MANON LESCAUT


GIACOMO PUCCINI


GIACOMO PUCCINI
Partnerin Opernhaus Zürich a b
Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass das Leben nur Erinnerung ist, bis auf den einen gegenwärtigen Moment, der so schnell vergeht, dass Sie ihn kaum erfassen können?
Tennessee Williams
Amiens. Ein belebter Platz. Der Student Edmondo besingt den Abend und die Liebe. Sein Freund Renato Des Grieux steht gedankenverloren abseits der vergnügten Menschenmenge. Er behauptet, die Liebe nicht zu kennen. Schliesslich lässt er sich von der heiteren Stimmung anstecken.
Die Kutsche aus Arras trifft ein. Unter den Reisenden befindet sich auch Manon Lescaut. Des Grieux sieht Manon zum ersten Mal und verliebt sich sofort. Er erfährt, dass sie in ein Kloster eintreten soll. Als ihr Bruder Lescaut sie ruft, bittet Des Grieux sie, später zurückzukommen.
Lescaut unterhält sich mit dem reichen Geronte, der ebenfalls mitgereist ist. Geronte interessiert sich für Manon und gibt dem Wirt, bei dem sie absteigen, heimlich Anweisungen, ihre Entführung vorzubereiten.
Edmondo hat das Gespräch belauscht und berichtet Des Grieux davon. Dieser ist Manon verfallen und bittet Edmondo um Hilfe.
Als Manon wiederkommt, gesteht Des Grieux ihr seine Liebe. Er erzählt ihr von Gerontes Plänen und überredet sie, mit ihm durchzubrennen. In einer Kutsche, die Edmondo organisiert hat, fliehen die beiden nach Paris.
Während Lescaut trinkt und Karten spielt, glaubt Geronte, dass der Moment gekommen ist, um Manon zu entführen. Er muss aber erkennen, dass Des Grieux ihm zuvorgekommen ist. Lescaut beruhigt ihn: In Paris würde dem Studenten bald das Geld ausgehen.
Paris. Manon lebt jetzt bei Geronte. Ihr Bruder Lescaut hat dieses Leben in Reichtum für sie arrangiert. Manon sehnt sich jedoch nach Des Grieux und seiner leidenschaftlichen Liebe. Ein Madrigal, das für sie vorgetragen wird, langweilt sie. Lescaut entscheidet, Des Grieux aufzusuchen.
Im Tanzunterricht zeigt sich Manon eigensinnig. Geronte ist von ihr hingerissen. Manon täuscht ihm Liebe und Zärtlichkeit vor.
Wieder allein, wird sie von Des Grieux überrascht. Dieser macht ihr Vorwürfe wegen ihres Lebenswandels. Doch bald schlägt die Stimmung um: Des Grieux und Manon vergessen sich im Liebesrausch.
Geronte erwischt die beiden. Doch Manon lässt ihn abblitzen. Er verspricht, sich zu rächen und geht.
Des Grieux drängt zur Flucht, aber Manon realisiert, dass sie nun den Reichtum aufgeben muss. Des Grieux verzweifelt über ihre Wankelmütigkeit.
Lescaut hat erfahren, dass Geronte Manon und Des Grieux angezeigt hat. Er eilt her, um sie zur Flucht zu bewegen. Manon steckt Geld und Juwelen ein.
Doch zu spät: Geronte kommt mit Verstärkung und lässt Manon verhaften.
Le Havre. Manon soll in eine Strafkolonie nach Amerika verschifft werden. Des Grieux und Lescaut wollen sie befreien. Lescaut hat die Wachen bestochen. Des Grieux gelingt es, Manon zu sehen. Er verspricht, sie nicht im Stich zu lassen.
Der Befreiungsversuch scheitert. Vor den Augen von Schaulustigen werden Manon und andere Inhaftierte aufgerufen und zum Schiff abgeführt. Verzweifelt bittet Des Grieux darum, als Schiffsjunge nach Amerika mitfahren zu dürfen.
Die Bitte wird ihm gewährt.
Amerika. Erschöpft und durstig schleppen sich Manon und Des Grieux durch die Wüste. Während Des Grieux eine Unterkunft für die Nacht sucht, lehnt sich Manon ein letztes Mal gegen den nahenden Tod auf und erinnert sich an die Vergangenheit.
Des Grieux’ Suche war erfolglos. Manon wird immer schwächer und deliriert. Sie bekräftigt ein letztes Mal ihre Liebe zu Des Grieux und stirbt.
Der Regisseur Barrie Kosky im Gespräch
Barrie, du hast deine erste Puccini-Oper verhältnismässig spät in deiner Karriere inszeniert, nämlich 2014 hier am Opernhaus Zürich. Warum erst dann?
Ja, das ist merkwürdig. Puccini stand nämlich schon sehr früh ganz oben auf meiner Liste. Das Problem war, dass die meisten Opernhäuser eine altbewährte und beliebte Inszenierung von Tosca oder La bohème im Repertoire haben. Als Andreas Homoki mich fragte, welches Stück ich hier als erstes machen möchte, sagte ich deshalb: La fanciulla del West. Und das haben wir dann gemacht. An der Komischen Oper gab es ebenfalls beliebte Inszenierungen von La bohème, zuerst von Walter Felsenstein, dann von Harry Kupfer Da ich mit Beginn meiner Berliner Intendanz entschieden hatte, mit der Tradition zu brechen, dass an diesem Haus alles auf Deutsch gesungen wird, konnte ich dort aber eine erste Bohème auf Italienisch machen – Puccini muss man nicht auf Deutsch singen, das ist doch Folter! Seither habe ich Tosca, das Trittico und Turandot in Amsterdam inszeniert, und mit Manon Lescaut endet meine Puccini-Reise nun am Opernhaus Zürich. Und wieder arbeite ich mit dem Dirigenten Marco Armiliato, mit dem ich bereits La fanciulla del West gemacht habe. Wir haben kürzlich festgestellt, dass wir diese beiden Opern von Puccini am liebsten haben! Madama Butterfly möchte ich nicht inszenieren. Und La rondine ist zwar ein interessantes Operetten-Experiment, aber ebenfalls not my cup of tea.
Dein Interesse für Puccini geht aber sehr viel weiter zurück? Ironischerweise war Madama Butterfly die erste Oper, die ich mit sieben Jahren gesehen habe. Es ist vielleicht eine Frechheit, das zu sagen, aber später
hat mich diese Geschichte nie berührt. Von der Puccini-Klangwelt war ich allerdings sofort hingerissen. Sie hat mein Leben verändert. Puccini gehört für mich neben Mozart, Monteverdi und Janáček zu den Komponisten, deren Musik sehr stark mit dem Wort verbunden ist. Sehr ähnlich wie bei Janáček gibt es bei Puccini viel Konversation, die aber nie realistisch gedacht ist.
Beide sind Meister darin, mit den Mitteln der Musik die Essenz von Konversationen emotional zum Ausdruck zu bringen. Dazu kommt bei Puccini der unglaubliche Instinkt für das Theater. Man spürt bei ihm, dass er beim Komponieren die ganze Inszenierung vor sich sieht. Er sieht innerlich jeden Schritt, den ein Darsteller macht. Ich glaube, das konnte sonst kein Komponist.
Puccini denkt fast filmisch, obwohl es zur Zeit von Manon Lescaut in Italien noch keinen Film gab. Das merkt man auch daran, dass am Libretto neben ihm selbst sieben Autoren mitgeschrieben und die Dramaturgie geprägt haben…
Puccini ist der Komponist, der uns in das 20. Jahrhundert begleitet. Manon Lescaut wurde 1893 uraufgeführt. In vielen Stücken dieses letzten Jahrzehnts riecht man schon die Moderne. Puccinis Manon Lescaut hat nichts mehr mit der Manon-Oper von Jules Massenet zu tun, die tief mit der bürgerlichen Tradition der Belle Époque verbunden ist. Puccini gibt bereits einen Vorgeschmack auf das 20. Jahrhundert, auf die Emanzipation der Frauen, und er spürt, was das Publikum braucht, nämlich diese melodramatische Kombination aus Gewalt und Erotik. Und die Form des Melodramas prägt dann auch sehr bald den frühen Film, der die grosse Zeit der Oper in gewisser Weise auch vernichtet. In ihrer emotional überhöhten Darstellung ritualisierter Geschichten steht die Oper in dieser Zeit auf ihrem absoluten Höhepunkt.
Das Melodrama wird aber oft als kitschig und sentimental abgetan. Kann man das Puccinis Manon Lescaut auch zum Vorwurf machen?
Ich finde es eine sehr deutsche Mentalität, Puccini so aufzufassen. Für mich ist das falsch. Sentimental ist Puccini nur mit einem schlechten Dirigenten oder mit einem Sänger, der viel rubato machen möchte. Die Struktur, der Rhythmus, das Storytelling und die Psychologie seiner Stücke sind für mich
absolut nicht kitschig. Puccinis Musik ist ist leidenschaftlich, italienisch von Kopf bis Fuss.
Manon Lescaut gilt als sein erster grosser Erfolg. Er hat mit diesem Stück zu sich selber gefunden. Wie äussert sich das?
Puccini präsentiert in dieser Oper wie auf einem Büffet alles, was man in seiner späteren Sprache wiederfindet. Es ist noch nicht alles perfekt. Man kann genau beobachten, an welchen Stellen er noch am Suchen ist. Im ersten Akt gibt es wunderbare, typische Puccini-Momente. Man erkennt seine Sprache sofort. Aber insgesamt ist dieser Akt zu fragmentarisch. Zu viel Exposition. Dann kommt der zweite Akt. Der ist wunderbar. Hier webt er seine musikalischen Ideen schon zu einem ziemlich perfekten Teppich, parodiert ironisch das 18. Jahrhundert mit Madrigalen und Menuetten. Das Zentrum des Akts ist das grosse Liebesduett zwischen Manon und Des Grieux. Diese Melodien, diese Verzweiflung. Wie zwei Tiere in einem Käfig! Da kann man schon den zweiten Akt von Tosca erahnen. Der dritte Akt ist gut gebaut – und dann kommt der vierte Akt, der radikal neu ist. Das ist eine Post-Verdi-Welt. In diesem Akt geht die Krone der italienischen Oper von Verdi zu Puccini über.
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Zwei Menschen, die im letzten Akt allein auf der Bühne sind, diese absolute Hoffnungslosigkeit, in der sie sterben, das ist sehr modern. Puccinis Manon Lescaut ist für mich ein nicht-perfektes Meisterstück.
Wie erzählt Puccini diese Geschichte eines jungen Paars, das gemeinsam durchbrennt?
Puccini erzählt die Geschichte viel besser als die Oper von Massenet. Die Handlung wird nicht konsequent, sondern sehr sprunghaft erzählt. Wir sehen fast Bilder vor uns: Erstes Bild: Des Grieux und Manon verlieben sich und fliehen nach Paris. Zweites Bild: Manon lebt bei dem reichen Geronte, ist aber gelangweilt von dem ganzen Reichtum. Sie flieht erneut mit Des Grieux. Da sie Schmuck und Geld mitgehen lässt, wird sie aber verhaftet. Drittes Bild: Manon wird auf ein Schiff gebracht, das sie in eine Strafkolonie nach Amerika bringen soll. Des Grieux schafft es, ebenfalls mitzufahren. Viertes Bild: Manon stirbt vor den Augen von Des Grieux hoffnungslos in der Wüste.
Die Hauptfigur ist Manon. Wie siehst du diese Frau? Manon ist für mich sehr nah bei Wedekinds Lulu. Sie ist eine männliche Projektionsfigur. Sie steht für alles, was Männer begehren, aber auch wovor sie sich fürchten. Auf der anderen Seite ist sie aber auch eine radikal ehrliche Frau: Ich möchte Geld, ich möchte Sex, ich möchte mein Schicksal selbst bestimmen und nicht ins Kloster gehen wie das mein Vater will, ich möchte meinen Mann selbst wählen, ich bin manchmal widersprüchlich und manchmal unsympathisch. Es gibt diesen atemberaubenden Moment im zweiten Akt, in dem sie singt, dass sie Des Grieux immer noch liebt. Und nach dieser hochemotionalen Stelle dreht sie sich zu ihrem Bruder und sagt: «Steht mir dieses Kleid wirklich?» Sie ist sehr ambivalent. Oft wird ihr das als Koketterie angelastet. Auch wenn sie am Ende des zweiten Akts nur an die Juwelen und den Reichtum denkt, den sie jetzt verlassen muss. Aber ich finde das keinen schlechten Charakterzug. Natürlich will sie die Juwelen. Warum denn nicht? Wenn sie am Ende des Stücks einsam und verarmt stirbt, weiss sie, dass sie einen riesigen Fehler gemacht hat! Ich glaube, man ist am Schluss von ihrem Schicksal berührt, weil sie – wie King Lear, Macbeth oder Ödipus – ein Bewusstsein für ihr eigenes Versagen hat. Das macht sie zur tragischen Figur.
Manon wird oft als eine verführerische Frau verstanden, die keine Moral hat und Des Grieux mit ins Verderben reisst. Siehst du das auch so?
Nein. Sie ist keine femme fatale, gegen die Des Grieux machtlos wäre. Des Grieux ist für mich ein Dichter. Er ist eine Künstlernatur, er spielt und trinkt, ist unglücklich. Er ist eine Niete. Kein Revolutionär wie Cavaradossi, kein radikaler Cowboy wie Dick Johnson… Des Grieux ist eher mit dem träumerischen Rodolfo verwandt. Er ist blind verliebt in Manon. Er will nur sie haben. Völlig besessen. Er zerstört sich dadurch selbst.
Die weiteren Figuren leiden im Vergleich zum Roman von Prévost etwas unter der sprunghaften Dramaturgie. Etwa Lescaut, Manons Bruder... Lescaut ist hier fast eine männliche Version von Manon. Die beiden sind fast Zwillinge. Beide ambivalent. Lescaut reist mit seiner Schwester und benutzt sie. Er hat kein Problem, sie dem reichen Alten Geronte zuzuspielen.
Gleichzeitig führt er sie später wieder mit Des Grieux zusammen. Lescaut verliert sich dann aufgrund der Dramaturgie, wie auch Geronte, der eine stereotype Figur ist: the dirty old man. Man braucht ihn für die Handlung. Aber Puccini ist eigentlich nur an den beiden Hauptfiguren interessiert, mit denen er den ganzen letzten Akt gestaltet. Die Oper ist fast ein Duett.
Der dritte Akt ist insofern ungewöhnlich, als Puccini aus einer unwichtigen Episode, der Einschiffung Manons in Le Havre, eine ausgedehnte Szene macht. Warum?
Dafür gibt es ein paar Gründe. Zum einen braucht Puccini eine Brücke zwischen dem Paris-Akt und dem ungewöhnlichen Schlussakt in Amerika.
Ausserdem will er den Untergang Manons betonen. Er will zeigen, wie sie zusammen mit anderen Prostituierten und Kriminellen fortgeschafft wird. Er will vielleicht auch einen kleinen Erfolgsmoment von Des Grieux zeigen, dem es am Ende des Aktes gelingt, mit Manon an Bord zu gehen. Nicht zuletzt scheinen Puccini solche Durchgangsorte zu gefallen, an denen Bewegung vorhanden ist und etwas «passiert». Das sieht man auch im dritten Akt von La bohème, der vor einem Zollhäuschen spielt.
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Apropos Bewegung: Bei den Proben hast du gesagt, dass die Sängerinnen und Sänger bei Puccini konstant in Bewegung sein müssen. Du verwendest auch deutlich mehr Zeit für die Konversationen und die Textgestaltung als für die grossen Arien… Puccinis Welt ist viel weniger statisch als die Verdis. Seine Musik ist instabil. Sein Begriff von Liebe ist viel instabiler als der von Verdi. Der Körper muss deswegen immer im Kampf mit dem Kopf und mit dem Herz sein – sie müssen miteinander in einem Dialog stehen. Die Arien brauchen weniger Bewegung. Die Arbeit fällt, genau wie bei Mozart, in den Rezitativen an, wo die Handlung fortschreitet. Puccini schreibt sehr klar, was er will. Es geht aber nicht nur darum, das musikalisch korrekt zu singen, sondern auch genau zu differenzieren, wo musikalische Emotion im Vordergrund steht und wo es um den Text und die Konversation geht.
Puccini schreibt auch szenisch sehr vieles vor. Klassischerweise findet der erste Akt vor einem Wirtshaus statt, mit Tischen, Stühlen, Gläsern und Spielkarten… Wie gehst du damit um?
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Ich habe viele Inszenierungen von Manon Lescaut gesehen und ausser Hans Neuenfels’ Inszenierung in München waren sie fast alle gleich. Man sieht die üblichen Klischees: Das Wirtshaus, die Studenten, dann die Kurtisanenwelt im zweiten Akt, Manon im Boudoir, ein Tanzmeister, der Friseur etc. Aber mich interessiert dieser ganze Detailreichtum des 18. Jahrhunderts nicht. Manon hasst Madrigale, und sie hasst den Tanzunterricht. Sie will ihren eigenen Tanz machen, weist den Tanzmeister ab und erniedrigt Geronte. Wir versuchen aber nicht nur im zweiten Akt von diesen Klischees wegzukommen. Ich wollte diese Bilder generell nicht haben. Meine Erfahrung sagt mir, dass man Puccini nicht realistisch inszenieren sollte. Die Musik braucht Raum, und man muss andere Metaphern finden. In meiner Tosca habe ich bei Scarpias «Te Deum» beispielsweise nicht eine ganze Kirche auf die Bühne gebracht, sondern ein grosses Fantasie-Triptychon, in dem die Köpfe des Chors als Engel und Teufel zu sehen sind. So etwas ähnliches wollten wir auch für Manon Lescaut finden. Der Chor wird hier als ein grosser Karnevalsumzug zu sehen sein, mit Masken, Kostümen und Instrumenten, die von dem Künstler James Ensor inspiriert sind. Diese Masse, die das Stück wie ein griechischer Chor durchzieht, die Handlung beobachtet und Teil davon wird, gibt dem Stück eine andere Dimension. Ich glaube, der Verismo muss in der Ästhetik nicht verdoppelt werden.
Du hast diesen Chor auch einmal als Fiebertraum beschrieben...
Alle Puccini-Stücke haben etwas von einem «fever dream». Für mich ist das wie eine Mischung aus Tennessee Williams und Alfred Hitchcock, das heisst: Die feucht-unfokussierte gesellschaftliche Qualität von Williams’ Stücken gepaart mit den Thriller-Qualitäten von Hitchcock. Diese Mischung ergibt für mich ungefähr die Welt von Puccini. Seine Opern spielen in einer besonderen Atmosphäre, in einer Welt, die wiedererkennbar ist, aber nicht realistisch.
Das Gespräch führte Fabio Dietsche
Mit «Manon» findet Puccini einen Stoff, an den er glaubt.
Mosco Carner
Im Jahr 1884, als auch Puccinis Le Villi uraufgeführt wurde, hatte Jules Massenet an der Pariser Opéra Comique seine Manon herausgebracht, die auf dem berühmten Roman des Abbé Prévost basierte. Die Oper hatte einen phänomenalen Erfolg und eroberte bald darauf die Opernhäuser der ganzen Welt. Nach Italien kam sie zwar erst im Jahr 1893, aber Puccini kannte die Oper seit mehreren Jahren aus einem Klavierauszug, wenn der Biograf Fraccaroli auch das Gegenteil behauptet. Zweifellos war es Massenets Erfolg, der Puccini bewogen hat, sich am gleichen Thema zu versuchen. Nachdem er den Roman gelesen hatte, war er noch tiefer überzeugt, tatsächlich «den perfekten Gegenstand» gefunden zu haben. «Manon», schrieb er 1889 an den Verleger Giulio Ricordi, «ist eine Heldin, an die ich glaube, und deshalb kann es ihr gar nicht misslingen, die Herzen des Publikums zu bewegen». Endlich hatte er ein Thema gefunden, dessen Atmosphäre, Handlung und Charaktere ideal zu seiner besonderen Begabung passten. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte er selbst einen Gegenstand mit Instinkt ausgewählt, und das machte ihn taub gegenüber Ricordis wiederholter Warnung, es sei ein Risiko, diese Oper zu schreiben, denn sie werde immer wieder den Vergleich mit dem französischen Meisterwerk herausfordern. Als schliesslich auch Marco Praga, einer der vielen Mitarbeiter am Libretto, ihn warnend auf Massenets Oper hinwies, antwortete Puccini, Massenet behandle das Thema wie ein Franzose, mit Puder und Menuett. «Ich werde es wie ein Italiener behandeln, mit verzweifelter Leidenschaft». Damit war die Angelegenheit erledigt. Und weil er die schlechten Erfahrungen mit seinem Edgar-Libretttisten Fontana noch gut im Gedächtnis hatte, schrieb er an Ricordi, dass «kein idiotischer Librettist die Geschichte kaputtmachen darf. Ich selbst werde auch am Libretto mitarbeiten.» Puccini fängt nun an, in einem neuen Ton zu sprechen.
Die Musikwissenschaftlerin Inken Meents im Gespräch über die faszinierende Roman- und Opernfigur Manon Lescaut
Frau Meents, Sie haben sich intensiv mit der Figur Manon Lescaut auseinandergesetzt. Kann man Manon mit ikonischen Opernfiguren wie Carmen, Salome oder Lulu in eine Reihe stellen?
Manon ist etwas weniger populär. Aber Giacomo Puccini hat mit diesem Stoff seinen Durchbruch geschafft, und Manon ist natürlich auch ein bisschen der Auftakt zu seinen weiteren, vieldiskutierten Frauenfiguren. Das macht es interessant, sie etwas genauer zu betrachten. Ich würde schon sagen, dass Manon mit den von Ihnen genannten Figuren verwandt ist, weil sie auch diesen femme fatale-Aspekt in sich trägt, also eine Frau ist, die als chaotisch, verführerisch und zerstörerisch gelesen wird. Eng verwandt ist sie aber auch mit der Kameliendame von Dumas, die als Verdis Traviata zu einer der bekanntesten Opernfiguren überhaupt wurde. Im Roman von Dumas ist Manon sogar ein Vorbild für die Kameliendame: Sie liest den Manon-LescautRoman von Prévost und macht sich Gedanken über deren Leben. Die Traviata ist eher eine – allerdings sehr willensstarke und resiliente – femme fragile, die sich aus Liebe der patriarchalen Welt beugt und ihre Wünsche und Bedürfnisse hinter die ihres Geliebten zurücksteckt. Manon wiederum wird ein ambivalenter Charakter zugeschrieben, sie ist sowohl femme fatale als auch fragile und wird oft als «wankelmütig» beschrieben.
Sie verwenden für diese Ambivalenz Manons den Begriff «femme à parties». Woher stammt er und inwiefern hilft er, diese Figur genauer zu begreifen?
Der Begriff stammt aus einem Brief von Émile Zola aus dem Jahr 1861 und lässt sich meiner Meinung nach sehr gut auf Manon anwenden. Mit dem Begriff «fille à parties» beschreibt Zola dort eine Prostituierte, die er aus dem realen Leben kennt und zugleich zu einer Romanfigur machen will. Er schreibt, dieses Mädchen habe von Geburt aus «gute Eigenschaften», die «Gewohnheit» hätte ihr aber eine «zweite Natur» gegeben, die ihre ursprünglichen Eigenschaften überschatte. Das Schlechte würde bei ihr immer das Gute auslöschen. In dieser Beschreibung steckt sehr viel drin: Zum einen zeigt sie, wie solche Figuren aus einer männlichen Perspektive beschrieben und zugleich moralisch bewertet werden. Zum anderen zeigt sie, dass in der Konstruktion solcher Figuren Realität und Fiktion ineinanderfliessen und widersprüchliche Frauenfiguren erzeugen: Es kollidieren die Eigenschaften der realen Person mit dem Wunschdenken, wie sie laut männlicher Brille zu sein habe.
Geschaffen hat die Manon-Figur der französische Autor Abbé Prévost.
Sein Roman Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut stammt aus dem Jahr 1731. Wie erzählt er diese Geschichte?
Prévosts Roman gehört in den literarischen Bereich der Sitten- und Erziehungsromane, die sich an das Verhalten und die Gefühle junger Männer richten. Im Zentrum steht deshalb der junge Mann Des Grieux, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Des Grieux verliebt sich leidenschaftlich in Manon, die ebenfalls sehr jung ist und eigentlich gerade in ein Kloster eintreten soll, und brennt mit ihr durch, obwohl die beiden kaum Geld besitzen. Manon flieht dann mehrfach aus dieser Beziehung, weil sie sich vom Reichtum anderer Männer angezogen fühlt. Prévost will mit Des Grieux also einen Mann darstellen, der sich von dieser Frau verführen und blenden lässt. Die Geschichte soll abschrecken. Auf so eine Frau soll man sich nicht einlassen!
Bei Prévost ist also Des Grieux der psychologisch fein gezeichnete Charakter. In den folgenden Jahrzehnten wird der Stoff aber oft für die Theaterbühne adaptiert. Wie verändert sich dadurch die Figur Manons?
Die dramatische Struktur von Theaterstücken und Opern verlangte von den Autoren, dass sie aus Manon einen darstellbaren Charakter machen. Besonders die musikalischen Darstellungen führten dazu, dass Manon eine eigene Emotionalität erhält, die bei Prévost noch wenig ausgeprägt ist. Jeder Komponist muss also über die Gefühle und Affekte Manons nachdenken und eine musikalische Sprache dafür finden, die ihr Hin- und Hergerissen-Sein zwischen ihrem Geliebten und einem Leben in Reichtum zum Ausdruck bringt. Das komplexe Manon-Bild, das im Lauf der Jahre entsteht, ist dabei deutlich durch zwei Aspekte geprägt: Zum einen werden ihr Charakter und ihre Emotionalität fast ausnahmslos durch männliche Autoren, Librettisten und Komponisten gezeichnet. Es ist deshalb schwer abzuschätzen, wie eine Frau selbst diese Geschichte und die damit verbundenen Gefühle geschildert hätte. Zum anderen war der Stoff von Anfang an stark durch die Zensur geprägt. Dadurch werden möglicherweise auch die Absichten der Autoren verfälscht. In der ersten Bühnenfassung Ende des 18. Jahrhunderts wird Manon zwar zum ersten Mal als Kurtisane bezeichnet, allerdings gleich mit dem Zusatz «tugendhaft». Es gibt also von Beginn an Versuche, dieser Figur «positive» und «negative» Charakterzüge zu geben. Als treue Geliebte und Hausfrau wird sie positiv bewertet, als Frau, die sich reichen Männern anbietet, negativ – selbst wenn sie dies für das gemeinsame Wohl tut, um nicht in Armut zu enden.
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Im 19. Jahrhundert rückt die Figur der Manon noch einmal deutlich stärker ins Interesse der Literatur und der Kunst. Es entstehen etwa die Opern von Auber, Massenet und Puccini. Woran liegt das? Das hat unter anderem mit der Stadt Paris zu tun, die sich in diesem Jahrhundert zu einem grossen Magneten entwickelt, in dem verschiedene Gesellschaftsschichten, Theater, Mode und wirtschaftlicher Aufschwung eine grosse Rolle spielen. Die Prostitution wird in Paris zu einem florierenden Gewerbe, das im öffentlichen Diskurs, in Abhandlungen und auch in der Literatur eine Rolle spielt. Das führt auch dazu, dass es verschiedene «Typen» von Kurtisanen gibt, die dann etwa auch Lorette oder Grisette heissen. Diese Frauen gehören der sogenannten demi-monde an, der Halbwelt, stehen
also oft zur Hälfte in einer unteren Gesellschaftsschicht und zur anderen in der bürgerlichen Welt, in der sie durch ihre Dienste reich werden, sich schöne Kleider und Schmuck kaufen können oder geschenkt bekommen.
Vor diesem Hintergrund war es leicht, das Klischee von der koketten, gefallsüchtigen Frau zu erschaffen, die nur auf ihr Äusseres bedacht ist – und das passierte insbesondere dadurch, dass vermehrt solche Stoffe wie Manon Lescaut auf die Theater- und Opernbühnen gebracht wurden.
Eine zentrale Stellung nimmt in dieser Zeit die Kameliendame ein, die Sie bereits genannt haben …
Die Kameliendame ist ein sehr gutes Beispiel für die enge Verschränkung von Realität und Fiktion. Man wusste damals natürlich, dass dieser Stoff auf ein reales Vorbild zurückgeht: Dumas verarbeitet darin seine Begegnung mit der begehrten Kurtisane Marie Duplessis. Und das hat die Leute interessiert. Das war der Gossip von damals. Am Beispiel der Kameliendame, die dann von Verdi auch sehr zeitnah auf die Opernbühne gebracht wurde, zeigt sich deutlich die gesellschaftliche Widersprüchlichkeit, mit der solche Frauen bewertet wurden: Aus Gründen der Konvention musste man die Kurtisanen verteufeln, und andererseits war man fasziniert von ihnen, wollte einen voyeuristischen Blick auf sie werfen und sowas vielleicht auch selbst mal erleben. Dabei ist das Kurtisanenleben der Traviata ja vergleichsweise harmlos dargestellt. Man sieht sie auf Partys, sie hat ein paar Liebhaber oder «Kunden»... Nur ihre Krankheit, deren Ursache jedoch nicht erwähnt wird, lässt die Schattenseite durchschimmern: Dass sie dieser Krankheit erliegt, ist wie eine Bestrafung für den Lebenswandel zu deuten, doch da sie «einsichtig» war, stirbt sie zumindest moralisch erlöst.
Sie gibt ihr Kurtisanenleben für ihren Geliebten auf! Das unterscheidet sie auch von Manon … Genau, das ist ein grosser Unterschied. Violetta, die Kameliendame, nimmt das Kurtisanenleben nur zum Schein wieder auf, um die Familienehre ihres Geliebten zu retten. Das ist völlig selbstlos. Manon hingegen wird bei Prévost mehrfach «rückfällig». Sie liebt Des Grieux und unterhält trotzdem mehrere
Beziehungen zu anderen Männern. Und hier kommt eben die Frage der Perspektive ins Spiel: Manon wird oft als kokett und anfällig für Luxus beschrieben. Man könnte es aber auch so sehen, dass sie diese Kurtisanen-Beziehungen dazu nutzt, Geld für sich und Des Grieux zu beschaffen und damit für ihren Unterhalt zu sorgen. Bei Puccini ist für Manon völlig klar, dass sie ihn weiterhin liebt, und sie will ihm auch klar machen: Guck mal, das habe ich für uns gemacht, das alles ist auch für dich. Aber im 19. Jahrhundert war eine solche Tätigkeit eben nicht gesellschaftlich akzeptiert. Man(n) wollte sexuelle Verfügbarkeit gegen Geld, aber Frau durfte nicht sexuell gegen Geld verfügbar sein. Klassische Doppelmoral.
Gibt es denn alternative, weibliche Perspektiven auf die Manon-Figur?
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Es ist schade, dass wir nicht mit Manon selbst sprechen können... Ich habe mich im Rahmen meiner Untersuchungen aber mit zwei Kurtisanen des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt, die ihr Leben autobiografisch beschreiben. Im Vergleich fällt auf, dass die männlichen Kurtisanen-Erzählungen meistens ausblenden, aus welchen Gründen eine Frau überhaupt zur Kurtisane wird. Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Céleste Mogador beschreibt in ihrer umfangreichen Biografie etwa, dass ihre Mutter mehrmals unglücklich verheiratet war, unter anderem mit einem Mann, der versuchte, Céleste zu vergewaltigen. Céleste wollte nicht dasselbe Leben führen wie ihre Mutter, und als sie vom Leben der höheren Kurtisanen hörte, die ein selbständiges Leben in Reichtum führten, entschied sie sich für diesen Weg. Es geht hier also darum, eine gesellschaftliche Stellung zu erreichen, an die eine Frau im 19. Jahrhundert anders nicht – oder nur durch eine Heirat und stärkere Abhängigkeit – gekommen wäre. Die andere Kurtisane, Cora Pearl, schildert hingegen, dass sie sich bei ihrer Arbeit als Kurtisane immer ganz bewusst verstellt hat. Sie beschreibt es als Teil des Jobs, den Kunden Liebe oder Zärtlichkeit vorzutäuschen. Das zeigt: Was einer Figur wie Manon gerne als Charakterschwäche unterstellt wird, ist anders betrachtet pure Notwendigkeit für eine Frau, um in dieser Zeit an Geld zu kommen und unabhängig zu sein: Prostituierte verkaufen bewusst eine Scheinwelt, um für ihr Leben aufzukommen.
Ich finde, im zweiten Akt von Puccinis Oper zeigt sich dieses Verhalten aber recht deutlich, wenn Manon dem reichen Geronte de Ravoir den Spiegel vors Gesicht hält und sagt: Schau dich doch mal an! Und dich soll ich lieben?
Sie macht ihn lächerlich, ja, und spielt ihm etwas vor. Da zeigen sich auch die Unterschiede zwischen den Fassungen: Massenet zeichnet beispielsweise stärker das Bild von einer Manon, die eine Schwäche für Geld hat. Bei Puccini gibt es diese Momente zwar auch, aber Manon ist schon zu Beginn des zweiten Akts von dem ganzen Reichtum um sie herum gelangweilt und bricht bewusst damit, um mit Des Grieux zu fliehen. Das finde ich schon wieder mutig! Letztlich sind bei Puccini die grossen Gefühle stärker als die Moral. Aber die Frau bleibt das Opfer. Sie wird von ihrem Bruder benutzt, der über sie an Geld kommen will – er ist ihr Zuhälter oder «Partner in Crime» gewissermassen –, sie wird verhaftet und muss am Ende einsam sterben, während wir gemeinsam mit Des Grieux mitleiden.
Wie würde man eine Frau wie Manon heute bewerten?
Ich glaube schon, dass die Moralvorstellungen allgemein lockerer geworden sind, und dass es heute mehr Verständnis für verschiedene Lebensmodelle und Beziehungsformen gibt. Aber das Thema Prostitution ist immer noch umstritten, und ich glaube, dass da noch viel Diskussionsbedarf ist. Auch wenn es heute teilweise ein legaler und akzeptierter Beruf ist, schwingen da noch viele Wertungen mit. Mit Kurtisanentum kann man die Prostitution heute natürlich nicht mehr vergleichen. Aber es gibt noch immer sehr grosse Unterschiede in den Verhältnissen. Eine gutgestellte Edelprostituierte hat ganz andere Bedingungen als eine Zwangsprostituierte, die keine Perspektive hat. Doch meist werden auch heute noch alle Formen abschätzig bewertet. Obwohl es vor allem Männer sind, die die Dienste in Anspruch nehmen, werden weiterhin die Frauen abschätzig bewertet, auf ihr Äusseres reduziert, zu Schuldigen degradiert und zu Opfern von Eifersuchtsdramen. Stichwort: Femizid. Wann hört das endlich auf?
Kommen wir noch einmal auf die Ambivalenz der Manon-Figur zurück. Gibt es eine Möglichkeit, sie von dieser gut-schlecht-Bewertung zu lösen?
Dafür gibt es den Begriff «Kognitive Dissonanz». Dabei geht es darum, dass wir unvereinbare Gefühle oder Gedanken in uns verspüren, die mit einer Wertung zu tun haben. Einfaches Beispiel: Ich finde es falsch, Fleisch zu essen, mache es aber trotzdem. Vielleicht wäre es interessant, diesen Begriff auch auf eine Figur wie Manon anzuwenden. Wenn ein Mann bei sich verspürt, dass er eine Prostituierte gleichzeitig verurteilt, aber auch anziehend findet, sollte er vielleicht einmal diesem Störgefühl bei sich selber nachgehen... Man kann ja andere Personen nicht ändern. Man kann ihnen höchstens dabei helfen. Wenn Des Grieux ein Problem mit dem Lebenswandel von Manon hat und damit, dass sie ihn «verführt», dann soll er sich eben nicht auf sie einlassen. Und das ist ja sogar der Ausgangspunkt von Prévosts Roman: die Warnung vor einer Bindung mit einem Menschen, der ein Leben führt, das nicht mit dem eigenen vereinbar ist. Zum Glück sind die «Red Flags» heute andere und wir queer-feministisch emanzipierter. Aus heutiger Sicht wäre ver mutlich Des Grieux’ Verhalten eine «Red Flag» für Manon: Wenn er nicht akzeptiert, wie sie leben möchte und was sie dafür tun muss, kann die Beziehung nur toxisch sein. Und Tschüss!
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Das Gespräch führte Fabio Dietsche
Der Verfasser der Geschichte von «Manon Lescaut» lernt Manon und Des Grieux kennen.
Abbé Prévost
Unter den zwölf Mädchen, die jeweils zu sechst um die Leibesmitte aneinandergekettet waren, befand sich eine, deren Haltung und Antlitz so wenig zu ihrer gegenwärtigen Situation passten, dass ich sie unter jedweden anderen Umständen für eine Dame der besten Gesellschaft gehalten hätte. Ihre Traurigkeit und der Schmutz ihrer Leibwäsche und ihres Kleides taten ihrer Schönheit so wenig Abbruch, dass mich ihr Anblick mit Hochachtung und Mitleid er füllte. Sie versuchte gleichwohl, sich abzuwenden, soweit ihre Kette das zuliess, um ihr Gesicht vor den Augen der Zuschauer zu verbergen. Ihr Bemühen, sich zu verstecken, war so natürlich, dass es einem Schamgefühl zu entspringen schien.
Da die sechs Wachsoldaten, die diese unglückselige Gruppe begleiteten, ebenfalls in der Gaststube waren, wandte ich mich an ihren Hauptmann und bat ihn, mir etwas über das Schicksal dieses schönen Mädchens zu berichten. Er konnte mir aber nur sehr allgemeine Auskünfte geben. [...] «Da drüben ist ein junger Mann», so fügte der Gardist hinzu, «der Ihnen besser als ich erklären kann, weshalb sie in Ungnade gefallen ist; er ist ihr seit Paris gefolgt und hat fast ohne Unterlass geweint. Er muss ihr Bruder oder ihr Geliebter sein.»
Ich wandte mich zur Ecke der Gaststube hin, wo der junge Mann sass. Er schien tief in Gedanken versunken. Nie habe ich ein eindringlicheres Bild des Schmerzes gesehen. Er war sehr einfach gekleidet; doch ist ein Mann von guter Familie und Bildung ja auf den ersten Blick zu erkennen. Ich ging auf ihn zu. Er erhob sich, und seine Augen, sein Gesicht und all seine Bewegungen boten einen so feinen und so edlen Ausdruck, dass ich ihm instinktiv wohlgesonnen war.
«Ich will Sie nicht stören», sagte ich, als ich mich neben ihn setzte. «Doch würden Sie wohl meine Neugier befriedigen und mir sagen, wer diese schöne Person ist, die mir nicht für die bedauerlichen Umstände geschaffen scheint, in denen ich sie hier sehe?»
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Er antwortete mir offenherzig, dass er mir nicht mitteilen könne, wer sie sei, ohne sich selbst vorzustellen, und dass er aus gutem Grund lieber unerkannt bleiben wolle. «Ich kann Ihnen allerdings sagen, was diesen Elenden hier nicht entgangen ist», fuhr er fort und zeigte auf die Gardisten, «nämlich dass ich sie mit einer so heftigen Leidenschaft liebe, dass sie mich zum unglücklichsten aller Männer macht. Ich habe in Paris alles unternommen, um ihre Freilassung zu er reichen. Inständige Bitten, Gewandtheit und Gewalt haben nichts genützt; so habe ich mich entschlossen, ihr zu folgen, und wenn es bis ans Ende der Welt ginge. Ich werde mich mit ihr einschiffen; ich werde nach Amerika fahren. Doch was die grösste Unmenschlichkeit ist, diese niederträchtigen Halunken», setzte er hinzu, wobei er die Gardisten meinte, «wollen mir nicht erlauben, mich ihr zu nähern. Mein Plan war, sie ein paar Meilen von Paris entfernt offen anzugreifen. Ich hatte mich mit vier Männern zusammengetan, die mir für eine beträchtliche Summe Geld ihre Unterstützung zugesagt hatten. Die Verräter liessen mich im Stich und machten sich mit meinem Geld auf und davon. Da ich mit Gewalt mein Ziel nicht zu erreichen vermochte, streckte ich die Waffen. Ich habe die Gardisten mit dem Angebot einer Belohnung um die Erlaubnis ersucht, ihnen folgen zu dürfen. Aus Habgier willigten sie ein. Sie wollten jedes Mal bezahlt werden, wenn sie mir die Gunst gewährten, mit meiner Geliebten zu sprechen. Mein Beutel war in kurzer Zeit leer, und jetzt, da ich keinen Sou mehr habe, stossen mich diese Unmenschen jedes Mal brutal zurück, wenn ich mich ihr nähere. Gerade eben, als ich trotz ihrer Drohungen gewagt habe, zu ihr hinzutreten, waren sie so anmassend, die Gewehrmündung auf mich zu richten. Um ihre Habsucht zu befriedigen und mir zu ermöglichen, den Weg zu Fuss fortzusetzen, muss ich hier eine elende Mähre verkaufen, die mir bislang als Reittier gedient hat.»
Obwohl er diese Erzählung sogar einigermassen ruhig vorzubringen schien, rannen ihm gegen Ende doch einige Tränen herab. Diese Geschichte mutete mich höchst aussergewöhnlich und höchst bewegend an.
Dramma lirico in vier Akten
Libretto von Marco Praga, Domenico Oliva, Ruggero Leoncavallo, Luigi Illica, Giuseppe Giacosa, Giacomo Puccini, Giulio Ricordi und Giuseppe Adami nach Abbé Antoine-François Prévosts
«Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut»
Uraufführung: 1. Februar 1893, Teatro Regio, Turin
Personen
Manon Lescaut Sopran
Lescaut Bariton
Il Cavaliere Des Grieux Tenor
Geronte di Ravoir Bass
Edmondo Tenor
L’oste Bass
Un musico Mezzosopran
Il maestro di ballo Tenor
Un lampionaio Tenor
Un sergente degli arcieri Bass
Un comandante di marina Bass
Chor
Mädchen, Bürger, Männer und Frauen aus dem Volk, Studenten, Musiker, Alte Herren, Abbés, Hofleute, Wachen, Seeleute
Un vasto piazzale presso la Porta di Parigi, in Amiens.
Studenti, Borghesi, Popolani, Donne, Fanciulle, Soldati, passeggiano per la piazza. Altri son fermi a gruppi chiacchierando. Altri seduti ai tavolini, bevono e giuocano.
Edmondo, attorniato da altri Studenti, poi Des Grieux.
EDMONDO tra il comico ed il sentimentale Ave, sera gentile, che discendi col tuo corteo di zeffiri e di stelle. Ave, cara ai poeti ed agli amanti…
STUDENTI interrompendo Edmondo Ah! ah! ah! Ai ladri ed ai brïachi! Noi t’abbiamo spezzato il madrigal!
EDMONDO
E vi ringrazio. Pel vïal giulive vengono a frotte a frotte fresche, ridenti e belle le nostre artigianelle…
STUDENTI
Or s’anima il vïale…
EDMONDO
Preparo un madrigale furbesco, ardito e gaio. E sia la musa mia tutta galanteria!
EDMONDO, POI I STUDENTI ad alcune fanciulle Giovinezza è il nostro nome, la speranza è nostra Iddia, ci trascina per le chiome indomabile virtù. Santa ebbrezza! Or voi, ridenti, amorose adolescenti, date il cor!
Ein grosser Platz am Pariser Tor von Amiens.
Studenten, Bürger, Männer und Frauen aus dem Volk, Mädchen und Soldaten spazieren über den Platz. Einige stehen in Gruppen beisammen und plaudern, andere sitzen an Tischen, trinken und spielen.
Edmondo, umgeben von anderen Studenten, später Des Grieux.
EDMONDO halb komisch, halb sentimental Sei gegrüsst, lauer Abend, der du herabsinkst mit deinem Gefolge aus Zephyren und Sternen. Sei gegrüsst, teurer Freund der Dichter und der Verliebten…
STUDENTEN Edmondo unterbrechend
Ha, ha, ha! Der Diebe und der Trunkenbolde! Wir haben dein Madrigal zerstört!
EDMONDO
Ich danke euch dafür. Dort auf dem Weg kommen in fröhlichen Scharen frisch, lachend und schön unsere kleinen Handwerkinnen…
STUDENTEN
Jetzt kommt Leben in die Strassen…
EDMONDO
Ich schreibe ein witziges, kühnes, lustiges Madrigal. Und meine Muse soll allein die Galanterie sein!
EDMONDO, DANN DIE STUDENTEN zu einigen Mädchen Jugend ist unser Name, die Hoffnung ist unsere Göttin. Eine unbezähmbare Kraft reisst uns mit sich fort. Himmlischer Liebesrausch! Ihr fröhlichen, verliebten Mädchen, verschenkt euer Herz!
FANCIULLE
Vaga per l’aura un’onda di profumi, van le rondini a vol e muore il sol!
È questa l’ora delle fantasie che fra le spemi lottano e le malinconie.
STUDENTI, BORGHESI
Date il labbro, date il core alla balda gioventù! Entra Des Grieux.
STUDENTI
Ecco Des Grieux!
EDMONDO fermando Des Grieux, che saluta senza però unirsi agli amici
A noi t’unisci, amico, e ridi e ti vinca la cura di balzana avventura. insistendo perchè Des Grieux si unisca a loro
Non rispondi? Perchè?
Forse di dama inaccessibile acuto amor ti morse?
MÄDCHEN
Eine Wolke von Düften schwebt durch die Luft, die Schwalben fliegen auf, und die Sonne versinkt!
Dies ist die Stunde der Fantasien, die zwischen Hoffnung und Wehmut schwanken.
STUDENTEN, BÜRGER
Schenkt eure Lippen, schenkt euer Herz der kecken Jugend! Des Grieux tritt auf.
STUDENTEN
Da kommt Des Grieux!
EDMONDO Des Grieux anhaltend, der grüsst, ohne sich den Freunden anzuschliessen
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Geselle dich zu uns, mein Freund, lache und lass dich von einem unglücklichen Abenteuer heilen. versucht, Des Grieux dazu zu bewegen, sich ihnen anzuschliessen Du antwortest nicht? Warum? Hat dich etwa die sehnliche Liebe zu einer unerreichbaren Dame gepackt?
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DES GRIEUX interrompendolo, alzando le spalle
L’amor? l’amor?! Questa tragedia, ovver commedia, io non conosco!
Edmondo ed alcuni Studenti si fermano a conversare con Des Grieux. Altri corteggiano le fanciulle.
ALCUNI STUDENTI a Des Grieux
Baie!
Misteriose vittorie cauto celi e felice!
DES GRIEUX
Amici, troppo onor mi fate.
EDMONDO, STUDENTI
Per Bacco, indoviniam, amico… Ti crucci d’uno scacco…
DES GRIEUX
No, non ancora… Ma se vi talenta, vo’ compiacervi…
DES GRIEUX ihn unterbrechend, mit einem Achselzucken Die Liebe? Die Liebe?! Diese Tragödie oder Komödie kenne ich nicht!
Edmondo und ein paar Studenten bleiben stehen und plaudern mit Des Grieux. Andere machen den Mädchen den Hof.
EINIGE STUDENTEN zu Des Grieux
Unsinn!
Sorgsam verbirgst du uns zufrieden deine geheimen Siege!
DES GRIEUX
Freunde, ihr erweist mir zu viel Ehre.
EDMONDO, STUDENTEN
Beim Bacchus, lass uns raten, mein Freund… dich ärgert eine Abfuhr…
DES GRIEUX
Nein, nein, noch nicht… doch wenn es euch gefällt, will ich euch den Gefallen tun…
DES GRIEUX con gran passione
O immensa delizia mia… tu fiamma d’amore eterna!
MANON febbrilmente
La fiamma si spegne…
Parla, deh, parla… Ahimè!
DES GRIEUX affettuosamente
Manon!
MANON
Più non t’ascolto… soffocato
Ahimè!
affannosamente ed appassionatissimo
Qui, vicino a me, voglio il tuo volto…
Così… così…mi baci… vicino a me, ancor ti sento! con spasimo Ahimè!…
DES GRIEUX con disperazione Senza di te… perduto, ti seguirò!
MANON con ultimo sforzo, imperiosa Non voglio!
Addio… cupa è la notte… ho freddo… con ineffabile dolcezza, sorridendo Era amorosa la tua Manon? Rammenti? affanado Dimmi… la luminosa mia giovinezza? Il sol… più non… vedrò!!…
DES GRIEUX colla massima angoscia Mio Dio!
MANON con voce debolissima
Le mie colpe… travolgerà l’oblio… con voce sempre più debole ma… l’amor mio… non muor… Muore.
Des Grieux, pazzo di dolore, scoppia in pianto convulso, poi cade svenuto sul corpo di Manon.
DES GRIEUX mit grosser Leidenschaft
O meine unendliche Freude… Flamme ewiger Liebe!
MANON fiebrig
Die Flamme erlischt… So sag doch etwas, sprich… Weh mir!
DES GRIEUX liebevoll Manon!
MANON
Ich höre dich nicht mehr… mit erstickter Stimme Weh mir!
nach Atem ringend, mit grösster Leidenschaft Hier, bei mir, will ich dein Gesicht… So… ja, so…küss mich… ganz nah bei mir, ich spüre dich noch!
unter Qualen Weh mir!…
DES GRIEUX verzweifelt
Ohne dich… bin ich verloren, ich werde dir folgen!
MANON mit letzter Kraft, gebieterisch
Das will ich nicht!
Leb wohl… die Nacht ist finster… mir ist kalt… unsagbar sanft, lächelnd War sie liebevoll, deine Manon? Sag mir: Erinnerst du dich… nach Atem ringend an meine strahlende Jugend? Ich werde… die Sonne… nicht wiedersehen!!…
DES GRIEUX mit furchtbarer Angst
Mein Gott!
MANON mit kaum hörbarer Stimme
Meine Sünden… werden einst vergessen sein… immer schwächer aber… meine Liebe… wird nicht sterben…
Sie stirbt.
Des Grieux, wahnsinnig vor Schmerz, bricht in krampfartiges Weinen aus, dann bricht er ohnmächtig über Manons Leichnam zusammen.
Deutsche Übersetzung: Daniela Wiesendanger
Programmheft
MANON LESCAUT
Dramma lirico in vier Akten von Giacomo Puccini
Premiere am 9. Februar 2025, Spielzeit 2024/25
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Herausgeber Opernhaus Zürich
Intendanz Andreas Homoki
Zusammenstellung, Redaktion Fabio Dietsche
Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli
Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch
Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler
Druck Fineprint AG
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Textnachweise:
Die Handlung schrieb Fabio Dietsche. Die Gespräche mit Barrie Kosky und Inken Meents sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Weitere Quellen: Tennessee Williams, The milk train doesn’t stop here anymore, in: ders., Plays, Vol. 2, New York 2000 (Zitat für dieses Heft auf Deutsch übersetzt). Mosco Carner, Puccini. Biographie, Frankfurt am Main 1996. Abbé Prévost, Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut (Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Trobitius), Zürich 2013.
Bildnachweise:
T+T Fotografie / Toni Suter fotografierte die Klavierhauptprobe am 30. Januar 2025.
Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie der Beiträge der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen
Kulturlastenvereinbarung und der Kantone Nidwalden, Obwalden, Schwyz und Schaffhausen.
PRODUKTIONSSPONSOREN
AMAG
Atto primo
Clariant Foundation
Freunde der Oper Zürich
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG
René und Susanne Braginsky-Stiftung
Freunde des Balletts Zürich
Ernst Göhner Stiftung
Hans Imholz-Stiftung
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Kühne-Stiftung
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Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung
Swiss Life
Swiss Re
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Josef und Pirkko Ackermann
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Familie Thomas Bär
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Die Mobiliar
Annina und George Müller-Bodmer
Fondation Les Mûrons
Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung
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Theodor und Constantin Davidoff Stiftung
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Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG
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