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ICH BIN DOCH NUR MARCO
from Angels' Atlas
Marco Goecke im Gespräch über sein Stück «Almost Blue», schmerzliche Abschiede und neue Horizonte
Marco, schon zum zweiten Mal nach 2015 bist du von der Zeitschrift «tanz» als «Choreograf des Jahres» ausgezeichnet worden. Was bedeutet dir diese Ehrung?
Als ich jung war, waren solche Auszeichnungen noch aufregender. Man macht so einen Beruf ja nicht, wenn man kein Echo auf seine Arbeit bekommen möchte. Es wäre gelogen, wenn man behauptet, dass man nicht auch Achtung haben und die eigene Arbeit goutiert sehen möchte. Dass die Kritiker, die diese Auszeichnung vergeben, von der Qualität der letzten Arbeiten überzeugt waren, freut mich natürlich. Das Gefühl, bei solchen Sachen leer auszugehen, war für mich früher immer mit einer unheimlichen Enttäuschung verbunden. Heute ist das zum Glück nicht mehr so. Aber ich erinnere mich, dass ich am Beginn meiner Karriere manchmal noch um Mitternacht zur Tankstelle gefahren bin, um in der druckfrischen Zeitung meine Premierenkritik zu lesen. Jemand Berühmtes und Hochdekoriertes hat mir mal gesagt, man müsse bei Preisen genau hinschauen, wer sie einem verleiht und aufpassen, dass das nicht Leute sind, die sich durch dich selber feiern und denen deine Arbeit absolut nichts bedeutet. Wenn so eine Auszeichnung als Ergebnis einer Kritikerumfrage zustande kommt, ist das hoffentlich etwas anderes.
Wie ist dein Verhältnis zur Kritik heute? Wahrscheinlich fährst du nachts nicht mehr zur Tankstelle…
Nein. Die Fähigkeit, Tanz professionell und kompetent zu beurteilen, hat abgenommen. Es gibt immer weniger seriöse Journalisten, und im Grunde kann heute jeder in seinem Blog seine Meinung in die Welt hinausposaunen. Ich bin nicht mehr so versessen darauf, das alles zu lesen. Vielleicht hat uns die Pandemie auch gelehrt, etwas entspannter damit umzugehen. In der Welt geschehen genug schreckliche Dinge, über die es sich aufzuregen lohnt. Da müssen wir uns wirklich nicht noch Hasstiraden um die Ohren hauen. Viele Kritikerinnen und Kritiker waren in den letzten Monaten, glaube ich, froh, wenn überhaupt etwas stattgefunden hat. Etwas, wovon sie auch selber leben! Ich bin nicht für das Empfinden anderer Menschen und deren Geschmack verantwortlich. Natürlich wird es immer Leute geben, die mit meiner Arbeit nichts anfangen können. Ich sehe aber zum Glück auch, wie viele sie erreicht.
Das Ballett Zürich tanzt in seinem neuen Ballettabend deine Choreografie
Almost Blue. Das war 2018 dein letztes Stück als Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. Eine Position, die du 13 Jahre innehattest. Wie hat sich das in dem Stück niedergeschlagen?
Almost Blue ist die Antwort auf das unfreiwillige Ende meiner Stuttgarter Zeit, nachdem mein Vertrag als Hauschoreograf nicht verlängert wurde. Inzwischen habe ich zum Glück bereits wieder dort gearbeitet und ein neues Stück für das Stuttgarter Ballett kreiert. Die Zeit damals war jedoch nicht einfach, weil ein wichtiger Abschnitt meines Lebens von heute auf morgen zu Ende war. Abgelehnt zu werden und das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass jemand deine Kunst nicht mehr haben will, ist eine tragische Erfahrung. Der Titel Almost Blue bezieht sich eigentlich auf einen berühmten Song von Chet Baker. «Beinahe traurig», so habe ich mir das übersetzt. Das hat meine damalige Stimmung ziemlich gut beschrieben. Ich war natürlich traurig, vor allem aber war ich wütend und verletzt. Umso schöner, dass sich alles, was bei einer Trennung so bitter zurückbleibt, inzwischen aufgelöst hat…
Du sprichst von Trauer und Wut in Almost Blue. Reflektieren deine Stücke generell die Umstände ihrer Entstehung? Meine Choreografien sind nie am Reissbrett entworfen oder von langer Hand vorbereitet. Selbst wenn ich ein Handlungsballett choreografiere, nährt sich das von der Zeit, durch die ich gerade gehe, nährt sich durch jeden einzelnen Tag. Im Theater, wo es für viele der beteiligten Gewerke um Sicherheiten und verlässliche Fakten geht, ist das oft eine schwierige Situation. Auch für die Tänzerinnen und Tänzer, die mit mir arbeiten. Die fragen gelegentlich schon mal: Kommt da jetzt noch was? Mein Leben könnte vielleicht einfacher sein, wenn ich mich langfristiger auf meine Stücke vorbereiten würde, aber das ist nicht meine Art zu arbeiten. Manchmal jammere ich, dass ich zu viel arbeite. Aber gestern Abend hatte ich genau den anderen Gedanken. Da habe ich mich gefragt: Habe ich eigentlich jemals gearbeitet? Oder ist das einfach Teil des Lebens?
Bei unseren letzten gemeinsamen Arbeiten hier in Zürich hatte ich immer das Gefühl, dass es neben dem Augenblick vor allem die Menschen sind, die dich umgeben und bestimmte Dinge in dir freisetzen… Was ich mir abends im Bett als etwas Magisches vorstelle, hat meist nur wenig mit der Arbeitsrealität des nächsten Tages zu tun. Der Weg zur Magie ist meist alles andere als magisch. Es gibt Tänzer, bei denen du in der Probe denkst, wie unkoordiniert und fürchterlich das gerade aussieht. Aber wenn dann der Vorhang aufgeht, ist es genau das Richtige! Es ist toll, dass dieses Choreografieren bis zum letzten Moment so ein Element der Überraschung birgt. Wenn ich diesen Gedanken wirklich zu Ende führe, würde ich fast sagen: Nach der Premiere kann das für mich verschwinden, das Zeug… Diese wenigen Minuten der Premiere, in denen sich die ganze Energie entlädt, haben etwas Rauschhaftes. Bei der zweiten Vorstellung ist das für mich dann eigentlich schon gegessen…
Ist die Wiederaufnahme eines deiner Stücke durch eine andere Compagnie für dich dann nicht eine völlig anachronistische Geschichte? Mit neuen Menschen an einem anderen Ort kommt da doch wieder ein kreatives Element hinein, weil das Stück für die Tänzer neu ist. Dennoch muss ich mich jedes Mal unheimlich disziplinieren, um nicht frustriert mit mir selber zu sein. Manchmal ist es ein Kampf, alte Stücke wiederzusehen, weil man sich sofort auf die Dinge fokussiert, die man verpasst hat oder die nicht stimmen. Da muss ich dann die Augen zukneifen und denken: Okay, das gehört jetzt den Tänzerinnen und Tänzern, die es neu machen. Ich hoffe, dass ich mit dem Alter gnädiger mit mir selbst werde. Die Sucht richtet sich immer auf das nächste Stück. Aber oft bin ich auch überrascht, wenn ein neuer Tänzer in einem älteren Stück Gefühle für sich entdeckt, die dann auch mir etwas bedeuten.
In Almost Blue verwendest du Musik von Antony and the Johnsons und der amerikanischen Soul-Legende Etta James. Der erste Teil mit der geradezu süchtig machenden Stimme von Antony Hegarty hat einen sehr elegischen Charakter, der Gesang verbindet sich auf magische Weise mit deinem choreografischen Material. Mit Etta James bekommt das Ganze so einen Zug nach vorn, und man spürt eine Aufbruchsstimmung… Das ist dann ja wie ein Stück im Stück. Da wollte ich nochmal Luft holen, auf die Pauke hauen und den ganzen Dreck von oben runter schütten auf alle. Da ist schon ein bisschen Trotz und Wut und Kraft drin.
Am Anfang fallen sogar ein paar Schüsse, und der Körper eines Solisten ist am Schluss blutrot verschmiert… Du siehst, dass ich da ziemlich «aggro» drauf war…
Ein besonderer Moment ereignet sich am Beginn des letzten Drittels, wenn ein Tänzer allein auf der Bühne verbleibt und dann die Bühne, nach hinten gehend, verlässt. Da empfinde ich diesen Moment des Abschieds sehr präsent, auch in dieser unnachahmlichen Verschiebung des Oberkörpers. Rückenansichten der Tänzerinnen und Tänzer, aber auch die Choreografie des Rückens waren in deinen frühen Arbeiten ein wichtiges Thema. Woher kommt das?
Ich bin immer wieder überrascht, wie sensibel der Rücken ist und was da alles an physiologischen Prozessen nötig ist, um überhaupt zu gehen oder zu fühlen. Schon sehr früh habe ich RückenZeichnungen von Picasso gesehen, die ich unheimlich erotisch fand. Meine Mutter hat zu Hause immer noch einen Rückenkratzer. Das ist schon eine wahnsinnig sensible Gegend, und ich staune auch immer wieder, wie viele gesundheitliche Leiden primär mit dem Rücken zusammenhängen. In meinen ersten Stücken hatten die Rücken ansichten aber noch einen anderen Grund. Da habe ich die Tänzer umgedreht, weil ich noch so schüchtern war. Ich wollte einfach nicht, dass sie mich beim Tanzen ansehen.
Aber das ist anders geworden in den jüngeren Stücken… Da erlebt man Tänzerpersönlichkeiten, die sehr auf einen zukommen und mit dem Blick sogar gelegentlich provozieren. In Almost Blue finden sich aber noch andere charakteristische Goecke-Elemente wie die Flatterarme oder das fahrige Abtasten und Klopfen auf Torso und Gliedmassen. Die Oberkörper sind aber oft nicht mehr nackt, sondern mit T-Shirts und langen Handschuhen bedeckt…
Auch das war sicher ein Wutreflex, dass ich die freien Oberkörper und Arme, die so etwas wie mein Markenzeichen waren, dem Blick entzogen habe…
Nach 24 Minuten prasselt plötzlich Erde auf die Bühne!
Eigentlich hatte ich Lust, den Dreck aus sämtlichen Ritzen des Stuttgarter Theaters herauszukratzen, was natürlich nicht möglich war. So ist es nun eine Mischung aus Sand und Erde. Ich wollte einfach, dass der ganze Dreck von oben nach unten fällt, auf alle drauf…
Dieser Dreck ist dann aber auch der Boden, auf dem wieder Tanz stattfindet. Der Tanz hinterlässt Abdrücke, wirbelt Staub auf, verwischt die Spuren… ein schönes Bild für Abschied und die Endlichkeit von Tanz. Es bleiben hoffentlich ein paar Spuren. Aber ich wollte auch Dreck hinterlassen, den man danach noch wegräumen muss. Er war das Ventil für meine Traurigkeit.
Wie schaust du jetzt – mit einem gewissen zeitlichen Abstand – auf die Stuttgarter Zeit?
Wie schon gesagt, bin ich inzwischen wieder öfter in Stuttgart, auch durch meine Verbindung zu Gauthier Dance. Rückblickend weiss ich natürlich, wie wichtig Abschiede im Leben sind, aber es hat mir trotzdem zugesetzt, diese Stadt zu verlassen. Ich bin mit 29 nach Stuttgart gekommen, um dann mit 46 wegzugehen. Das war eine wichtige Zeit und der Grundstein für alles, was ich heute bin. Dass ich meine Wohnungstür in Stuttgart nach so vielen Jahren wirklich zugemacht habe und von dort weggegangen bin, ist bis heute noch nicht richtig bei mir angekommen.
Vielleicht hat dir aber auch eine innere Stimme gesagt: Mach was Neues! Seit 2018 bist du Chef des Balletts am Staatstheater Hannover. Wie geht es dir in dieser neuen Rolle? Sicher ist das erst einmal eine sehr privilegierte Position. Als problematisch empfinde ich, dass sich das Verhältnis zu den Tänzerinnen und Tänzern verändert. Wenn ich irgendwo gastiere, ist das wie eine Affäre. Am Tag nach der Premiere setze ich mich in den Zug, und das Verliebtsein ist vorbei. Mit einer eigenen Compagnie ist es mit diesem Verliebtsein etwas anderes, weil man für eine viel längere Zeit zusammengeschweisst ist. In den Gesprächen bemerke ich, wie viel meine Arbeit und ich als Person den Tänzerinnen und Tänzern bedeuten. Das hat mich am Anfang ganz schön erschlagen, weil man sich natürlich sorgt, ob man das alles überhaupt jemals zurückgeben kann. Man trägt da eine grosse emotionale Verantwortung.
Verschwindet der Choreograf jetzt manchmal hinter dem Ballettdirektor? Das Ballett Hannover hat 29 Mitglieder. Das ist nicht riesig, aber auch nicht so klein. Es ist genau die Grösse, wo man den Leuten noch nahe ist und die Tänzerinnen und Tänzer nicht in der Anonymität verschwinden. Ich bin in der glücklichen Situation, dass mir mein stellvertretender Direktor viele administrative Dinge abnimmt. Aber er sagt mir auch oft: Die Leute wollen dich haben! Sie wollen dich sehen, den «Direktor»! Das klingt immer so, als wäre ich Heinz Erhardt in den Sechziger Jahren mit Schreibtisch und Aktentasche… Wir sind ja gerade in einer Zeit, wo diese ganzen Begriffe zerfallen. Man will nicht mehr den grossen Urtypen des Intendanten, der alles bestimmt. Und Direktor ist auch so ein altes Wort…
Hast du ein besseres? «Ballettchef» gefällt mir besser… aber so sehe ich mich eigentlich auch nicht.
Gestern Abend bin ich ins Bett gegangen mit dem Gedanken: Bloss nicht erwachsen werden! Bloss nicht mit so einer Position aufhören zu spielen. Aber es ist heute auch so, dass man kaum noch verrückt spielen kann, weil man Gefahr läuft, jemand könne daran Anstoss nehmen. Nur jemanden in den Arm zu nehmen, kann schon falsch verstanden werden… Wenn ich heute in einen Ballettsaal komme, bemerke ich manchmal so eine Barriere aus Respekt und Bewunderung. Das hat sicher mit dem Erfolg und dem Älterwerden zu tun. Dann denke ich: Mensch, ich bin doch nur Marco, der für euch ein Stück machen will. Aber das geht nicht mehr so wie früher. Zum Glück gibt es manchmal noch so etwas wie den Liebhaber, wo ich mich dann doch freue, dass das gelungen ist.
Der Liebhaber, dein Ballett nach dem Buch von Marguerite Duras, war während der Pandemie als Stream aus Hannover zu sehen – mit unglaublicher Resonanz. Überhaupt hat Corona deiner Kreativität keinen Abbruch getan…
Obwohl ich in Bezug auf Krankheiten eher ängstlich bin, habe ich manchmal total vergessen, was da gerade los war. Nach drei Monaten zu Hause habe ich gedacht: Existiere ich eigentlich, wenn ich nicht arbeite? In diesen Konflikt gerate ich jeden Sommer, aber im Lockdown ist mir noch einmal sehr bewusst geworden, was Arbeit für ein Geschenk ist. Als dann der Anruf von Eric Gauthier kam, ob ich nicht einen Abend bei ihm in Stuttgart machen wolle, habe ich ganz schnell meine Taschen gepackt! In dieser armen Zeit ein Stück kreieren zu dürfen, war ein grosses Geschenk! Für eine Weile konnte ich die Pandemie vergessen. Dennoch: Es bleibt die Erkenntnis, dass das, was wir machen, gesellschaftlich und politisch gesehen, überhaupt keine Rolle spielt. In den grossen Diskussionen ging es in erster Linie um Fussball, vielleicht noch um ein paar Konzerte. Aber zum Tanz hat niemand was gesagt. Bitter!
Das Streaming von Ballett- und Opernproduktionen hat durch die Pandemie eine neue, ganz ungeahnte Bedeutung erlangt. Das Ballett Hannover war da sehr aktiv. Haben diese gestreamten Produktionen eine Zukunft, oder waren sie mehr ein Gebot der Stunde?
Ich hätte dieses Echo früher nicht für möglich gehalten. Nach der Premiere von The Big Crying am Nederlands Dans Theater habe ich bis spät in die Nacht Nachrichten aus aller Welt bekommen. Da schrieben Leute aus Wellington und waren begeistert! Viele meinten, sie seien emotional total in die Aufführung hingezogen worden und hätten völlig vergessen, nicht live dabei gewesen zu sein. Offenbar vermag Tanz also auch in diesem Format zu berühren.
Du hast von der «Sucht» nach dem nächsten Stück gesprochen. Was wird das sein?
Gerade freue ich mich auf ein neues Stück für das Ballett der Wiener Staatsoper, aber im Grunde ist der Ort gar nicht so wichtig. Wie mein Hund Gustav Witterung aufzunehmen, die Chance zu spüren, etwas Neues und Schönes zu machen, das gibt mir viel Energie. Doch irgendwie wünsche ich mir auch, dass alles noch ein bisschen so bleibt, wie es ist. Dass ich gesund bin, die Mutter noch lebt, der Hund noch eine Weile da ist… Das sind Gedanken, die ich mit Zwanzig, Dreissig, auch mit Vierzig noch nicht hatte. Und dann erinnere ich mich an «Junge Choreografen» in Stuttgart. Wie damals auf der Treppe zu sitzen und zu warten, dass ein Studio frei wird, um mit ein paar Tänzern zu arbeiten. Mit den Leuten zu quatschen, eine zu rauchen. Das suche ich immer noch. Es war die aufregendste Zeit…