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KOSMISCHE WINDE, IRDISCHE FRAGEN

In «Angels’ Atlas» wagt Crystal Pite nichts weniger als eine Vermessung des Himmels und des Menschseins in Tanzform. Ein Porträt der kanadischen Ausnahmekünstlerin

Dorion Weickmann

Es war einmal ein kleines Mädchen, das oft in den Himmel schaute und sich vom Kosmos und seinen Gestirnen erzählen liess. Manchmal verspürte es dabei einen schwindelerregenden Kitzel. Dann fuhr der Blitz der Erkenntnis in seinen Körper – ein Gefühl, als falle es durch Raum und Zeit. Diese Augenblicke haben das Mädchen beflügelt. Haben es später angespornt, nach den grössten Rätseln zu greifen. Ist nicht jedes Menschenkind klein «im Angesicht der unbeantwortbaren Fragen über Liebe, Tod und die Unendlichkeit»? So steht es in Crystal Pites Notizen zu Angels’ Atlas.

Sacht sinkt ein Nebelrelief hernieder, eine galaktische Wolke, aus der stalaktitenartige Gebilde dem Erdboden entgegenwachsen. So spitz, dass sie die Menschen, die da dicht beieinander kauern, aufzuspiessen drohen. Eine Fata Morgana? Das Himmlische Jerusalem, jenes postapokalyptische Paradies, dessen Kerzenkranz in Kirchenräumen die Zukunft verheisst? Noch liegen die Leiber gefangen im Staub. Als das Licht sie berührt, fährt ferner Atem in sie hinein. Schenkt ihnen Kraft, sich aufzurichten. Auszuschreiten. Fortzugehen. Und doch lösen sich längst nicht alle. Aus dem Dunkel erklingt Engelsgesang. Er hält sie fest. Fest auf der Erde.

Ein Spätsommertag, über Vancouver hängt seit Wochen schon eine Hitzeglocke. Die Wälder brennen. Die Menschen stöhnen und flüchten tief ins Innere ihrer Häuser. Crystal Pite sitzt an ihrem Schreibtisch, die Zoom­Kamera läuft. Über den Atlantik hinweg spricht sie von ihrer Arbeit, der Pandemie, von den Fragen, die uns alle umtreiben: Wie soll, wie kann es weitergehen mit der Welt, mit dem Planeten, den wir sehenden Auges ruinieren? In ihrem Rücken steht eine Tür weit offen, dahinter brütet die Wärme, bohrt sich in Terrassenplatten, Gartenbank und Geländer. In die flimmernde Luft hinein überlegt Pite, was Angels’ Atlas bedeutet: «Engel stehen für das, was wir nicht wissen. Der Atlas für das, was wir wissen. Und das Stück für die Grenze dazwischen.» Das Limit also, das wir gerade permanent überschreiten – in Richtung Abgrund.

Angels’ Atlas, von Crystal Pite vor zwei Jahren fürs Kanadische Nationalballett entworfen und jetzt nach Zürich übernommen, ist ein Wunderwerk an Präzision, gekreuzt mit den Launen des Zufalls. Dramaturgie und Choreografie sind minuziös ausgestaltet. Aber die Lichtarchitektur, die das Geschehen überwölbt, ist ein aleatorisches Spiel. Der Lichtdesigner Tom Visser und Jay Gower Taylor, Pites Bühnenbildner und Lebenspartner, haben die Mechanik über Jahre hinweg ersonnen. Bis sie zum Ausgangspunkt des tänzerischen Grenzgangs wurde, den Pite 2019 unternahm. Und zwar im Zustand totaler Erschöpfung, wie sie freimütig erzählt. Was kein Wunder ist: In zwanzig Jahren hat sie über fünfzig Werke in Szene gesetzt, das Arbeitspensum ist enorm. Seinerzeit kam sie zudem gerade aus einer Mammutproduktion an der Pariser Oper: Body and Soul tastet die Topografie der menschlichen Existenz zwischen Ich und Wir, Körper und Seele ab. Es ist fast eine Art Vorläufer für die Himmelsvermessung, der freilich nichts über die Strapazen verrät, die solche Kreationsprozesse mit sich bringen.

Selbst wenn sie Krisen und Konflikte anspricht, fliegt Crystal Pites Stimme hell und klar über den Ozean. Sie ist zugewandt, aufmerksam, offen. Das Aussergewöhnliche ihrer Person spiegelt sich auch im Resonanzraum ihrer Kunst, die nahbar ist, einfühlsam, phantasievoll und kommunikativ. Die Kanadierin ist sichtlich und hörbar verbunden mit dem, was sie tut. Mit den Menschen, die ihr begegnen, den Tänzern, für die sie choreografiert und die stets von ihr schwärmen: «authentisch», «hierarchiefrei», «empathisch», «inspirierend», «hochkreativ und null arrogant». Prädikate wie diese haften ihr an, sind fast schon ein Markenzeichen. Ein Qualitätssiegel, das ihre Werke beglaubigen. Weil sie berühren, vom allerersten Moment. Weil sie beim Zusehen längst verstummte Saiten zum Klingen bringen: Staunen, Mitgefühl, Erkenntnis. Crystal Pites Thema ist die Condition humaine und ihre metaphysische Verankerung. Jenseits aller materiellen, aller dramatischen Aspekte werden ihre szenischen Geflechte von transzendenten Fäden zusammengehalten. Die Choreografie orientiert sich an horizontalen Prinzipien, die geistige Matrix wurzelt in der Vertikale. Kosmische Winde, irdische Fragen – so gesehen ist Angels’ Atlas ein Manifest, das Crystal Pites Ästhetik idealtypisch ausformuliert: Alles ist mit allem verbunden, nichts geschieht ohne Sinn und Hintersinn.

Ein Blick auf den musikalischen Anfang genügt. Pjotr Tschaikowski steht für das Ballett, seine Kompositionen sind die Signatur der Klassiker schlechthin. Der Cherubim­Hymnus, den er 1878 schrieb, ist das geistliche Gegenstück: eine Ode auf die Herrlichkeit des Himmels, das Jenseits. Das freilich nur erblickt, wer die sterbliche Hülle verlassen, das Instrument des Tanzes abgelegt hat. Wenn Pite Angels’ Atlas mit Tschaikowskis Sakralchor eröffnet, knüpft sie das tänzerische Traditionsband neu – und anders: Innigkeit statt Spitzenschuhglamour. Gleichzeitig findet ein Akt der Einschreibung statt: Auf den Flügeln der Musik gleitet der vergängliche Körper hinüber in die Ewigkeit.

Wer Angels’ Atlas betrachtet und Tschaikowski lauscht, wird im Strom der Gedanken vielleicht noch ein anderes Ufer erreichen, nah gelegen und fern zugleich: Charles Ives’ The Unanswered Question, jene 1908 veröffentlichte Komposition, die wieder und wieder eine einzige Frage in den Klangraum wirft und ohne Antwort bleibt. Kein Geringerer als der choreografische Titan George Balanchine hat Charles Ives’ elegisches Klangmonument 1954 ins Tänzerische verlängert, unter Beibehaltung der Nichtkorrespondenz. Auch Angels’ Atlas stellt die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dem Wesen der Menschlichkeit. Aber anders als Balanchine baut Pite sphärische Brücken zwischen Diesseits und Jenseits. Sie denkt Welten zusammen, statt sie auseinanderzudividieren.

Dieses Talent zieht sich durch Crystal Pites Biografie wie durch ihr Schaffen. Seinen Anfang nimmt beides in Terrace, British Columbia. Ein Städtchen mit rund 12’000 Einwohnern, das von der Holzindustrie lebt, aber für Familie Pite – Vater, Mutter, Tochter und Söhne – bald zu klein ist. Nächste Station ist Victoria, wo Crystal Tanzunterricht nimmt und schon bald beginnt, für andere Kinder zu choreografieren. 1988 startet sie in die Profikarriere als Tänzerin am Ballet BC (für British Columbia), zwei Jahre später hebt sie dort ihr erstes Bühnenwerk aus der Taufe. Zudem begegnet sie dem Choreografen, der sie künstlerisch wie kein anderer prägt: Mit der Extremetüde In The Middle, Somewhat Elevated hebt die junge Tänzerin ab in den Orbit von William Forsythe. Mitte der 1990er­Jahre wechselt sie zu seiner Truppe nach Frankfurt am Main. Was handwerkliches Können betrifft, weist ihr der Amerikaner den Weg. Gleichwohl schlägt sie stilistisch eine andere Richtung ein: Wo Forsythe mit lässiger Eleganz das postmoderne Ballettzepter schwingt, emanzipiert sich Pite und arbeitet mit allen Schattierungen der Tanzpalette. Ihre Schöpfungen sind poetisch und politisch. Sie pulsieren organisch, betören mit dichten Tanztexturen und bringen jedes Corps de ballet zurück zu seiner eigentlichen Bestimmung: gemeinsamer Herzschlag, kollektive Atmung.

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