Liebe je Erfüllung finden? Aber ehe die Frage noch gestellt ist, hat die Welt sie schon entschieden – das zärtliche Monster stirbt im Kugelhagel, wie Fasolt von seinem goldgierigen Bruder erschlagen wird: Wer liebt, ist schwach, und der Schwache fällt der Gewalt zum Opfer. Wagners ganze Sympathie aber gilt den wirklich Liebenden, die rückhaltlos lieben und alles für die Liebe hingeben, auch dann, wenn es nicht die kleinste Hoffnung auf Erfüllung gibt. Denn wenn sie auch scheitern – das ist der Kerngedanke der Tetralogie, den Wagner hier in drei Takte zusammendrängt –, tragen sie doch den Keim einer besseren Welt in sich, einer Welt, die sich vielleicht einmal verwirklichen wird. Im Universum des Wagnerschen Werkes erscheinen immer wieder diese liebenden, darum schwachen, betrogenen, unterwor fenen Wesen, die in schrecklicher Einsamkeit zugrunde gehen. Sie alle hat er wohl mitgemeint, als er am letzten Abend seines Lebens über die Rheintöchter sagt: «Ich bin ihnen gut, diesen untergeordneten Wesen der Tiefe, diesen sehnsüchtigen.» Werner Hintze
32 Peer Gynt
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Der Ich-Sucher aus dem Norden Der Choreograf Edward Clug hat Peer Gynt zur Hauptfigur eines Balletts gemacht, das am 21. Mai am Opernhaus Zürich Premiere hat. Ein Gespräch über die Faszination, die von Ibsens Drama und der Musik von Edvard Grieg ausgeht Fotos Admill Kuyler
Choreograf Edward Clug und William Moore als Peer Gynt
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Edward, das Ballett Zürich tanzt zum Ausklang dieser Spielzeit dein Ballett Peer Gynt, das auf dem Drama von Henrik Ibsen basiert. Was ist das Be sondere an diesem Jungen aus dem norwegischen Gudbrandsdal? Peer Gynt ist mit einer unbändigen Fantasie ausgestattet. Ein Fantast, ein Abenteu rer, ein Getriebener, ein Ich-Sucher – das ist ein Leben für die grosse Bühne! In Ibsens Drama durchläuft Peer Gynt eine aufregende Lebensreise voller Höhen und Tiefen. Was für ein Stoff! Viele Theaterregisseure, aber vor allem auch Choreografen konnten der Anziehungskraft diesen Ibsenschen Bilderbogens nicht widerstehen. Ich bin da also keine Ausnahme. Dein Ballett Peer Gynt kam 2015 beim Slowenischen Nationalballett in Maribor heraus. Wie kam es dazu? Nachdem ich am Anfang meiner choreografischen Laufbahn zunächst kurze Stücke choreografiert hatte, wurde das erzählerische Moment in meinen Arbeiten all mählich immer wichtiger. Nach meiner Romeo und Julia-Version, die 2005 unter dem Titel Radio and Juliet in Maribor herauskam, aber auch nach Le Sacre du prin temps erhielt ich von mehreren Compagnien Anfragen nach einem abendfüllenden Handlungsballett. 1991, da war ich gerade zum Mariborer Ballett gekommen, tanzte ich in einer Peer Gynt-Version von Waclaw Orlikowsky. Er hatte zu Edvard Griegs Peer Gynt-Suiten choreografiert, und ich weiss, wie beeindruckt ich damals von dieser Musik war. Sie war der Auslöser, mich erneut mit Ibsens Drama zu beschäftigen. Bei der Lektüre hat mich die unwiderstehliche Mischung aus Naturalismus, Realismus, Absurdem und Metaphysischem in Ibsens Text begeistert, und vor allem die Fantasy-Momente haben mich als Choreograf inspiriert.
Peer Gynt verdankt seinen Ruhm zum grossen Teil der Bühnenmusik von Edvard Grieg. Welche Rolle spielt sie in deinem Ballett? Ibsen und Grieg haben bei der Uraufführung von Peer Gynt in Christiania, dem heutigen Oslo, im Jahre 1876 zusammengearbeitet. Grieg hat eine Bühnenmusik komponiert, deren eingängigste Nummern er später in zwei Orchestersuiten zusammenfasste. Im Konzertsaal begann dieses «Best of Peer Gynt» bald, ein höchst erfolgreiches Eigenleben zu führen. Bei meinen Überlegungen, wie Grieg und Ibsen in meine Ballettfassung integriert werden könnten, sah ich mich mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Da war zum einen der komplexe, zeitlos und universell wirkende Ibsen-Text, auf der anderen Seite Griegs sehr genau verortete Musik. Immer wieder konkretisiert sie romantische Landschaften, die unabhängig von Ibsens Bühnenuniversum in einer Parallelwelt entstehen. Im Grunde haben beide – der Dramatiker und der Komponist – ihre eigene Version von Peer Gynt begründet. Mein Ziel war es, die Hürden zwischen beiden Versionen zu überbrücken. Meinen eigenen Peer Gynt zu schaffen und mich der Figur noch einmal aus der Perspektive des Tanztheaters zu nähern. Meine Inszenierung folgt in ihrer Chronologie der von Ibsen vorgesehenen Abfolge der Ereignisse. Im Sinne einer dynamischen und kohärenten Erzählung habe ich weitere Grieg-Werke in meine Musikauswahl einbezogen. Welche sind das, und wie hat diese Musikzusammenstellung deine Choreografie beeinflusst? Neben zwei Sätzen aus dem Klavierkonzert gibt es zum Beispiel Ausschnitte aus Griegs Erstem Streichquartett, aus der Holberg-Suite und aus den Lyrischen Stücken für Klavier. In diesem geweiteten Grieg-Universum konnte ich meine Ballettversion mit einer grossen Freiheit entwickeln und Ibsens Vorgaben theatralisch akzentuieren. Peer Gynt ist ständig auf der Flucht vor sich selbst, glaubt aber immer fest daran, auf dem richtigen Weg zu sein. Die Grenzen zwischen Fantasie und Realität sind fliessend, und gerade ein so berühmtes Stück wie die Morgenstimmung, die einen Sonnenaufgang über der Sahara schildert, eignet sich gut, um diesen Fantasy- Gedanken zu transportieren. Wie in Ibsens Drama begleiten wir Peer Gynt in deinem Ballett auf seiner Lebensreise. Als jungem Mann begegnen wir ihm in der norwegischen Berg welt und folgen ihm in das Königreich der Trolle. Wir finden ihn an der Küste Marokkos und in einem Irrenhaus in Kairo. Als alter Mann ist er zurück in Norwegen und bei seiner Jugendliebe Solveig, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat. Was bringt der Tanz in diese Lebenserzählung hinein? Die Sprunghaftigkeit von Ibsens Stück scheint einer Traumlogik zu folgen, die mich gelegentlich an expressionistische Dramen erinnert. Man muss sich klar werden, dass die äusseren Stationen lediglich eine Dimension des Ganzen verkörpern. Peer Gynt ist auch auf einer inneren Reise. Ich musste einen Weg finden, gerade seine innere Befindlichkeit mit dem choreografischen Material zu zeigen, das ich für ihn entwickelt habe. Ibsen lässt seinen Titelhelden in grossangelegten Monologen über ihm Unfassbares, häufig sein Unterbewusstes, reflektieren. In Entsprechung zu Peer Gynts Leben, das wie in einem Kreis verläuft, hat unser Bühnenbildner Marko Japelj eine ellipsenförmige Strasse kreiert, auf der sich das Geschehen abspielt. Der Tanz ergibt sich darauf als Konsequenz der äusseren Situation. Er ist mein Werkzeug, um Peer Gynts innere Verwandlungen zu erzählen. Du hast erwähnt, dass sich in Peer Gynt unentwegt Realität und Fantasie gegenüberstehen. Ibsen hat sein Stück zunächst als Lesedrama und nicht für die Bühne konzipiert, und für einen Leser ist es kein Problem, Peer Gynt an jeden Ort der Welt und seiner Fantasie zu folgen. Aber lässt sich das auf das Ballett übertragen?
Peer Gynt Ballett von Edward Clug Musik von Edvard Grieg Choreografie Edward Clug Musikalische Leitung Victorien Vanoosten Bühnenbild Marko Japelj Kostüme Leo Kulaš Lichtgestaltung Tomaž Premzl Choreinstudierung Janko Kastelic Ballett Zürich Junior Ballett Philharmonia Zürich Zusatzchor des Opernhauses Zürich Chorzuzüger Premiere 21 Mai 2022 Weitere Vorstellungen 24, 26, 27, 29 Mai; 2, 3, 16, 17, 18, 24 Juni 2022 Partner Ballett Zürich
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Nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich habe gemerkt, dass ich mich irgendwann auch von Ibsen lösen, an einigen Stellen reduzieren und Schlüsselelemente als eine Art Orientierungshilfe erfinden muss. Ich habe Peer Gynt eine Todesfigur an die Seite gestellt. Der Tod wird zu seinem Reisebegleiter, den er zwar immer wieder auszutricksen versucht, dem er aber nicht entkommen kann. Als zweite metapho rische Figur gibt es den weissen Hirschbock, von dem Peer Gynt im Drama seiner Mutter Åse erzählt. Über steile Gebirgsklüfte will er auf ihm geritten sein. Für diesen Hirsch habe ich mit Hilfe zweier Krücken eine besondere choreografische Lösung gefunden, er wird zum Symbol für Peer Gynts Fabulierkunst. In Peer Gynt werden wir Zeugen, wie der Titelheld einen Lebensentwurf nach dem anderen abstreift wie eine Schlange ihre Häute. Nach jedem Scheitern steht er an neuem Ort wieder auf. Er ist ein ruheloser Weltenwanderer mit einem einzigen Credo: Um mich muss es sich drehen, mein ganzes Leben. Ibsen stellt die Frage, ob es reicht, «sich selbst genug» zu sein und ob man schliess lich doch zu sich selbst finden kann. Wie gelingt das Peer Gynt? Es ist ein langer Weg, bis Peer Gynt zu dieser Erkenntnis kommt. Der Tod hat ihn bereits den eigenen Sarg ausprobieren lassen, ehe Peer bewusst wird, dass er auf der Jagd nach einem Leben voller Abenteuer all die Dinge weggeworfen hat, die im Leben wirklich zählen. In Ibsens Drama gibt es die grossartige Passage, in der sich Peer mit einer Zwiebel vergleicht, von der man Haut für Haut abstreift und am Ende auf ein Nichts stösst. Die Krone, die er sich im Irrenhaus von Kairo aufsetzt, wird zum Symbol für seinen Ehrgeiz und sein ungestilltes Verlangen. Es ist der Moment, in dem er zerbricht. Dass dieses Leben dennoch nicht umsonst war, verdankt er Solveig. Sie hat ein Leben lang auf ihn gewartet, und ihre ultimative Liebe vermag Peer Gynts Leben am Ende, wenn Solveig – in unserer Ballettfassung mit ihrem Haus – zu ihm kommt, doch noch eine Bestimmung zu geben. Solveig ist nicht die einzige Frau, der Peer Gynt auf seiner Reise begegnet. Neben seiner Mutter Åse kreuzen auch die verheiratete Ingrid, drei verführe rische Sennerinnen, die Tochter des Bergkönigs und die Wüstenbewohnerin Anitra seinen Weg. Welchen Widerhall finden sie in deiner Choreografie? Diese Begegnungen verleihen der Geschichte eine Leichtigkeit. Ich habe versucht, diese Frauen über die Reaktionen Peers zu charakterisieren. Er verhält sich zu jeder dieser Frauen anders, das hat beim Choreografieren grossen Spass gemacht. Nach seiner Uraufführung in Maribor war dein Peer Gynt in Riga, Nowosibirsk und an der Wiener Staatsoper zu sehen. Was erhoffst du dir für die Auf führungen in Zürich? Die Rolle des Peer Gynt verlangt nach einem grossartigen Tänzer, der auch über aussergewöhnliche darstellerische Fähigkeiten verfügen muss. Selbstvertrauen ist gefragt, aber auch das Wissen, wie man den eigenen Körperausdruck dosiert und im Sinne einer kohärenten Erzählung einsetzt. Die Arbeit mit dem Ballett Zürich ist nach vielen beglückenden Momenten der Zusammenarbeit fast eine Art Heimspiel für mich. Nach den Erfahrungen aus Faust hatte ich meine Peer Gynt-Besetzung fast vollständig im Kopf. Ich wusste sofort, wer wer sein wird, und meine Erwartun gen haben sich nach einigen gemeinsamen Proben auf das Schönste erfüllt. Zürich ist der richtige Ort, um dieses Ballett neu zu inszenieren. Das Gespräch führte Michael Küster
oben: William Moore, Katja Wünsche und Choreograf Edward Clug unten: Michelle Willems und Jan Casier
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Trugbilder vom Hippieglück In Joseph Haydns Oper «Il mondo della luna» wird einem betagten Herrn ein Besuch auf dem Mond vorgegaukelt. In der Neuproduktion, die das Internationale Opernstudio gerade für das Theater Winterthur erarbeitet, geht die Reise zurück in die 60er-Jahre zu Flower Power und freier Liebe. Premiere ist am 5. Mai Text Fabio Dietsche
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iegt es daran, dass die Pandemiemassnahmen endlich aufgehoben sind? Liegt es an der heiter verspielten Partitur von Joseph Haydn, die auf dem Pult liegt? Oder daran, dass die Sängerinnen und Sänger, die hier zusammenkommen, quasi eine grosse Familie bilden? Die Lust, eine Oper auf die Bühne zu bringen, kennt auf dieser Probe des Internationalen Opernstudios jedenfalls keine Grenzen: es wird gemeinsam diskutiert, ungeniert probiert und mit vollem Stimmeinsatz gesungen. Geprobt wird Joseph Haydns Oper Il mondo della luna, die diesjährige Eigen produktion des Internationalen Opernstudios, die Anfang Mai am Theater Winterthur auf die Bühne kommt. In dieser renommierten Ausbildungsstätte am Opernhaus Zürich kommen junge, talentierte Sängerinnen und Sänger aus aller Welt zusammen. Hier haben sie während zwei Jahren die Möglichkeit, ihre Stimme und ihre darstelle rischen Fähigkeiten in einem intensiven Programm weiterzuentwickeln. Workshops mit erfahrenen Sängerinnen und Regisseuren gehören dazu sowie Auftritte auf der Opernbühne in kleineren Partien und die jährliche Opernproduktion in Winterthur. Der französische Dirigent Joseph Bastian leitet die Proben dieser Haydn-Oper. Der ehemalige Posaunist hat seine Stelle im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aufgegeben und widmet sich seit einigen Jahren seiner Dirigentenkarriere. Als Zuzüger hat er oft im Orchester der Bayerischen Staatsoper gespielt. Seine Posaunen- Karriere hat er ausserdem in Bayreuth mit einer Vorstellung der Götterdämmerung beendet. Diese Opernerfahrung ist dem jungen Dirigenten anzumerken. Er ist immer bemüht, eng mit dem Regisseur Tomo Sugao zusammenzuarbeiten. Szene und Musik müssen in einer Haydn-Oper Hand in Hand gehen, das ist den beiden wichtig. In der heutigen Probe ist der Dirigent aber beurlaubt, und das sehen die Pianis tinnen und Pianisten, die ebenfalls Teil des Internationalen Opernstudios sind und hier lernen, wie man mit Sängerinnen und Sängern Partien einstudiert, als Chance: Der Spanier Fernando Martín-Peñasco setzt sich ans Klavier, die ukrainische Pianistin Alina Shevchenko nimmt den Platz des abwesenden Dirigenten ein und gibt von hier aus Einsätze. Nach einer ersten Tenor-Arie stellt sie fest, es sei «gar nicht so einfach, dem Sänger zu folgen». «Du musst ihm nicht folgen,» sagt Fernando am Klavier, «du bist die Dirigentin. Er muss zu dir schauen, bevor er singt.» Belehrend wirkt das nicht, sondern eher kollegial, unterstützend, gemeinsam suchend. Schliesslich haben alle Mitglieder des Internationalen Opernstudios am Ende das gleiche Ziel, nämlich mög lichst viel Erfahrung aus dieser praktischen Schule für ihr späteres Leben im Theater betrieb mitzunehmen. International ist im Fall dieses Projekts übrigens keineswegs übertrieben: neben den bereits erwähnten Nationen kommen die beteiligten Opern studio-Mitglieder aus Mexiko, Venezuela, China, Russland, Südafrika, Polen und der Schweiz. Alle fünf Kontinente sind vertreten. Der Regisseur Tomo Sugao stammt aus Japan. Auf seinem Regiepult liegt der Klavierauszug einer Oper aus dem 18. Jahrhun dert. Laut dem Titel geht es um «Die Welt des Mondes», die Figuren haben altmodisch anmutende italienische Namen: Bonafede etwa, auf deutsch «der Gutgläubige», oder Ecclitico, eine offensichtliche Anspielung auf die Mondfinsternis, die Eklipse. Was ist das für ein Stoff, und was hat Joseph Haydn dazu bewogen, ihn zu vertonen?
Die Mondwelt als plakativer Gegenentwurf zum gewohnten Leben Haydn ist bekanntlich einer der grossen klassischen Sinfoniker neben Mozart und Beethoven. Dass er als Kapellmeister der ungarischen Familie Esterházy, in deren Diensten er fast dreissig Jahre lang stand, auch für die Aufführungen von Opern verantwortlich war – und diese Aufgabe wohl als seinen Hauptberuf verstanden hat – ist hingegen weniger bekannt. Allein die Tatsache, dass Haydn seine Tätigkeit als Opernkapellmeister nicht öffentlich in einer grossen Metropole, sondern exklusiv in den Residenzen der Esterházys ausübte, führte dazu, dass dieser Teil seines Schaffens weniger wahrgenommen wurde und oft unterschätzt wird. Haydn war von 1776 bis
1790 offiziell als Opernkapellmeister angestellt und dirigierte in etwa 1’200 Vorstel lungen über 80 verschiedene Opernpartituren. Selber komponierte er insgesamt 20 Bühnenwerke. Il mondo della luna wurde 1777 anlässlich einer Hochzeit auf Schloss Esterháza aufgeführt. Das Libretto des italienischen Komödiendichters und Libret tisten Carlo Goldoni war damals nicht neu. Bereits 1750, im Jahr seiner Entstehung, wurde es in Venedig von Baldassare Galuppi vertont, weitere Kompositionen u.a. für Rom und Neapel folgten. Für den privaten Rahmen einer Hochzeit bei den Esterhá zys war die Novität des Stoffes aber nicht das wichtigste Kriterium: Entscheidend war ein Stoff, der möglichst effekt- und fantasievoll auf die Bühne gebracht werden konnte. Und was würde diesen Zweck besser erfüllen als eine mit den Mitteln des Theaters erzählte Reise zum Mond? Mondreisen waren in der Literatur bereits im 17. Jahrhundert ein beliebtes Thema, so erschien beispielsweise 1638 postum der Roman The Man in the Moon des englischen Schriftstellers Francis Godwin, in dem ein Mensch mithilfe einer von Gänsen gezogenen Flugmaschine zum Mond reist. Zu den Vorläufern der Scien ce-Fiction-Literatur zählt auch die Reise zum Mond des französischen Schriftstellers Cyrano de Bergerac, die Goldonis Libretto direkt beeinflusste. Und auch der Aufklä rer Fontenelle beschäftigte sich in seinen Dialogen über die Mehrheit der Welten (1686) spekulativ mit dem Leben auf dem Mond. Das philosophische und naturwissenschaft liche Interesse am Erdtrabanten rückt bei Goldoni und Haydn jedoch in den Hinter grund. Entscheidend ist für das Theater vor allem, dass die Mondwelt einen plakati ven Gegenentwurf zum gewohnten Leben auf der Erde darstellt. Im Mittelpunkt der Handlung von Il mondo della luna steht Bonafede, ein rei cher Alter, der zwei Töchter hat, die er möglichst lukrativ verheiraten will. Der gewitzte «falsche Astrologe» Ecclitico hat es auf Bonafedes Geld und auf dessen Tochter Clarice abgesehen. Er verbündet sich mit Ernesto und dessen Diener Cecco, die ih rerseits Bonafedes andere Tochter, Flaminia und seine Zofe Lisetta für sich gewinnen wollen. Unter der Wirkung eines Elixiers wird Bonafede von ihnen in den eigenen Garten geführt, der in eine fantastische Mondlandschaft verwandelt wurde. Bonafede erlebt dort den Auftritt des Mondkaisers – der von Cecco gespielt wird – und muss zusehen, wie seine beiden Töchter und Lisetta, die er selbst begehrt, verheiratet werden. Erst als das Spiel mit den Worten «Finita è la commedia» beendet wird, er kennt Bonafede, dass er von allen betrogen wurde.
Il mondo della luna Oper von Joseph Haydn
Vom Pflegeheim in die Hippiezeit
Premiere 5 Mai 2022 Weitere Vorstellungen 7, 11, 13, 15 Mai 2022 Theater Winterthur
Für den Regisseur Tomo Sugao, den Bühnenbildner Paul Zoller und die Kostüm bildnerin Michaela Barth war schnell klar, dass eine grautönige Mondkrater-Landschaft keine attraktive Umgebung für diese Komödie sein würde. Dem Team war es wichtig, die Geschichte in unserer Gegenwart beginnen zu lassen, um von hier aus in eine stark kontrastierende Fantasiewelt zu gelangen. Auf der Probebühne steht nun ein Raum in klinischem Weiss, in dem auf ebenso weissen Stühlen und Sesseln nicht nur Sängerinnen und Sänger des Internationalen Opernstudios, sondern auch ältere Mitglieder des Statistenvereins zu sehen sind. Bonafede schiebt zu Beginn der Inszenierung einen Rollator vor sich her. Sie spielt dort, wo der Alte heute vermutlich anzutreffen wäre: im Pflegeheim für Betagte. Bonafedes Töchter gehen hier ein und aus, wenn sie ihren Vater besuchen. Ecclitico ist ein umtriebiger Pfleger mit Zugang zum Medikamentenschrank. Auch Ernesto, Cecco und Lisetta arbeiten im Pflegeheim. Nur ein runder Himmelskörper in Globus- Form erinnert daran, dass es in diesem Stück eigentlich um den Mond gehen soll. Statt auf den Mond wird Bonafede im zweiten Akt dieser Inszenierung zurück in seine Jugend geführt – und diese Interpretation ist nicht einmal weit hergeholt, denn in den 60er-Jahren, die hier als Gegenwelt heraufbeschworen werden, landete Neil Armstrong bekanntlich erstmals auf dem wirklichen Mond. Viel wichtiger ist
Musikalische Leitung Joseph Bastian Inszenierung Tomo Sugao Bühnenbild Paul Zoller Kostüme Michaela Barth Lichtgestaltung Dino Strucken Dramaturgie Fabio Dietsche Bonafede Ilya Altukhov Clarice Chelsea Zurflüh Flaminia Ziyi Dai Lisetta Freya Apffelstaedt Ecclitico Leonardo Sánchez Ernesto Saveliy Andreev Cecco Luis Magallanes Musikkollegium Winterthur Statistenverein am Opernhaus Zürich Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich
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aber, dass sowohl Bonafede als auch die drei jungen Paare in dieser Oper eine Welt der freien Liebe herbeisehnen – Bonafede, weil er gerne frei über alle Frauen verfügen will, und die jungen Menschen, weil sie ohne fremden Zwang entscheiden wollen, wen sie lieben. Die Handlung der Oper, in der ursprünglich auch das im 18. Jahr hundert brisante Thema der Vernunftheirat kritisiert wird, lässt sich also leicht in die Jahre der Hippie-Bewegung übertragen, in der die Ehe erneut stark hinterfragt wurde. Rund um die Probebühne verteilt, liegen deshalb schon haufenweise bunte Batik-Tü cher, Regenbogengirlanden, und Glitter bereit, die Bonafedes Pflegeheim in die Welt seiner Jugend verwandeln sollen. Das Pflegepersonal wird ihm in diesen Szenen im Hippie-, Guru- und Rockabilly-Look begegnen und für einmal lustvoll die geltenden Hierarchien umdrehen. Aktuell wird aber noch der erste Akt im Pflegeheim geprobt. Tomo Sugao steckt mit den Sängern und Sängerinnen tief in Diskussionen über die Rollenbilder, die genau erkundet werden wollen: Ist für Flaminia jetzt eigentlich die Liebe oder die Vernunft die wichtigere Instanz? Und will Clarice tatsächlich um jeden Preis heiraten? Und Bonafede? Findet er es wirklich gut, wenn Frauen von ihren Männern betrogen und geschlagen werden? Carlo Goldoni, der auch in seiner berühmtesten Komödie Mirandolina eine starke Frauenfigur geschaffen hat, steht jedenfalls auch in diesem Stück auf der Seite der Frauen und der jungen Generation: Am Ende muss sich Bo nafede geschlagen geben. Während der Regisseur mit einem Sänger über seine Partie spricht, wird es rund ums Klavier allmählich unruhig. Statt Haydn erklingt jetzt plötzlich die Bohemian Rhapsody, und bald singt das halbe Ensemble lautstark bei diesem Queen-Song mit. Der Regisseur lacht über diese Unterbrechung und findet diesen jugendlichen Über schwang gut. Wenn der Dirigent zurück ist und diese Energien gebündelt in Haydns Oper fliessen, wird es dieser sicher nicht an Leidenschaft fehlen.
kunsthaus.ch Meret Oppenheim, Glove (Detail), 1985, Parkett-Ed. Nr. 4, Kunsthaus Zürich, Geschenk von Ursula Hauser, 2004, © 2022, ProLitteris, Zurich
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Chelsea Zurflüh Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Heute hatte ich einen freien Tag und habe ausnahmsweise mal keine Musik gemacht. Ich bin bei meiner Familie in Pieterlen, das ist in der Nähe von Biel, und habe hier gemeinsam mit meinem Bruder das Badezimmer im Elternhaus renoviert. Es ist eine gute Abwechslung, sich handwerklich zu betätigen und dann das Ergebnis zu sehen! Seit ich in Zürich lebe, komme ich gerne immer wieder hierhin zurück.
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Auf was freuen Sie sich in der HaydnOper Il mondo della luna besonders? Das ist meine erste Opernproduktion, in der ich ausschliesslich mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Opern studios auf der Bühne stehe. Mit ihnen macht diese Arbeit viel Spass! Es ist aber auch eine wirkliche Herausforderung, Szene und Musik stimmig, logisch und präzise zusammenzubringen. Ich freue mich besonders darüber, diesen ganzen Prozess vom ersten Probentag über die erste Probe im richtigen Kostüm, bis zur Premiere erleben zu dürfen. Wer ist Clarice? Clarice ist eine der drei weiblichen Par tien in Haydns Il mondo della luna. Wir haben gerade in den Proben heraus gefunden, oder nehmen es zumindest an, dass sie die jüngere Tochter von Bonafede ist. Der Vater will Clarice und ihre Schwester Flaminia möglichst reich verheiraten, hat bisher aber keine Männer gefunden, die sich dafür eignen. Clarice stellt sich stärker als ihre Schwes ter gegen den Vater und will sich von ihm befreien. Das zeigt sich in unserer Inszenierung auch an dem strengen, braven Kostüm, in dem ich zunächst stecke. Aus diesen Zwängen will Clarice ausbrechen. Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt? Ein besonders wichtiges und schönes Erlebnis war für mich das Bachelor-
Projekt an der Luzerner Hochschule. Zusammen mit einer Kollegin habe ich entschieden, Webers Freischütz auf die Bühne zu bringen. Im Rahmen eines Bachelor-Projekts war das ein sehr auf wändiges Vorhaben: Wir haben Spenden eingeholt, die Oper eingerichtet, Sänger und Orchester zusammengebracht, die Aufführungen in Luzern, Biel und St. Gallen organisiert und schliesslich noch Ännchen und Agathe gesungen! Am Ende waren wir selber erstaunt, dass wir das alles gestemmt haben. Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben? Ich lese gerade Circe von Madeline Miller, ein Buch, das mir sehr gut gefällt. Es dreht sich um die mythologische Figur der Kirke, die ich unlängst in der Familienoper Die Odyssee auch am Opernhaus verkörpert habe. Welche CD hören Sie immer wieder? Das erste Mozart-Album von Regula Mühlemann. Sie hat in Luzern bei Barbara Locher studiert, wie ich. Ihre Stimme fasziniert mich jedesmal aufs Neue. Mit wem würden Sie gerne einmal essen gehen? Mit der amerikanischen Sopranistin Lisette Oropesa, deren Stimme ich ebenfalls sehr bewundere. Vielleicht er gibt sich diese Chance ja, wenn sie im Mai hier Lucia di Lammermoor singt... Woran merkt man, dass Sie Schweizerin sind? Ich bin nicht immer pünktlich, aber ordentlich! Chelsea Zurflüh studierte Gesang an der Luzerner Musikhochschule sowie an der Hochschule der Künste Bern am Schweizer Opernstudio Biel. Am Konzert Theater Bern hat sie Adele («Die Fledermaus») gesungen. Am Opernhaus Zürich war sie zuletzt als Zaida («Il turco in Italia») zu hören. In «Il mondo della luna» singt sie Clarice.
Aber der Richtige... Richard Strauss’ späte Oper «Arabella» ist in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Verunsicherung entstanden. Die letzte idealisierte Liebes heirat der Operngeschichte ist damit auch ein Tanz auf dem Vulkan.
Foto: T + T, Toni Suter
Mit Hanna-Elisabeth Müller, Anett Fritsch, Josef Wagner, Pavol Breslik u. a. Vorstellungen: 8, 13, 15, 20 Mai 2022
46 Volker Hagedorn trifft …
Hanna-Elisabeth Müller Hanna-Elisabeth Müller sang am Opernhaus Zürich zuletzt Ilia in Mozarts «Idomeneo». Ihren internationalen Durchbruch erlebte sie 2014 als Zdenka in Strauss’ «Arabella» bei den Salzburger Osterfestspielen. Sie war Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper und singt als Gast an grossen Bühnen wie der New Yorker Met oder der Wiener Staatsoper Rollen wie Donna Anna, Susanna und Elettra («Idomeneo»).
An einem Vormittag mitten in der Spielzeit kann man sich auf der Piazza della Scala in Mailand kaum vorstellen, was für ein Trubel hier am grossen Abend des Jahres herrscht, zum berühmten Saisonstart im Dezember, ein Ritual mit Demonstranten und Zaungästen, Polizei zu Pferd und zu Fuss, mit Prominenz und Paparazzi. Selbst der Abend von gestern scheint schon wieder weit weg zu sein, eine Vorstellung von Don Giovanni, in der Regie von Robert Carsen. Die Scala steht fast bescheiden im Licht eines bewölkten Frühlingsvormittags, und im Café Il Foyer gleich nebenan findet man leicht einen freien Tisch. Der jungen Frau, die sich da niederlässt, sieht man nicht an, dass sie gestern Abend eine der anspruchsvollsten, abgründigsten Partien für lyrischen Sopran gesungen hat, verkörpert in einer faszinierenden Mischung aus Verwirrung und Entschlossenheit, die Stimme glühend und silbern zugleich. Hanna- Elisabeth Müller wirkt so frisch, als hätte sie eine Reihe erholsamer Tage in Mailand hinter sich – dabei steht sie als Donna Anna jeden zweiten Abend auf der Bühne des vielleicht berühmtesten Opernhauses der Welt. Sie lebt hier nur für diese Figur, die sie zum allerersten Mal vor fünf Jahren sang, ebenfalls an der Scala. Hat sich seitdem ihre Anna verändert? «Ich habe gerade in den letzten Tagen daran gedacht», meint sie. «Meine Anna ist jetzt viel stärker vom ersten Moment an. Früher war ich viel vorsichtiger, wahrschein lich auch wegen des Rollendebüts, die Rolle muss ja auf der Bühne erst ersungen werden. Ich dachte früher, sie sei vom Gemüt her viel zarter, das glaube ich gar nicht mehr. ‹Or sai chi l’onore… jetzt weisst du, wer mich entehren wollte›, das ist fast bedrohlich. Sie ist nicht hysterisch, sie ist ausser sich. Sie kann auch nicht erkennen, dass Don Ottavio ihr eigentlich Halt geben könnte. Menschen in Extremsituationen können auch ausbrechen.» So etwas umzusetzen ist an der Scala eine besondere Her ausforderung. «Das Publikum hier weiss, was ein guter Don Giovanni ist. Ein grosser Prozentsatz kann den Abend mitsingen. Die kennen noch fünf andere Donna Annas und vergleichen auch alle, und zwar radikal, das finde ich nicht verkehrt. Wenn die einen gut finden, darf man sich freuen.» Ist es ein weiter Weg von Donna Anna zu Arabella, der Titelheldin in Strauss’ später Oper, die sie im Mai in Zürich zum ersten Mal singen wird? Zu einem wohlerzogenen, fast harmlosen Mädchen? «Harmlos, das glaube ich nicht. Eher gezeichnet von dem Leben, in dem sie sich da befindet.» Hanna kennt die Oper bestens aus der Perspektive von Zdenka, Arabellas Schwester – in dieser Rolle wurde sie vor acht Jahren in Salzburg mit einem Schlag bekannt. «Der erste Blick, den man auf Arabella hat, zeigt tatsächlich ein verwöhntes Mädchen, dem man auferlegt hat, mit einer guten Heirat die Familie zu retten. Wenn man das nur liest, wirkt es so unbekümmert, unbelastet. Aber wenn man ein bisschen am Lack kratzt, zeigt sich, der Druck auf sie ist immens. Das Geld der Eltern reicht schon seit fünfzehn Jahren nicht, im Hintergrund gibt es Kriegsgeschehen, eher eine düstere Zeit. Und dass sie in einem Hotel leben – ich kann mir vorstellen, dass es die letzte Etage oben ist, wo mal die Dienstmädchenzimmer waren.» Und sie ist sich gar nicht so sicher, ob uns eine Situation historisch wirklich schon entrückt ist, in der Eltern die Ehe planen wie im Wien der 1860er von Arabella. «Arrangierte Ehen gibt es heute viel mehr, als man es mitbekommt, nur nicht so offen, gerade in betuchten Familien. Töchter werden auf bestimmte Schulen der Elite geschickt und sollen da bitte auch ihren Ehemann kennenlernen, oder sie gehen schon als Kinder Golf spielen, damit sie sich in einem gewissen Kreis befinden und nicht im Sportverein mit der Dorfjugend, die abends ein Bier trinken geht. Die sind dann halt im Golfclub und essen Clubsandwich.» Sie lacht und greift zum Schokocroissant neben ihrem Capuccino.
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Doch wie nah oder fern uns gesellschaftliche Verhältnisse in den Opern der letzten vier Jahrhunderte sein mögen, «die Gefühle und Emotionen bleiben immer gleich, sie werden nur anders gelebt und erlebt. Alles, was vertont wurde, ist noch mal viel ehrlicher, weil es durch die Musik verstärkt wird. Man kann nur Kniefälle machen vor diesen begnadeten Komponisten. Wie es möglich ist, dass man eine Emotion erkennt, ohne den Text zu lesen!» In ihrer neuen Partie bewegt sie Arabellas Monolog «Mein Elemer…» besonders, nicht nur wegen der widersprüchlichen, ungewissen Gefühle darin. «Den Text hat Hofmannsthal kurz vor seinem Tod noch hinzugefügt, und das hatte Strauss sicherlich im Kopf, als er ihn vertonte. Da ist eine Schwere drin und etwas Bedrückendes. Ich höre da auch viele Parallelen zu den Vier Letzten Liedern.» Parallelen interessieren Hanna-Elisabeth Müller sowieso, Querverbindungen, «Gruppierungen», wie sie sagt. Darum hat sie vor fünf Jahren für ihre erste CD als Liedsängerin Werke von Richard Strauss, Arnold Schönberg und Alban Berg zusammengestellt unter dem Titel, den Bergs aussergewöhnliche, frühe Rilke-Vertonung von 1907 trägt: Traumgekrönt. «In welchem Feld diese Komponisten sich zur gleichen Zeit bewegen konnten, das ging stilistisch so weit auseinander und doch mit so vielen Überschneidungen – da wollte ich Parallelen ziehen. Ich finde es auch schön, wenn man im Konzert als Hörer von so einem Konzept wachgehalten wird.» Es ist eines der spannendsten Liederalben der letzten Jahre – und absolut kein Mainstream. «Es war einfach klar, dass es dieses Programm sein muss! Ich dachte, wenn ich eine CD aufnehme, dann so oder gar nicht.» Was den Mainstream betrifft, die Orientierung an dem, was den breitesten Erfolg hat – sie versteht Leute, die «auf Nummer sicher» gehen, «das ist auch eine Art zu leben und nicht verwerflich! Je mehr man gegen Erwartungen angeht oder sie einfach nicht annimmt, desto verletzlicher ist man. Es ist anstrengender in jeder Hinsicht. Ich kann auch bei Künstlern nachvollziehen, dass man nicht rausfallen will. Aber es muss auch möglich sein, eine Interpretation oder ein Programm zu machen, womit man völlig danebenliegen könnte. Sonst wäre die Kunst ja langweilig!» Und Sänger sollten unverwechselbar sein: «Im besten Fall weiss man beim Blindhören nach zehn Sekunden, wer es ist!» Hat es früher mehr Unverwechselbare gegeben in der Welt der Sängerinnen und Sänger? «Vielleicht. Aber vor fünfzig Jahren war Oper sehr glamourös und die Sänger waren als Stars unterwegs, fast arrogant. Ich würde immer Menschen einladen wollen, mitnehmen, da abholen, wo sie gerade ihren Kopf haben.» Nirgendwo freilich sei solche Nähe möglich wie beim Liederabend. «Da kann ich fast flüstern! Ich versuche es auch auf einer Bühne wie hier, aber das ist ein anderes Flüstern, eine andere Stimmansprache, mit so einem Riesenorchester.» Dass sie überhaupt mal auf der Opernbühne stehen würde, hat sie übrigens noch mit 24 Jahren nicht gedacht, und nach dem Abitur sah sie sich noch als künftige Zahn medizinerin. «Es ist ein schöner Beruf. Alle, die hingehen, finden es schrecklich, und danach sind sie erleichtert, glücklich, und haben keine Schmerzen mehr. Und es ist auch ein ästhetischer Beruf!» Aber da war ihre Chorleiterin und Gesangslehrerin, die ihr vorschlug, sie könne doch mal ein paar Aufnahmeprüfungen für ein Gesangsstudium machen, «nur damit wir wissen, wie der Stand der Dinge ist. Und dann haben mir die Vorbereitungen und die Prüfungen soviel Spass gemacht, dass ich mich dafür entschied.» Aber noch lange nicht für die Oper, «ich wollte Konzertsängerin werden!» Als sie dann aber von der Mannheimer Hochschule ins Opernstudio der Bayerischen Staatsoper kam, ging alles ganz schnell… und am schnellsten der Weg über die Maxi milianstrasse, in unverhoffte Nähe zu einer der Grössten ihres Fachs. «Ich brauchte unbedingt einen Friseurtermin, und in der Maske sagten sie mir, geh doch rüber zu Pauli! Da hat mich ein älterer Herr frisiert, der fing an zu erzählen, bis ich sagte, ich hab’ gleich Probe. Ach, eine Sängerin, sagte er, und dass er so gern an die Lucia denkt. Lucia Popp, die hat er immer frisiert!» Sie ist jahrelang seine Kundin geblieben. Volker Hagedorn
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Peer Gynt Der Tagträumer aus Henrik Ibsens Drama Von Wolfgang Schmidbauer
erlebte. Unschwer finden wir in solchen Tagträumen die Nähe zum kindlichen Spiel, in dem es doch vor allem darum geht, gross, stark, erwachsen, ja mehr als erwachsen zu sein: ein Held, stärker und mächtiger als Trolle und Dämonen. Freud beschäftigte sich in einem klei nen Essay, Der Dichter und das Phantasieren, mit dem Unterschied zwischen dem kindlichen Spiel und den in ihrem Inhalt ganz ähnlichen Fantasien Erwach sener, die doch auch Dichtern ihre Stoffe liefern. Das Kind schämt sich nicht, es findet unbefangenen Genuss an seinen fantastischen Produktionen. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, der auf seinem Fahrrad strampelte und lauthals schrie: «Ich bin ein Motorrad, ich fahre hundert!» Anders der Erwachsene, be merkt Freud: «Dieser weiss einerseits, dass man von ihm erwartet, nicht mehr zu spielen oder zu fantasieren, sondern in der wirklichen Welt zu handeln, und an dererseits sind unter den seine Fantasien erzeugenden Wünschen manche, die es überhaupt zu verbergen not tut; darum schämt er sich seines Fantasierens als kin disch und als unerlaubt.»
Wer glücklich ist, fantasiert nicht, das tut nur der Unbefriedigte. Seine Fantasie will eine kränkende Wirklichkeit korrigieren. Peer Gynt ist in diesem Unter drücken recht unvollkommen, er erlaubt sich so allerhand, vom Brautraub bis zum Sex mit Troll-Töchtern. Die Liebe Sol veigs, die es ehrlich mit ihm meint, kann seinen Hunger auf Grösse und Abenteuer nicht stillen. Er verlässt sie; wir begegnen ihm wieder als reichem Kaufmann in Marokko. Peer Gynt kann das Träumen nicht lassen, riskiert zu viel und verliert. Wie Odysseus landet er endlich schiffbrü chig an heimischer Küste. Dämonen scha chern um seine Seele. Solveig rettet ihn: in ihrer Liebe hat sie ihn immer bei sich bewahrt, und da diese Liebe rein ist, trägt auch Peer Gynt keinen Makel. Ibsens Kritik an Doppelmoral und erlogener Grandiosität setzt nicht auf Emanzipa tion, sondern auf romantische Liebe. Wolfgang Schmidbauer ist Psycho analytiker und schreibt in jeder MAG-Ausgabe über Figuren des Opernrepertoires
Illustration: Anita Allemann
Im Volksmärchen ist es oft der jüngste Sohn, den alle den Dummling nennen, der sich aus einer engen Welt heraus träumt. Auch in den norwegischen Feen geschichten, die der Förster Peter Chris ten Asbjørnsen ganz im Geist der Brüder Grimm sammelte, ist Peer Gynt eine sol che Figur. Er wäre längst vergessen, hätte nicht Henrik Ibsen in einem grossen Vers drama aus ihm eine vieldeutige Figur geschaffen, die noch heute in psychologi schen Textbüchern auftaucht, wenn Au toren nach einem Bild für das Rätsel der menschlichen Identität suchen. Wie fin den wir sie? Gibt es sie überhaupt? Nein, antworten Gynt/Ibsen: Die Persönlich keit gleicht einer Zwiebel – lauter Hüllen, Masken, aber kein fester Kern. Die mo derne Identität ist ein Patchwork, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp. Peer Gynt ist ein Gemisch aus Baron Münchhausen und Faust, ein Tagträumer, der in einer Hütte lebt, aber sich in ein Schloss und diverse Heldentaten hinein erzählt, nicht anders als Karl May, der im Zuchthaus sass und gleichzeitig als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi Aben teuer mit wilden Tieren und Menschen
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