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Faszination Fragment
Giacomo Puccini hat «Turandot» nicht zu Ende komponiert. Er starb, bevor das Schluss-Duett fertig war. Seine letzte Oper gehört deshalb zu den berühmten Fragmenten der Kunstgeschichte, um die bis heute gestritten wird. Warum beschäftigen wir uns so gerne mit dem Unfertigen?
von Claus Spahn
Im November 1923 wurden die Halsschmerzen chronisch. Giacomo Puccini war starker Raucher, deshalb mass er ihnen zunächst keine allzu grosse Bedeutung bei. Schon gar nicht deutete er sie als Anzeichen einer Krankheit zum Tode. Dafür war der Komponist viel zu sehr mit seinem nächsten Opernprojekt Turandot beschäftigt. Der Uraufführungstermin rückte näher, der Dirigent Arturo Toscanini studierte bereits die Partitur, aber das Stück war noch nicht zu Ende komponiert. Es fehlte noch das Finale, in dem die Geschichte von der grausamen chinesischen Prinzessin Turandot an ihr glückliches Ende kommen sollte. Alle Männer, die um die Hand der Prinzessin anhalten, werden geköpft, wenn sie die drei Rätsel nicht lösen, die Turandot ihnen stellt. Der Tartarenprinz Calaf jedoch weiss die richtigen Antworten, und so finden der Prinz und die Prinzessin im Finale des dritten Akts in Liebe zueinander. Mit genau dieser Wendung tat sich Puccini schwer. Er fand keine musikalisch plausible Lösung dafür, wie sich die unnahbare, kalte Prinzessin Turandot im letzten Moment der Oper in eine warmherzige Liebende verwandeln könnte. Er war überhaupt in einer Schreibkrise. Das Komponieren ging ihm nicht mehr so leicht von der Hand wie zu den Zeiten seiner Erfolgsopern. Er war nicht mehr zufrieden mit dem, was er bisher geschaffen hatte. Er suchte nach neuen musikalischen Ausdrucksmitteln, die andere Komponisten seiner Zeit wie Arnold Schönberg längst gefunden hatten. Der Schwung war weg. Auch das Alter begann der 65-Jährige zu spüren. Im Oktober 1924 erwiesen sich die Schmerzen im Hals als Kehlkopfkrebs im fortgeschrittenen Stadium.
Puccini, der an die Errungenschaften des technischen Fortschritts glaubte und sie in Form von PS-starken Autos und rasanten Motorbooten immer ausgekostet hatte, begab sich in die Hände eines Brüsseler Arztes, der sein Karzinom mit einer für die damalige Zeit hochmodernen Strahlentherapie zu kurieren versuchte. Die TurandotPartitur ging ihm auch in diesen Wochen nicht aus dem Kopf. Er hatte die Skizzen zum Finale des dritten Akts bei sich und glaubte, nur noch wenige Wochen für die Fertigstellung zu benötigen. Aber an arbeiten war in Brüssel nicht mehr zu denken, zu stark litt er unter Schmerzen und den Folgen der Behandlung. Nadeln mit Radiumkapseln wurden ihm direkt in den Kehlkopf gestochen. Am 29. November 1924 versagte sein Herz. Turandot blieb unvollendet.
Damit findet auch die letzte Oper Giacomo Puccinis ihren Platz im weitläufigen Fundus berühmter Kunstwerke, die Fragment geblieben sind. Die Kunstgeschichte ist voll von unabgeschlossenen Romanen, Bauwerken, Bildhauerarbeiten, Filmprojekten, Kompositionen – und die beschäftigen uns mehr als viele leichthändig zu Ende gebrachte (und schnell wieder vergessene) Werke. An den Abbruchkanten des Unvollendeten glauben wir etwas ablesen zu können über die Grösse eines Künstlers oder die Nichtbeherrschbarkeit eines Stoffes. Um sie ranken sich Vermutungen, Legendengeschichten, Theorien und Glaubenskriege. Sie öffnen das Werk in die Möglichkeitsform. Das Fehlende muss hinzugedacht werden, es wird den Argumenten und Spekulationen der Betrachtenden übereignet. Ist der Tod der Grund für den offenen Schluss, wird die Abbruchkante auch zur interessanten Schnittstelle, an dem Leben und Werk einer Künstlerin oder eines Künstlers sich treffen, obwohl wir bei der Betrachtung von Kunst doch eigentlich auf der Differenz von Werk und Biografie bestehen. Unvollendete Kunst, so scheint es, hat einen Mehrwert gegenüber der vollendeten.
Der deutsche Schriftsteller Thomas von Steinaecker hat vor zwei Jahren ein dickes, faszinierendes Buch mit Beispielen unfertiger Kunstwerke veröffentlicht, von Michelangelo, der mehr Torsi hinterlassen hat als jeder andere Bildende Künstler, bis zu den Werken der romantischen Dichter, deren höchster Wunsch es war, im Zustand ewigen Werdens zu verharren und nie an den Punkt der Vollendung zu gelangen, vom Grossmeister des labyrinthisch offenen Romans Franz Kafka bis hin zum Filmregisseur Stanley Kubrick und seinem nie realisierten Film über Napoleon, für den er eine Schlacht mit 40’000 Komparsen drehen wollte.
Auch die berühmten Fragmente der Musikgeschichte kommen in dem Buch vor – Mozarts nach acht Takten im Lachrimosa verstummendes Requiem, Franz Schuberts Unvollendete oder der vermeintliche Fluch der neunten Sinfonie, der Beethoven, Bruckner wie Mahler scheitern liess, eine zehnte Sinfonie zu schreiben. Ein Phänomen, für das Arnold Schönberg eine der überschwänglichsten Begründungen für das Nicht-zu Ende-Bringen von Kunst gab: «Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind.»
Die Gründe für einen fehlenden Schluss waren – jenseits plötzlicher Tode – aber oft profaner. Steinaecker beschreibt die verschiedensten Varianten. Manchen Künstlerinnen und Künstlern fehlten schlicht die finanziellen Möglichkeiten, ihre Projekte zu realisieren, oder sie verloren das Interesse und wandten sich der nächsten Arbeit zu, die dann vielleicht auch wieder unfertig zur Seite gelegt wurde. Manche gerieten im Schaffensprozess in eine Endlosschleife immerwährender Umarbeitung wie Marcel Proust oder vermochten eine einmal eingerastete Schreibblockade nicht mehr zu lösen. Grössenwahn und völlig überzogene Ansprüche an ein Projekt gehören zu den Gründen, auch geistige Umnachtung wie bei Hölderlin, unüberwindbare Selbstzweifel oder Zufälle wie die Strassenbahn, die den Architekten Antoni Gaudí überrollte, als er erst vier der geplanten 18 Türme seiner Riesenkirche Sagrada Familia in Barcelona fertiggestellt hatte.
Es gibt aber auch ein Scheitern in der Sache, einen Stillstand, der im Gegenstand der Arbeit selbst begründet liegt wie etwa bei Arnold Schönberg und seiner Oper Moses und Aron. Sie thematisiert den Gegensatz zwischen der Unvorstellbarkeit Gottes, die Moses propagiert, und dem Bedürfnis, das Unvorstellbare durch Bilder anschaulich zu machen, dem Aron mit der Erschaffung des Goldenen Kalbs Ausdruck verleiht. Gedanke gegen Bild, Abstraktion gegen Konkretion, künstlerischer Fundamentalismus gegen die Notwendigkeit von Vermittlung – das war der innere Zwiespalt, mit dem sich Schönberg in seinem Wunsch konfrontiert sah, eine Oper zu schreiben und so die Reinheit seiner zwölftönigen Kompositionstechnik der unreinen, bildersüchtigen Welt der Oper überantworten zu müssen. An dem Widerspruch arbeitet sich die Handlung des Stücks ab, aber in ihn sah sich auch Schönberg als Künstler selbst verstrickt. Ihm war der Denker Moses zweifellos näher als der Verführer Aron. Seine Oper ist dementsprechend voll von dialektischen Volten zwischen Askese und süffigem Kolorit, mit dem Ergebnis, dass Schönberg sie nicht zu Ende komponiert hat. Es war schlechterdings nicht möglich, sie zu Ende zu bringen, weil die Prinzipien, für die Moses und Aron stehen, unversöhnlich sind. Das Werk blieb Fragment. Die Musik endet mit dem fertig gestellten zweiten Akt und den Moses-Worten: «O Wort, du Wort, das mir fehlt.» 19 Jahre lang hat Schönberg am dritten Akt bis zu seinem Tod vergeblich herumgeknobelt. Das Beispiel zeigt, dass ein Opernstoff selbst sich gegen seine Vollendung sperren kann.
Giacomo Puccini geriet mit Turandot in eine ähnliche inhaltliche Zwickmühle. Auch hier war das finale Scheitern bereits in der Anlage des Librettos vorprogrammiert Je länger der Komponist seine Titelfigur mit grossem Chor, Riesenorchester und für seine Verhältnisse kühnen musikalischen Ausdrucksmitteln in eine männerfeindliche Unnahbarkeit einbetoniert, desto schwieriger wird es für ihn, sie am Ende aus dieser Panzerung wieder zu lösen. Immer wieder kommt er in Briefen an seine Librettisten auf das Problem des Schluss-Duetts zu sprechen. Wie eine Bombe soll die Liebesvereinigung einschlagen, aber wie das musikalisch gehen soll, bleibt eine offene Frage. Hinzu kommt, dass das Libretto das Liebesfinale in einer idealistisch heldischen Überhöhe ansiedelt, die nicht leicht anzusteuern ist, schon gar nicht nach dem Tod der Sklavin Liù, mit dem im dritten Akt der von Puccini abgeschlossene und fertig instrumentierte Teil der Oper endet. Liù ist die Frauenfigur, die dem Komponisten viel nähersteht als die heroinenhafte Turandot. Sie gehört zur Familie der empfindsamen, sich für die Liebe aufopfernden und unter den Tränen des Publikums zu Tode kommenden Femmes fragiles, die in Puccinis früheren Opern zentral waren. Der Komponist wusste offenbar nicht so recht, wie er das Interesse auf die Gefühle Turandots lenken könnte, nachdem er die einzig wirklich zu Herzen gehende Figur durch Selbstmord aus dem Stück verabschiedet hatte. 36 Particellseiten gibt es vom Finale, dazu einige Blätter mit Notaten musikalischer Gedanken plus den bis zu diesem Zeitpunkt für gültig befundenen Librettotext.
Es ist kaum zu glauben, dass ausgerechnet ein Meister des Gelingens wie Puccini plötzlich keine Lösung mehr für ein kniffliges dramaturgisch-kompositorisches Problem fand. Das war ihm bis dahin noch nie passiert. Er kannte sich im Maschinenraum seiner Opernstoffe aus wie die Motorkonstrukteure seiner teuren Sportwagen. Er wusste genau, wie das Zusammenspiel von musiktheatralischen Zylindern, Kolben und Zündkerzen im Orchestergraben und auf der Bühne funktioniert, um die grösstmögliche emotionale Energie auf das Publikum zu übertragen. Nur in Turandot ereilte ihn der Kolbenfresser. Der Grund für das fehlende Finale waren vielleicht doch nicht alleine die inhaltlichen Schwierigkeiten, die der Stoff mit sich brachte. Wäre Puccini im Vollbesitz seiner gesundheitlichen Kräfte gewesen, hätte er es am Ende womöglich doch geschafft, das Heldenpaar zusammenzubringen.
Gerade aber weil man in Puccinis Schaffen sonst keine Brüchigkeit findet, fiel es der Opernwelt schwer, den Fragmentcharakter von Turandot zu akzeptieren. So gross die Faszination ist, die von unvollendeten Werken und ihren offen gebliebenen Fragen ausgeht, so sehr lösen sie vor allem in der an die Zeit gebundenen Kunstform Musik die Sehnsucht aus, das Werk als Ganzes erleben zu dürfen. Deshalb wurden viele bedeutende Kompositionen postum zu Ende geschrieben wie Mozarts Requiem von seinem Schüler Franz Xaver Süssmayr oder Alban Bergs Lulu von Friedrich Cerha.
Auch unmittelbar nach Puccinis Tod setzten die Diskussionen um eine Vervollständigung von Turandot ein. Es gab die Skizzenblätter, deren Materialstand allerdings zu unzureichend war, um eine Ausarbeitung im Sinne von Puccini zu garantieren. Der hatte die Lösung seines Problems eben noch nicht gefunden. Deshalb war die Fertigstellung nur in Form einer in wesentlichen Teilen spekulativen Nachkomposition möglich. Wer ist geeignet für eine solche Aufgabe? Die Frage stellt sich bei allen fragmentarischen Kunstwerken. Sind brave Schüler und unscheinbare Kollegen die Richtigen, oder starke Künstlerpersönlichkeiten, die sich dann aber vielleicht zu wenig in den Dienst des Meisters stellen? Meist schlägt in dieser Situation die Stunde des Mittelmasses.
Arturo Toscanini soll zunächst den Komponisten Riccardo Zandonai für die Aufgabe vorgeschlagen haben, der allerdings war dem Puccini-Sohn und Alleinerben Antonio zu bekannt. Deshalb fiel die Wahl auf den unauffälligeren Franco Alfano, der das Finale schliesslich zu Ende schrieb. Aber schon Toscanini war nicht einverstanden mit dem Ergebnis. Er entschied sich, die Uraufführung, die fast eineinhalb Jahre nach Puccinis Tod an der Mailänder Scala stattfand, als Fragment enden zu lassen. An der Stelle, an der Puccinis Arbeit abbrach, nämlich nach dem Selbstmord Liùs und dem Trauerzug, der ihm folgt, legte Toscanini den Taktstock nieder, wandte sich zum Publikum und erklärte, dass die unvollständig gebliebene Oper hier ende, weil der Maestro an dieser Stelle gestorben sei. Bereits in der zweiten Vorstellung jedoch wurde das Finale von Alfano gegeben und hat sich in den nachfolgenden Produktionen durchgesetzt. Es ist eine dröhnende Liebesglücksbeschwörung, die das Heldenpaar mit Jubelgewalt geradezu zusammenzwingt.
Wäre Giacomo Puccini bereit gewesen, sich auf das kompositorische und dramaturgische Niveau Alfanos zu begeben, hätte er die Oper lange vor seiner tödlichen Krankheit zu Ende gebracht. Der italienische Komponist Luciano Berio wagte 2002 im Auftrag des Ricordi-Verlags eine weitere Nachkomposition des Schlusses, in der die Vereinigung von Turandot und Calaf eher als eine grossbogige Abblende angelegt ist, als lyrische, schwebende Gefühlsannäherung, die auch den Verstörungen in dieser merkwürdigen Beziehung musikalisch Raum gibt. Durchgesetzt hat sie sich freilich auch nicht. So bleibt als wahrhaftigster Schluss nur die Aufführung als Fragment. «Wo ein Werk und die Wirklichkeit enden», schreibt der Fragment-Experte Thomas von Steinaecker, «beginnen unsere Fantasien und der Mythos. Der Möglichkeitsraum gehört den Unfertigen. Das Träumen lassen wir uns nicht nehmen.»
Turandot Oper von Giacomo Puccini
Musikalische Leitung
Marc Albrecht
Inszenierung
Sebastian Baumgarten Bühnenbild
Thilo Reuther Kostüme
Christina Schmitt
Lichtgestaltung
Elfried Roller
Video Philipp Haupt Choreinstudierung
Janko Kastelic
Choreografie
Sebastian Zuber
Dramaturgie
Claus Spahn
Turandot
Sondra Radvanovsky
Altoum
Martin Zysset
Timur
Nicola Ulivieri
Calaf
Piotr Beczała
Liù
Rosa Feola
Ping
Xiaomeng Zhang
Pang
Iain Milne
Pong
Nathan Haller
Ein Mandarin
Jungrae Noah Kim
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Chorzuzüger
Zusatzchor und Kinderchor des Opernhauses Zürich
Premiere 18 Juni 2023
Weitere Vorstellungen 21, 24, 27, 30 Juni; 4, 8 Juli 2023
Partner Opernhaus Zürich