Nr. 4 / 2020

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Nr. 04 / 2020  – Juni / Juli

Magazin

Kollapsologie

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D 7,90 € Ö 8,50 € CH 14,50  SFr Benelux 8,50 €

Sind wir bereit für eine neue Zeit ? Impulse zur Coronakrise

Mit Hartmut Rosa, Rahel Jaeggi, Reinhard Merkel u. a. Rutger Bregman im Interview: Warum der Mensch gut ist

Susan Sontag und der Stil Dossier und Sammelbeilage


Mit Beiträgen von

S. 24

S. 34

Rutger Bregman

Jan Kollwitz

„Im Grunde gut“: So lautet Rutger Bregmans Diagnose des menschlichen Wesens – und auch der Titel seines Bestsellers (Rowohlt, 2020). Er ist überzeugt: Eine pessimis­ tische Sicht auf den Men­schen dient den Herrschenden. Nur wenn wir diesen Pessimismus aufgeben, kann sich die Welt zum Besseren wandeln. Bregman ist Historiker und einer der bekanntesten jungen Denker Europas.

In Zen-buddhistischer Tradition fertigt Jan Kollwitz Teekeramik in aufwendigster Handarbeit und brennt sie in einem bis zu 1300 Grad heißen Anagama-Ofen. Svenja Flaßpöhler stellt den Künstler und Urenkel der berühmten Grafikerin Käthe Kollwitz vor. Porträt über einen Mann, der seinen eigenen Weg zwischen dem künstlerischen Vermächtnis der Großmutter und der Autorität seines Vaters sucht.

S. 11

Rahel Jaeggi

„Die Coronakrise ist die ­Krise einer Lebensform“ S. 40

Timothy Morton Eine Neubestimmung ökologischen Denkens ist sein zentrales Anliegen. Im Titeldossier erklärt er, warum Kunstwerke und „Hyperobjekte“ wie das Coronavirus uns im Kampf gegen den Klimawandel mehr helfen als Daten und Statistiken. Morton ist Professor für Englische Literatur an der Rice-­ University in Houston und hat vielfach zum Thema publiziert. Sein Buch zum Thema: „Ökologisch sein“ (Matthes & Seitz, 2019).

Impulse zur Coronakrise: Rahel Jaeggi ist Professorin

Elisabeth von Thadden für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu

Körperkontakt kann angenehm, aber auch eine Zumutung sein. Elisabeth von Thadden spricht in der Rubrik Leben über den ambivalen­ten Charakter menschlicher Be­rührung und denkt über die Frage nach, was die gegenwärtigen Kontaktbeschränkungen für uns bedeuten. Von Thadden ist Redakteurin bei der Wo­ chenzeitung DIE ZEIT und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Ihr Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ erschien bei C. H. Beck (2018).

Berlin. In der Arena analysiert sie, wie die Pandemie die Schwächen des Kapitalismus offenbart – aber auch die Möglichkeiten politischer Umgestaltung.

Die nächste Ausgabe erscheint am 09. Juli 2020 04

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020

Fotos: Marlena Waldthausen; Roman Pawlowski; privat (2); Gene Glover/Agentur Focus

S. 62


Juni / Juli

Dossier: Kollapsologie

Nr. 04 / 2020

Intro

03 Editorial 04 Beitragende

Arena

08 Denkanstöße 10 Impulse zur Coronakrise

Beiträge von Hartmut Rosa, Rahel S. 46 Jaeggi, Stefan Willer, Sabine Hark, Barbara Vinken, Anna-Verena Nosthoff & Was kommt nach dem Zusammenbruch? Dossier zu Kollapsologie Felix Maschewski, Reinhard Merkel 16 Sinnbild 18 Analyse Die Macht des vorpolitischen Raums Von Nils Markwardt 22 Fundstück Hannah Arendt: „Wir Flüchtlinge“ 24 Perspektive „Es liegt im Interesse der Herrschenden, die menschliche Natur für schlecht zu halten“ Interview mit Rutger Bregman 28 Dorn denkt Kann das weg? Kolumne von Thea Dorn

Leben Fotos: Benjakon; Stefanie Moshammer; Illustration: Fanny Michaëlis

32 Weltbeziehungen

Lassie darf nicht sterben / Die neue Unsichtbarkeit / Finite Pool of Worry 34 Der Keramiker Jan Kollwitz im Porträt Von Svenja Flaßpöhler 38 Lösungswege Wann bin ich ganz ich? 40 „Unantastbarkeit ist eine Errungenschaft“ Gespräch mit Elisabeth von Thadden 44 Unter uns Die Sache mit den Passwörtern Kolumne von Wolfram Eilenberger

S. 40

Gespräch: Elisabeth von Thadden über die Ambivalenz menschlicher Berührung

48 Raus aus der Resignation Von Svenja Flaßpöhler 50 Meine Hoffnung Drei Menschen erzählen von Vorbereitung, Flucht und Gegenwehr Kommentiert von Florian Werner 54 Warten auf den Kollaps? Reportage von Jana C. Glaese 62 Wie kommen wir vom Wissen zum Handeln, Herr Morton? Interview mit Timothy Morton 64 Die neue Normalität Plädoyer von Nils Markwardt

Klassiker

68 Susan Sontag und der Stil

Essay von Marianna Lieder

74 Überblick

Was ist der Wiener Kreis?

76 Zum Mitnehmen

John Lockes „Dieselbigkeit“

78 Menschliches, Allzumenschliches

Comic von Catherine Meurisse

Bücher

82 Kurz und bündig

Kolumne von Jutta Person 83 Buch des Monats Lambert Wiesing: „Ich für mich“ Rezensiert von Thorsten Jantschek 84 Thema Drei Bücher zum Postheroismus Rezensiert von Josef Früchtl 86 Scobel.mag Kolumne von Gert Scobel

Finale

90 Ästhetische Erfahrung

Musik: Robot Koch / Kino: „Antebellum“ / Ausstellung: Das Universum der Dinge 92 Agenda 95 Spiel 96 Leserpost / Impressum 98 Phil.Kids

S. 24

Der Mensch, ein böser Wolf? Im Gegenteil, behauptet Rutger Bregman

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05



Arena

Raum für Streit und Diskurs

08

Denkanstöße

Impulse zur Coronakrise

10

Von Hartmut Rosa, Rahel Jaeggi, Reinhard Merkel und anderen

16

Sinnbild

18

Die Macht des vorpolitischen Raums Von Nils Markwardt

22

Fundstück

24

Foto: Andrea Mantovani/The New York Times/Redux/laif

Analyse

28

Hannah Arendt: „Wir Flüchtlinge“

Perspektive

Warum der Mensch gut ist Interview mit dem Historiker Rutger Bregman

Dorn denkt

Kann das weg? Kolumne von Thea Dorn

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Arena / Newsletter

Impulse zur Coronakrise Seit Beginn der Kontaktbe­ schränkungen begleiten wir unsere Leserinnen und Leser mit einem Newsletter und Impulsen von namhaften Denkerinnen und Denkern. Hier eine Auswahl Fotos von Alex Majoli

Notdürftiger Schutz: Absperrung in einem Bus in Catania, Sizilien im März 2020

Routinen

Handlungsmacht

Die Zukunft hängt von unserem Handeln ab. Der Soziologe Hartmut Rosa deutet die Coronakrise mit Hannah Arendts Begriff der Natalität In der Coronakrise sind die gesellschaftliche Verwirrung und die Deutungs­ spielräume groß. Klammert man das durch das Virus versursachte millionenfache menschliche Leid und die daraus hervorgehenden politischen, ökonomischen und sozialen Gefahren einmal aus und nimmt einen nüchternen gesellschafts10

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theoretischen Blick ein, lassen sich ein paar Dinge inzwischen aber als harte Fakten festhalten. Erstens: In der Welt der physischen und materiellen Bewegung, das heißt insbesondere der Produktion und des Verkehrs, lassen sich massive, globale Reduktionen von teilweise über 80 Prozent

des Volumens beobachten, und auch der Kultur- und Bildungsbetrieb ist vieler­­orts fast völlig zum Erliegen gekommen. Entschleunigung ist derzeit also ein makrosoziales Faktum, keine rückwärtsgewandte Fantasie, wie Kritiker behaupten. Zweitens: Diese Entschleunigung ist das Ergebnis politischen Handelns, und

Fotos: Alex Majoli/Magnum Photos/Agentur Focus

„Ein gesellschaftlicher Pfadwechsel ist möglich“


vielerorts des Handelns demokratisch gewählter Regierungen, kein Wirkmecha­ nismus der Viren; es handelt sich also um eine Erfahrung politischer Selbstwirk­ samkeit: Die Politik hat innerhalb weni­ger Wochen ungeahnte Handlungsmacht gegenüber der Eigenlogik der Finanzmär­kte, der großen Konzerne, der Geschäfts­­inte­­res­­sen et cetera gewon­­nen – allerdings auch gegen die Rechte der Bürger und Bürgerinnen. Diese Er­fahrung kontrastiert scharf mit der bisher dominanten Ohnmachtserfahrung an­gesichts der Klima­ krise, aber auch angesichts schreiend ungleicher Vermögens- und Verteilungsverhältnisse. Die Annahme, das nor­ma­tiv gebotene Primat der Politik könne gegenüber den Eigenlogiken funktiona­ler Differenzierung nichts mehr ausrichten, erweist sich damit schlicht als falsch.

Marktlogik

Drittens: Gesellschaften operieren im „Normalbetrieb“ gleichsam pfadab­ hängig, das heißt, in fast allen Bereichen herrschen festgelegte Regeln und Rou­ tinen, folgen wir im Handeln eingespielten und vorgegebenen Prozess- und Inter­ aktionsketten. Je komplexer eine Gesellschaft ist, umso schwieriger, gefährlicher und riskanter wird es, die eingefahrenen Gleise zu verlassen. Nun aber sind sehr viele Prozessketten unterbrochen, Routinen angehalten, die Räder still­ gestellt. Das ist ein historischer Ausnahme­ punkt, wie er nur selten erreicht wird. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Gesellschaft versuchen wird, nach dem Abflauen der Krise so schnell wie möglich in die alten Routinen und Gleise zurückzufinden, die Räder wieder anzuschieben. Dennoch stehen wir an einem „Bifur­

kationspunkt“, an dem ein gesellschaft­ licher Pfadwechsel möglich scheint. Wie es jetzt weitergeht, vermag kein so­ziologisches, ökonomisches oder zu­kunfts­wissenschaftliches Modell vorherzusagen, denn es hängt nicht von unserem Wissen, sondern von unserem Handeln ab. Dass wir Interaktionsket­ten nicht fort­setzen (oder wieder in Gang bringen) müssen, sondern neu anfangen, kreativ werden können: Dies ist nach Hannah Arendt das Spezifikum mensch­licher Handlungsfähigkeit. Sie nennt es Natalität.

Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Friedrich-­SchillerUniversität Jena und Direktor des Max-Weber-­ Kollegs der Universität Erfurt. 2018 erschien von ihm „Unverfügbarkeit“ (Residenz)

Vergesellschaftung

„Das TINA-Prinzip durchbrechen“ Die kapitalistische Lebensform schien lange alternativlos. Die Pandemie ­offenbart diese Annahme als Irrtum, behauptet Rahel Jaeggi Die Coronakrise ist die Krise einer Lebensform. Durch sie offenbart sich, welche strukturellen Defizite (aber natürlich auch Potenziale) unsere Gesellschaft hat. Dass ein neoliberal auf Gewinn ausgerichtetes und mit der Umstellung auf Fall­ pauschalen und ökonomische Effektivität kaputtgespartes Gesundheitswesen selbst in einem privilegierten Land wie Deutschland einer solchen Krise nicht in dem Maß gewachsen ist, wie es angesichts des Reichtums und des Ent­ wicklungsstands des Landes zu erwarten wäre, wird von vielen Experten immer wieder betont. Hier gibt es aber auch die Chance für ein Umdenken und die radikale Thematisierung des Problems: Man sollte, das hat selbst Macron angedeutet, die Gesundheit nicht dem Markt überlassen. Ebenso wie Bildung, Kultur, Wohnen handelt es

sich hier um Güter, denen der auf ökonomische Effizienz und Steigerung aus­ gerichtete Markt nicht gerecht werden kann. Das wäre eine der Lehren, die wir aus Corona ziehen könnten – etwas, das uns dazu veranlassen könnte und sollte, eine breite gesellschaftliche Diskussion über das Verhältnis von Markt, Staat und Formen der Vergesellschaftung des Eigentums zu führen. Es zeigt jedenfalls plastisch, dass die Ideologie des sich selbst regulieren­den Marktes und der Individualismus des „es gibt keine Gesellschaft, nur Indivi­ duen“ eben das ist: eine Ideologie, die es jetzt angesichts ihrer dramatisch zu­tage liegenden Konsequenzen zu hinterfragen gilt. Krisen sind der Moment, an dem sich eine kritisch gewordene Situation entscheidet – ein Umschlagspunkt. Die Chan-

cen für das Leben nach Corona liegen darin, solche Defizite breiter und radika­ler zu thematisieren, sie in Zusammenhänge zu stellen und politisch-­emanzipa­ tiven Gestaltungsspielraum einzufordern. Dies umso mehr angesichts der ver­ blüffenden Erfahrung, dass in einer solchen Situation eherne Gewissheiten, Praktiken, Regeln und Institutionen zusammen mit den Gewohnheiten unse­res Alltags kollektiv gekippt werden können. So paradox es klingen mag: Das TINA-Prinzip (There Is No Alternative) ist es, das wir angesichts des Corona-in­ duzierten Ausnahmezustands durchbrechen sollten.

Rahel Jaeggi ist Professorin für praktische Philosophie an der HU Berlin. Ihr Buch „Kritik von Lebensformen“ erschien 2013 bei Suhrkamp

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Arena / Perspektive Zivilisationskritik

Altruismus

„Es liegt im Interesse der Herrschenden, die menschliche Natur für schlecht zu halten“ Die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch sei, ist tief im westlichen Denken verwurzelt. Im Interview erläutert der Historiker Rutger Bregman, warum es sich hierbei um einen gefährlichen Irrglauben handelt Das Gespräch führte Dominik Erhard / Aus dem Englischen von Michael Ebmeyer / Illustrationen von Fanny Michaëlis

ist Historiker und einer der bekanntesten jungen Denker Europas. Der Niederländer wurde bereits zweimal für den renommierten European Press Prize nominiert, schreibt u.a. für die Washington Post. Nach

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seinem Buch „Utopien für Realisten“ (2017), das internationale Aufmerksamkeit erfuhr, erschien im März „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2020, beide bei Rowohlt)

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Philosophie Magazin: Herr Bregman, in Ihrem neuen Buch behaupten Sie, wir hätten ein grundlegend falsches Bild der menschlichen Natur. An­ders als wir uns gemeinhin einreden, seien wir nicht selbstsüchtig und gemein, sondern „im Grunde gut“. Was meinen Sie damit? Rutger Bregman: Ein treffendes Synonym für „im Grunde gut“ wäre „grundsätzlich wohlwollend“. Natürlich sage ich nicht, dass wir Menschen Engel seien. Wir sind zu grauenhaften Taten fähig, für die es im Tierreich nichts Vergleichbares gibt. Zum Beispiel habe ich nie ­davon gehört, dass ein Pinguin eine andere Gruppe von Pinguinen einsperrt und vernichtet. Solche Verhaltensweisen sind ausschließlich menschlich. Was ich zu sagen versuche, ist: Das, was Sie über andere Menschen vermuten, werden Sie auch von ihnen bekommen. Unsere Sicht auf die menschliche Natur gleicht oft e­ iner selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn wir also unsere Institutionen danach ausrichten, dass die meisten Menschen egoistisch seien, sollten wir uns

nicht wundern, wenn sie sich dementsprechend verhalten. Auf der anderen Seite fand ich eine Menge Belege dafür, dass Menschen in Extremsituationen ­dazu neigen, das zu tun, was als gut gilt. Haben Sie dafür ein Beispiel? Nach der Schlacht von Gettysburg im Amerikanischen Bürgerkrieg etwa waren 90 Prozent der Schusswaffen kaum benutzt und noch geladen, was darauf hindeutet, dass viele Soldaten sich außerstande fanden, auf andere Menschen zu schießen. Und auch wenn Soldaten heute „viel effektiver“ zum Töten ausgebildet sind und eine größere Distanz zwischen sich und ihren Opfern aufbauen können, tragen immer noch sehr viele von ihnen posttraumatische Belastungsstörungen von ihren Kriegseinsätzen davon. Das legt ebenfalls nahe, dass wir keine natürliche Neigung haben, Böses zu tun. Sie schreiben, es habe keine Kriege gegeben, ehe wir als Spezies sesshaft wurden, da Jäger und Sammler im Streitfall einfach in verschiedene

Autorenfoto: Marlena Waldthausen

Rutger Bregman


Richtungen gingen, anstatt einander zu töten. Hat also die Zivilisation uns verdorben? Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau wurde berühmt durch seine Überlegungen zum Menschen im präzivilisatorischen Zustand. In diesem Naturzustand, schrieb Rousseau, sei der Mensch grundsätzlich gut. Er wird oft als ein naiver Denker abgetan, der keinen realistischen Blick auf die menschliche Natur habe. Doch während ich „Im Grunde gut“ schrieb, gelangte ich an einen Punkt, an dem ich das Buch „Rousseau hatte recht!“ nennen wollte. Warum? Als ich mir den Forschungsstand der Anthropologie und Archäologie zur

mensch­­­­lichen Natur und zum menschlichen Leben vor der Sesshaftigkeit ansah und danach noch einmal Rous­seaus Essay zu den Ursprüngen der Ungleichheit las, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass er nicht falsch lag. Über Tausende von Jahren lebten wir als Jäger und Sammler, und es ging uns dabei ziemlich gut. Es gab so gut wie keine Infektionskrankheiten, wie zum Beispiel Covid-19 – eine Krankheit, die vermutlich von der Domestizierung von Tieren herrührt. Doch wir haben nun einmal diesen schweren Fehler gemacht, den Rousseau bereits benennt: Wir wurden sesshaft. Das war eine der größten, wenn nicht die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte. Sie hatte weniger Gleichberechtigung zur Folge, schlechtere Gesundheit,

„Das, was Sie über Menschen vermuten, werden Sie auch von ihnen bekommen. Unsere Sicht auf den anderen gleicht oft ­ einer selbsterfüllenden Prophezeiung“

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Leben

Zeit für existenzielle Fragen

Weltbeziehungen

32

Lassie darf nicht sterben / Die neue Unsichtbarkeit / Finite Pool of Worry

Porträt

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Die Schönheit des Rituals: Der Keramiker Jan Kollwitz

Lösungswege

38

Wann bin ich ganz ich?

Gespräch

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Elisabeth von Thadden: „Unantastbarkeit ist eine Errungenschaft“

Unter uns

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Die Sache mit den Passwörtern. Kolumne von Wolfram Eilenberger

Foto: Sian Davey

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Leben / Porträt

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Der Keramiker Er ist der Urenkel der Bildhauerin Käthe Kollwitz. Sein Weg führte ihn nach Japan, wo er die Zen-inspirierte Kunst der Keramik erlernte – und zu einer ganz eigenen, befreiten Lebensform fand. Jan Kollwitz im Porträt Von Svenja Flaßpöhler / Fotos von Roman Pawlowski

Jan Kollwitz bewohnt ein altes Pfarrhaus im kleinen Ort Cismar in Ostholstein unweit der Ostsee. Die Ausstellungsräume: hoch und hell. Wenige Stücke hat der gebürtige Berliner für die Präsentation ausgewählt, sorgsam arrangiert stehen verschiedene Gefäße und Teller auf niedrigen, mit Reismatten bedeckten Schränken, in einigen der Vasen: frische Blumen, blühende Zweige. Es ist kühl im Haus, er heize nicht viel, erklärt Jan Kollwitz, während er sich hinkniet, um den Kamin anzuzünden. Langsam dringt die Wärme bis zum großen Holztisch vor, auf dem eine Kanne mit grünem Sencha, Gebäck und zwei Tassen aus eigener Herstellung stehen. Schlicht ist die Schale, die Oberfläche ein wenig rau. Das liege an dem Ton, den er verwende. Er besitzt immer noch seine natürliche Körnung, denn nur so gewinnen die Gefäße beim Brennen ihre Farben, ihre Lebendigkeit. Deshalb lässt er sich den Ton so liefern, wie er aus der Grube kommt, und bereitet ihn in einem aufwendigen Verfahren von Hand selbst auf. Vier Wochen nimmt allein diese Arbeit in Anspruch. Ja, ergänzt er auf Nachfrage, er mache so gut wie alles allein. Nur das Befeuern des Anagama-Holzbrennofens, der eigens von einem japanischen Ofenbauer angefertigt wurde und gleich neben dem Haus steht, könne er nicht ohne Hilfe bewältigen. Der Brand dauert vier ganze Tage und Nächte, alle drei Minuten muss mit größter Sorgfalt und Sachkenntnis Holz nachgelegt werden. Und ach, fügt der 60-Jährige fast entschuldigend hinzu, auch bei der Vorbereitung des Holzes für den Brand holt er sich inzwischen Unterstützung. Aber natürlich lege er auch immer noch selbst Hand an. Jan Kollwitz, das wird schnell klar, mag die körperliche Arbeit. Mag die verschiedenen Abläufe, die Sorgfalt und das Können, die sie erfordern. Was er nicht mag, sind Situationen, in denen Menschen in seiner Nähe „einem das Gefühl geben, dass man alles falsch macht“, erklärt er, und fügt mit einem Lachen, das Ernsteres vermuten lässt, hinzu: „Manchmal gibt es solche Momente mit meinem Vater.“ Alle paar Jahre käme er vorbei, begutachte, beurteile, kritisiere, was der Sohn produziert. Doch, fügt dieser in seiner leisen Art hinzu, er sehe es ihm nach, begegne seiner besorgten „Härte“ mit „Sanftheit“. Auch, weil der Vater

dieses Haus immerhin vor nunmehr 32 Jahren für ihn gekauft und an seine Idee geglaubt habe. Jan Kollwitz stammt aus einer berühmten Familie. Sein Vater, Arne Kollwitz, ist der Enkel der Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz, eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, die in der DDR als Heldin verehrt wurde. 1933 hatte sie gemeinsam mit Heinrich Mann und vielen anderen bekannten Persönlichkeiten den „Dringenden Appell“ des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes“ (ISK) unterschrieben, der KPD und SPD zur geschlossenen Front gegen den frisch ernannten Reichskanzler Adolf Hitler bewegen wollte. Daraufhin wurde Käthe Kollwitz zum Austritt aus der Akademie der Künste gezwungen und 1936 mit einem faktischen Ausstellungsverbot belegt. Ihre künstlerische Arbeit verfolgte sie dennoch unbeirrt bis zu ihrem Tod weiter.

Das Erbe der Väter „Vordergründig war meine Jugend sehr durch die Väterseite der Familie dominiert“, erzählt der Urenkel, und wirft ein weiteres Scheit in den Kamin. Wie Arne Kollwitz waren auch dessen Vater Hans und Großvater Karl angesehene Mediziner, was offensichtlich Druck erzeugt hat. Und die Urgroßmutter? Nun, er, Jan, sei ganz selbstverständlich inmitten der Kunst von Käthe aufgewachsen. Im Haus seines Vaters hätten sich mehrere ihrer Skulpturen befunden, auch die berühmte „Mutter mit totem Sohn“, die ihrem im Ersten Weltkrieg gefallenen Kind Peter gewidmet war und heute als vergrößerte Kopie in der Berliner Neuen Wache steht. Die Kunst selbst habe ihn aber zunächst gar nicht so sehr interessiert, sondern vielmehr die Tagebücher seiner Urgroßmutter. „Imponiert hat mir ihre Haltung. Die Art, in der sie sich ihrem Schaffen gewidmet hat. Ihre Sturheit, auch nach dem Ausstellungsverbot weiterzumachen.“ Ja, es habe Momente in seinem Leben gegeben, in denen er darüber nachdachte, selbst als Bildhauer zu arbeiten. Aber der Weg sei natürlich durch Käthe verstellt gewesen. Wer dem Nachfahr der berühmten Künstlerin länger gegenübersitzt, dem kommt leicht ein bekannter Satz von Albert Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020

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Leben /   / Gespräch

„Unantastbarkeit ist eine Errungenschaft“ Abstand halten ist der Imperativ der Coronakrise. Was bedeutet Berührung für uns Menschen? Verstärkt das Virus das moderne Begehren nach Distanz? Ein Gespräch mit Elisabeth von Thadden Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Elisabeth von Thadden Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist verantwortlich für die philosophischen Seiten „Sinn & Verstand“ der Wochenzeitung DIE ZEIT. Ihr Buch ­ „Die berührungslose Gesellschaft“ erschien 2018 bei C. H. Beck

Philosophie Magazin: Frau von Thadden, das Coronavirus zwingt uns zum Abstandhalten. Warum fällt es uns eigentlich so schwer, auf körperlichen Kontakt, körperliche Nähe zu verzichten? Elisabeth von Thadden: Weil nur sie uns zweifelsfrei bestätigt, lebendig zu sein. Die anderen Sinne können trügen, so sagt es die Tastsinnforschung, doch Berührung täuscht nicht: Sie gibt uns die Gewissheit, nicht allein zu sein. Die Biochemie der Berührung von Haut 40

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lässt sich virtuell nicht ersetzen. Die soziale Natur des Säugetiers Mensch versichert sich der eigenen Existenz durch die physische Nähe zu anderen. Das ist das Urmotiv. Dann kommt hinzu, dass Berührung wohltuend wirken kann. Die Wohltaten sind in der Forschung vielfach belegt, und davon berichtet jeder Ratgeber: Sie senkt den Stresspegel, stärkt das Immunsystem, wirkt entzündungshemmend, nimmt die Angst. Sie löst die Anspannung. Man könnte also sagen, die alte Erzählung von der heilenden Kraft der Hände von Jesus von Nazareth wird heute durch diese wissenschaftliche Empirie bestätigt. Und, drittens, ist sie eine untrügliche Quelle der Erkenntnis: Die alte blinde Amme des Odysseus hat den Heimkehrer erkannt, indem sie seine Narbe berührte. Nun ist Distanz ja aber etwas, das der moderne, autonome, freiheitsliebende Mensch im Grunde


Foto: Stefanie Moshammer; Autorenfoto: privat

nervösen Reserviertheit als einer „latenten Aversion“ gesprochen. Das ist fantastisch gut beobachtet oder zumindest präzise geahnt: Jede der flüchtigen Berührungen unter Fremden kann ja auch in Hass und Gewalt umschlagen. Der moderne Mensch braucht leibseelische „Bewegungsfreiheit“, um nicht durch plötzliche unkontrollierbare Nähe verletzt oder vereinnahmt zu werden. Er muss sich jederzeit entziehen können. Das ergibt eine zwiespältige Lage: Der Stress, der durch das Gefühl der Bedrängtheit entsteht, aus der man entkommen will, geht mit der Angst vor Einsamkeit einher. Es ist eine intellektuell höchst fruchtbare Klemme, in die das moderne Subjekt gerät.

durchaus befürwortet, wie Sie in Ihrem Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ zeigen. Woran machen Sie das fest? Literatur, Filmkunst, Philosophie wimmeln geradezu von Belegen, die das Rückzugsbedürfnis des Einzelnen dokumentieren. Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ ist der klassische Ausdruck dafür. Erst in der Distanz zu anderen ist die eigene unverwechselbare Individualität spürbar, und sie ist die bis heute gültige Währung an allen Märkten der Aufmerksamkeit, des emotionalen Kapitals und der Anerkennung. Ich finde immer noch unübertroffen, was der Kulturphilosoph Georg Simmel in seinem Essay über die Großstadt und das Geistesleben 1903 auf den Punkt gebracht hat: Das Individuum will seine Eigenart gegen die Übermacht der Gesellschaft bewahren, es muss sich abgrenzen, um sich als widerständig zu spüren. Simmel hat von der modernen Haltung der

Sie schreiben auch, dass der einzelne Mensch – zumindest in westlichen Industrienationen – noch nie zuvor in der Geschichte so viel Wohnraum für sich allein hatte. Woher rührt dieses Bestreben, sich andere Menschen, wie man so schön sagt, von der Pelle zu halten? Ungestört zu sein, die Tür zuzumachen, Ruhe zu erleben: Das sind die großen Sehnsüchte der empfindungsfähigen Moderne. Besonders weiblicherseits und im Blick auf Kinderrechte heißen die modernen Utopien, nicht länger in Duldungsstarre eine Zwangsgemeinschaft ertragen zu müssen mit Leuten, die man nicht riechen kann und die einen nicht dauernd anfassen sollen, schon gar nicht verprügeln. Die Geschichte dieser Sehnsucht fängt irgendwann um 1750 an, als der Körper beginnt, so etwas wie eine separate Würde zu haben, wie es die Historikerin Lynn Hunt darstellt. Der Soziologe Norbert Elias datiert diese Geschichte zwar früher, aufs späte Mittelalter, aber unter dem Strich läuft es auf dasselbe hinaus: Mehr und mehr Leute des entstehenden Stadtbürgertums haben separate Schlafzimmer. Der räumliche Abstand zwischen den Körpern geht in einer langen modernen Geschichte der Indivi­ dualisierung und des Wohlstands mit einer ebenso modernen Idee des Rechts auf Unversehrtheit einher, die zusammen dafür sorgen, dass die Wohnfläche pro Kopf wächst. Raus aus den erzwungenen Bindungen, rein in eine Wohnung, in der einen keiner mehr unerbeten stört: Dieser Prozess findet jetzt weltweit statt. In China etwa stieg in den Städten, trotz Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020

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Dossier

Kollapsologie – Sind wir bereit für eine neue Zeit? 48

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Meine Hoffnung

Drei Menschen erzählen von ihrem Umgang mit drohenden Katastrophen

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Reportage

Warten auf den Kollaps? Porträt einer neuen ­Denkbewegung Von Jana C. Glaese

Interview

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Wie kommen wir vom Wissen zum Handeln, Herr Morton?

Plädoyer

Die neue Normalität Essay von Nils Markwardt

Foto: Benjakon

Pandemien sind ein Glied in einer Ereigniskette, die in naher Zukunft zum Zusammenbruch f­ ührt: So behauptet eine neue Bewegung namens Kollapsologie. Wie leben, wenn es die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr geben wird? Und wie denken wir das Danach?

Intro

Raus aus der Resignation Von Svenja Flaßpöhler

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Warten auf den Kollaps?


Dossier

Kollapsologie

Eine Bewegung aus­ ­Frankreich bereitet sich auf den Zivilisationszusammenbruch vor. Ihre Anhänger nennen sich Kollapsologen. Den Kollaps zu berechnen, um gewappnet zu sein, ist ihr Anspruch. Wie plausibel sind die Prognosen? Und wie hilfreich für die Zukunft? Von Jana C. Glaese / Mitarbeit Alexandre Lacroix / Illustrationen von Tina Berning

Autorinnenfoto: privat

Jana C. Glaese ist Soziologin. Sie studierte in Maastricht und Cambridge und promoviert derzeit an der New York University

„Schwerwiegende und irreversible systematische Schocks könnten sehr wohl bereits morgen auftreten“, schreiben die Namensgeber der Bewegung, Pablo Servigne und Raphaël Stevens. Der Zeitpunkt eines Zusammenbruchs im großen Maßstab, heißt es weiter, scheine viel näher zu sein, als man sich das normalerweise vorstelle. Die Coronapandemie kommt für die Kollapsologen vermutlich kaum überraschend. Sie zeigt, wie anfällig unsere Gesellschaft längst ist. Servignes und Stevens’ Buch „Wie alles zusammenbrechen kann“ (auf Französisch 2015 bei Seuil erschienen) wurde ein Bestseller. Im Gegensatz zu Fridays for Future fordern die Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020

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Klassiker / Dossier

Susan Sontag und der Stil Stil ist alles, schrieb Susan Sontag in ihren „Anmerkungen zu ‚Camp‘“. ­Darin huldigt sie dem modernen Dandy als radikalem Ästheten und Zeitge­nossen. Sein Blick auf die Welt und die neue Massenkultur ist so naiv wie ironisch, demokratisch und versnobt zugleich. 1964 brach der Camp-Essay mit reichlichen Tabus und machte Sontag zum intellektuellen Star. Wie weit kommt man damit heute?

Unter den US-Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gilt Susan Sontag als glanzvolle Verkörperung des europäischen Geistes. Alles, was in Buch- oder Filmform vom alten Kontinent kam, wurde von ihr umgehend okkupiert. Sartre, de Sade, Gide, Simone Weil, Cioran, Barthes, Dostojewski, Tolstoi, Kleist, Thomas Mann, Canetti, Benjamin, Ingmar Bergmann, Godard waren maßgeblich an der Sozialisation ihres Denkens beteiligt. Ihr Leben hingegen lässt sich als mustergültige Verwirklichung des amerikanischen Traumes erzählen, als intellektuelle Variante der „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Saga. Sontag selbst hat diese Erzählung kultiviert – besonders ausdauernd in Zeiten, in denen sie wegen ihrer zornigen Kritik am Bush-Regime als USA-Hasserin beschimpft wurde: Das Amerikanische an mir, verriet sie in einem ihrer zahlreichen Interviews, ist mein Ehrgeiz, mich immer wieder neu zu entwerfen und zu erfinden. Sie fing früh damit an und verfuhr mit maximaler Unbeirrbarkeit: Mit 16 befreite sie sich aus der kalifornischen Mittelschichtsdepression, die sich notdürftig hinter der Fassade der all-american family verbarg. Sie stürzte sich ins akademische Campus-Leben und lud sich beim alten Thomas Mann, der im Exil in Los Angeles residierte, selbst zum Tee ein. Mit 17 hei68

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ratete sie den Soziologen Philip Rieff, nur wenige Tage nachdem sie ihn kennengelernt hatte. Mit 19 wurde sie Mutter. Mit 25 akzeptierte sie in Paris ihre Bisexualität. Mit 26 reichte sie die Scheidung ein und zog – mit Kind und ohne Geld – nach New York, dem Sehnsuchtsort aller aufstiegswilligen Selbsterfinder. Passenderweise war die Metropole um 1960 ebenfalls dabei, sich eine neue Gestalt zu verleihen. Der Journalist Daniel Schreiber, Verfasser der ersten umfassenden Sontag-Biografie, hat die eigentümliche Aufbruchsstimmung im New York jener Zeit plastisch werden lassen. Demnach waren die Voraussetzungen für ein Boheme-Leben so günstig wie nie zuvor. Die Wirtschaft befand sich im Aufschwung, die Kunstund Literaturszene boomte, die Mieten waren niedrig. Aus den Altbauten von Manhattan, in denen sich Maler, Schriftsteller, Musiker und jene, die sich dafür hielten, versammelten, drängte die Subkultur unaufhaltsam hinaus in den Mainstream. Der Geist der Rebellion und der Emanzipation trat seinen gesellschaftlichen Siegeszug an. Mit der Verabschiedung des Civil Rights Act wurde die Rassentrennung, zumindest auf dem Gesetzespapier, aufgehoben. Andy Warhol machte billige Tomatensuppen-Dosen aus dem Supermarkt zu einem der bekanntesten

Foto: Ullstein Bild/Roger-Viollet/Jean-Régis Roustan

Von Marianna Lieder


Steckbrief: Susan Sontag Hauptberuf Essayistin, Schriftstellerin, Regisseurin, Ikone der Intensität mit beachtlichem Glamour-Faktor. Sontag zählte zu den einflussreichsten US-amerikanischen Stimmen ihrer Zeit. Sie schrieb über Literatur (insbesondere europäische), Popkultur, Religionsphilosophie, Film, Fotografie, Pornografie, Politik, Krieg, Krankheit, Malerei und Medien. Sie kämpfte für Menschenrechte, inszenierte in Kriegsgebieten Theaterstücke und übte zornig Kritik an der Bush-Regierung.

Nebentätigkeit Charismatische Kamerapräsenz. Sontag gab unzählige TV-Interviews, zierte als Covergirl die Titelseiten von Modemagazinen, ließ sich als Werbegesicht für „Absolut Vodka“ ablichten und spielte sich in Filmen von Woody Allen und Andy Warhol selbst. 1988 lernte sie die Starfotografin Annie Leibovitz kennen, deren Lebensgefährtin und bevorzugtes Model sie wurde. Auch Krankheit und Tod Sontags wurden von Leibovitz mit der Kamera dokumentiert und in einem umstrittenen Fotoband öffentlich gemacht.

„Interpretation ist die Rache des IntelleKts an der Kunst“ unst – Kunst und Antikunst

Leben 1933 Geburt am 16. Januar als Susan Rosenblatt in Manhattan, New York 1949 Die junge Sontag besucht den alten Thomas Mann im kalifornischen Exil 1964 Veröffentlichung von „Notes on ‚Camp‘“. Der Text macht Sontag berühmt 1978 „Krankheit als Metapher“ erscheint 1993 Im belagerten Sarajevo inszeniert Sontag Becketts „Warten auf Godot“

Freunde

Thomas Mann (1875–1955): Die Begegnung mit dem bewunderten Schriftsteller, 1949 in Kalifornien, fiel für Sontag ernüchternd aus. Doch Manns „Zauberberg“ blieb für sie das „wichtigste Buch meines Lebens“. Joseph Brodsky (1940–1996): Dichter und Literaturnobelpreisträger, nach einer kurzen Affäre mit Sontag wurde er zu einer ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Roger Straus (1917–2004): Sontags einflussreicher New Yorker Verleger trug dazu bei, dass sie in den 1960ern als neuer Stern am Intellektuellenhimmel aufging.

„Die Wahrheit ist etwas, das gesagt werden muss, nicht etwas, das bekannt ist“

2004 Tod am 28. Dezember in New York

– Der Wohltäter

Feinde

Camille Paglia (*1947): Die Kulturtheoretikerin brachte 1994 ihre Enttäuschung über die einst von ihr verehrte Intellektuelle zum Ausdruck. „Sontag, bloody Sontag“ („Sontag, verdammte Sontag“), so der Titel der bitterbösen Abrechnung. Tom Wolfe (1930–2018): Auch der Erfinder des New Journalism äußerte sich abfällig. Sontag gehöre zu jener Sorte von „Schreiberlingen, die keine Petition auslassen, sich zu jedem Podium schleppen und schwerfällige Prosa schreiben“.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020

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