Nr. 04 / 2016
Juni / Juli
MAGAZIN
Wo endet meine
Verantwortung? Am Gipfel der Angst: REINHOLD MESSNER spricht mit Sylvain Tesson „Luxus ist eine Trotzreaktion“ Lambert Wiesing im Gespräch
Kierkegaard und die Existenz
Nr. 28
Sammelbeilage
Vorwort / Vincent Delecroix Überblick / Martin Duru
„Die Kun st „Entwed des Krieges“ er – Ode (Aus r“ züge (Auszüge ) )
1 / Kierkegaard und die Existenz
Kierkegaard und die Existenz
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
REPORTAGE AUS MEXIKO: Wofür kämpften die verschollenen Studenten?
Denker in diesem Heft
Schüler- und Studentenabo Zum Vorteilspreis von 26€ statt 41,40€
Nr. 03 / 2016
April / Mai
MAGAZIN
Wer ist mein
wahres
Selbst? ÉLISABETH BADINTER IM GESPRÄCH: „Die Linke hat ihre Seele verloren“
UTOPIA IN KURDISTAN
und der Krieg
Sammelbeilage
Vorwort / Jean-Claude Zancarini Überblick / Victorine de Oliveira
„Die Kunst des Krieges“ (Auszüge)
1 / Machiavelli und der Krieg
Machiavelli und der Krieg
0 3 4 192451 806907
Machiavelli Nr. 27
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
Reportage aus der anarchistischen Republik Rojava
S. 54
S. 60
S. 70
Stefan Gosepath
Bernhard Schlink
Lambert Wiesing
Der Professor für Praktische Philosophie lehrt an der Freien Universität Berlin. Theorien der Verantwortung und globalen Gerechtigkeit gehören zu seinen Schwerpunktthemen. Im Dossier spricht er über unsere weitreichende Verantwortung in der Flüchtlingskrise und plädiert für eine globale Hilfssteuer. Zum Thema: „Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus“ (Suhrkamp, 2004).
Sein Buch „Der Vorleser“ (Diogenes, 1995) war ein weltweiter Erfolg und wurde unter anderem mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet. Der Schriftsteller und emeritierte Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin diskutiert im Dossier mit dem Philosophen Ludger Heidbrink über die Notwendigkeit einer übergreifenden Verantwortung und eines starken Staats.
2015 wurde ihm der Wissenschaftspreis der Aby-WarburgStiftung verliehen. Im selben Jahr erschien sein Buch „Luxus“ (Suhrkamp). Lambert Wiesing ist einer der bedeutendsten Phänomenologen unserer Zeit. Wie erfahren wir die Wirklichkeit? In welchem Verhältnis steht ein digitales Bild zur Realität? Und warum ist Luxus eine ästhetische Daseinserfahrung? Die Antworten gibt er im großen Werkgespräch.
S. 84
S. 26
S. 20
6 Ausgaben pro Jahr / Jederzeit kündbar
+ Geschenk: Set mit Haftnotizzetteln ÜBER
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S. 19 im Heft
Eva Weber-Guskar Reinhold Messner Die habilitierte Philosophin vertritt derzeit den Lehrstuhl für Ethik und Didaktik der Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Im Heft bespricht sie unser Buch des Monats: Hartmut Rosas jüngstes Werk „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Demnächst erscheint ihr neues Buch „Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde“ bei Mentis.
Der Südtiroler gilt als der bekannteste Bergsteiger der Welt. 1978 hat er zum ersten Mal den Gipfel des Mount Everest ohne Flaschensauerstoff erreicht, er war auf allen 14 Achttausendern unseres Planeten – und er weiß genau, warum. Im Heft spricht Reinhold Messner mit dem Reiseschriftsteller Sylvain Tesson über Reiz und Metaphysik der Höhe. Sein Buch „Über Leben“ erschien 2014 bei Piper.
Barbara Vinken Herzlich willkommen! Die Literaturwissenschaftlerin ist neue Kolumnistin des Philosophie Magazins. In ihrer ersten Kolumne widmet sie sich der Islamisierung der Mode. 2013 erschien ihr Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ (Klett Cotta), das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Sie ist Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der LMU München.
Die nächste Ausgabe erscheint am 14. Juli 2016
Fotos: Stefan Gosepath/privat; Bernhard Schlink/Urban Zintel; Lambert Wiesing/Michael Englert; Eva Weber-Guskar/Johanna Ruebel; Reinhold Messner/Manuel Braun; Barbara Vinken/privat
(nach dem ersten Jahr)
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe
S. 26 Dialog Am Gipfel der Gefahr Reinhold Messner und Sylvain Tesson im Gespräch S. 32 Reportage Totentanz in Iguala Auf der Suche nach Mexikos verschwundenen Studenten Von Michel Eltchaninoff
Wo endet meine Verantwortung?
S. 70 Das Gespräch Lambert Wiesing S. 76 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 78 Der Klassiker Kierkegaard und die Existenz Von Philippe Chevallier + Sammelbeilage: „Entweder – Oder“ Mit Vincent Delecroix
Zeitgeist
Fotos: Matt Black/Magnum Photos/Agentur Focus; Daesung Lee; Manuel Braun; Benedict Morgan, „Wrapping Paper“
S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Beleidigung in Anführungszei chen: Der Fall Böhmermann / Jenseits von Gut und Böse: Das Menschenrecht des Anders Breivik / Interview mit einem Gesprächscomputer: Was treibt Chatbots in den Rassismus? S. 20 Prêt-à-penser Die neue Kolumne von Barbara Vinken. Diesmal: Burkini-Blicke S. 22 Erzählende Zahlen Kolumne von Sven Ortoli
S. 32
S. 44 Gefangen im Dilemma? Von Wolfram Eilenberger S. 48 Jetzt bist du gefragt! Sechs Urszenen der Verantwortung Von Bernd Piringer S. 54 „Es gibt eine globale Hilfspflicht“ Interview mit Stefan Gosepath S. 58 Vorsicht vor der Selbstüberschätzung! Von Konrad Paul Liessmann S. 60 Macht uns das System verantwortungslos? Bernhard Schlink und Ludger Heidbrink im Dialog S. 66 Freiheit für die Verantwortung Von Svenja Flaßpöhler
Bücher S. 84 Buch des Monats Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung S. 86 Thema Die Wiedereroberung von Paris S. 88 Scobel.Mag S. 90 Die PhilosophieMagazin-Bestenliste
Finale
S. 26
S. 47
S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Die Biene / Das Gare ist das Wahre / Impressum S. 98 Sokrates fragt Blixa Bargeld
S. 69
Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 5
Zeitgeist
Resonanzen
In dieser Ausgabe: Gewitzter Tabubruch – Was Böhmermann wirklich gesagt hat / Massenmörder mit Menschenrecht – Breiviks Kampf um bessere Haftbedingungen / Rassistische Gesprächscomputer – Was Chatbots nicht begreifen können
DEUTSCHLAND KÜNSTLERISCHE FREIHEIT
Staatsaffäre in Anführungszeichen
Angezeigt wegen Majestätsbeleidigung: Schmähgedichtsrezitator Jan Böhmermann
E
rreicht ein Ereignis erst einmal den Status des „Skandals“ oder gar der „Staatsaffäre“, ist es um seinen Sachgehalt bald geschehen. So auch im Falle des Jan Böhmermann und seiner öffentlich-rechtlichen Rezitationen eines „Schmähkritik“ benannten Gedichts auf den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Seit Wochen erregt es die Gemüter, belastet die deutsch-türkischen Beziehungen, bedroht gar die Kanzlerschaft Merkels. Doch was ist eigentlich passiert? Was hat Böhmermann im infrage stehen-
14 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
den Fall eigentlich über Herrn Erdogan gesagt oder behauptet? Eine sprachphilosophisch informierte Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Gar nichts. Denn wenn ich im hier vorliegenden Artikel zum Beispiel die ersten beiden Zeilen des Gedichts von Böhmermann anführe – sie lauten „Sackdoof, feige und verklemmt, ist Erdogan, der Präsident“ –, so habe ich, als Autor dieses Artikels, selbstverständlich überhaupt nichts über Herrn Erdogan gesagt oder behauptet, sondern lediglich ein sprachliches Vor-
kommnis der Vergangenheit zitiert. Tatsächlich beruht unser Sprechen grundlegend auf der Fähigkeit, Worte im Munde führen zu können, ohne für deren Inhalt selbst behauptend einstehen zu müssen. Also ohne sie selbst im eigentlichen Sinne zu „sagen“. Etwa, wenn man Kindern ein Beispiel davon gibt, welches Wort man nicht sagen darf, wie in: „Das Wort ‚Vollpfosten‘ darf man übrigens nicht sagen.“ Denn hier wurde das betreffende Wort selbst nicht gebraucht, sondern nur erwähnt. Die Unterscheidung zwischen dem „Gebrauchen“ und „Erwähnen“ von Worten geht auf Gottlob Frege (1848–1925) zurück, einen der Gründerväter der modernen Sprachphilosophie. Er erklärt sie wie folgt: „Wenn man in der gewöhnlichen Weise ein Wort gebraucht, so ist das, wovon man sprechen will, deren Bedeutung. Es kann aber auch vorkommen, dass man von den Worten selbst oder von ihrem Sinn sprechen will. (…) Wir haben dann Zeichen von Zeichen. In der Schrift schließt man in diesem Falle die Wortbilder in Anführungszeichen ein. Es darf also ein in Anführungszeichen stehendes Wort nicht in der gewöhnlichen Bedeutung genommen werden.“ Genau diese Unterscheidung trifft nun auch auf das zu, was Jan Böhmermann in seiner Satiresendung vom 31. März 2016 getan hat. Denn Böhmermann leitete sein Ablesen des Gedichts „Schmähkritik“ ausdrücklich mit folgen-
Fotos: picture-alliance (2)
Mit einem Schmähgedicht lotete Jan Böhmermann die Grenzen der Äußerungsfreiheit aus. Warum Gottlob Frege den Satiriker höchstwahrscheinlich freisprechen würde
den Worten ein: „Was jetzt kommt, darf man nicht machen: ‚(…)‘.“ Sachlich beschrieben, hat Böhmermann damit kein Gedicht vorgetragen, das man nicht vortragen darf, sondern ein Beispiel für ein Gedicht vorgetragen, das man nicht vortragen darf. Er hat das betreffende Gedicht also nur erwähnt. Keines der Worte, das Böhmermanns Mund während dieses Erwähnungsvorgangs verließ, darf deshalb in seiner gewöhnlichen Bedeutung genommen werden. Böhmermann sprach in der Ausführung des Gedichts nicht von dem, worauf sich die Worte des Gedichts direkt beziehen (ergo auch nicht von Herrn Erdogan), sondern von den Worten selbst. Er sagte
NORWEGEN MENSCHENRECHTE
etwas über diese Worte, nämlich: Dass sie in dieser Weise als direkte Äußerungen in Deutschland verboten sind! Daraus folgt, wie immer man zu diesem „Fall“ persönlich stehen mag, zweierlei: Im mutmaßlich strittigen Punkt besteht zwischen Herrn Böhmermann, Herrn Erdogan und auch Frau Merkel vollkommene Einigkeit. Das Gedicht stellt eine Beleidigung dar! Jedoch hat die Staatsanwaltschaft nicht darüber zu befinden, ob das Gedicht „Schmähkritik“ den Tatbestand der (Majestäts-)Beleidigung erfüllt, sondern, ob die vollständige Erwähnung dieses Gedichts den Tatbestand der Beleidigung erfüllt – und zwar in einem
satirischen Äußerungskontext und von einem des Ausländerhasses und der Fremdenfeindlichkeit vollends unverdächtigen Künstler, der diese Erwähnung ausdrücklich mit dem auch pädagogischen Ziel vollzieht, eine klare Grenze des öffentlich-rechtlichen Diskurses für alle sichtbar zu markieren. Bleibt abschließend zu erwähnen, dass eine Verurteilung vor diesem Hintergrund in der Tat ein Skandal und eine Staatsaffäre wäre, bedeutete sie doch nicht nur einen tiefen Eingriff in die künstlerische Freiheit, sondern auch in unsere alltäglichsten Sprechgewohnheiten. Von Wolfram Eilenberger
Breivik und das Recht des Übermenschen
Sollte ein Massenmörder Hafterleichterungen erhalten? Vor dieser Frage steht Norwegen, im Falle des Anders Behring Breivik – und hat damit die Chance auf einen moralischen Durchbruch
I
m Juli 2011 verübte der norwegische Auch der Staat Norwegen legte sofort Rechtsterrorist Anders Behring Berufung ein. Ohne Frage folgte man Breivik Anschläge in Oslo und auf damit einer moralischen Grundintuition, die besagt, dass Tat und Strafe in der Insel Utøya, bei denen 77, in der einem ausgewogenen Verhältnis zueinMehrzahl jugendliche Menschen ihr ander stehen müssen. Breiviks weitere Leben verloren. Seit fünf Jahren sitzt er Hafterleichterungen aber spotteten nun in Isolationshaft und verbüßt eine diesem Prinzip Hohn und erschwerten Strafe von 21 Jahren, die Maximaldauer so den ohnehin schmerzhaften Prozess des norwegischen Rechts. Auf 31 Quadratmetern, die sich über drei Zimmer des Verarbeitens. Eine verständliche, erstrecken, ist es Breivik gestattet zu lejedoch moralisch keineswegs alternasen, zu arbeiten und Sport zu treiben. tivlose Sichtweise. Denn wie niemand Er verfügt über einen Fernseher, einen anderes als Friedrich Nietzsche in der Computer ohne Internetzugang und „Genealogie der Moral“ festhält, lässt eine Spielkonsole. Dennoch verklagte sich der moralische Fortschritt einer der Massenmörder im März 2016 den Gesellschaft am besten danach ermessen, wie weit sie sich von dem archanorwegischen Staat auf Verletzung der Anders Behring Breivik im Gerichtssaal, Frühjahr 2016 ischen Äquivalenzprinzip von Schuld Artikel 3 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Er wolle nicht und Sühne emanzipiert hat. „Wächst länger in Isolationshaft leben, fordere Zugang zum Internet, erweitertes die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert Besuchsrecht sowie die Möglichkeit, ohne Kontrollzensur Briefe zu sich immer auch das Strafrecht“, stellt Nietzsche fest, und deutet den senden. Und: Breivik drang mit seiner Klage tatsächlich durch. Denn Mut zum Ausbruch aus dem Rachedenken des „Leiden-sehn tuth wohl, wie das angerufene norwegische Gericht im April 2016 feststellte, ver- Leiden-machen noch wohler“ als gangbarsten Pfad zum Idealziel eines letzten die bisherigen Haftbedingungen tatsächlich zu Teilen Breiviks wahren und damit auch die Opfer befreienden Verzeihens. Eine moraliMenschenrechte. In Zukunft muss er nicht mehr in Isolationshaft leben sche Vision, deren profunde Menschlichkeit und Reife mit anderen Worten allem widerspricht, wofür Anders Breivik einst – im Namen einer und darf Kontakt zu anderen Häftlingen pflegen. Angehörige der Opfer äußerten sogleich ihr Unverständnis für diese vulgären Wahnidee vom nordischen Übermenschen – zur Tat schritt. Von Inna Barinberg Entscheidung, ja sahen darin eine Verhöhnung von Breiviks Opfern. Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 15
Horizonte
Dialog
Am Gipfel der
Gefahr Kalt, gleichgültig, potenziell tödlich: Was treibt Bergsteiger in Zonen, für die der Mensch nicht gemacht ist? Reinhold Messner und Sylvain Tesson über die Metaphysik der Höhe, alpinen Minimalismus und die Bedingung der Freiheit Das Gespräch führte Alexandre Lacroix / Fotos von Manuel Braun
Reinhold Sylvain Messner Tesson
D
ie Festung La Bastille, die auf 476 Metern über Grenoble thront. Für Reinhold Messner ist diese Höhe (die wir bequem mit der Seilbahn erreichten) natürlich ein Witz. Der gebürtige Südtiroler ist der erste Mensch, der alle 14 Achttausender des Planeten bestieg. Der erste, der den Everest (8848 Meter) ohne Flaschensauerstoff bezwang. Messner hat einen eisernen Willen. Am 29. Juni 1970 verlor er seinen Bruder Günther beim Abstieg vom Nanga Parbat (8126 Meter) im Westhimalaya, was ihn nicht daran hinderte, acht Jahre später zurückzukehren und eine Gipfelüberschreitung auf neu eröffneten Routen zu bewältigen. Unaufhörlich forderte er den Tod heraus und erfreut sich mit 70 Jahren augenscheinlich einer prächtigen Gesundheit. Wir sind mit Sylvain Tesson angereist. Der Reiseschriftsteller, Autor von „In den Wäldern Sibiriens“ (Knaus, 2014) und von „Napoleon und ich. Eine abenteuerliche Reise von Moskau nach Paris“ (Knaus, 2016), ist passionierter Bergsteiger und seit langem ein Bewunderer des Alpinisten Messner, von dem zuletzt das Buch „Über Leben“ (Piper, 2014) erschien. Tesson sieht in dem Bergsteiger einen der größten Abenteurer des 20. Jahrhunderts und verschlingt dessen Bücher seit Jahren. Warum also, mit dieser einfachen Frage setzen wir ein, besteigen Menschen überhaupt Berge? Wozu diese Qual? >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 27
TOTEN TANZ IN IGUALA
V Die Entführung von 43 mexikanischen Lehramtsstudenten einer Landhochschule in Ayotzinapa Ende 2014 hat die ganze Welt bewegt. Die Hintergründe der Tat liegen immer noch im Dunkeln. Unser Autor ist zum Ort des Geschehens gereist, um Antworten zu finden: Wie hängen die dortige Gewalt und die Geschichte Mexikos zusammen? Wie konnte aus dem einst revolutionären Geist des Landes ein Staat erwachsen, in dem der Hobbes’sche Naturzustand, ein Krieg aller gegen alle, herrscht? Und was ist in jener Schreckensnacht wirklich geschehen? Bericht aus einer albtraumhaften politischen Realität Von Michel Eltchaninoff / Fotos von Matt Black
„„ olveré y seré millones.“ Che Guevara, mit irrem, leerem Blick, beinahe schon tot, scheint diese Worte zu sagen. Die schwarzen Schatten seines Gesichts heben sich von dem türkisfarbenen Untergrund eines riesigen, von Rissen durchzogenen Wandgemäldes ab. „Ich werde zurückkommen, millionenfach.“ Doch im Augenblick ist hier niemand außer ein paar streunenden Hunden. Es ist gerade erst acht Uhr morgens, und die Landhochschule von Ayotzinapa ist menschenleer. Verloren in den Bergen von Guerrero liegt dieses Ensemble aus Beton, in einer ärmlichen Region zwischen dem Mafiahafen von Acapulco und der mexikanischen Hauptstadt – eine Gegend, die kein Touristenführer empfiehlt. Unterhalb einer einsamen Straße kommt man zunächst an alten Gebäuden vorbei, die mit Proklamationen zum Thema Volksbildung beklebt sind. Die Landhochschulen wurden in den zwanziger Jahren gegründet, einer Zeit, in der das Erdöl verstaatlicht und ausländische Unternehmen enteignet wurden. Damals ließ sich die mexikanische Revolution von der Sowjetunion inspirieren. Es ging darum, die des Lesens und Schreibens unkundigen Bauernkinder auszubilden, damit sie in ihre Dörfer zurückkehren und dort Lehrer werden könnten. Beim Weiterlaufen entdeckt man einen ländlichen Campus, der sich ganz klassisch aus Schlafsälen, einem riesigen Schulhof, Verwaltungsgebäuden und Unterrichtsräumen zusammensetzt. Der Verfall ist >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 33
Horizonte
Reportage
Totentanz in Iguala
>>> sichtbar, Entmutigung spürbar. Trotzdem sind lauter
hehre Ideale an die Wände geschrieben. Ayotzinapa folgt treu der mexikanischen Tradition der politischen Wandmalerei und stellt seine Geschichte und seine Träume in Farbe zur Schau. Lenin ist überall – Trotzki, immerhin auf Befehl Stalins in Mexiko umgebracht, nirgendwo. Die Gestik der rebellischen Jugend, eingerahmt von Figuren der mexikanischen Revolution (man erkennt sie an ihren Schnurrbärten und ihren Sombreros), entfaltet sich in allen Stilen: episch, naiv, ultrarealistisch, psychedelisch, folkloristisch. Doch es ist immer dieselbe Geschichte – die Studenten enden im Kugelhagel der Polizei. Die Mütter weinen, werden aber keinesfalls verschont. In Deckung hinter den bewaffneten Männern streichen die Bürgerlichen dicke Dollarbündel ein. Das ist die Geschichte Mexikos aus der Sicht der revolutionären Studenten.
„43“ – Symbol der Entrüstung Man muss sich in diese Zone im Herzen der Drogenherstellung und des Drogentransports begeben, aus der 80 Prozent des mexikanischen Opiums kommen, um die Bedeutung eines Dramas, das die ganze Welt entsetzt hat, besser zu verstehen. Ende September 2014 werden etwa 50 Studenten der Landhochschule von Ayotzinapa in der Stadt Iguala angegriffen, beschossen und dann entführt. Einige werden getötet, einer von ihnen gefoltert, 43 verschwinden spurlos. Man verhaftet rasch 22 örtliche Polizisten, die an dem 34 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
Angriff und der Entführung beteiligt gewesen sein sollen. Der Bürgermeister José Luis Abarca Velázquez (Partei der Demokratischen Revolution, PRD, gemäßigte Linke), dessen Verbindungen zu einem Syndikat von Drogenhändlern, den Guerreros Unidos, bekannt sind (mehrere Brüder seiner Gattin zählten zu deren Anführern), taucht unter. Zwei Monate später wird er mit seiner Frau verhaftet. Der Generalstaatsanwalt erklärt am Ende der Ermittlung, dass die Studenten von der örtlichen Polizei an die narcos, die Drogenbosse, übergeben wurden, die sie ermordet haben sollen, bevor sie ihre Leichen auf einer Müllkippe in der Nähe von Iguala verbrannten und ihre Asche in einen Fluss streuten. Man findet verkohlte Leichenreste in einer Nachbargemeinde. Doch bis heute hat man nicht mehr als zwei Studenten identifizieren können. Ende Januar 2015 beteuert indessen der Justizminister, dass man die „Gewissheit“ habe, dass die 43 Studenten tot seien. 2015 kommt es zu einem gewaltigen Eklat. Ein unabhängiger Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte meldet Zweifel an den Ermittlungsergebnissen an. Ihm zufolge hätte die Einäscherung 60 Stunden in Anspruch genommen (nicht 14, wie die offizielle Version besagt), zudem 30 Tonnen Holz, 13 Tonnen Reifen, 13 Tonnen Diesel. Nun gibt es aber keine Spuren eines solchen Flammenmeeres auf der mutmaßlichen Einäscherungsstätte. Der Bericht verweist ebenfalls auf das Ausbleiben jeder Reaktion seitens der Soldaten aus der Kaserne von
Oben: Alltägliche Armut. Eine mexikanische Familie in El Chuparrosa, im Bundes staat Guerrero, im Jahr 2013. Alle hier abgedruckten Fotos entstanden zwischen 2013 und 2015 Rechts: „Uns fehlen 43“. Eines der zahlreichen Wand gemälde, die an die Entfüh rung der Studenten in Iguala im Herbst 2014 erinnern
Wo endet meine
Foto: Andy Anderson
Verantwortung?
DOSSIER
B
ei mir selbst? Meiner Familie? Meiner Firma? Oder nie und nirgendwo? Das Dilemma ist klar: Setzen wir unserer Verantwortung enge Grenzen, gelten wir als egoistisch und unsolidarisch. Begreifen wir sie als endlos, überfordern wir uns, verlieren jedes Maß. Wo also wäre die Grenze zu ziehen? Eine drängende Frage, gerade heute, in einer globalisierten Welt der Kriege und Klimakatastrophen, der Armut und Verzweiflung. Lässt sich im technisierten, hochkomplexen 21. Jahrhundert überhaupt noch sinnvoll von individueller Verantwortung sprechen? Widersetzt sich der Begriff der Verantwortung gar seinem Wesen nach jeder Begrenzung? Wenn ja, wie wäre meine Verantwortung zu fassen? Wie moralisch handeln, ohne sich selbst dabei aufzugeben? Mit Beiträgen unter anderem von Stefan Gosepath, Ludger Heidbrink, Konrad Paul Liessmann und Bernhard Schlink
DOSSIER
Wo endet meine Verantwortung?
E
Von Wolfram Eilenberger
rinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.
Nicht wenige Beobachter glauben, dies sei der Moment gewesen, in dem sich ein innerer Wandel in Angela Merkel vollzog, der ihr Handeln in der Flüchtlingskrise auf Monate hinaus prägen sollte: der Wandel von der sachlich distanzierten Berufs- zur leidenschaftlich engagierten Berufungspolitikerin. In jedem Fall aber war es ein Augenblick, in dem ihre Rolle als politische Verantwortungsträgerin mit ihrer Rolle als mitfühlende Bürgerin für alle sichtbar kollidierte. Denn jedem im Saal – Merkel eingeschlossen – ging in diesem Moment auf, dass im Angesicht eines offenbar bedürftigen, vollends verzweifelten Menschen eine bestimmte Form moralischer Rechtfertigung ihre dialogische Überzeugungskraft, ihre Schicklichkeit, ja ihre Menschlichkeit selbst einzubüßen droht. Knapp ein Jahr – und mehr als eine Million aufgenommener Flüchtlinge – später sehen wir in den Nachrich44 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
ten jeden Abend in die verzweifelten Gesichter der Menschen an den Zäunen von Idomeni oder Lesbos. Die meisten von uns tragen dabei den gleichen inneren moralischen Konflikt mit sich aus wie Merkel damals im Angesicht von Reem. Wir versuchen uns, als die Couchpolitiker, die wir mittlerweile alle geworden sind, moralisch damit zu beruhigen, dass unsere Verantwortung und unser Hilfsvermögen nun einmal vernünftige Grenzen kennen und anerkennen müssen. Und spüren doch gleichzeitig allzu klar, dass jeder konkret benannten Grenzziehung oder Regel ein Moment vollkommener Beliebigkeit, ja geradezu fantastischer Willkür innewohnt – und diese damit selbst eine moralische Unverantwortlichkeit darstellt. Wir können nicht die ganze Welt „retten“, gewiss. Aber diese konkrete Familie, da am Zaun, ohne Zweifel
Foto: Michael Kelley/Getty Images
Die Moral auf der Couch
chen einhergeht, moralisch bindend zurück? Gilt es auch für begangene Gräuel, die 200 Jahre zurückliegen und bis heute sozial nachwirken (wie etwa im Fall der Sklaverei in den USA)? Oder gar ein halbes Jahrtausend hinein in die Vergangenheit, sagen wir, im Sinne einer expliziten Verantwortungsübernahme der heutigen Europäer für den Massenmord an den damaligen Ureinwohnern Amerikas? Wo läge hier eine begründbare Grenze?
Von der Überforderung in den Zynismus
schon. Wo also endet unsere, meine Verantwortung konkret? Und wie, wenn überhaupt, kann diese Grenze verantwortlich gefasst werden?
Unendliche Weiten? Womöglich hilft es zur Klärung, sich zunächst auf das kritische Wörtchen „Wo“ in der ersten Frage zu konzentrieren. Es kann nach einer zeitlichen Grenze der Zukunft oder der Vergangenheit fragen, wie in Erwägungen um historische Schuld oder auch zukünftige Handlungsfolgen. Bei Zeiträumen von drei oder vier Generationen – etwa im Fall der Schoah und einer besonderen deutschen Verantwortung – scheint ein belastbarer Rahmen intuitiv gewahrt. Doch wie weit reicht solch ein Übernahmeverhältnis, das ja immer auch mit konkreten Hilfs- und Reparationsansprü-
Ähnlich heikle Fragen werfen Folgeabschätzungen für die Zukunft auf, bei denen sich nach heutigem Stand der Technik und des Konsums leicht Verantwortungszeiträume von 100 (Waldrodung, Staatsschulden), 1000 (Rohstoffe) oder auch 100 000 Jahren (Klimawandel, Atomkraft) öffnen. Begehen wir nicht jeden Tag, und zwar sehenden Auges, unverantwortbare Verbrechen an den Individuen der Zukunft? Andererseits: Eignet in einer offenen Welt nicht jeder konkreten Prognose über mehr als zwei Generationen notwendig ein Moment der Wissensanmaßung und zeigt sie sich damit nicht ihrerseits unverantwortlich gegenüber den konkreten Interessen heute Lebender? Nicht weniger komplex zeigt sich die Frage nach dem „Wo“ der Verantwortungsgrenze, fasst man sie rein geografisch im Sinne der Nähe und Ferne auf. Bei dem faktischen Grad an globaler Verflechtung, den jede nationale Volkswirtschaft, ja selbst alltäglichste Handlungen wie der Obst- oder Sockenkauf erlangt haben, scheint sich eine durchgängige Verantwortungsbegrenzung auf den Kreis der eigenen Familie, Gemeinde, des Landes oder auch nur Kontinents moralisch von selbst zu verbieten (siehe das Gespräch mit Stefan Gosepath, S. 54). Andererseits droht eine permanente Ausweitung der individuellen Verantwortungszone auf den gesamten Globus in einen diffusen, mitunter gar narzisstischen Modus moralischer Selbst- >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 45
DOSSIER
Wo endet meine Verantwortung?
Jetzt bist du gefragt! Auf der Welt zu sein bedeutet, in der Verantwortung zu stehen: für das eigene Selbst, nächste Verwandte wie auch wildfremde Menschen. Sechs Urszenen, die zeigen, was das im Alltag bedeuten kann Von Bernd Piringer / Illustrationen von Studio Nippoldt
I Emmanuel Lévinas Der erste Blick
E
ndlich bist du da. Ganz neu auf dieser Welt. Zart und fremd. Geworfen und blutig. Schreiend und hilf los. Mein Kind! Wie seltsam das klingt. Meins. Dabei haben wir uns noch nie zuvor in die Augen gesehen, nie miteinander gesprochen, uns niemals berührt. Haut an Haut, so wie jetzt. Und doch ist da gleich dieses Gefühl, dieser einzigartige Bund. Wo immer meine Verantwortung für dich enden mag, ich spüre, hier beginnt sie, jetzt, in meinen Armen. Ohne Einschränkung, ohne Bedingung, ohne Zweifeln.
Woher sie rührt? Ich wüsste es beim besten Willen nicht zu begründen. Jedenfalls hat sich niemand schuldig gemacht. Wurden keine Forderungen erhoben. Keine Antworten gegeben. Wie auch? Schließlich hast du ja niemanden gefragt, ob du kommen darfst. Und wurdest auch nicht gefragt, ob du überhaupt kommen willst. Sondern bist jetzt einfach: da. Ich merke, wie deine Bedürfnisse zu meinen werden. Unmöglich, sich deinem Wollen zu entziehen, deinem unbedingten Anspruch auf Sorge, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn jemals erfüllen kann. Nur 48 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
dass er besteht, das erfahre ich in diesem Moment, in dem du die Augen öffnest und mich zum ersten Mal ansiehst. Mich. Niemand anderen. Oder doch eher: jeden anderen, der jetzt an meiner Stelle wäre? Das ist es wohl, was der Philosoph Emmanuel Lévinas (1906–1995) meint, wenn er in der Erfahrung deines ersten Blickes, welcher mich „vorlädt“, „nach mir fragt“, „meine Anwesenheit fordert“, die eigentliche Urszene des Ethischen sieht. Denn in Lévinas’ Worten ist „das Verhältnis zum Antlitz gleichzeitig das zu einem absolut Schwachen – zu dem, was absolut ausgesetzt, nackt und entblößt ist (…) und folglich zu dem, der allein ist und die höchste Vereinzelung erleiden kann, den man den Tod nennt“. Und so ist das ja tatsächlich mit dir und mir. Entziehe ich mich der Antwort, die dein Antlitz von mir fordert, wirst du sterben. Also muss ich für dich sorgen, Verantwortung übernehmen, Ja zu dir sagen. Mein Gefühl der Fürsorge ist in Lévinas’ Worten „ein Engagiertsein, das älter ist als jede erdenkliche, das Menschliche konstituierende Überlegung“. Es ist also nicht das Ergebnis einer moralischen Abwägung oder eines Arguments, sondern einer unmittelbaren Erfahrung: der Erfahrung deines Blickes, durch den auch immer schon die Möglichkeit seines Erlöschens mitscheint. Und natürlich könntest du – für mich –, das stimmt doch auch, noch jedes andere Kind sein. Wie ich für dich jeder andere Mensch. Genau auf diese Wahrheit mag Lévinas, als Holocaust-Überlebender, anspielen, wenn er sagt, die Verantwortung dem Antlitz des anderen gegenüber sei nicht nur grundlos, sondern auch unendlich. Weil sie spürbar für jeden Bedürftigen besteht, dessen Blick mich so trifft wie der deine. Literatur: Emmanuel Lévinas, „Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen“ (Hanser, 1995)
II
Ralph Waldo Emerson
Das Team führen
D
größte Unverantwortlichkeit, die ein Mensch begehen kann. Gegenüber sich selbst. Und auch gegenüber seiner Gemeinschaft. Den einzigartigen Beitrag, den jeder auf seine Weise für das Kollektiv erbringen kann, nennt Emerson übrigens „Genius“. Ihm gerecht zu werden, erfordert Mut, Glaube und Hoffnung. Und gegebenenfalls auch den robusten Willen, mal ordentlich hinzulangen, Grenzen zu übertreten, Regeln zu brechen. „Du musst dich jetzt endlich mal zeigen, Mensch!“, bläut mir der Trainer auf dem Weg aus der Kabine ein. Ich weiß genau, was er meint. Ich weiß, er hat recht. Und natürlich gilt seine Forderung auch für jeden anderen meiner Mitspieler. Denn jeder von ihnen hat seinen ganz eigenen Genius. Wenn den jetzt jeder zeigt, reißen wir das Ding noch rum! Todsicher. Und selbst falls nicht, gäbe es dann nachher wenigstens nichts, was wir einander vorzuwerfen hätten. Auf geht’s! Literatur: Ralph Waldo Emerson, „Selbstvertrauen“ in: „Essays“ (Diogenes, 2003)
Illustrationen: Studio Nippoldt
ie wenigsten Dinge sind wichtiger, als sie genommen werden. Und dieses Spiel ist für uns nun mal extrem wichtig. Eine ganze Saison haben wir auf diesen Moment hingearbeitet. Alle zusammen als Mannschaft, jeder für sich als Spieler. Aber ausgerechnet jetzt läuft es nicht. Zur Halbzeit liegen wir schon zwei Tore hinten. „Keiner übernimmt Verantwortung“, schimpft der Trainer. „Jeder versteckt sich hinter dem anderen.“ Ja, auch ich. Gerade ich. Denn eigentlich, sagt der Trainer, sollte ich der Führungsspieler sein. Auf mich sollen sie schauen. Nach mir sich ausrichten. Du kannst das! Geh voran! Aber ich war in dieser Halbzeit gar nicht da. Stand völlig neben mir. Schlich wie in Trance über den Platz. Verdammt. Ich habe mir diese Führungsrolle übrigens nicht ausgesucht, sie nie ausdrücklich beansprucht, sondern sie wurde mir eher auferlegt. Ganz einfach weil auf dem, der potenziell mehr kann und vermag als die anderen, ganz natürlich mehr Verantwortung lastet. Von so einem wird einfach mehr verlangt. Und das nicht nur im Sport. Ich verstehe das, finde es sogar richtig. Doch woher jetzt das Selbstvertrauen nehmen? „Es gibt eine Zeit in der Erziehung jedes Menschen, wo er zu der Überzeugung gelangt (…), dass er sich selbst auf Gedeih und Verderb als sein Teil annehmen muss“, schreibt der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson in seinem Essay „Selbstvertrauen“. Und fährt fort: „Vertraue dir selbst: Jedes Herz vibriert mit dieser eisernen Saite. Nimm die Stelle ein, die die göttliche Vorsehung für dich gefunden hat; die Gesellschaft deiner Zeitgenossen, die Verknüpfung von Ereignissen“. Auch wenn dich diese Positionierung zunächst zu überwältigen droht. Auch wenn das nicht immer gerecht scheint. Denn sich vor den je eigenen Anlagen verstecken, argumentiert Emerson, bleibt die
Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 49
DOSSIER
27.09.2015: Fl端chtlinge erreichen den Strand von Lesbos, Griechenland
54 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
Foto: Patrick Witty; Autorenfoto: privat
Wo endet meine Verantwortung?
„Es gibt eine globale
Hilfspflicht“
Hilfe in Not ist mehr als ein Akt der Barmherzigkeit. Sie ist eine moralische Pflicht. Gespräch mit dem Philosophen Stefan Gosepath über individuelles Engagement, moralische Intuition und die unplausible Position des radikalen Egoismus Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler
Stefan Gosepath Stefan Gosepath ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin und Kodirektor der KollegForschergruppe Justitia Amplificata. Arbeitsschwerpunkte sind Moralphilosophie, Politische Theorie und Metaethik. 2004 erschien sein Buch „Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus“ bei Suhrkamp
Herr Gosepath, in der Turnhalle meiner Toch ter, keine 300 Meter von uns zu Hause entfernt, leben derzeit syrische Flüchtlinge. Habe ich die moralische Verpflichtung, mich zu engagieren? Stefan Gosepath: Sie haben eine moralische Verpflichtung. Aber nicht alleine. Zunächst einmal können wir uns in diesem Land durchaus darauf verlassen, dass es gesellschaftliche und staatliche Institutionen gibt, die diese Hilfe organisieren – was auch sinnvoll ist. Wenn bei Ihnen im Nachbarhaus ein Feuer ausbricht, haben Sie auch eine Hilfspflicht, aber wahrscheinlich kommen Sie dieser Pflicht am effektivsten nach, wenn Sie die Feuerwehr rufen und nicht selber mit einem Wassereimer rüberlaufen. Das heißt aber nicht, dass Sie gar nichts tun müssen. Sie müssen an der Aufrechterhaltung dieser Institutionen mitwirken und Sie müssen überprüfen, ob diese Institutionen ihren Aufgaben nachkommen. Sollte sich nämlich herausstellen, dass sie das nicht tun oder nicht tun können, dann fällt die Hilfspflicht wieder auf Sie als Individuum zurück. Wie ist diese Pflicht begründet? Ich habe das Leid dieser Menschen ja nicht verursacht. Damit haben Sie eine wichtige Differenzierung benannt. Es gibt korrektive Gerechtigkeitspflichten, und es gibt Hilfspflichten. Die Gerechtigkeitspflicht resultiert aus eigener Schuld, die ich verpflichtet bin wiedergutzumachen. Der Hilfspflicht hingegen geht keine eigene Schuld voraus. Warum, also, so fragen Sie, soll ich helfen? Stellen Sie sich vor, Sie sind mit dem Auto unterwegs und kommen als Erste an eine Unfallstelle. Der Fahrer des verunglückten Fahrzeugs hat getrunken, ist gegen einen Baum geprallt. Sie sind also definitiv nicht schuld. Trotzdem haben Sie eine Hilfspflicht – vorausgesetzt, der Verunglückte kann sich nicht selbst helfen. Die Unmittelbarkeit der Not zwingt uns, Hilfe zu leisten. Philosophisch wichtig ist, dass es sich wirk-
lich um eine Pflicht handelt. Die Hilfe, von der hier die Rede ist, ist kein Gnadenakt wie etwa das Almosen, das ich dem Bettler an der Ecke geben kann oder auch nicht.
Aber was, wenn nicht ich allein, sondern zehn andere gleichzeitig mit mir am Unfallort ankommen? Genau das ist ja die Situation in der Flüchtlingskrise: In der Nähe der Turnhal le wohne nicht nur ich. Und Deutschland ist nicht das einzige Land in Europa, das Flücht linge aufnehmen kann. Wer also ist zuständig? Bleiben wir zunächst beim Unfall: Die Gefahr besteht tatsächlich darin, dass alle nur herumstehen, weil niemand weiß, wer jetzt eigentlich genau aufgerufen ist zu helfen. Das Wichtigste in einer solchen Situation ist, sich sofort abzusprechen und die Lasten gleichmäßig zu verteilen: Du stellst das Warndreieck auf, du rufst die Polizei, du holst die Leute aus dem Auto, du holst die Decken raus, du machst die Mund-zu-Mund-Beatmung. Menschen folgen solchen Anweisungen in der Regel, wenn sie wissen, was genau ihre spezifische Aufgabe ist und sie das Gefühl haben: Die Verteilung ist fair und sie überfordert mich nicht. In der Flüchtlingskrise liegt das Problem natürlich darin, dass wir nicht wissen, wer eigentlich zum Kreis der Helfer gehört: Deutschland? Die Türkei? Europa? Oder die ganze Welt? Es ist ja tatsächlich gar nicht klar, warum sich nicht auch reiche Länder wie die USA oder China an der Hilfe beteiligen sollen. Weil diese Länder zu weit weg von Europa und also nicht zuständig sind? Die Distanz als Kriterium ist bei näherer Betrachtung unplausibel. Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel: Nur weil Sie zufällig direkt an einer Kreuzung wohnen, wo sich ständig Unfälle ereignen, sind Sie nicht dazu verpflichtet, dauernd die Opfer zu versorgen. Das würde klarerweise zu einer Überforderung führen. Vielmehr >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 55
DOSSIER
Wo endet meine Verantwortung?
60 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
Macht uns
das System
verantwortungslos?
Wie weit reicht unsere Verantwortung in einer immer komplexeren Welt? Lässt sich der Einzelne überhaupt noch zur Rechenschaft ziehen? Der Schriftsteller Bernhard Schlink und der Philosoph Ludger Heidbrink über heikle Systemgrenzen, den Tellerrand Angela Merkels und das allzu ferne Leid der anderen Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Urban Zintel
D
ie Heeresbäckerei in Berlin, erbaut 1805. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde ein Parkettboden in die Speicherhalle gelegt. Wozu der Raum damals diente, weiß niemand. Bernhard Schlink setzt sich in seinen Büchern und Romanen intensiv mit der deutschen Vergangenheit auseinander, so auch in seinem Welterfolg „Der Vorleser“. Der Zusammenhang von Schuld und Verantwortung interessiert den Juristen aber nicht nur historisch, sondern auch mit Blick auf die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften. Können wir einzelnen
Bernhard Schlink Einen Welterfolg erzielte der Jurist und Schriftsteller mit seinem Roman „Der Vorleser“ (Diogenes, 1995), der wie viele seiner Bücher verfilmt wurde. Die Themen Gerechtigkeit, historische Schuld und Verantwortung bilden einen Schwerpunkt im Schreiben des emeritierten Professors für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, so auch in dem 2007 erschienenen Essayband „Vergangenheitsschuld“ (Diogenes)
Philosophie Magazin: Es gibt Menschen, die sich für alles Mögliche verantwortlich fühlen. Anderen wiederum fällt es leicht, sich abzugrenzen: „Damit habe ich nichts zu tun.“ Welcher Gruppe fühlen Sie sich eher zugehörig? Bernhard Schlink: Das ist für mich keine Sache des Gefühls und auch keine Frage des Charakters. Wir leben in Kreisen der Zugehörigkeit und der Verbundenheit. Sie bringen Verantwortung mit sich, in den engeren Kreisen mehr als in den weiteren. Je weiter der Kreis wird, desto offener wird die Verantwortung, das heißt desto freier sind wir, wann
noch eine klare Schuld zuweisen? Worin genau besteht individuelle Verantwortung? Und wie weit reicht sie? Bis an die Grenze Europas, bis Syrien, oder gilt sie weltweit? Fragen, die auch den Kieler Philosophen Ludger Heidbrink, Professor für Praktische Philosophie, beschäftigen. Angesichts der Ausdifferenzierung sozialer Systeme plädiert Heidbrink für eine klare Begrenzung der Verantwortung: Nur wenn der Raum der Verantwortung definiert ist, vermag der Mensch sie zu tragen. Der Saal in der Heeresbäckerei ist riesig, menschenleer und kalt. Bernhard Schlink friert. Wer ist dafür verantwortlich? Eine Frage, die direkt ins Thema führt.
und wo und wie wir ihr genügen. Meine Familie ist ein anderer Gegenstand der Verantwortung als die Universität, in der ich arbeite. Und die ist wieder etwas anderes als die Gesellschaft, die Nation. Dann kommt Europa, dann kommt die Welt. Wir leben in Verantwortungskreisen und die Intensität der Verantwortung nimmt von innen nach außen ab. Vorhanden ist sie aber überall. Ludger Heidbrink: Das größte Pro lem besteht meines Erachtens darin, b dass die Verantwortung uferlos geworden ist. Diese Entgrenzung führt dazu, dass wir nicht mehr genau sagen können, für >>>
Ludger Heidbrink Ludger Heidbrink ist Professor für Praktische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Direktor des Center for Responsibility Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Zur Ethik der Verantwortung hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a. „Kritik der Verantwortung“ (Velbrück, 2003) sowie „Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung“ (Kadmos, 2007)
Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 61
78 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2016
Illustration: Pablo Pasadas/Colagene; Bildvorlage: akg-images
Ideen
Der Klassiker
Kierkegaard und die
EXISTENZ
Für welche Existenzweise soll ich mich entscheiden? Das ist
die fundamentale Herausforderung, der jeder Mensch gegenübersteht. Es handelt sich um eine radikale Wahl, die das gesamte Leben betrifft. Das Schwindelgefühl, das uns angesichts dieser Frage erfasst, hat Søren Kierkegaard (1813–1855) mit Leib und Seele durchlebt. Er, der sich gegen eine Ehe mit seiner Geliebten Regine Olsen entschied und die Trennung bis zu seinem Tod betrauerte, unterscheidet verschiedene Arten des Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt. Er nennt sie die „Stadien“ der Existenz. Philippe Chevallier führt uns in die Ref lexionen des dänischen Philosophen über das ästhetische, ethische und religiöse Stadium ein und weist speziell auf Kierkegaards Lob der Ehe hin, für den Denker der Inbegriff des verantwortungsvollen Lebens. Im Beiheft stellt Vincent Delecroix Kierke gaards Werk „Entweder – Oder“ vor und legt dar, was es heißt, seine eigene Existenz anzunehmen. Ob wir nach der Lektüre endlich wissen, wie wir leben wollen?
Philosophie Magazin Nr. 04 / 2016 / 79
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