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Puccinis abgründigste Musik

Am 18. Juni hat eine neue «Turandot» am Opernhaus Zürich Premiere. Am Dirigentenpult steht Marc Albrecht. Ein Gespräch über den metallisch gehärteten Orchesterklang in Puccinis letzter Oper, den Wechsel von Aggression und Anteilnahme in den Chorszenen und das Licht, das die Figur der Liù in das Stück trägt

Probenfotos Admill Kuyler

Liù kann schweigen: Probenszene mit Rosa Feola (Liù, links) und Sondra Radvanovsky als

Marc, warum ist die Oper Turandot eigentlich beim Publikum so beliebt? Vermutlich, weil sie eine der populärsten Arien der gesamten Opernliteratur enthält.

So einfach ist das: Die Leute wollen Nessun dorma hören? Diese Arie hat einfach eine anhaltend elektrisierende Wirkung auf ihre Zuhörer. Dabei ist der von Calaf gesungene Text eigentlich nur ein Beispiel für männliche Hybris. Die Musik dazu ist dann allerdings einfach hinreissend. Wenn es Nessun dorma nicht gäbe, sähe das mit der Popularität von Turandot vielleicht anders aus. Das Stück ist auf den ersten Blick nämlich weniger zugänglich als andere Werke Puccinis. Es ist eine merkwürdig lichtlose Oper mit beklemmender Handlung. Die Härte der Charaktere und auch des Tonfalls zieht sich durch alle drei Akte. Vor diesem Hintergrund wirkt das Licht, das die Figur der Liù in das Stück trägt, umso stärker.

Das Libretto basiert auf einem Schauspiel von Carlo Gozzi, in dem die Figur der Liù in anderer Gestalt und in viel marginalerer Bedeutung vorkommt. Liù ist eine Erfindung Puccinis. Ja, sie kam auch im ersten Librettoentwurf der Oper noch nicht vor. Puccini hat sie erst im Verlauf des Entstehungsprozesses eingefügt. Man sieht daran, wie sehr Puccini auch sein eigener Dramaturg war und an der theatralischen Konzeption in diesem Fall noch viel intensiver mitgearbeitet hat, als bei früheren Werken. Seine Ungeduld hat dabei die beiden Librettisten regelrecht gepeinigt. Wenn er beim Komponieren nicht schnell genug voran kam, schrieb er sich notfalls selbst die Verse wie beispielsweise in Liùs letzter Arie.

Turandot war eine schwierige Geburt für Puccini. Er hat sehr gekämpft mit dem Stoff und der musikalischen Sprache. Und wie wir wissen, ist er gestorben, bevor das Finale fertig war. Hat er so intensiv gesucht, weil er nicht genau wusste, wohin die Reise mit Turandot gehen sollte, oder stand ihm das, was er wollte, besonders genau vor Augen, und er konnte es nur nicht auf das Papier bringen?

Wahrscheinlich beides. Puccini hat sich tatsächlich sehr an dem Stoff abgearbeitet, die Komposition immer wieder unterbrochen, um den Text ändern oder gleich neu schreiben zu lassen. Oft brauchte es mehrere Textfassungen bestimmter Passagen, um kompositorisch weiter voran zu kommen. Aber schliesslich hat ihn sein untrügliches Gespür für dramatische Zusammenhänge die richtigen Entscheidungen treffen lassen. Durch seine visionäre Akribie ist ein Drama entstanden, das die Version Gozzis an Gehalt und Tiefe weit hinter sich lässt.

Puccinis Stoffe waren bis dahin konkret, realistisch, manche sagen: veristisch. Und plötzlich greift er zu einem Märchenstoff, der wie alle Märchen auf Bilder und Typisierungen aufbaut. Die Turandot ­Geschichte hat ja ihre Wurzeln in einer Erzählung aus Tausendundeiner Nacht. Wie ist das Interesse zu erklären?

Puccini wollte mit diesem chinesischen Märchen endlich neue Wege beschreiten. Der Triumph der Liebe über die Finsternis hat ihn als Thema fasziniert und zu seiner besten und abgründigsten Musik inspiriert. Und wenn man nachliest, wie dornig der Schaffensprozess für ihn war, der sich über vier Jahre hinzog, hat man das Gefühl, dass es ihn selbst fröstelte angesichts des Charakters seiner Hauptfigur, Turandots Kälte wurde für ihn immer mehr zum Problem. Liù entspricht da dem Typus der vom Komponisten geliebten Frauenfiguren seiner früheren Opern. Er brauchte diesen positiven Charakter und die entsprechende Musik, um über der Arbeit nicht zu verzweifeln. Daher macht es auch Sinn, das Stück mit dem Tod Liùs enden zu lassen. Sie ist das heimliche Zentrum der Oper.

Es gibt lediglich 36 Skizzenseiten zum Finale des dritten Akts. Hat Puccini es einfach nicht hingekriegt, oder war es doch der Tod, der die Vollendung verhinderte?

Er sagte zwar selbst, es sei nur noch eine Sache von sechs oder sieben Wochen, aber ich habe da meine Zweifel. Dieses grosse abschliessende Duett war für Puccini der wichtigste Moment des Dramas, dem er vor allem musikalisch erhabene Schönheit geben wollte, die Krönung alles Vorherigen. Insbesondere der alles entscheidende Kuss sollte ein sinfonisch­epischer Moment purer Magie werden. Aber er wusste eben noch nicht, wie das hätte gehen können. Im Manuskript findet sich dann am Rand eines Notenblatts der Hinweis «Poi Tristano» (weiter wie bei Tristan). Das hat beinahe etwas Rührendes. Man weiss, dass er sich in dieser Zeit intensiver mit Wagners Tristan beschäftigt hat, die Partitur aber einmal frustriert zugeklappt und sinngemäss gesagt hat: Wir sind alle nur Hütchenspieler – dieses werden wir nie erreichen! Neben seiner Krankheit waren es die destruktiven Selbstzweifel, die ihn immer wieder stark behinderten.

Wir geben in Zürich nicht die oft gespielte Fassung mit dem von Franco Alfano nachkomponierten Finale. Wir enden mit dem Tod Liùs, an der Stelle also, an der Puccini nicht mehr weitergeschrieben hat. Was waren deine Überlegungen als Dirigent für diese Entscheidung?

Immer wenn ich bei Turandot im Publikum sass und die Oper mit dem AlfanoSchluss gehört habe, fand ich dieses Finale problematisch. Es wirkt seltsam grob und mit Ausnahme von zwei kurzen Momenten eher unpoetisch. Es klingt vor allem nach Alfano. Es ist hier eben anders als etwa bei Alban Bergs Lulu, wo das kompositorische Material für den fehlenden dritten Akt im Wesentlichen im Particell vorlag und es «nur» noch instrumentiert werden musste. Bei Turandot ist das von Puccini hinterlassene Skizzenmaterial bruchstückhaft und lässt wesentliche Fragen offen. Daher sind für mich alle bisherigen Versuche, diese letzten beiden Szenen zu vervollständigen, nicht überzeugend. Sie schwächen das Werk eher, gerade im entscheidenden Moment. Ich finde es stärker, die Oper mit Liùs Tod enden zu lassen in dem Wissen, dass dies die letzten Takte sind, die Puccini komponiert hat. Ich glaube, dass die Oper so auf ihrem inneren Höhepunkt schliesst.

Du hast in letzter Zeit sehr viele Opern dirigiert, die im zeitlichen Umfeld von Turandot entstanden sind wie Werke von Erich Wolfgang Korngold, Alexander von Zemlinsky oder Richard Strauss. Wie blickst du mit diesen muskalischen Parallelerfahrungen auf die Turandot ­Partitur? Ich finde es spannend, dass sie alle hinter den selben Stoffen her waren, dass Puccini beispielsweise auch sehr genau Die tote Stadt geprüft hat, die Korngold dann vertont hat, oder dass Puccini lange und ernsthaft an der Florentinischen Tragödie interessiert war, die dann von Zemlinsky komponiert wurde. Die haben alle um ähnliche Themen gerungen. Das zeigt Puccinis Zeitgenossenschaft mit diesen Komponisten. Nur dass Puccini einer anderen Generation angehörte. Er hat sehr deutlich wahrgenommen, dass die Moderne angebrochen war und das Komponieren sich in eine neue Richtung bewegt hatte. Diesen Aufbruch konnte er selbst nur teilweise nachvollziehen, aber er war an ihm interessiert. In seinem letzten Lebensjahr ist Puccini noch zu einer Aufführung von Schönbergs Pierrot Lunaire gereist und war davon irritiert und fasziniert zugleich. In Turandot findet man daran auch Anklänge, in der Beschwörung der Geister der verstorbenen Prinzen.

Gleichzeitig gibt es Briefstellen, in denen er kein gutes Haar an der neuen Musik von damals lässt.

Nach aussen hin musste er wohl so reagieren. Puccini hat 1913 Strawinskys Sacre du printemps in Paris gehört und fand das irgendwie interessant, aber vor allem schrecklich. In der Turandot ­Partitur jedoch finden sich immer wieder Spuren von Strawinsky. Über Schönbergs Gurrelieder lästerte er, eigentlich hätte er keine Lust gehabt, Richard Wagner zu hören, man solle ihn mal den richtigen Schönberg hören lassen. Er hat genau studiert, was um ihn herum passierte, auch die Werke von Richard Strauss. Er wusste genau, was die Kollegen machen und wie sie es machen – nicht zuletzt, um seinen eigenen Stil bewusst dagegen behaupten zu können. Nicht ausgeschlossen, dass er dabei Anleihen bei Komponisten machte, von denen er sich gerade noch distanziert hatte.

Nimmst du Turandot kompositorisch als rückwärtsgewandt wahr, oder hat sie doch moderne Züge?

Turandot ist für mich ein Werk des Aufbruchs. Puccini hat dabei die Parameter seiner Musik, insbesondere Harmonik und Instrumentation, einer Totalrevision unterzogen. Bitonalität verwendet er dabei zum ersten Mal im grossen Massstab. Gleich zu Beginn des Stücks, zur Rede des Mandarins, setzt er den neuen Ton und lässt das Orchester den Grundakkord aus gleichzeitigem d­Moll und Cis­Dur nicht weniger als 60mal hämmern. Der harte und unerbittliche Sound der beiden Xylophone komplettiert diese albtraumhafte klangliche Szenerie. Wir werden dadurch ganz unmittelbar hineingezogen in die brutale Welt dieses Märchens, und von den ersten hasserfüllt herausgeschleuderten Rufen des Chores nach dem Henker Pu­Tin­Pao scheint der Weg zu Schönbergs Moses und Aron nicht mehr weit.

Der Orchesterapparat ist riesig. Eigentlich sind es ja sogar zwei Orchester, eins auf und eins hinter der Bühne.

Du meinst die grosse Banda hinter der Bühne mit zehn Blechbläsern, Saxophonen, Orgel, die Fanfaren in der Hinrichtungsszene des persischen Prinzen. Das alles irrlichtert von draussen herein und trägt ein beunruhigendes Element in das Stück. Man spürt, wie gross dieses imaginäre Peking ist, und dass die Oper surreale Räume öffnet, die alle mit bespielt werden. Das Orchester im Graben ist das grösste je von Puccini verwendete – neben dem schon erwähnten Xylophon und Bass­Xylophon spielt auch eine Batterie chinesischer Gongs für den Klang eine wichtige Rolle. Wenn früher bei Puccini die ausdrucksvolle Streichermelodie prägend war, so steht nun ein gehärteter Grundklang an deren Stelle, der dem inneren Zustand der Titelheldin und der Erstarrung des ganzen Staates entspricht.

Welche Rolle spielt das Chinesische in der Musik?

Der musikalische Exotismus der Turandot geht deutlich über das hinaus, was Puccini in Madama Butterfly bereits versucht hatte. Das Verwenden originaler oder auch nur gut erfundener chinesischer Volkslieder war natürlich naheliegend. Und Puccini macht es auf sehr intelligente Weise: Er borgt sich zwar zentrale Melodien, integriert sie harmonisch aber in seine eigene musikalische Grammatik. Pentatonische Melodik findet man oft – in den Chorpartien und vor allem bei den ursprünglich aus der Commedia dell’arte stammenden drei Ministern. Aufregend an dieser Partitur finde ich die formale Weite, die Puccini hier einzieht. Er spannt Bögen über einen ganzen Akt hinweg, die er durch grosse Tableaux wie die Hinrichtungsszene des persischen Prinzen oder den Mondchor strukturiert. In Turandot hat Puccini einen langen Atem entwickelt und muss nicht mehr alle zehn Takte das Tempo ändern. Das ist neu: diese Ruhe, Geduld und Übersicht. Trotzdem erzählt er detailliert seine Geschichte, aber eben nicht mehr verspielt und nicht mehr jeder spontanen Eingebung folgend. Das ist spannend, weil er natürlich insgesamt trotzdem immer ein äusserst agiler Komponist bleibt, immer ganz nah am Herzschlag seiner Figuren.

Was muss man als Turandot­Dirigent interpretatorisch im Auge behalten?

Die grossen Chormomente. Die Rolle des Chores steht hier singulär in Puccinis

Schaffen. Er fordert dem Chor eine enorme Ausdrucksvielfalt ab – die Gewalt, die überschiessende Aggression, das Ätzende, Sadistische und im nächsten Takt Momente grosser Zartheit und Anteilnahme. Der Chor spielt die eigentliche Hauptrolle der Oper. Deshalb bin ich auch bei jeder szenischen Chorprobe dabei. Turandot zu machen, kam für mich nur mit einem Regisseur in Frage, der wie Sebastian Baumgarten mit besonderen Ideen den Chor bewegt, denn darauf kommt es in dieser Oper an.

Woran entscheidet sich beim Dirigat, ob eine Turandot ­Interpretation gelingt? Als Dirigent muss man einen Ausgleich suchen zwischen der Monumentalität und den relativ wenigen lyrischen Momenten, denen Puccinis besondere Liebe galt Wenn das Zarte und Fragile, also das Wertvollste dieser Musik, gelingt, dann erschliesst sich von dort aus alles Übrige.

Das Gespräch führte Claus Spahn

Foto links oben: Iain Milne als Pang, Nathan Haller als Pong und Xiaomeng Zhang als Ping

Foto rechts: Sondra Radvanovsky als Turandot

Foto unten: Chor des Opernhauses Zürich

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