Das grosse Feuer

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DAS GROSSE FEUER

BEAT FURRER

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DAS GROSSE FEUER

BEAT FURRER (*1954)

Kompositionsauftrag von Opernhaus Zürich gefördert durch die

Gesehen hab ich, wie am Pilcomayo früher, zu meines Grossvaters Zeiten, alle Bäume des Waldes bis zum Grund verbrannt sind, bis zu den Wurzeln hinab. Nur Löcher sind übriggeblieben. Kein grosses Holz ist dort wieder gewachsen. Tiere sind in die Löcher gefallen, der Tapir, der Jaguar, der Ameisenbär, sie alle sind dort gestorben. In solch einem Loch sprach der Herr zu mir. Das Land dort wurde so wie die Herzen der Menschen, auch so wie das Herz des Eisejuaz.

HANDLUNG

Vorbemerkung

Hauptfigur der Oper ist der Anführer eines indigenen Volks, das im Norden Argentiniens beheimatet ist. Sein indigener Name ist Eisejuaz, sein spanischer Lisandro Vega. Er nennt sich selbst auch Este también, Dieser Hier Auch.

Eisejuaz und sein Volk sind mit der zunehmenden Zerstörung ihres Lebensraums konfrontiert und mit Ausbeutung und Demütigungen durch Weisse. Als Sohn eines Schamanen mit Bärenkräften ist Eisejuaz noch tief in der Kultur und dem Naturverständnis seines Volkes verwurzelt. Aufgewachsen aber ist er in einer christlichen Mission.

Ein Riss geht durch sein Seelenleben: Er hat noch Kontakt zu den unsichtbaren Boten der Natur, mit denen die Schamanen seiner Gemeinschaft einst kommunizierten. Er hört die Stimmen der Bäume, die Tier­Engel von Eidechse, Gürteltier, Nandu und Rokokokröte. Aber er glaubt auch an den christlichen Herrn. In einer desolaten äusseren und einer zerrissenen inneren Welt sucht Eisejuaz nach Halt, Orientierung und Rettung für sich und seine Gemeinschaft.

Erster Akt

Szene 1

Im Kopf von Eisejuaz sind die Botenstimmen der Hölzer anwesend. Paqui, ein weisser, rassistischer Kleinkrimineller, liegt hilfsbedürftig im Graben. Er schimpft auf den Dreck, in dem er leben muss und auf die dreckigen Indios. Eisejuaz bittet die Botenstimmen der Hölzer, sie mögen sein Herz aufbrechen, darin ihr Feuer entzünden und ihre Hängematten aufspannen.

Szene 2 bis 5

Eisejuaz ist rastlos unterwegs zwischen Sägewerk, Wald und Stadt. Er findet Paqui und bringt ihn in seine Hütte. Er fragt sich, ob das der Mensch ist, dem

er «seine Hände geben» soll gemäss dem Auftrag, der ihm der Herr erteilt hat. Eisejuaz erinnert sich an den Augenblick, in dem der Herr zu ihm gesprochen hat. In einer Hotelküche beim Abspülen war er ihm im Ausguss, im Wirbel des ablaufenden Wassers, erschienen und hatte verfügt: «Deine Hände gehören mir». Seit diesem Moment glaubt Eisejuaz, eine selbstlose Tat der Nächstenliebe vollbringen und einen Menschen retten zu müssen.

Szene 6 bis 9

Eisejuaz kommt von den Gedanken an seine verstorbene Gefährtin Lucia nicht los. Er träumt, wie er um ihr Leben gerungen hat. Auf dem Rücken hat er sie ins Krankenhaus geschleppt. Vier Jahre lang war er rastlos unterwegs zwischen Arbeit, Wald und Krankenhaus. Zum Sterben hat er Lucia nach Hause geholt. Er hört in die Leere des Verlustes. Die Boten der Hölzer sind verstummt.

Szene 10

Eisejuaz kümmert sich um Paqui. Der will lieber sterben, als in der Obhut von Eisejuaz zu sein.

Szene 11

Mauricia, Lucias Schwester und die heimliche Geliebte von Eisejuaz, ist gekommen, um mit Eisejuaz zusammen zu sein. Sie will, dass er zurück ins Missionslager geht, wo ihr Ehemann der unfähige Anführer ist. Sie schlägt vor, ihn zu töten, Eisejuaz zu heiraten und mit ihm in der Mission zu leben. Eisejuaz weist Mauricia zurück. Er will nicht zurück in die Mission.

Szene 12

Eisejuaz begegnet einer alten Seherin vom Volk der Chahuanca.

Szene 13 und 14

Eisejuaz sitzt mit seinem Freund Yadi im Wirtshaus. Der Aktivist Selim will die Leute aufwiegeln. Eisejuaz kritisiert ihn als ein Mann mit vielen Gesichtern. Es kommt zum Streit. Eisejuaz und Yadi werden verhaftet. Im Gefängnis hat Eisejuaz einen guten Gedanken: Er will den Schamanen Ayó besuchen.

Szene 15

Mauricia erscheint erneut bei Eisejuaz, um ihn zu überreden, in die Mission zurückzukehren. Dort sei die Not gross. Sie wirft Eisejuaz vor, sein Leben an Paqui zu vergeuden.

Szene 16

Paqui verhält sich unverschämt gegenüber Eisejuaz, auf dessen Hilfe er angewiesen ist. Als er nach seinem Geschäftskoffer verlangt, erinnert sich Eisejuaz: Paqui ist ihm schon einmal an einer Bushaltestelle begegnet. Sein Geschäft bestand darin, Frauen zu überfallen, ihnen die Haare abzuschneiden und diese zu verkaufen. Paqui spielt sich als weltläufiger Geschäftsmann auf und prahlt: In Buenos Aires sei er schon gewesen und fast überall.

Szene 17 bis 19

Eisejuaz betet zu den Boten der Hölzer. Der Pastor erwischt ihn und beschimpft ihn als einen unbekehrbaren Heiden, die ganze missionarische Erziehung sei umsonst gewesen. Eisejuaz sagt dem Pastor den Tod voraus. Er betet zu den Tier­Engeln um Stärke, Widerstandskraft, Geduld und ein kaltes Herz.

Zweiter Akt

Szene 1 und 2

Eisejuaz begegnet der Chahuanca ein zweites Mal. Sie sagt ihm seine Zukunft voraus: Ihm bleibe keine Höhle, sich in ihr zu verkriechen.

Szene 3

Eisejuaz besucht den Schamanen Ayó. Sie gehen auf Traumreise und sehen, dass ihre Welt aussterben wird und ihre Zeit vorbei ist.

Szene 4 und 5

Der Vater der Muchacha bittet Eisejuaz, seine im Krankenhaus liegende Tochter zu heilen. Eisejuaz hat sich geschworen, das Krankenhaus nach dem Tod seiner

Gefährtin Lucia nicht mehr zu betreten. Eisejuaz spürt, dass sich die Boten zurückgezogen haben und die Dunkelheit der Nacht hereinbricht.

Szene 6

Paqui lässt sich von Eisejuaz bedienen und beschimpft ihn zugleich. Paqui ergeht sich in Selbstmitleid.

Szene 7 bis 9

Mauricia appelliert ein weiteres Mal an Eisejuaz, mit ihr gemeinsam in die Mission zurückzukehren. Eisejuaz will davon nichts wissen. Aus Rache verführt sie Paqui. Die Menschen aus der Mission sind gekommen, um Eisejuaz zurückzuholen. Alles sei aus den Fugen, er müsse als Aufseher Ordnung schaffen. Ihr Bitten nützt nichts. Eisejuaz geht nicht zurück.

Szene 10 bis 13

Eisejuaz flieht mit Paqui in den Wald. Auf einer Lichtung errichtet er sein Quartier und scheint zu einem Leben im Einklang mit der Natur zurückzufinden. Die Tiere des Waldes nähern sich ihm friedlich. Er ficht einen nächtlichen Kampf mit einem Dämon aus. Paqui spürt überall Magie und hat Angst. Er flieht, trifft auf Jäger, denen er erzählt, ein Indio habe ihn entführt. Die Jäger verwüsten das Quartier und töten die Tiere. Eisejuaz begräbt sie.

Szene 14

Eisejuaz wird vom Pastor auf Skandalberichte in der Zeitung angesprochen, die davon berichten, dass ein Wahnsinniger einen kranken Mann ausgeraubt und in den Wald verschleppt habe. Selbstgespräche habe er geführt und die gerösteten Ohren einer Frau gegessen. Alle wüssten, sagt der Pastor, dass Eisejuaz der Mann sei, der die Tat begangen habe.

Szene 15 bis 20

Eisejuaz verdingt sich in einem Bordell, in dem brutale Männergewalt und grausame Frauenausbeutung herrschen. Auch die Muchacha arbeitet dort, die er einst trotz der Zurückweisung des Vaters geheilt hat. Sie sagt ihm, dass sie

sich ihm schenken wollte, er sich aber nur um diesen Paqui gekümmert habe. Er hört die Stimmen seiner verstorbenen Gefährtin Lucia und will die Muchacha retten. Er schickt sie zu Ayó.

Szene 21

Paqui gibt sich als heiliger Mann und Wunderheiler aus, indem er so tut, als habe er die Fähigkeiten von Eisejuaz. Er behauptet, von einem Kannibalen entführt und durch heiligen Beistand errettet worden zu sein. Er habe mit den Geistern des Waldes gesprochen und den Tiger gezähmt. Die Begeisterung der Massen für den «Heiligen» nimmt hysterische Züge an. Doña Eulalia, die Betreiberin des Hotels, in dem Eisejuaz früher arbeitete, wird totgetrampelt. Die Hysterie schlägt um in Hass gegen Eisejuaz, der den Auftritt beobachtet. Die Masse will ihn töten. Eisejuaz flieht.

Szene 22

Die Muchacha hat sich Eisejuaz liebevoll angenommen. Sie hat ein Findelkind aufgenommen, um das sie sich kümmert. Paqui ist – erneut hilfsbedürftig –zurück in die Obhut von Eisejuaz gekrochen. Die Muchacha hat den beiden Froscheier der Rokokokröte zu essen gegeben, nicht wissend, dass diese tödlich giftig sind. Sie waren ein Geschenk der Chahuanca. Paqui stirbt. Eisejuaz bittet Muchacha, ein Grab für Paqui und sich auszuheben.

Die Alte hat weinend ins Feuer geblickt.

«Warum gehst du nicht ins Dorf, zur Mission? Dort sind andere von uns, und es gibt Feuer und Hütten.»

«Ich habe nicht mal Kleider. Siehst du das hier? Das waren mal Brüste, sie haben Milch gegeben. Ich bin schon längst tot. Mit mir ist es vorbei.»

«Ich gebe dir mein Hemd. Wenn ich aus Orán wiederkomme, dann such ich nach dir.»

Das Hemd ist ihr bis zu den Füssen gegangen.

Die Alte hat sich ans Feuer gedrängt, die Wärme hat sie verlockt, und das Hemd hat Feuer gefangen. Da habe ich Erde auf sie geworfen und das Feuer schnell ausgetreten.

«Was schläfst du so nah an den Flammen!»

Da ist sie erwacht, hat das Hemd gesehen, versengt war’s und hat geschrien. Abgestreift hat sie es, ins Feuer geworfen. Aufgeflammt ist es, verbrannt. Geweint hat sie, war wieder nackt.

Schnell bin ich weitergegangen, bis dort, wo die Alte gewesen war. Sie war nicht mehr da. Aber ich habe die Spuren gesehen, die Kohlen vom Feuer, sie hatte hineingebissen, die Kohlen gegessen, gekaut. Ich habe sie gerufen, aber niemand hat Antwort gegeben.

VOM GESANG DER GERODETEN HÖLZER

Ein Gespräch mit dem Komponisten Beat Furrer über Ideen und Hintergründe zu seiner Oper «Das grosse Feuer»

Beat, wie bist du auf den Stoff für deine neue Oper Das grosse Feuer gekommen?

Einer meiner Kompositionsschüler aus der nordargentinischen Provinz Salta, Jorge Vasquez, hat mir den Roman Eisejuaz von Sara Gallardo geschenkt. Die argentinische Schriftstellerin hat ihn 1979 veröffentlicht. Er ist auch auf Deutsch übersetzt, aber bei uns in Europa bis heute nahezu unbekannt.

Auch in Argentinien hat man das Meisterhafte dieses Romans erst mit einiger zeitlicher Verzögerung wahrgenommen. Er wurde zu einer Art Kultroman für literarische Insider. Ich selbst war vom ersten Lesen an fasziniert von diesem Roman, von der Struktur der Sprache und der Fremdartigkeit der Erzählweise. Und er tangiert inhaltlich genau das Thema, das mich zurzeit am meisten umtreibt, nämlich unser menschliches Unvermögen, ein unmittelbares, empathisches Verhältnis zur Natur, zum Tier und auch zu unserem menschlichen Gegenüber zu finden. Unsere Kommunikation zum Anderen des Daseins funktioniert nicht mehr. Bis jetzt haben wir geglaubt – eine Folge der Moderne – wir können die Natur beherrschen, rationalisieren und funktionalisieren. Nun müssen wir feststellen, dass wir mit diesem Konzept bei gravierenden Problemen wie dem Klimawandel nicht weiterkommen, obwohl die Probleme eigentlich lösbar wären. Ein radikaler Wandel in unserem Verhältnis zur Natur wäre erforderlich. Wissenschaftler rechnen uns die katastrophalen Entwicklungen vor, die auf uns zukommen. Rational verstehen wir, was sie sagen. Und trotzdem verändert sich diesbezüglich nichts.

Inwiefern macht der Roman von Sara Gallardo die gestörte Beziehung des Menschen zur Natur zum Thema?

Der Roman spielt vor dem Hintergrund kolonialer Ausbeutung im Norden Argentiniens. Er erzählt von der Unterdrückung und der kulturellen Entfremdung der indigenen Menschen dort. Der Protagonist ist ein Anführer namens Eisejuaz, der zwischen seiner angestammten indigenen Kultur und der zerstörerischen westlichen Zivilisation steht. Und dieser Eisejuaz hat genau die Fähigkeit, die uns heute abhandengekommen ist. Er hört die Natur noch. Nicht nur der Mensch, sondern alles Existierende hat eine Sprache und eine Stimme, und Eisejuaz kann das wahrnehmen. Er hört den Gesang der Hölzer und die Boten­Engel der Tiere.

Eisejuaz hat schamanische Wahrnehmungsfähigkeiten, die seiner indigenen Kultur entstammen. Genau. Sara Gallardo hat ihnen in ihrem Roman Raum gegeben. Sie vervielfältigt die Wirklichkeits­ und Zeitebenen, darin liegt auch formal eine grosse Qualität dieses Buchs. Und in dieser erweiterten Realität wird erkennbar, dass auch die Bäume denken und überhaupt alles Kreatürliche kommuniziert. Bei Sokrates gibt es den Gedanken, dass die Weisheit der Bäume keine Bedeutung mehr habe. Er formuliert das Bewusstsein für ein Wissen, für das in unserer modernen Welt kein Platz mehr ist. Wir glauben heute, alles Produktionsabläufen unterwerfen zu können. Sara Gallardo schafft mit ihrem konsequent aus dem Blickwinkel von Eisejuaz geschriebenen Buch eine neue Perspektive. Das hat mich sofort fasziniert. Sie hat, bevor sie das Buch schrieb, eine Zeit lang in dem kleinen Städtchen Embarcación im Norden Argentiniens gelebt und sich die Lebensgeschichte eines Mannes vom Stamm des Wichí erzählen lassen, dessen indigener Name Eisejuaz war. Ihr literarischer Eisejuaz hat also ein reales Vorbild, aber ihr Buch geht über eine touristische Annäherung an diesen Menschen weit hinaus. Es ist von grosser Tiefe. Bis in die Sprache hinein, die ja ein fremdes, angenommenes, gebrochenes Spanisch ist, hat sie sich in die subjektive Position dieses Eisejuaz begeben.

Hast du in diesem Roman sofort die Möglichkeit von Musik erkannt? Je öfter ich ihn gelesen habe, desto mehr habe ich eine Verbindung zu dem gespürt, was ich mir unter Musiktheater oder Oper vorstelle, nämlich eine

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oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Vervielfältigung von Zeit­ und Erzählebenen und eine Entsynchronisierung der herkömmlichen Verbindung von Text, Musik und Szene. Ich habe das Gefühl, dass die Oper diese Ebenen bis heute viel zu eindimensional aufeinander bezieht und etwa die Verdoppelung des Textes in der Szene zu einer Verflachung der Möglichkeiten führt. Der singende Körper teilt uns doch etwas mit, das weit über den Inhalt des Textes hinaus geht. Die Stimme überschreitet die repräsentierte Figur und eröffnet uns viel weiterführende Erfahrungsdimensionen. In der Form von Oper, die mir vorschwebt, schafft bereits der Klang einen theatralen Raum. Das ist in der Oper schon immer so gewesen, beginnend mit Monteverdis L’Orfeo. Der Bedeutungshorizont, der sich in einer Belcanto­Arie auftut, lässt den Text weit hinter sich. Dass ich eine Geschichte nachvollziehen kann – wer liebt, wem geht es schlecht, wer betrügt wen – interessiert mich an Opern nicht sehr lange. Ich möchte wissen, was die Figur in ihrem Innersten bewegt, und das erfahre ich aus der Stimme, sogar wenn sie nicht singt, sondern spricht. Das ist für mich das Faszinosum der Stimme – dass wir alles aus ihr selbst entnehmen können. Diese besondere Kraft, die von der Oper ausgehen kann, habe ich ganz früh schon erfahren. Ich kann mich beispielsweise an den Besuch einer Bohème an der Wiener Staatsoper erinnern, als ich noch keine 20 Jahre alt war. Carlos Kleiber hat dirigiert. Die Aufführung hat auf eine Weise zu mir gesprochen, dass ich zutiefst getroffen war. Die Banalität der Handlung wurde durch die Musik und den Gesang transzendiert. Als ich aus der Vorstellung rauskam, war – wie man das so schön sagt – die Stadt und die Welt um mich herum eine andere.

Dass du das ausgerechnet bei einer Bohème erlebt hast, überrascht schon ein wenig. Nichts gegen Puccini.

Aber von Puccinis Opernverständnis sind deine Werke meilenweit entfernt.

Es geht darum, was die Stimme, was Gesang vermag. Ich höre manchmal jüngere Komponisten, die sagen: Ich schreibe gerne für Stimmen, aber ich

mag diesen Opernton nicht. Was ist denn der Opernton? Ich muss die festgefahrenen Ausdruckskonventionen, in denen sich eine ausgebildete Opernstimme bewegt, eben in Frage stellen und sie für meine Klangvorstellungen gewinnen.

In deiner neuen Oper etablierst du einen Gesangsstil, der für die Oper sehr aussergewöhnlich ist. Du hast ein zwölfstimmiges Vokalensemble in die Partitur integriert. Das Ensemble Cantando Admont ist an der Uraufführungsproduktion beteiligt. Die Sängerinnen und Sänger sind Experten für zeitgenössische Werke und dabei nicht zuletzt für deine Stücke, aber auch für Vokalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts.

Das Cantando­Ensemble ist in seiner Klanglichkeit viel filigraner als ein Opernchor. Es beherrscht die alten Stimmungen und die Mikrotonalität, mit der du auch in Das grosse Feuer arbeitest. Welche neuen Perspektiven erschliessen sich der Opernform durch die Hereinnahme dieses Klangkörpers?

Das vokale Spektrum wird extrem erweitert, das ja sonst in der Oper im Wesentlichen aus speziell für das traditionelle Repertoire ausgebildeten Gesangsstimmen und einem Chor besteht. Es tun sich neue Möglichkeiten auf.

Der Klang des Vokalensembles kommt einem viel schwebender und immaterieller vor als der Chor in einer normalen Oper. So ist es. Mir war auch wichtig, die Trennung von Chor und Solisten generell zu überwinden. Die drei Hauptfiguren Eisejuaz, Paqui und Muchacha sind zwar mit hervorragenden Opernstimmen besetzt, aber die mittleren und kleineren Solopartien gehen alle aus dem Vokalensemble hervor. Sie treten für ihre Szenen aus dem Kollektiv heraus und wieder zurück. Das erzeugt eine grosse vokale Vielfalt, alles wird fluider. Auch der Orchesterpart ist angelegt wie eine Erweiterung des vokalen Geschehens. Bei der Entfaltung dieser neuen Ausdrucksmöglichkeiten hilft es mir natürlich sehr, dass ich auf eine langjährige Zusammenarbeit mit Cantando Admont aufbauen kann. Die Sängerinnen und Sänger sind unglaublich versiert und flexibel, was die Intonation oder das Ansteuern von Vierteltönen angeht. Sie denken nicht nur temperiert.

Das auch mit der grossen Erfahrung zu tun, die sie mit Alter Musik gesammelt haben.

Kann man sagen, dass der Chorklang den musikalischen Kern deiner Oper bildet?

Das

Er ist ein Ausdruckszentrum, keine Frage. Die Aufgaben des Chorensembles sind ja auch inhaltlich breit aufgefächert. Es verkörpert den übernatürlichen Gesang der Hölzer, den Eisejuaz vernimmt, ist aber auch eine aufrührerische Masse, es ist ausserdem Kommentar oder Resonanzraum der inneren Stimmen der Protagonisten. Ich nutze dabei die ganze Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten, die die menschliche Stimme bietet, von stehenden, sich im Raum ausbreitenden Klängen über Flüstern und Schreien bis zum gesprochenen Wort.

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Noch einmal zurück zum Stoff deiner Oper. Er führt uns in die Welt eines indigenen Volkes, das du als westlicher Komponist nur von aussen betrachten kannst. Wie gehst du mit dem Thema um, das man heute als kulturelle Aneignung problematisiert? Wie kann man eine Oper über eine fremde Kultur schreiben, ohne sie sich – polemisch formuliert –«kolonial» zu eigen zu machen?

Ich mache sie mir überhaupt nicht zu eigen. Meine Musik zielt mit keiner Note auf exotische Aneignungseffekte.

Hast du die Musik der indigenen Wichí kennengelernt?

Ich habe durch Jorge Vasquez einiges kennengelernt. Das war für mein Komponieren aber nicht von Bedeutung. Ich habe nicht einmal ansatzweise versucht, Klänge der Wichí in meiner Komposition aufzugreifen oder zu verarbeiten. Mich hat die Frage beschäftigt, was dieser aus Argentinien stammende Stoff für uns bedeutet, und ich habe eine Antwort als westlicher Komponist mit meinen kompositorischen Mitteln darauf gegeben. Das Thema einer ausgehöhlten, zerstörten indigenen Kultur wird in unsere Welt transponiert, durch Sara Gallardos literarische Vorlage, durch die sehr reflektierte Librettoarbeit, die der Schriftsteller Thomas Stangl geleistet hat

und durch meine Komposition. Man muss auch einmal sagen, dass die kritische Frage nach «kultureller Aneignung» zurzeit ein Modethema ist, mit dem man eher vorsichtig umgehen sollte. Gerade in der Entwicklung der Musik war kultureller Austausch immer eine selbstverständliche und wichtige Inspirationsquelle. Ich war beispielsweise in Bolivien und habe dort ein indigenes Orchester kennengelernt, das mich eingeladen hatte. Ich habe wahnsinnig viel von den Musikern gelernt. Sie wiederum haben ein Stück von mir einstudiert und uraufgeführt, das sie offenbar noch bis heute spielen. Für mich war das eine der wichtigsten und schönsten musikalischen Erfahrungen der letzten fünfzehn Jahre. Wichtig ist, festzuhalten, dass meine Oper keine exotische Fantasie ist, dafür ist der Stoff zu voll von harter sozialer Realität. Auch wenn die Stimmen von Bäumen, Tiergeistern und einmal sogar von einer Wolke zum Thema werden, ist Das grosse Feuer doch alles andere als eine idyllische Feier der Einheit von Mensch und Natur.

Es ist ein sehr düsteres Stück. Die Hauptfigur Eisejuaz verliert alles, die Frau, das Zuhause, die selbstbestimmte Existenz, die kulturelle Orientierung und schliesslich das Leben. Gibt es auch einen Lichtblick in dieser Schwärze?

Jedes Kunstwerk braucht den Lichteinfall eines utopischen Moments, auch wenn sich die Verhältnis immer tiefer in den Abgrund schrauben.

Und worin besteht dieser utopische Moment in Das grosse Feuer?

Es gibt die Figur der Muchacha. Sie ist eine indigene Frau, die grösstmögliche Demütigungen erfährt, aber am Ende stark und präsent an der Seite von Eisejuaz auftaucht. Er ist in der vorletzten Szene am tiefsten Punkt seiner Reise angekommen. Alles spitzt sich expressiv zu, und Muchacha sagt ihm: «Ich bin gekommen, um dich nicht in dieser Kälte allein zu lassen, um dir Feuer zu machen, dich zu wärmen.» Kurz bevor sie erscheint, habe ich, eingebettet im Orchester, das «Sancta Maria, ora pro nobis» aus der Marienvesper von Claudio Monteverdi zitiert. Solche Zitate mache ich sonst eigentlich nie, aber an dieser Stelle war es mir wichtig. Die Muchacha hat Eisejuaz und Paqui zwar versehentlich tödlich giftige Eier des Rokokofrosches zu essen gegeben,

aber sie lebt weiter und mit ihr ein leiser Hoffnungsschimmer. Mit ihrem Auftritt geht die Musik auch harmonisch in eine andere Richtung: Zu einer ekstatischen Schlichtheit, die zuvor noch nicht war. Die letzten Worte von Eisejuaz lauten dann: «Deinetwegen ist die Welt nicht zerbrochen, und deinetwegen wird die Welt nicht zerbrechen.» Der Schluss ist also weder optimistisch noch pessimistisch. Wir haben keinen Grund zu Optimismus. Optimistisch wäre, nicht zu sehen, was ist. Und Pessimismus würde zu nichts führen. Aber vielleicht taucht doch irgendwann etwas auf, mit dem wir nicht gerechnet haben, und dass uns retten wird. Könnte ja sein. Nur so können wir weiterdenken und weiterleben.

Das Gespräch führte Claus Spahn Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
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WIR KRIEGEN DIE TEILE NICHT MEHR ZUSAMMEN

Tatjana Gürbaca über ihre Inszenierung von Beat Furrers neuer Oper

Tatjana, du liebst es, Uraufführungen zu inszenieren. Warum?

Weil ich es sehr wichtig finde, dass die Oper durch neue Stücke bereichert wird. Wir brauchen Komponistinnen und Komponisten, die aus unserer heutigen Situation heraus über neue Stoffe nachdenken und sie komponieren. Darin liegt die eigentliche Kraft der Kunstform. Wir können ihre Relevanz für die Gegenwart nicht alleine durch Neuinszenierungen existierender Werke beglaubigen. Und ich selbst setze mich einfach sehr gerne mit neu komponierter Musik auseinander, die im Idealfall auch die ganze Gattung hinterfragt und neu denkt.

Mit einer Uraufführung betritt man als Regisseurin unbekanntes Terrain, für das es noch keine Inszenierungsreferenzen gibt. Ist das ein Vorteil?

Klar. Das ist eine totale Befreiung. Ich gehe eigentlich sehr gerne in die Oper und gucke mir Inszenierungen von Kolleginnen und Kollegen an. Aber nichts ist schwieriger, als ein Stück zu inszenieren, von dem man gerade eine Regiearbeit gesehen hat, die man toll fand, denn dann fragt man sich natürlich: Was habe ich der Sache jetzt noch hinzuzufügen? Bei Uraufführungen kann man alles komplett neu erfinden. Gerade Beat Furrer ist ja ein Komponist, der die Opernform immer hinterfragt hat. Mit seiner sehr literarischen Art zu denken, kommt er zu völlig neuen Erzählweisen, die mich als Regisseurin dann auch herausfordern, nach anderen Spielweisen zu suchen.

Wie gut kanntest du das Œuvre von Beat Furrer, bevor du mit der Arbeit an Das grosse Feuer begonnen hast?

Sehr gut. Ich kenne seine Musik seit über 25 Jahren und finde seine Werke total spannend, weil sie sehr reflektiert sind und gleichzeitig unglaublich sinnlich. Man macht jedes Mal eine Reise, wenn man Musik von Beat hört. Ich finde es auch toll, dass sie sich oft am Rande des kaum noch Hörbaren bewegt und man gezwungen ist, ganz genau hinzuhören. Seine Musik öffnet einem wirklich die Ohren. Nach der Aufführung eines Werks von Beat habe ich oft gedacht: Seltsam eigentlich, dass die Komponisten sich so lange Zeit genötigt gefühlt haben, nur in Form von Melodien zu schreiben. Musik kann so viel mehr sein. Manchmal kommt man aus einer Kunstausstellung und sieht plötzlich an allen Ecken und Enden Kunst, auch dort, wo gar keine ist. Mit Beats Musik ist es ähnlich: Man hört die Welt plötzlich anders und nimmt sie viel schärfer wahr.

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Du warst früh schon in die Entstehung dieses Opernprojekts eingebunden. Was hast du gedacht, als Beat Sara Gallardos Roman Eisejuaz als literarische Vorlage vorgeschlagen hat?

Ich habe den Roman gelesen und war auf Anhieb elektrisiert. Sowohl die Schriftstellerin als auch das Buch waren für mich eine grosse Entdeckung. Ich frage mich, warum es so wenig bekannt ist, denn ich halte es für Weltliteratur. Das Thema, die Sprache, die Art und Weise, wie erzählt wird – das alles ist total reich und berührend. Natürlich könnte man auf den ersten Blick denken, es ist eine Geschichte über Kolonisation und den Verlust von Natur, die weit weg von uns stattfindet, aber je öfter ich das Buch gelesen habe, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass wir eigentlich alle dieser Eisejuaz sind. Wir finden uns doch selbst gerade in einer Situation wieder, in der die Welt zersplittert und wir die Einzelteile nicht mehr zusammenkriegen. Davon handelt dieses Buch. In Eisejuaz’ Kopf mischen sich fremde Stimmen unter die eigenen vertrauten. Er erlebt die Entfremdung von der Natur und seiner angestammten indigenen Kultur. Uns geht es nicht anders. Wir leben in einer Welt, in der uns nicht nur der Bezug zur Natur, sondern auch das sichere Wissen um das, was die Realität ist, abhandenkommt. Wir müssen mit Fake­News und den Verzerrungen der digitalen Realität klarkommen und laufen Gefahr, dabei die Orientierung zu verlieren.

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In der Oper hört Eisejuaz den übernatürlichen Gesang der Hölzer, den Beat Furrer für ein Vokalensemble komponiert. Was folgt daraus für das Theater?

Ich finde, das verweist direkt auf den Kern dessen, wer wir sind als Menschen und warum wir Theater machen. Wir Menschen existieren ja nicht nur im realen Sein des Hier und Jetzt, sondern denken und fühlen darüber hinaus. Wir gehen den letzten Fragen nach dem Sinn unserer Existenz nach. Warum sind wir hier? Gibt es eine Seele? Was macht uns aus als Menschen?

Letztlich die drei kantschen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Wir sind in eine Welt geworfen und sehen uns mit all diesen Fragen konfrontiert. Sie sind der Grund, warum wir Kunst machen. Wenn nun ein Opernstoff ein Fenster ins Übernatürliche und Vorgestellte öffnet, führt er genau dorthin, wo sich die Möglichkeit von Theater sowieso immer bewegt. In einem Theater, das sich mit diesen Fragen nicht auseinandersetzt, geht es um nichts. Als ich den Roman von Sara Gallardo gelesen hatte, leuchtete mir sofort ein, warum das ein Stoff für Beat ist. In ihm geht es um alles, um konkret Politisches ebenso wie um die letzten philosophischen Fragen. Er ist zeitlos und auf eine spannende Art auch rätselhaft und nicht zu Ende erzählt.

Der Stoff spielt mit Zeitrückungen, verschmilzt Wirklichkeit und Traum, Vergangenheit und Gegenwart. Was bedeutet das für deine Inszenierung? Man schlägt das Buch auf und hat das Gefühl, einen Raum zu betreten. Ein Kosmos tut sich auf, in dem alles gleichzeitig da ist – und das deckt sich mit meinem Erleben von Welt. Ich habe immer das Gefühl, dass meine Erinnerungen, Ängste, Hoffnungen oder Zukunftsvorstellungen im Leben mindestens genauso präsent sind wie die Realität. Das macht uns als Menschen ja auch aus. Ich halte die Vorstellung vom Leben als ein linearer Zeitstrahl, der von A nach Z führt, für ein Konstrukt, das uns irgendwie helfen soll, die Welt besser zu ordnen und zu gliedern. Eine diskontinuierliche Erzählweise, wie Sara Gallardo und auch Beat Furrer sie etablieren, kommt mir viel wahrhaftiger vor. Deshalb war ich sofort von den Überlegungen fasziniert, wie man das in Theater und Bilder übersetzen könnte als Gleich­

zeitigkeit von Ereignissen oder als Wiederholung von Ereignissen mit leichten Verschiebungen.

Wie muss dafür die Bühne beschaffen sein?

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oder

Henrik Ahr ist der Bühnenbildner unserer Produktion, und das Schöne an der Arbeit mit ihm ist, dass er von der Architektur kommt und eine grosse Nähe zur bildenden Kunst hat. Deshalb sind seine Entwürfe keine konventionellen Bühnenbilder, sondern gleichen eher Installationen, die eine ganz eigene Form von Bewegung und Rhythmus erzeugen und deshalb auch zu neuen Formen von Darstellung einladen. Die Herausforderung für die Kostümbildnerin Silke Willrett wiederum bestand vor allem darin, dass der Stoff so reich an Figuren und Situationen ist. Wir mussten für uns sortieren, was von Bedeutung ist und die Geschichte gut erzählt und dann eine Welt kreiern, die man in ihrer Gesamtheit von jedem Moment aus denken kann, und in der das Publikum trotzdem die Orientierung behält. Bei diesem Werk kann es nicht primär darum gehen, eine Handlung von vorne bis zum Ende durchzuerzählen, weil es sie in dieser Klarheit gar nicht gibt und mit einem linearen Erzählen auch nichts gewonnen wäre. Schon beim Lesen des Romans folgt im Grunde jeder seiner eigenen Handlungsspur. Er kann auf so viele Arten verstanden werden wie es Leserinnen und Leser gibt. Ich erkenne beispielsweise auch die biblische Geschichte von Hiob darin, der von Gott geprüft wird. Man kann aber auch einfach das Spiel mit Bildern und Formen geniessen, das der Roman anbietet. Ich stand neulich in einer Ausstellung vor einem Gemälde von Robert Delaunay und dachte:

am Vorstellungsabend

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Das ist Sara Gallardos Roman! Ich finde, es spricht für den Roman, dass er solche Assoziationen auslöst.

Eine zentrale Rolle kommt in der Oper einem zwölfstimmigen Vokalensemble zu. Wie bindest du es in deine Inszenierung ein?

Das Ensemble ist kein Chor im klassischen Sinn, sondern viel mehr ein Organismus, aus dem auch Solo­Figuren hervorgehen. Die Konstellation gleicht einer Spieluhr: Die Welt ist eine Scheibe, und auf der stehen alle drauf. Daraus ergibt sich ein komplettes, geschlossenes Welttheater, wie wir es sonst viel­

leicht nur noch auch aus Shakespeare­Dramen kennen. Das ist für mich als Regisseurin natürlich eine grossartige Spielanordnung. Jede Figur hat ihre Position in diesem Kosmos und alle kreisen wie Planeten um Eisejuaz. Je nach Konstellation ergeben sich neue Beziehungen und Spannungsverhältnisse gegeneinander, ineinander, miteinander.

Die Partie des Eisejuaz wird von Leigh Melrose verkörpert. Du hast mit ihm schon zusammengearbeitet. Schätzt du ihn?

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Für mich ist er eine absolute Traumbesetzung. Er war schon der Nekrotzar in unserer Zürcher Inszenierung von György Ligetis Le Grand Macabre vor sechs Jahren. Leigh hat tausend Farben als Darsteller. Er ist ein denkender Künstler, der obendrein auch noch Humor hat. Manchmal kommt er mir in seiner starken Körperlichkeit fast wie ein Tänzer vor. Und er ist natürlich irrsinnig erfahren mit zeitgenössischer Musik. Ich bin aber ebenso glücklich mit allen anderen Solistinnen und Solisten, mit Sarah Aristidou als Muchacha, mit der ich auch schon zusammengearbeitet habe, mit Andrew Moore als Paqui und Ruben Drole, der ja in Zürich mein Papageno war, als Schamane Ayó. Was mir vor allem an ihnen gefällt, ist, dass sie als Darsteller keine Angst haben, sich zu zeigen, auch mit ihren Schwächen, auch mit allem, was an uns Menschen nicht so schön oder graziös ist, aber unser Menschsein ausmacht. Sie trauen sich alle, auf der Bühne verletzlich zu sein. Das ist ein grosses Geschenk für jeden Regisseur.

Das Gespräch führte Claus Spahn

EIN RAUM, IN DEM

FIGUREN ATMEN KÖNNEN

Über die Sprache von Eisejuaz und wovon sie erzählt.

Gedanken des Librettisten von «Das grosse Feuer» von Thomas Stangl «... jener feine Bogen, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet...»

Claude Lévi­Strauss

Am Anfang steht die Irritation, das Rätsel. Es ist nicht die Aufgabe, das Rätsel zu lösen, sondern eine Sprache dafür zu finden, seine Kraft freizulegen, seine Musik oder etwas, das seine Musik sein könnte. Wer ist «Eisejuaz», ein Mann, dessen Name «Dieser Hier Auch» bedeutet, so als wäre er nicht ganz er selbst, jemand, der mit Tieren und Bäumen – Hölzern, toten Bäumen – sprechen kann, vielleicht besser als mit Menschen, und der glaubt, vom Herrn gekauft (nicht etwa erwählt) worden zu sein, um eine absurde Mission zu erfüllen?

Als Beat Furrer mich mit dem Roman Sara Gallardos und ihrem eigenartig widerständigen Erzähler und Protagonisten bekannt machte, war uns beiden klar, dass es nicht um billigen Exotismus geht und gehen darf. Der Chaco, ein riesiges Trockenwaldgebiet im Norden Argentiniens, wo Eisejuaz und das indigene Volk der Wichí (im 20. Jahrhundert noch unter der Fremdbezeichnung Mataco bekannt) leben oder eher überleben, ist kein fernes Paradies, sondern eine von Zerstörung gezeichnete Welt. «Den Wald gibt es nicht mehr.» In der Geschichte von Eisejuaz ist keine Reinheit zu finden oder wiederzufinden, weder in seinem Verhältnis zur Natur noch in seinen Erlösungsvisionen. Gerade das macht sie so verstörend und faszinierend.

Im Roman Gallardos erzählt zwar allem Anschein nach nur Eisejuaz, allerdings in einer merkwürdigen Sprache, einem oft zeremoniell­biblisch klingen­

den argentinischen Spanisch, das da und dort Spuren der alten Sprache, der verdrängten, fast vergessenen Muttersprache trägt. Er erzählt in einer Fremdsprache, denn er hat nur noch Fremdsprachen; es ist die Geschichte jemandes, der über keine eigene Sprache mehr verfügt – oder dessen Sprache von den verschiedensten Sprachen durchzogen ist und gerade deshalb so besonders ist. Alles aus der subjektiven Perspektive einer einzigen Person zu zeigen, erscheint auf der Bühne, in der Oper unmöglich, aber ist es wirklich eine einzelne Person, ein Individuum, das in Sara Gallardos Roman erzählt, dieser Mann mit den verschiedensten Namen, Lisandro Vega, Eisejuaz, «Dieser Hier Auch, der den langen Weg geht, der vom Herrn Gekaufte»?

Wer spricht also? Welche Sprache wird gesprochen? Für mich war das beim Schreiben die wesentliche Frage. Ich wollte Eisejuaz seine eigentümliche FremdSprache nicht nehmen – in doppeltem Sinn: sie ihm nicht wegnehmen und durch ein Kunstdeutsch ersetzen, sie mir aber auch nicht aneignen und so tun, als könnte ich so schreiben, wie er redet; ich bin kein spanischer, kein argentinischer Autor, ich kann kein spanisches oder argentinisches Libretto, schon gar kein wichí­evangelikal­argentinisches Libretto schreiben. Deshalb schien mir die Entscheidung zur Mehrsprachigkeit zwingend. Es geht nicht nur um die Übergänge und Brüche zwischen deutsch und spanisch, Innen­ und Aussenperspektive, sondern auch um ein Ineinander verschiedenster Sprachschichten.

Als ich meinen ersten Roman schrieb, fand ich mich vor einem verwandten Problem, ich wollte damals die Geschichte zweier unglücklicher Afrikareisender aus dem 19. Jahrhundert und zugleich die Geschichte der legendären, Europäern über Jahrhunderte verbotenen Stadt Timbuktu und der präkolonialen westafrikanischen Königreiche erzählen, konnte mich dabei aber weder mit den Reisenden umstandslos identifizieren noch mit den Bereisten oder den historischen afrikanischen Chronisten. Ebenso wenig wollte ich aber aus einer besserwisserischen Nachgeborenen­Position über sie hinwegerzählen, ihre extremen oder befremdlichen Erfahrungen einhegen in mein bürgerliches Bewusstsein. Die Lösung, die ich am Ende fand, bestand in einer Art kollektiver Erzählinstanz, einem Wir, das wie ein Gespenst zwischen den Orten und Zeiten, Innen­ und Aussenperspektiven wechselt und aufgesammelte Texte, Briefe, die Chroniken der Geschichtsschreiber, Reiseberichte, eigene Phantasien und Reflexionen,

fremde und eigene Träume integriert zu etwas Neuem, Drittem. Ein Raum, in dem die Figuren ihren Ort bekommen und atmen können.

In der Oper wird dieser Raum natürlich von Beat Furrers Musik getragen und zusammengehalten, doch die Grundfrage und der Umgang damit sind vergleichbar. Was heisst es, von Gott gekauft zu sein? Die Geister von Tieren und Hölzern anzurufen? Ich weiss es nicht, aber der Text muss es wissen. Er muss es zeigen können, ohne Eisejuaz als irgendein kurios­exotisches Objekt erscheinen zu lassen. Das Netz (dieses Wir) ist weiter gespannt als im Roman, es ist nicht nur ein Netz zwischen unterschiedlichen Texten und Figuren, sondern eines zwischen unterschiedlichen Sprachen. Die verdrängte Wichí­Sprache, die Sprache der Kolonisatoren, in der Eisejuaz seinen von Gallardo protokollierten und weitergesponnenen Monolog führt, dieses Spanisch, in das die Sprache der Indigenen eingesickert ist, dann meine Sprache, deutsch, die fremdeste von all diesen Sprachen, eine Sprache von aussen, mit Anklängen an alle meine Lektüren, begonnen bei Hölderlin; aus grösster Entfernung ist oft der intimste und genaueste Zugang möglich. Nicht zuletzt, vielleicht am wichtigsten, ist da aber auch die Sprache, die Eisejuaz umgibt und in der er lebt, die Sprache von Geistern und Engeln, die Sprache der Tiere und Bäume, der bedrohten, fast schon zerstörten Natur des Chaco.

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Eine Sprache der Bäume, kann es so etwas geben? Muss oder kann man an so eine Sprache, eine Sprache von Pflanzen, Tieren, Geistern glauben, kann man an Geister glauben? Was man versuchen kann, das ist: Die Idee, dass Sprache nicht nur eine Sprache der Menschen wäre, ernstnehmen, ohne jeden Mystizismus.

Der Wald war für die als Jäger und Sammler lebenden Wichí etwas wie ein Zeichensystem, die Tapire oder Gürteltiere, Trompetenbäume oder Zedern hatten jedes seine besondere Bedeutung, einen eigenen Platz in diesem System, sozusagen eine Stimme und Seele; um sie zu jagen (zu essen, in sich aufzunehmen), um ihre Früchte zu sammeln, um alltäglich mit ihnen umzugehen und um nach dem Tod einen neuen Ort in der Welt zu finden, mussten die Menschen sich nach bestimmten Regeln mit ihnen identifizieren können. Dieses Bedeutungssystem (wie es Anthropologen, z.B. Eduardo Kohn, für verschiedene Gemeinschaften beschrieben haben) ist in der Welt Eisejuaz’ zerstört. Die Identifikation droht ins Leere zu gehen. Der Chaco ist – mit allen Folgen für

Tierwelt und Klima – eine der am stärksten von Abholzung bedrohten Regionen der Erde; Eisejuaz, der mit den Hölzern spricht, arbeitet ironischerweise zugleich im Sägewerk. Die LKW mit den Stämmen und Brettern donnern durch die Ortschaften. Wenn sich Eisejuaz in das, was von den Wäldern verblieben ist, zurückzieht, kann man also seinen schamanischen Gebeten in all ihrer Intensität zuhören und wissen, dass er in einer Sprache redet, die es eigentlich schon nicht mehr gibt. Man kann aber auch umgekehrt sagen, dass er diese Sprache wiederbelebt: Dass der Roman – und umso eindringlicher die Oper – sie so wiederbelebt, dass es auch aus der Ferne zu hören ist. Dass Eisejuaz in Roman und Oper sie nicht naiv wieder heraufbeschwört, sondern aus Widersprüchen, absurden Gegensätzen heraus erstehen lässt. Die Magie ist nichts Ursprüngliches, Reines, sie wird sozusagen durch eine Serie von Übersetzungen erreicht, Eigenes und Fremdes stürzen in ihr zu einem untrennbaren Gemenge ineinander: dieser Schamane, der zugleich Aufseher in der protestantischen Mission ist, sieht, nach Jahrhunderten der Unterdrückung, Gott als eine Art Sklavenhändler an – und sucht durch diesen Gott der Weissen dennoch Zugang zu schamanistischem Wissen und zu einer Art von Erlösung, für den schrecklichen Paqui und sich selbst, aber am Ende mehr noch für die Überlebenden, das gedemütigte Mädchen und das Kind, das den Namen Félix Monte trägt: das Glück in seinem Namen hat und el monte, den Wald. Die äusserste Ironie und vollkommene Ernsthaftigkeit, der Tod und ein Versprechen von Befreiung finden auf seltene Art zusammen.

Eisejuaz überwindet Tiefpunkte der Verzweiflung, in den Szenen in der sogenannten Wüste und im Bordell erlebt er das Zusammenstürzen aller Zeichen. Daraus aber entsteht etwas, wider alle Erwartung, etwas, das er mit grösster Entschlossenheit verfolgt.

Sozusagen im Leeren, vor der Gefahr einer vollkommenen Auflösung ist das intensive Bewusstsein der Natur, eines umfassenden Raums von Beziehungen, Identifikationen und Resonanzen zu finden, ein Wissen, das ich nicht nachahmen, für mich beanspruchen kann, das ich aber auch nicht abtun will; es ist ein Wissen, wie verwirrt auch immer, keine Täuschung.

Identifikation und Distanz sind miteinander zu vereinbaren: das ist der Punkt, an dem für mich das Ästhetische seinen Wert, nein, seine Notwendigkeit

zeigt. Allen Übersetzungen von der Wichí­Sprache ins Spanische, vom Schamanischen ins Christliche und wieder zurück fügt das Libretto eine weitere Übersetzung hinzu, im Versuch, die eigene poetische Kraft gerade der Übersetzungen, in ihrer Widersprüchlichkeit, freizulegen, ihren rätselhaften Kern in den Blick zu bekommen. Es ist eine Kraft, die über unser Wissen hinausreicht. Claude Lévi­Strauss spricht vom «feinen Bogen, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet.»

Beat Furrer hat mich auf eine Szene hingewiesen, die Lévi­Strauss in Traurige Tropen erzählt. Ein Häuptling namens Taperahi in einem Dorf im Amazonasgebiet beginnt nachts plötzlich «mit ferner und zögernder Stimme, die kaum zu ihm zu gehören schien» zu singen, die Menschen versammeln sich um seine Hütte. «Und mit einem Mal verstand ich, was vor sich ging: Taperahi war im Begriff, ein Theaterstück oder, genauer, eine Operette zu spielen, in der sich Gesang und gesprochenes Wort vermischten. Er allein verkörperte ein Dutzend Personen. Und jede von ihnen unterschied sich durch einen bestimmten Ton der Stimme [...]» Die Personen dieses Stücks sind Vögel und andere Tiere, die Darbietung dauert vier Stunden und wiederholt sich über zwei Nächte hinweg. Lévi­Strauss merkt, wie Taperahi im Lauf der Vorstellung «von seinen Personen überwältigt» wird und es immer schwerer wird zu glauben, die Stimmen «gehörten ein und demselben Individuum an». Er erkennt die Tiere wieder, mit deren Stimmen der Häuptling spricht und singt.

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Dieses nächtliche Theaterstück irgendwo in einer Hütte im tropischen Regenwald steht für sich, Ausdruck eines gesteigerten Erlebens der Welt, einer Durchlässigkeit übers Individuelle, über jede bestimmte Religion und sogar über Speziesgrenzen hinaus. Das Ästhetische hat die Magie in sich aufgenommen und aufgehoben; es erlaubt eine Offenheit und Ambivalenz, das Loslösen von der Beschränktheit des eigenen Blicks und die Öffnung aufs Andere.

Atmen ist, wie Singen und Sprache, ein Austausch mit der Welt, etwas von der Welt geht in mich über, etwas aus meinem Inneren geht in die Welt über. Ein feiner Bogen verbindet uns, immer noch, mit dem Unzugänglichen; ich höre die Stimme(n) von Eisejuaz wie Lévi­Strauss die Stimmen Taperahis gehört hat und frage mich, wie das Unzugängliche und Unverständliche, für ihn zugleich Selbstverständliche und Notwendige mein eigenes Bild von der Welt

erschüttern kann. Erschüttern, in Bewegung versetzen, bereichern. Vielleicht ist es jetzt, in einer Epoche, in der wir im Begriff sind, grosse Teile des Lebens auf dem Planeten auszulöschen, möglich und notwendig, diese Öffnung weiterzutreiben, bis hin zu einer «parti pris des choses», einer Poesie der Freiheit, die alle Begriffe von Materie, Zeit und Leben durcheinanderwirbelt.

Das letzte Wort soll hier aber Eisejuaz haben, und zwar der wirkliche Lisandro Vega / Eisejuaz, der niemals versuchte, einen Paqui zu erlösen, und der Sara Gallardo um Jahrzehnte überlebte. Er wurde als alter Mann einmal von einer Gruppe von Anthropologen besucht und erzählte ihnen viel von seiner früh verstorbenen ersten Ehefrau (die Delia hiess und nicht Lucia), so wie er vierzig Jahre vorher Sara Gallardo von ihr und seiner Trauer erzählt hatte. Dann beschrieb er einen Traum. Er war in Japan in diesem Traum, an dem Ort, wo die Sonne aufgeht, und fragte sich, ob dies das Neue Jerusalem sei. Aber er fand sich in einer riesigen, völlig menschenleeren Stadt. Da war einfach nichts und niemand. Im Zentrum der Stadt sollte es allerdings einen Platz geben, wo die Regierenden vor sich hin regierten.

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Ich weiss nicht, ob uns dieser Traum etwas angeht.

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Doch Regen war’s nicht, es war Kälte. Die grösste seit Menschengedenken. Das hatte noch niemand erlebt. Viele der unseren starben, krank und schwach wie sie sind, vor allem Kinder und Alte, und bei vielen von ihnen, da wollte der Atem am Ende nicht rein und nicht raus. Auch Weisse starben, und wie! Und viele Tiere der Leute vom Chaco sind durch Kälte gestorben. Viele Bäume sind schwarz geworden und haben nie mehr ausgetrieben. Die Erde wurde steinhart.

EISEJUAZ, DER TRÄUMER

Eine Begegnung mit dem realen Menschen hinter der Romanfigur von Sara Gallardo

von César Ceriani

«Ich bin ein Träumer», sagte Pater Lisandro Vega bei unserem Treffen in der Mission La Loma, im Mai 2011. Es war ein relativ heisser Nachmittag in Embarcación, einer sehr heissen kleinen Stadt im Norden von Salta, am Rande des Chaco. Zusammen mit meinem Freund und Kollegen Hugo Lavazza waren wir seit 2009 in dieser Gegend unterwegs, wo wir eine anthropologische Untersuchung über die skandinavische evangelische Mission unter den dortigen indigenen Gruppen planten. Die Ursprünge der Mission gehen auf das Jahr 1914 zurück, als die Stadt mit der Ankunft der Eisenbahn als solche konstituiert wurde. Im Wissen um die Bedeutung, die die protestantischen Missionen unter den Ureinwohnern des argentinischen Chaco (Toba, Wichí, Pilagá, Chorote und Mocoví) hatten, war die Existenz dieser missionarischen Strömung ein Glück für uns. In 20­ bis 30­tägigen Exkursionen erkundeten wir in den folgenden Jahren und bis heute diese komplexe soziale Welt. Es ging uns darum, die historisch­soziologische Dynamik der von den Nordeuropäern geschaffenen Missionen zu verstehen, ihre Formen der Führung und der sozialen Organisation zu untersuchen, die Prozesse der kulturellen Aneignung des Christentums durch die Einheimischen und die Machtverhältnisse zwischen der Mission und der sie umgebenden Gesellschaft.

In Embarcación wohnten wir im alten Missionshaus der Assembly of God Evangelical Mission, so der offizielle Name der Einrichtung seit 1947. Es handelt sich um ein grosses Gebäude mit dicken Ziegeln und einem hellen, offenen Flur, der auf den ebenfalls grossen Garten hinausgeht. Die Räume werden als kirchliches Verwaltungsbüro, Sonntagsschulraum für Kinder, Radiostudio, theo­

logische Ausbildungsseminare und Unterkunft für Gläubige genutzt. Das Haus wurde von dem norwegischen Pionier Berger Johnsen (1888­1945) zwischen 1916 und 1920 mit dem Anspruch erbaut, die «armen und verlassenen Indianer» zum christlichen Glauben zu bekehren und damit nach der protestantischen Vorstellung jener Zeit zu zivilisieren.

Unser Interesse galt Lisandro Vega, einem der zentralen religiösen und politischen Führer während der Jahre 1960­1980, dessen authentischer WichíName Eisejuaz lautet. Eisejuaz ist auch der Titel des Romans, den Sara Gallardo 1971 veröffentlichte. Es ist bekannt, dass Gallardo nach Salta reiste und ihren Roman Eisejuaz als Ergebnis dieser Erfahrung schrieb. Wenig bekannt ist jedoch, dass die Autorin 1968 einige Wochen in Embarcación lebte, wo sie den «echten» Eisejuaz kennenlernte, während sie als Assistentin im einzigen Hotel des Ortes arbeitete. Aus der Sicht von Don Lisandro erzählt, führt uns der Roman in einen faszinierenden Kosmos ein, in dem unter anderem schamanische Boten, norwegische Missionare, deformierte Alter Egos, indigene Evangelisten, kreolische Schutzgeister und versklavte Frauen eine Rolle spielen. Jeder von ihnen hat seinen Anteil an dieser Initiations­ und Opfergeschichte, die als solche von individuellen Dilemmata, gesellschaftlichen Zwängen und einem unaufhaltsamen Schicksal durchzogen ist. Ziel unserer Untersuchung ist, eine anthropologische Lesart des Menschen und des gleichnamigen Buches anzubieten, bei der der Träumer und das Geträumte sich treffen, eine Kreuzung zwischen Anthropologie und Literatur, in deren Zentrum eine reale Person steht, die sich vor mehr als 45 Jahren mit der Autorin des Romans verbunden hat.

Die «subjektive» Welt von Eisejuaz ist weder «mystisch» noch «psychotisch»; sie ist ein Steinbruch von Symbolen, die mit schamanischer und politischer Macht (die sicherlich verwandt sind) sowie mit der Erinnerung und dem individuellen und kollektiven Schicksal seines Volkes verbunden sind. Ich behaupte, dass die schamanische Struktur zentral für Sara Gallardos Werk ist, und vielleicht ist es deshalb für die Töchter und Söhne der Aufklärung immer noch schwierig, es zu verstehen.

Bis 1935 kamen die Verkündigungen der skandinavischen Missionare nur langsam voran. Dennoch hatte Berger Johnsen bereits eine kleine Gruppe von ausgebildeten Wichí­Evangelisten um sich geschart, deren Familien in der Ge­

gend wohnten, da sich in der Nähe die grosse Zuckermühle San Martín del Tabacal befand. Dort liessen sich Tausende von Ureinwohnern aus dem zentralen Chaco und den Andenausläufern für neun Monate nieder, um in einem Klima der Arbeitsausbeutung und neuer interethnischer Beziehungen bei der Ernte zu arbeiten. Wie im Fall der Anglikaner und anderer Missionen im Chaco hatten die indigenen Evangelisten einen grossen Einfluss auf die Verbreitung und Aneignung der christlichen Botschaft. Im Kontext der skandinavischen Mission erinnern alle an die Figur von Santos Aparicio, einem Wichí aus der Gegend und einem Pionier der indigenen Evangelisation.

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Aparicio und Johnsen unternahmen 1935 Erkundungsreisen in das Herz des Chaco und in das Grenzgebiet, das durch den Pilcomayo­Fluss begrenzt wird. Auf diesen Reisen am Ende des Chaco­Krieges zwischen Bolivien und Paraguay von 1932 bis 1935, deren Auslöser die indigenen Gruppen waren, die die Grenze bewohnten, entstand das mythisch­historische Hauptereignis der missionarischen Arbeit: die «Wiederbelebung des Pilcomayo». Den Protagonisten zufolge empfingen die Gruppen Toba und Wichí den «Geist Gottes», der ihnen von dem Norweger anvertraut wurde, während er auf einem Stuhl sitzend predigte, der auf einer kleinen Leiter montiert war. Kurz nachdem Johnsen nach Embarcación zurückgekehrt war, machten Toba­ und Wichí­Familien, die früher zu den Mühlen gewandert waren und die Gegend gut kannten, ihren üblichen Zwischenstopp in der Stadt, nun aber bereit, dort unter dem Schutz und der Disziplin des norwegischen Missionars zu leben.

Seit 1935 auf einigen Ländereien am Stadtrand angesiedelt, teilten Tobaund Wichí­Gruppen den sozialen Raum in zwei zusammenhängende Nachbarschaften, die durch eine breite Hauptstrasse und Heiratsverbote getrennt waren und im Laufe der Zeit flexibler wurden. In ordentlichen Reihen wurden Häuser aus Lehm und Schilfrohr errichtet, mit Strohdächern und Erdböden. Ungewöhnlich in Bezug auf das Muster der protestantischen Missionen im Chaco, die in ländlichen Räumen organisiert waren, befand sich «das Lager der Indianer» innerhalb eines wachsenden Dorfes, wo, wie sich die Ältesten erinnern, «die Weissen uns nicht wollten». Inmitten von Konflikten, von Gebietsansprüchen und Gesundheitspaniken wurde die Mission 1962 vertrieben, weil – wie Lisandro uns erzählte – «im Dorf gesagt wurde, dass wir alle an Tuberkulose leiden

würden». Einige Familien kehrten an ihre Herkunftsorte zurück, aber der Grossteil der Toba­ und Wichí­Bevölkerung wurde an einen sanften Hang zwei Kilometer von der alten Stätte entfernt umgesiedelt, auf ein von den norwegischen Missionaren erworbenes Land, das den Blick auf den Berg freigibt und das erfreuliche Gefühl einer Nachtbrise bietet. Der neue Platz wurde als Mission La Loma bezeichnet, ein Berg, auf dem die Eingeborenen der «alten Mission» nach Holz, Heilpflanzen und Kleintieren für das Feuer suchten. Eine der Familien, die sich dort niederliessen, war die um Lisandro Vega. Seine Eltern waren aus dem oberen Pilcomayo nach Embarcación gekommen, «der Botschaft des Missionars folgend» – wie es im Roman Eisejuaz heisst –, in der Migrationswelle der dreissiger Jahre. In den sechziger Jahren war er bereits ein bekannter und aufstrebender junger Wichí, der gut Spanisch sprach, im Hauptsägewerk der Stadt arbeitete und eine der Töchter von Daniel Torres, einem anderen der berufenen Evangelisten der Mission, geheiratet hatte.

Schon bei der ersten Erkundungstour im Ort sagte Generalpastor Marcos: «Ihr müsst mit Vega sprechen, er ist jetzt alt, aber er hat eine sehr interessante Geschichte.» Bei einer anderen Gelegenheit fanden wir bei der Durchsicht des Fotoarchivs der skandinavischen Mission ein Foto, auf dem ein indigenes Paar auf den Altar der Kirche von Embarcación zugeht; er trug einen schwarzen Anzug, ein Einstecktuch und eine Blume im Knopfloch, sie ein weisses Kleid, Tüll und einen Blumenstrauss in der Hand. Es schien aus den 1960er­Jahren zu stammen. «Das ist Vega», sagte der Generalpastor und fügte hinzu: «Er ist eine wichtige Figur, weil er all die Widersprüche dieser Mission in der Zeit der Norweger und der Beziehung zu den Indigenen in sich trägt, indem er sich mit ihnen einlässt und alles gegen sie tut.» Man drängte uns, ein Treffen mit Eisejuaz nicht länger hinauszuzögern, da er im fortgeschrittenen Alter war und seine körperlichen und geistigen Kräfte geschwächt waren.

Wir fuhren die knapp drei Kilometer, die das alte Missionarshaus von der La Loma Mission trennen. Wir kamen in der Mitte des Ortes an, wo sich nicht zufällig das Haus von Vega und seinen Verwandten befindet, neben dem einzigen und einfachen Sägewerk der Gegend. Lisandro stand am Eingang zu seinem Grundstück und stützte sich auf seinen schönen Palosanto­Stock mit Pferdekopf, er trug ein ordentliches weisses Hemd und eine graue Hose. Er hatte uns schon

gesehen, wie wir in der Mission herumliefen, aber er war sich nicht sicher, was wir dort taten. Wir erzählten ihm, dass wir Anthropologen aus Buenos Aires seien, die die Geschichte und Gegenwart von Misión La Loma studieren. Kurzerhand fügten wir hinzu: «und viele haben uns schon gesagt, dass wir mit Don Lisandro Vega sprechen müssen, der eine sehr wichtige Person ist». «Kommt einfach rein», sagte Eisejuaz mit der für sein Volk und sein fortgeschrittenes Alter typischen ruhigen Art. In den für Chaco typischen Stühlen aus Johannisbrot und Kuhfell sitzend, sahen wir uns Fotos an, tranken Erfrischungen, und vor allem sprachen wir ausführlich über Schlaglichter seines Lebens und seiner Gedanken.

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Sara Gallardos Roman baut eine Poetik der Realität auf, in der Eisejuaz seit den 1940er­Jahren lebte. Das Werk bezieht sich auf eine brillante Konstruktion des «einheimischen Standpunktes», jener romantischen Epiphanie, die Anthropologen zu erreichen hoffen. Was wir lesen, ist Vegas Stimme, dieselbe Stimme, die Sara Gallardo hörte und von der sie träumte, dieselbe (bereits müde) Stimme, die wir an jenem langen Morgen des 12. Mai 2011 hörten. Wir betreten also den Weg eines Mannes Mitte dreissig, eines Wichí, der in der Mission lebt (obwohl er bald darauf ausgestossen wird) und unmissverständlich einen göttlichen Auftrag erhält, den er nicht versteht, aber erfüllen muss. Eisejuaz entschlüsselt nur langsam die Botschaften des Herrn, die schon früh in den Bergen durch seine «Boten» und dann in der Mission auftauchen, auch wenn er dort vom Missionar bestraft wird. «Aber beim Abwaschen der Gläser im Hotel sprach er mich selbst an: Lisandro, Eisejuaz, deine Hände gehören mir, gib sie mir.» Von dort aus ist der Weg, den Vega geht, ein Weg des Leidens und der Demütigung, aber auch des Zugangs zu Macht und Transzendenz. Der Roman erzählt also von den Dilemmata eines Typus indigener politischer und spiritueller Führung, der durch den Kontakt mit der herrschenden Gesellschaft und der besonderen historischen Erfahrung der skandinavischen Missionierung in Nordargentinien entstanden ist.

Alle, die über vierzig Jahre alt sind und jetzt in La Loma leben, erinnern sich an «die Zeit der Pforte», als die von Per Pedersen entsandten Missionare eifersüchtig darüber wachten, «dass sie nicht betrunken waren», «dass die Leute sich nicht prügelten», «dass sie nicht zum Medizinmann gingen». Vega war der Anführer dieser Gruppe, die ihn im Roman immer wieder auffordert, «Ordnung

zu schaffen» – als Vorarbeiter und dann als Kazike der Misión La Loma. Wie uns Pastor Marcos zu Recht erzählte, war Lisandro Vegas Beziehung zu den norwegischen Missionaren, die in seinem Denken bis heute anhält, eine radikal ambivalente. Sie war geprägt von zyklischer Nähe und Distanzierung, von Bitten und offenem Widerstand, am Rande einer Führungsaufgabe, die die Rolle dieser Missionare in ihrem Leben, in dem ihrer Familie und in einem Teil ihres Volkes gleichermassen akzeptiert und herausgefordert hat. Gallardos Roman zeigt die kritische Seite dieser Beziehung, zwischen Ausweisungen, Anschuldigungen und gegenseitigen Verfluchungen. Im Gespräch mit uns kommt in Lisandro Erinnerung über (bestimmte) norwegische Missionare heute vor allem ein starkes Ressentiment zum Ausdruck. Diese Wahrnehmung ist vielen indigenen Gläubigen im argentinischen Chaco gemeinsam, die in den zentralen Jahrzehnten der protestantischen Missionserfahrungen lebten, hin­ und hergerissen zwischen Vertrauen und Misstrauen angesichts dieser ausländischen Prediger. Lisandros Leben drückt einen Willenskonflikt aus, der in Gallardos Werk bewundernswert aus dem inneren Konflikt seines Protagonisten übersetzt wird; eines Streits, der vom gesellschaftlichen Auftrag eines Führers, der «guten Willen» praktizieren muss, in Anspruch genommen wird, und von der Aufforderung, das schwierige Schicksal zu erfüllen, das darin besteht, «seine Hände dem Herrn zu überlassen», Auf diese Weise wird der Auftrag, der den Roman – und vielleicht auch das Leben von Lisandro — strukturiert, in der Sprache des WichíSchamanismus ausgedrückt. Wie bei anderen indigenen Völkern des Chaco und Amerikas ist dieser in die Kosmologie der Gruppe eingebettet. Der Schamane wendet sich mit äusserster Ehrerbietung an Entitäten, die die numinosen Räume des Berges, des Wassers und des Himmels bewohnen, um die Hilfe und den Beistand zu erlangen, der für die Erfüllung seiner Aufgaben der Heilung und des Rates notwendig sind. Diese Hilfe wird durch Träume, Gesänge und Dialoge zwischen dem Schamanen und den Geistern kommuniziert. In Gallardos Geschichte werden diese Wesen «Botenengel des Herrn» genannt, die Eisejuaz besuchen, wenn sie verfügbar sind. Bei bestimmten Anlässen müssen Schamanen auf den Samen der halluzinogenen Cebilpflanze zurückgreifen, um einen klareren Zugang zu den spirituellen Quellen zu finden und einen Dialog mit den Geistern herzustellen.

In einem der zentralen Momente des Romans braucht Vega dringend Erleuchtung, um seine göttliche Mission zu verstehen und entsprechend zu handeln. So beschliesst er, Vicente Aparicio zu besuchen, eine Figur, die eindeutig von dem bereits erwähnten Santos Aparicio inspiriert ist, und macht sich auf die Suche in die Stadt Oran. «Ich suchte den Mann des Wissens, einen Freund meines Vaters, der in Oran lebt.» Als er ihn findet, tauschen sie Worte in der Schamanensprache aus, warten auf die Nacht und rauchen eine Zigarette aus gemahlenen Cebil­Samen, um die Boten zu empfangen. «Ich rauchte mit ihm, meine Seele lief aus, sie sang. Dann kamen alle Boten an, ohne einen zu vermissen, ohne die Käfer der Nacht zu vermissen, Feinde der Sonne. Sie kamen alle wieder in mein Herz.

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«Aber der Schmerz hört nicht auf, er geht immer weiter.» Das war der Satz, den Lisandro bei unserer Begegnung an jenem Herbstmorgen ständig wiederholte, wie ein Wichí­Mantra. Er sagte uns auch, dass er 140 Jahre alt sei, was symbolisch ausdrückte, dass er Macht und Weisheit erlangt hatte, beides Attribute des Alters. Die schmerzhafte Erinnerung an seine erste Frau, Delia Torres, verfolgt ihn weiterhin. Aber auch Träume, wie der, den er uns über «seine Reise nach Japan» erzählte, «zu dem Ort, wo die Sonne aufgeht, und da war eine grosse, aber leere Stadt, da war nichts, was das Neue Jerusalem sein könnte, aber im Zentrum der leeren Stadt war ein Platz, wo die Herrscher waren».

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«Die Schriftstellerin war eine gute Frau», antwortete er, als wir ihn – schon müde — nach seiner Begegnung mit Sara Gallardo fragten. Zu Beginn des Vortrags hatte er uns zweimal dieselbe Frage gestellt, die ich jetzt, wenn ich diesen Text beende, aufschlussreich finde: «Ihr habt vom Paradies gehört? Und wo ist es, wo ist es?» «Das weiss niemand», antworteten wir erstaunt. Und wir lachen alle drei über unsere Unwissenheit.

César Ceriani ist ein Anthropologe aus Buenos Aires. Er widmet seine Arbeit dem religiösen und kulturellen Wandel bei den indigenen Völkern des Chaco.

Es war Tag, aber für mich war es wie Nacht. Die Augen habe ich weit aufgerissen, und alles war dunkel. Alles, was ich gesehen habe, war schwarz. Und meine Seele hat sich davon machen wollen. So leer, wie sie war, war hier kein Platz mehr für sie. Ohne Feuer und Matten und Häuser für die Boten des Herrn war sie bereit zu gehen. Ohne die Engel, die mit der Welt verbinden, war hier kein Platz mehr für sie.

OPER ALS KOMMENTAR ZUR WELT

Über das Musiktheater von Beat Furrer, das das Zentrum seines kompositorischen Schaffens bildet

Beat Furrers Oper Das grosse Feuer ist ein Theater der Stimmen und der Sprachklänge, inspiriert durch die einzigartige Geschichte des Eisejuaz, der zwischen einer Naturwelt und der Realität einer vermeintlichen Zivilisation steht, meisterlich erzählt in Sara Gallardos Roman. Schon am Anfang der musikalischen Konzeption der Oper stand Furrers Interesse, die Komposition für ein Kollektiv zu entwickeln, aus dem einzelne Stimmen heraustreten und wieder in diesem aufgehen, sowie zum anderen die Verwendung einer «zerbrochenen Sprache». Die poetische Qualität der Sprache in Eisejuaz, der Zwischenraum zwischen dem Klang der Wörter und ihrer Bedeutung stellt die Frage nach der Identität in den Mittelpunkt: Die Oper erzählt sie anhand der Laute, des Sprachklangs, der poetischen Sonorität, fokussiert auf die Einzelstimme bis hin zur Vergrösserung in den orchestralen Raum.

In Das grosse Feuer kulminieren kompositorische Themen, die sich durch sein gesamtes Schaffen ziehen. So schliesst sich ein Bogen zu seiner ersten Kammeroper Die Blinden, 1989 in Wien uraufgeführt. Schon dieses ist ein Theater der vielen Stimmen. Maurice Maeterlincks symbolistisches Drama erzählt von einer Gruppe Blinder, die mit einem Führer in einen Wald gehen, es mündet in den schockartigen Moment der Erkenntnis, dass der einzig Sehende tot in ihrer Mitte liegt: «Es ging darum, mehrere Perspektiven auf diesen Text zu schaffen. Die Protagonisten treten aus dem Chor hervor, es sind Verlorene, der Zeitlichkeit enthoben, in ihren jeweiligen Erinnerungen gefangen.» (Beat Furrer)

Der Kern von Furrers kompositorischem Schaffen ist das das Medium Oper. Neun Werke für das Musiktheater hat er geschrieben, zuletzt Violetter Schnee

(Berlin 2019), la bianca notte / die helle nacht (Hamburg 2015), das Musiktheater Wüstenbuch (Basel 2010), zuvor FAMA (Donaueschingen 2005), invocation (Zürich 2003) und Begehren (Graz 2003) sowie von Narcissus (Graz 1994) und Die Blinden. Gleichzeitig umfasst sein umfangreicher Werkkatalog alle Genres der Instrumental­ und Vokalmusik. Sechs seiner neun Bühnenwerke tragen die Bezeichnung «Oper», Das grosse Feuer eingerechnet. Oper ist für Beat Furrer die «offene Kunstform», die es in die Zukunft zu führen gilt. Ihr Medium ist die Stimme: «Ohne erklärende Verdoppelungen erzählt die Stimme selbst, wird sie vom Zuhörer unmittelbar aufgenommen. Dieser macht die Erzählung zu seiner eigenen. Ob ich die Augen schliesse oder nicht, ob ich das Libretto kenne oder nicht, es fesselt und beseelt mich weit über das diskursive Verstehen hinaus. Mein Körper singt in seinem Inneren mit und tritt mit dem Anderen in ein Verhältnis der Resonanz. Der Klang der Stimme erst konstituiert die Figur des Protagonisten.»

Was meint Beat Furrer, wenn er fordert, die Musik müsse es schaffen, «die Aufmerksamkeit so auf die Stimme zu fokussieren, dass die Stimme selbst erzählt»? In jedem Musiktheater entwickelt er diese Erzählweise auf neue Art. In Narcissus vollzieht Furrer einen Schritt zur Dekonstruktion, zur grösseren Abstraktion, in einer sehr virtuos fragmentierten Sprache, die auf einen Sprecher und auf einen Sänger aufgeteilt ist, laut Beat Furrer «die Aufsplitterung des sprechenden Ich.» Nach Die Blinden folgt in Narcissus radikale Reduktion, was den Text angeht. «Ausschliesslich Ovid, sowohl übersetzt als auch im lateinischen Original. Die Dramaturgie ist allein der Musik überlassen. Von Anfang an wird die Situation des verzweifelt vor seinem Spiegelbild knienden Narcissus erzählt. Ganz ähnlich später in Schnitzlers Fräulein Else (in FAMA), die vor ihrem Spiegelbild in einem Selbstgespräch fragt, ‹Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel? Bin das ICH, die da redet?› Das Thema war für mich auch immer das der Repräsentation. In Narcissus ist diese Figur am unfassbarsten, und doch ist sie eine Figur, die unserer Zeit entspricht. Das Gefangensein in der narzisstischen Spiegelung. Gefangen in den Echoräumen der digitalen Medien.»

Die bezwingende Kraft von Beat Furrers Kompositionen resultiert aus der Präzision und Konsequenz, mit denen er musikalische Chiffren für jene elementaren Konstellationen schafft, die im Zentrum des Dramas stehen. Aus der

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Einfachheit entstehen grosse Erzählungen. Die Tragödie des Orpheus, der sich, aus dem Hades heraufsteigend, zu Eurydike umdreht, bannt Furrer in Begehren in ein Bild: den Blick zurück. Als würden wir mit in den Hades schreiten, hören wir zu Beginn ein dichtes Total flüsternder Stimmen; aus Zischlauten wie in «Schatten» oder «Schimmer» entwickelt sich eine geräuschhafte Szenerie; gleichzeitig werden wir soghaft in das vorandrängende Klanggeschehen hineingezogen. Ein Satz, von einem Mann gesprochen, schält sich heraus – hier stürzt die Musik ins Bodenlose: «Und wandte mich um». Der Blick zurück, das ganze Drama des Orpheus, ist in diesem ungeheuren Moment zusammengefasst. In der Erinnerung ist eine Geschichte komplett präsent, mit Entwicklung und Konsequenz. Entsprechend enthält die Anfangsszene von Begehren musikalisch schon das ganze Drama. Alles ist in der Retrospektive erzählt: Orpheus’ Tragödie des Sehens, die Unmöglichkeit der Begegnung, das Begehren. Mit seinen beiden Musiktheatern Begehren und FAMA schuf Beat Furrer zwei Schlüsselwerke, die jeweils den Sprachklang mit dem Gesungenen kombinierten. Für Begehren entwickelte er ein musikdramatisches Verfahren, das mit der Arbeit eines Restaurators vergleicht, der Schicht für Schicht ein Palimpsest entziffert. Übereinandergelegte Textebenen werden von Furrer in Klanglichkeit umgesetzt und reflektieren die Geschichte zweier Figuren: ER und SIE sind Archetypen. Sie durchschreiten die Stationen der gegenseitigen Nichterreichbarkeit und der Verzweiflung des Begehrens. SIE beginnt singend, sehr stilisiert – Furrer vergleicht SIE mit der Abbildung auf einer antiken Vase – und entwickelt sich im Verlauf immer mehr zur gesprochenen Sprache hin. ER hingegen – als würde ER sich daran erinnern, Orpheus gewesen sein zu können – vollzieht eine Entwicklung vom Sprechen zum Singen. Der Punkt grösstmöglicher Annäherung ist erreicht, wenn SIE zum Sprechen findet und beide sich im Klang des Atmens treffen. Furrers Komposition erzählt vom quälenden Zweifel und von der Sehnsucht. Letztere lässt den Fortgang in einem verzehrend schönen, überzeitlichen Choral in der Mitte des Werks stillstehen: Wie in einem Ruhepunkt reduziert sich Eurydikes Gesang auf das Pendeln eines Seufzers, ergänzt durch berückende Akkordklänge des Chors und das Flüstern des Baritons: «kein Anfang kein Ende keine Flucht mehr» – gebannt in ewiger Wiederholung.

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Das Hörtheater FAMA erzählt von der Bedrängnis einer jungen Frau, deren Familie sie zwingt, von einem Bekannten Geld zu besorgen. Dieser fordert, sie nackt zu sehen. Sie entblösst sich vor der ganzen Hotelgesellschaft, anschliessend bringt sie sich um. Der innere Monolog von Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else, auf der FAMA basiert, zeichnet die Zerstörung einer Identität nach. In acht Szenen zeigt Furrers Komposition Elses Stimme in Grossaufnahme und macht die Gewalt erfahrbar, die ihr angetan wird. Sukzessive nähert sie sich der Protagonistin an, bis in der sechsten Szene der Höhepunkt dieser Innensicht erreicht ist: Wort, Sprachklang, Atem, Expression, Emotion spalten sich zwischen Kontrabassflöte und Sprechstimme auf. In dieser Arie bildet Furrer den Subtext des zunächst scheinbar spielerischen Gedankenprotokolls Elses ab, das von koketter Selbstbetrachtung über panisches Pläneschmieden bis zur Auflösung ihrer Persönlichkeit reicht. Der Instrumentalklang erweitert die Sprechstimme von der solistischen Resonanz bis zum Total des Orchesters, wie eine «Verlängerung des Kehlkopfs».

Der Titel von Furrers Hörtheater spielt an auf das mythische Haus der Fama, in dem laut Ovid alle Geschichten widerklingen: «Nirgends ist Stille, nur raunende Stimmen, Gemurmel, wie von den Wellen des Meeres, wie verhallender Donner. Fama selbst hört, was irgend im Himmel, im Meer oder auf Erden geschieht …» Zwischen Traum und Gegenwärtigkeit oszilliert diese Figur, die nur Gedanken, Sprache ist. «Wie merkwürdig meine Stimme klingt»: Der Stimme und ihren wechselnden Klanglichkeiten wird im Verlauf des Stücks immer näher gerückt, bis hin zur klanglichen Vereinigung mit dem Instrumentalklang – und schliesslich zum Verlust der Stimme: FAMA mündet in ein instrumentales Nachbeben, das der Katastrophe folgt. In dem Motivkreis des Hörens zieht sich eine Linie zu Das grosse Feuer: Das Wahrnehmen vom Klang der Dinge, der Tiere, der Natur ist ein zentrales Thema der Oper. Wir hören Hölzer, Boten, den Naturraum, Kreaturen, die keine Stimme haben. Mit all dem ist Eisejuaz in Verbindung: es geht um «ein anderes Verständnis der Kommunikation.»

Auch in Beat Furrers Wüstenbuch (2010) und in seiner Oper la bianca notte / die helle nacht (2015) geht es in jeweils eigener Weise um das Ineinander von instrumentalen und vokalen Stimmen. Szenen einer Reise in die Wüste verklammern in Wüstenbuch Geschichten von Menschen «auf der Suche nach

dem Fremden, das es eigentlich nicht mehr gibt» – nach Ingeborg Bachmann, Händl Klaus, altägyptischen Texten und weiteren Quellen. Musikalisch wird die Stimme, als Sing­ oder Sprechstimme, in instrumentale Farben übersetzt, orchestral überlagert oder reproduziert. Die Reise zu einem ortlosen Ort – für den die Wüste eine Metapher ist – an der Grenze des Todes, ist, so Furrer, «ein Theater jenseits von Handlung, von Stimmen im Raum».

In mehrfacher Hinsicht bildet die Oper la bianca notte einen Gegenentwurf zu Wüstenbuch, das ausgehend vom Sinnbild der Wüste die Abwesenheit einer Erzählung suggeriert, jedoch voller Geschichten steckt. la bianca notte lässt das Geschick einer Figur in verschiedenen Zeitschichten, in Verdichtungen und Überlagerungen aufscheinen. Furrer erzählt in dieser Oper von einem Vagabunden und Dichter, einem Ausgeschlossenen, dem die Anerkennung in der Gesellschaft und in seiner Kunst, schliesslich auch in der Liebe versagt bleibt. Er beschreibt ein Fremdwerden, einen Verlust von Heimat, von Ordnung in der Welt. Er erzählt von einer Figur, die sich verliert und in die Nacht geht. «Die Nacht, das Verschwinden der festen Umrisse und Konturen, ist Thema und Ausgangspunkt der musikdramatischen Erzählung.»

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«Für mich ist es wesentlich, dass dem Singen eine andere, neue Expressivität zuwächst», erklärt Beat Furrer. In la bianca notte wird ausschliesslich gesungen, und auch die 2019 uraufgeführte Oper Violetter Schnee macht den Gesang zum zentralen Thema. Eine geschlossene Gesellschaft: fünf Menschen in einem Haus, umgeben nur von Schnee. Sie sind ausgesetzt, auf ihre pure Existenz zurückgeworfen. Etwas ist passiert. Einzige Sicherheit ist der Schnee draussen, der zur Projektionsfläche wird. Es gibt noch eine sechste Person, die nur beschreibt, was sie sieht. Oder ist sie eine Phantasmagorie, die Erinnerung an eine Verstorbene? Das Libretto von Händl Klaus nach Vladimir Sorokin handelt von einem fantastischen Sturz ins Ungewisse. Beat Furrers Musik zieht die Hörer:innen mit Vehemenz hinein in dieses Szenario: in ein Geschehen der totalen Wandlung, in das verblüffte Erleben von fünf Menschen, deren Welt sich in eine umfassende Fremdheit hineindreht. Ihr Verhalten mäandert zwischen Euphorie und Angstvision, Banalität und Vereinsamung. Am Schluss ein seltsames Licht, ein Mond, der Schnee leuchtet violett: Verheissung, Erlösung, Untergang? Ein kompositorisches Thema von Violetter Schnee ist die Sprache

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jenseits der Sprache. Es geht darum, Musik zu komponieren, die das Unvorstellbare zum Klingen bringt – das, worüber nicht gesprochen werden kann: Was wäre, wenn …? Mit Wucht zieht uns von Beginn des Prologs an ein überbordend bewegliches Klangtotal in diesen Kosmos des Ungewissen. Ein unaufhaltsamer und schillernder musikalischer Sog, ein grosses Glissando der Erzählung führt zur Auflösung in der Euphorie, zur Auslöschung des Individuellen. Die Stimmen reihen sich ein in den Chor der Verlorenen, verlieren ihre Persönlichkeit. Der archetypische Traum von der Furcht vor dem Ungewissen endet offen. Beat Furrers Werke lassen sich allesamt erleben als ein faszinierender Kommentar zum Hier und Jetzt, und so ist Violetter Schnee ein Kommentar zu einer Welt der radikalen Veränderung: «Es scheint etwas im Gang zu sein, das uns existenziell in Frage stellt und bedroht. Dieser freie Fall soll in Violetter Schnee zur Darstellung kommen. Es geht um einen Fall ins Bodenlose.»

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Furrers Kommentar zur Welt setzt sich fort in seiner neunten Oper Das grosse Feuer, und immer ist auch das Moment der Utopie enthalten. Die Figur Eisejuaz steht für das Spannungsverhältnis zwischen einem ungebrochenen Aufgehobensein in einem Naturraum und der Zerstörung und sie erzählt von einer Utopie, von dem, was sein könnte. Diese Utopie ist das Potenzial der Kunstform Oper: «Ich glaube, dass diese genannte Offenheit auch bedeutet, dass man alles immer wieder in Frage stellt, jenseits der Konventionen immer wieder andere Möglichkeiten, andere Formen der theatralischen Erzählung sucht. Das heisst, den geheimnisvollen Beziehungen zwischen Klang und Bedeutung auf der Spur zu sein, einmal Worte zu Klang werden zu lassen, oder aber Bedeutung langsam aus dem Klang entstehen zu lassen. Einmal ein Wort unendlich zu dehnen, oder, wiederholend, die Bedeutung des Wortes zu verändern, oder aber in der Überlagerung von Texten, mit deren Bedeutung zu spielen. Offenheit kann man auch im Sinne einer utopischen Qualität der Gattung Oper verstehen, wie Heiner Müller so schön gesagt hat: «Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen...»

DIE ZERSTÖRUNG

DER WELT

Eine Erzählung aus den mythischen Geschichten des Wichí-Volks

erzählt von Ayó Santos Aparicio, aufgeschrieben von Antonio Tovar

Einst lebte das Volk der P’alalís, der Elektrischen Menschen, die etwas grösser waren als die Menschen heute. Einmal gaben die P’alalís ein Fest und luden die anderen Völker dazu ein, alle Menschen und alle Vögel.

Auch den Töpfervogel. Den Töpfervogel wollten die anderen nicht mitnehmen, weil er bei jeder Kleinigkeit in Gelächter ausbrach. Und den Elektrischen Menschen gefiel es gar nicht, wenn jemand über ihre Art zu tanzen lachte. Alle, die sie eingeladen hatten, kamen herbei, der Töpfervogel hinter ihnen her. Die anderen schauten sich an, da war dieser Typ, den sie nicht dabeihaben wollten. Sie sagten zu ihm: Setz dich hin, und was immer auch passiert, fang auf keinen Fall an zu lachen! Und alle setzten sie sich hin, alle Leute und alle Vögel.

Und dann tanzten die P’alalís. Ein erster erhob sich, begann zu laufen, und ihm kam Feuer aus dem Hintern. Und dann der nächste und dann der nächste. Da konnte sich der Töpfervogel nicht mehr zurückhalten und prustete los vor Lachen. Und die Elektrischen Menschen hörten es und ärgerten sich. Sie fragten: Warum lacht ihr über uns und macht euch über uns lustig?

Und dann rannten sie alle auf einmal los. Sie rannten übers Feld, und ihnen kam Feuer aus dem Hintern. Und man sah eine Flamme auf der Erde und sie breitete sich aus, immer weiter, bis sie die ganze Erde umfasste. Das Feuer verwüstete und versengte das Land und die Leute und die Vögel versuchten zu flüchten und zerstreuten sich über die Erde. Sie wussten das Feuer nicht zu bezwingen. Einige entkamen, doch die Erde war verbrannt und alles zerstört, kein Baum war verschont geblieben.

Als das Feuer verlöschte, war die Erde wüst und kahl. Alle Vögel waren verbrannt und es gab keinen Vogel mehr auf Erden, ausser dem Nandu und dem Rotfussseriema, die schnell davonlaufen konnten und es ins Bergland geschafft hatten. Und dann gab es noch die kleine Icancho­Morgenammer als einzige Person unten im Land, die überlebt hatte. Sie ging herum und fand den Trieb eines kleinen Bäumchens. Sie pickte daran, bis der Spross zu wachsen begann. Er wuchs immer weiter und der Vogel zog Kreise um den Baum, bis der Baum Zweige austrieb und er in seinem Schatten in der Erde scharren konnte. Vom Schatten angelockt erschienen andere Vögel, die überlebt hatten. Sie blieben unter dem Baum, bis er eine ungeheure Grösse erreicht hatte.

Dann erschien jemand. Jemand, der wie ein grosser, altehrwürdiger Fürst aussah. Er kam und liess sich im Schatten des Baumes nieder. Und er begann, Gefässe zu formen, Krüge, dann sammelte er Kohlenstückchen, die vom Feuer zurückgeblieben waren, und gab sie in die Gefässe. Er füllte die Krüge, und sodann verschloss er sie. Und er wartete und überprüfte jeden Tag, wie weit das Werk war. Einmal schien alles bereit, er überprüfte die Gefässe, hob die Deckel, doch nichts geschah.

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Am nächsten Tag aber war es wirklich so weit und er begann herauszuholen, was drin war. Er hob einen Deckel und Leute kamen heraus. Aus jedem der Gefässe kamen Leute: die Leute, die man Türken nennt, und die Leute, die man Galizier nennt. Aus einem anderen Gefäss das Volk der Engländer. Aus dem einen Gefäss dieses Volk, aus dem anderen ein anderes. Alle Völker erschienen, und sie gingen hin und verstreuten sich auf Erden. Und der Fürst verlangte nach Regen und es begann zu regnen und die Landschaft wurde lind und grün.

Die Leute bauten ihre Häuser und Dörfer auf und bebauten die Felder. So entstanden die Menschen. So wurden sie geschaffen. Und damit hört meine Geschichte auf.

Wegen dir ist die Welt nicht zerbrochen, und sie wird auch niemals zerbrechen.

DAS GROSSE FEUER

BEAT FURRER (*1954)

nach dem Roman «Eisejuaz» von Sara Gallardo

Libretto von Thomas Stangl

Auftragswerk des Opernhauses Zürich, Uraufführung

Personen

Eisejuaz (Lisandro Vega, Dieser Hier Auch)

Paqui

Aquella Muchacha

Chahuanca, Seherin

Selim, Aktivist

Lucia 1 und 2, Lebensgefährtin von Eisejuaz

Mauricia, Lucias Schwester und heimliche Geliebte von Eisejuaz

Reverendo, Missionar

Ayó (Vicente Aparicio), Schamane

Gomez, Bordellbesitzer

Yadi, Freund von Eisejuaz

Der hinkende Alte, Muchachas Vater

Doña Eulalia, Betreiberin eines Hotels

Ein Jäger

Der Busfahrer

Stimme einer Krankenschwester

ERSTER AKT

SZENE 1

Die Hölzer sprechen. Paqui, ein rassistischer Weisser, liegt hilflos im Schlamm und flucht.

PAQUI gesprochen

Regen, Holz, Indios… In diesem Drecksloch… Kunden, Indios…

CHOR

Cedro, quebracho, lapacho, palosanto, algarrobo, pacará…

PAQUI gesprochen

Regen, Holz, Indios… es riecht nach Regen… In diesem Drecksloch. Kunden, Indios… Fall in den Dreck, leb im Dreck, friss die Erde. Dreckige Indios.

CHOR

…mora, palo amarillo, palo blanco, incienso… rómpase mi corazón que hagan sus casas que abra mi corazón que hagan sus fuegos que hagan sus casas en el corazón quédense en mi, hagan sus fuegos cuelguen sus hamacas en el corazón que vengan aquí, hagan sus fuegos vengan aquí prendan sus casas prendan sus fuegos aquí Arbeit und Erlösung.

SZENE 2

Eisejuaz findet Paqui.

EISEJUAZ

Procurá no morirte. A la tarde te ayudaré

CHOR

Eisejuaz, Éste También,

ERSTER AKT

SZENE 1

Die Hölzer sprechen. Paqui, ein rassistischer Weisser, liegt hilfsbedürftig im Schlamm und flucht.

PAQUI gesprochen

Regen, Holz, Indios… In diesem Drecksloch… Kunden, Indios…

CHOR

Zeder, Quebracho, Lapacho, Balsambaum, Johannisbrotbaum, Pacarà…

PAQUI gesprochen

Regen, Holz, Indios… es riecht nach Regen…

In diesem Drecksloch. Kunden, Indios… Fall in den Dreck, leb im Dreck, friss die Erde. Dreckige Indios.

CHOR

…schwarze Maulbeere, gelber Trompetenbaum, Buchsbaum, Weihrauch… Brecht mein Herz auf, damit sie drin wohnen, öffnet mein Herz, dass sie ihre Feuer machen, ihre Häuser in meinem Herzen bauen, in mir bleiben, ihr Feuer machen, ihre Hängematten im Herzen aufspannen, kommt, macht euer Feuer, kommt, errichtet eure Häuser, entzündet euer Feuer. Arbeit und Erlösung.

SZENE 2

Eisejuaz findet Paqui.

EISEJUAZ

Schau, dass du nicht stirbst. Am Abend komme ich und helfe dir.

CHOR

Eisejuaz, Dieser Hier Auch,

er darf nicht stillstehen, er steht nie still, el del camino largo, el comprado por el Señor, er darf nicht stillstehen.

Die Boten sprechen, die Tiere, die Pflanzen, die Hölzer, im Sägewerk. Er steht nie still.

Immer die gleiche Bewegung, den Berg hinab, aus dem Wald heraus, in die Stadt… zu Fuss… mit dem Fahrrad… Er steht nie still. Die Boten schwirren herum.

Éste También, er darf nicht stillstehen. Immer die gleiche Bewegung, aus dem Wald heraus, in die Stadt… zu Fuss… mit dem Fahrrad… mit dem Bus… ins Hotel… ins Sägewerk… in die Mission.

SZENE 3

Eisejuaz hat Paqui in seine Hütte geholt.

PAQUI

er darf nicht stillstehen, er steht nie still, der den weiten Weg geht, der vom Herrn Gekaufte, er darf nicht stillstehen.

Die Boten sprechen, die Tiere, die Pflanzen, die Hölzer, im Sägewerk. Er steht nie still.

Immer die gleiche Bewegung, den Berg hinab, aus dem Wald heraus, in die Stadt… zu Fuss… mit dem Fahrrad… Er steht nie still.

Die Boten schwirren herum.

Dieser Hier Auch, er darf nicht stillstehen.

Immer die gleiche Bewegung, aus dem Wald heraus, in die Stadt… zu Fuss… mit dem Fahrrad… mit dem Bus… ins Hotel… ins Sägewerk… in die Mission.

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Aquí no voy a vivir, aquí no. Ni sabes quién soy.

EISEJUAZ

SZENE 3

Eisejuaz hat Paqui in seine Hütte geholt.

PAQUI

Hier kann ich nicht leben. Du hast keine Ahnung, wer ich bin.

oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

¿Cuál es tu nombre?

PAQUI

¡No voy a vivir aquí!

EISEJUAZ

¿Cuál es tu nombre?

PAQUI

Eh ayuda loco, ¡no me dejen morir!

SZENE 4

CHOR

Eisejuaz, Dieser Hier Auch, darf nicht stillstehen, immer die gleiche Bewegung, den Berg hinauf… aus dem Wald heraus…

EISEJUAZ

Wie ist dein Name?

PAQUI

Hier kann ich nicht leben!

EISEJUAZ

Wie ist dein Name?

PAQUI

Hilfe! Verrückter, lass mich nicht sterben!

SZENE 4

CHOR

Eisejuaz, Dieser Hier Auch, darf nicht stillstehen, immer die gleiche Bewegung, den Berg hinauf… aus dem Wald heraus…

Programmheft

DAS GROSSE FEUER

Oper von Beat Furrer (*1954) nach dem Roman «Eisejuaz» von Sara Gallardo Libretto von Thomas Stangl

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Auftragswerk des Opernhauses Zürich, Uraufführung

Premiere am 23. März 2025, Spielzeit 2024/25

Herausgeber Opernhaus Zürich

Intendant Andreas Homoki Zusammenstellung, Redaktion Claus Spahn Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG

oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Textnachweise:

Die Handlung, die Gespräche mit Beat Furrer und Tatjana Gürbaca, sowie die Essays von Thomas Stangl und Marie-Luise Maintz sind Originalbeiträge für dieses Buch. – Die Texte auf S. 3, S. 14, S. 44, S. 56 und S. 70 sind (teilweise gekürzte) Zitate aus dem Roman «Eisejuaz» von Sara Gallardo, deutsch von Peter Kultzen, Verlag Klaus Wagenbach, 2017 – Der Essay «Eisejuaz, der Träumer» von César Ceriani ist die gekürzte Version eines Textes, der ursprünglich im Jahr 2014 in der Publikation «Boca de Sapo 16» veröffentlicht wurde. – Die Erzählung «Die Zerstörung

der Welt» ist zitiert nach Antonio Tovar: «Relatos y dialogos-delos-matacos», Madrid 1981

Bildnachweise:

Herwig Prammer fotografierte die Klavierhauptprobe am 13. März 2025.

Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

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