Nr. 3 / 2020

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Nr. 03 / 2020  – April / Mai

Magazin

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D 7,90 € Ö 8,50 € CH 14,50  SFr Benelux 8,50 €

Eigentum verpflichtet –

Schelling und die Klimakrise

Dossier und Sammelbeilage

Comeback der Psychedelika Substanzen der Wahrheit?

Mit

T H O M AS PIKETTY im Interview

aber wozu?

Giulia Enders und Gernot Böhme:

Die Lehren des Leibes


Mit Beiträgen von

S. 16

Giulia Enders

Susanne Schmetkamp

Ihr Buch „Darm mit Charme“ (Ullstein, 2014) war ein Welterfolg. Eindringlich wie anschaulich schildert die Ärztin das oft unterschätzte Organ als zentralen Schlüs­sel zu Körper und Geist. Im Dialog mit dem Philoso­phen Gernot Böhme spricht Enders über das Verhält­nis von Leib und Seele, die Tücken der Selbstbeobachtung und den „metaphysischen Rest“ in der Medizin.

In ihrer Reportage schildert sie ihren Selbstversuch mit Ayahuasca – und stellt die ­­ „Be­wusstseinserweiterung“ durch Psychedelika auf die erkenntnistheoretische Probe. Ermöglichen solche Substanzen einen ganz neuen Zu­gang zu Welt und Selbst? Sollten sie gar legalisiert werden? Susanne Schmetkamp arbeitet als Research Group Leader an der Universität Fribourg (Schweiz).

S. 54

Thomas Piketty

S. 24

S. 63

Catherine Newmark

Werner Plumpe

Autorität, das klingt nach Putin und Orbán, nach Patriarchat und überholten Erziehungsmethoden. Catherine Newmark, promovierte Philosophin und Chefredakteurin unserer Sonderausgaben, plädiert in ihrem neuen Buch „Warum auf Autoritäten hören?“ (Dudenverlag, 2020) für ein positives Verständnis dieses Begriffs: Gute, moderne ­Autorität in ihrer Tiefen­ struktur sei vor allem eines: weiblich. In der Arena ­präsentieren wir einen ex­ klusiven Vor­abdruck.

Der Historiker lehrt als Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der ­Goethe-Universität in Frankfurt. Zuletzt veröffentlichte er das viel be­achtete Buch „Das kalte Herz: Kapitalismus. Die Geschich­te einer andauernden Revolution“ (Rowohlt, 2019). In unserem Titeldos­sier reagiert er auf die Thesen Thomas Pikettys. Seine Kritik: Der französische Ökonom übersehe, dass Vermögens­ ungleichheit eine Voraussetzung für notwendige Inves­ titionen sei – und damit für Massenwohlstand.

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„Ich bin überzeugt, ­ dass man den Kapitalismus überwinden kann“ Dossier: Eigentum verpflichtet – aber wozu? Soeben ist mit „Kapital und Ideologie“ das neue Werk des französischen Ökonomen und Bestsellerautors erschienen. Warum eine grundlegende Transformation unserer Eigentumsverhältnisse notwendig ist, erklärt Thomas Piketty im Gespräch.

Die nächste Ausgabe erscheint am 07. Mai 2020

Fotos: Julia Sellmann; Eline Keller-Sørensen; Johanna Ruebel; Uwe Dettmar/Forschungskolleg Humanwissenschaften; Audoin Desforges/Pasco & Co

S. 38


Dossier: Eigentum verpflichtet – aber wozu?

April / Mai Nr. 03 / 2020

48 Die sichtbare Hand des Marktes Von Nils Markwardt 52 Wem gehört die Schlossallee? Historischer Überblick zum Besitz 54 „Eigentum muss permanent umverteilt werden“ Interview mit Thomas Piketty 62 Haben Sie das bedacht, Herr Piketty? Kommentare von Werner Plumpe, Stefan Gosepath, Tilo Wesche

Intro

03 Editorial 04 Beitragende

Fotos: Paolo Woods & Gabriele Galimberti aus der Serie „The Heavens“; Christopher Anderson/Magnum Photos/Agentur Focus; Illustration: Julia Praschma/Wildfoxrunning

Arena

08 Denkanstöße 10 Einwurf China: Der Bote als Erreger / Liberalismus: Freiheit zum Verzicht / Verschleierung: Die Wiederkehr der Physiognomik 14 Sinnbild 16 Reportage Substanzen der Wahrheit? Von Susanne Schmetkamp 22 Fundstück Corona: unter Kontrolle Michel Foucault: „Überwachen und Strafen“ 24 Vorabdruck Autorität ist weiblich Von Catherine Newmark 26 Dorn denkt Bürger aller Länder, vereinigt euch! Kolumne von Thea Dorn

Leben

30 Weltbeziehungen Heilsame Helden / Grübelstopper / Parkinsons Gesetz 32 Das Model Catharina Geiselhart im Porträt Von Theresa Schouwink 36 Lösungswege Müssen wir Ordnung halten? 38 Die Lehren des Leibes Dialog zwischen Giulia Enders und Gernot Böhme 44 Unter uns Die Sache mit dem Multi-Anti-Tasking Kolumne von Wolfram Eilenberger

S. 46

Freiheitsbedingung oder Quelle allen Übels? Dossier über Eigentum

Klassiker

68 Schelling und die Klimakrise

Essay von Peter Neumann 74 Überblick Was ist Kynismus? 76 Zum Mitnehmen Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ 78 Menschliches, Allzumenschliches Comic von Catherine Meurisse

Bücher

82 Kurz und bündig

S. 16

Reportage: Mit Psychedelika zu wahrer Selbsterkenntnis?

Kolumne von Jutta Person 83 Buch des Monats Michael Hampe: „Die Wildnis – Die Seele – Das Nichts“ 84 High Noon in Todtnauberg Paul Celan und Martin Heidegger 86 Scobel.mag Kolumne von Gert Scobel 90 Thema Zaudern Deutsche anders?

Finale

92 Ästhetische Erfahrung

S. 38

Die Lehren des Leibes: Giulia Enders und Gernot Böhme im Dialog

Musik: Billie Eilish / Kino: „La vérité“ / Ausstellung: Vernunft geht durch den Magen 94 Agenda 96 Leserpost / Impressum 98 Phil.Kids

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Arena

Raum für Streit und Diskurs

08

Denkanstöße

10

Einwurf

Der Bote als Erreger / Freiheit zum Verzicht / Die Wiederkehr der Physiognomik 14

Sinnbild

16

Reportage

Substanzen der Wahrheit? Selbstversuch zur erkenntnistheore- tischen Kraft von Psychedelika

22

Corona: unter Kontrolle Michel Foucault: „Überwachen und Strafen“

24

Fundstück

Vorabdruck

Autorität ist weiblich Von Catherine Newmark

26

Dorn denkt

Bürger aller Länder, vereinigt euch! Kolumne von Thea Dorn

Foto: Benjakon

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Arena / Denkanstöße Nahaufnahme

These

Danke für die Blumen Dass Susanne Hennig-Wellsow dem Ministerpräsidenten Thüringens einen Blumenstrauß vor die Füße warf, war alles andere als eine kindische Geste

„Die westliche Weltordnung ist gescheitert“ Autor: Zhao Tingyang, Professor für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in Peking

Buch: „Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“ (Suhrkamp, 2020)

Beispiel: Wer die Welt als Verbund denkt, erkennt, dass nationale Interessen, Rassismus und Glaubenskriege das Produkt künstlich geschaffener Spaltungen sind.

Einwand:

K

urz nachdem sich Thomas Kemmerich (FDP) Anfang Februar mit den Stimmen der AfD zum thüringischen Ministerpräsidenten hatte wählen lassen, schritt Susanne Hennig-Wellsow, Fraktionsvorsitzende der Linken, zur obligatorischen Gratulation. Sie verbeugte sich zwar, warf ihm dann aber den Blumenstrauß vor die Füße. Manche Beobachter fanden diese Geste „kindisch“, ja gar eine „Schande“. Dabei war sie das Gegenteil: eine angemessene Reaktion darauf, dass nach Kemmerichs Pakt mit den Rechtsextremen zwei Grundbedingungen einer demokratischen Regierung auseinanderklafften: Legalität und Legitimität. In seinem gleichnamigen Buch hatte der Rechtsphilosoph und spätere „Kronjurist des Dritten Reiches“ Carl Schmitt 1932 bereits auf die Möglichkeit dieser Lücke hingewiesen. Demnach könne eine Regierung zwar legal sein, weil sie gemäß den rechtlichen Re-

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geln zustande kam, aber gleichzeitig illegitim, weil sie gegen moralische Prinzipien verstößt. Schmitt stellte die Legitimität klar über die Legalität, weshalb er die ihm verhasste Weimarer Republik zugunsten einer Diktatur abschaffen wollte. Demokraten hingegen wollen das eine nicht zugunsten des anderen abschaffen, sondern beides zur Deckung bringen. So erkennt die linke Politikerin Kemmerichs Legalität durch ihre Verbeugung zwar an, spricht ihm mit der Blumenstrauß-Geste jedoch die Legitimität ab. Genau das ist der demokratisch einzig gangbare Weg: Während die rechtlichen Normen respektiert werden, empört man sich über das moralische Defizit ihrer konkreten Anwendung. Hier auch mit Erfolg. Weil der Protest gegen Kemmerich bundesweit anschwoll – nicht zuletzt durch Verbreitung der Blumenstrauß-Geste im Netz –, musste der FDP-Mann 24 Stunden später seinen Rücktritt verkünden. (nm)

Menschenrechte sind für Zhao problematisch und Demokratie zu voraussetzungsreich. Bisweilen liest sich der Text wie eine Rechtfertigung für Chinas Expansionspolitik. Zahl

6 Prozent Um diesen Anteil verringert sich die Suizidrate bei Erhöhung des Mindestlohns um 1 Dollar in den USA laut einer Studie im Journal of Epidemiology & Community Health. Sie liefert den Beweis für Jean-Paul Sartres Konzept des „einzelnen Allgemeinen“: Die Gründe für psychische Leiden sind oft nicht im Einzelnen, sondern vielmehr in den sozial erzeugten, materiellen Lebensumständen zu suchen. (jw)

Fotos: picture alliance/Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa; picture-alliance; picture-alliance/dpa; picture alliance/Reinhard Dirscherl; Illustration: Jindrich Novotny

Argumentation: Weil westliche Staaten auf Konkurrenz ausgerichtet sind, können globale Konflikte nicht beigelegt werden. Die Lösung ist die Wiederbelebung einer chinesischen Weltordnung, die Koexistenz ins Zentrum stellt.


Lexikon

Ferngespräch

Markus Söder

bayerischer Ministerpräsident und CSU-Parteivorsitzender, FAZ online

18.01.2020

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Künstliche Intelligenz wie jeder technische Fortschritt in der Geschichte am Ende das Leben besser, sicherer und interessanter machen wird.

Als ein Universum von Mitteln kann die Technik ebenso die Schwäche wie die Macht des Menschen vermehren. Auf der gegenwärtigen Stufe ist er vielleicht ohnmächtiger als je zuvor gegenüber seinem eigenen Apparat. 1964

Herbert Marcuse Philosoph, Politologe und Soziologe, „Der eindimensionale Mensch“

Novum

Seismischer Sound

I

n weiten Teilen der Welt wurde 2018 ein dumpfes Summen vernommen. Woher es kam, blieb ein Rätsel. Nun hat das Deutsche Geoforschungszentrum herausgefunden: Das Geräusch kündigte weder die Apokalypse noch eine außerirdische Invasion an, sondern die Geburt eines Vulkans. Indem Magma aus einem riesigen Reservoir unter dem Meeresboden des Indischen Ozeans austrat, sackte dessen Kammerdecke ein. Dies erzeugte den Ton, der die Menschen erschauern ließ. Der Filmtheoretiker Michel Chion nennt den abwesenden Körper eines Klanges „Akusmeter“. Die Unzuordenbarkeit erzeugt ein unheimliches Gefühl und gilt daher als beliebtes Stilmittel des Thrillers. Nun aber sind die Nerven wieder beruhigt,

der Vulkan als Körper der Stimme identifiziert. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, auch zukünftig von Akusmetern erschreckt zu werden. Offensichtlich bietet auch die Realität Thrillerpotenzial. (jw)

Tier ethik ( f ); Ein britisches Gericht urteilt, dass ethischer Veganismus ein philosophischer Glaubenssatz ist Ethischer Veganismus genießt als philosophischer Glaube – wie eine Religion – Diskriminierungsschutz am Arbeitsplatz. Die Präzedenzentscheidung des Gerichts im ostenglischen Norwich zeigt: Veganismus ist mehr als ein Ernährungstrend – er zielt auf ethische Fragen. Tierethik entsteht in der Neuzeit und muss sich gegen die von der Antike über das Christentum reichende Tradition der Abwertung des Tieres durchsetzen. So begreift René Descartes das Tier noch als vernunftlose Maschine. Erst 1975 verweist Peter Singer auf die zur Achtung ihrer Interessen verpflichtende Leidensfähigkeit des Tieres. Für das Gericht ist relevant, dass der Veganismus des Klägers ein Glaubenssystem ist. Dieses System beeinflusst alle Entscheidungen von Essen über Kleidung bis hin zu Rentenfonds. Der Platz handlungsweisenden Glaubens wird in säkularisierten Zeiten längst nicht mehr nur von der Religion eingenommen; gleichzeitig wird der Radius zu schützender Spezies zunehmend ausgeweitet. Ob klimasensibles Verhalten auch bald vor Diskriminierung geschützt wird? (jw) Philosophie Magazin Nr. 03 / 2020

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Arena / Reportage Drogen

Bewusstsein

Substanzen der Wahrheit? Psychedelika werden derzeit wiederentdeckt. Führt ihre Einnahme nur zu Halluzinationen? Oder ermöglichen sie vielmehr tiefe Erkenntnis über Welt und Selbst – was gar für eine Legalisierung spräche? Unsere Autorin hat den Selbsttest gewagt Von Susanne Schmetkamp / Illustrationen von Julia Praschma

Die promovierte Philosophin forscht als Research Group Leader zur „Ästhetik und Ethik der Aufmerksamkeit“ an der Universität Fribourg (Schweiz). Sie hat über „Respekt und Anerkennung“ in Bonn promoviert. Neben ihrer akademischen Tätigkeit arbeitet sie als Journalistin und Moderatorin

Und dann bin ich plötzlich ein Panther. Ich stelle mir nicht bloß vor, einer zu sein, ich bin einer oder vielmehr: schlüpfe in seine Haut. Tatze für Tatze schreite ich auf allen Vieren, die Würde und Eleganz dieses Raubtiers am eigenen Leib spürend, durch den Raum. Später werde ich mich an Thomas Nagels Essay „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ erinnern: Wir können nicht auf dieselbe Weise wahrnehmen, fühlen, wissen wie andere Lebewesen, führte der US-amerikanische Philosoph 1974 aus und wies auf die Grenzen der Einbildungskraft und der Perspektiveneinnahme hin. Wir können nicht in Kopf und Körper eines anderen schlüpfen. Ebenso wenig können wir jemals der andere sein. Oder doch? Manche Erfahrungen, wie die beschriebene, können diese scheinbar unumstößliche Wahrheit infrage stellen. Es gibt „Pforten der Wahrnehmung“, wie es bei Aldous Huxley heißt, die aufgestoßen werden können und uns neue Perspektiven auf eine Weise eröffnen, wie wir es aus rationaler Sicht niemals für möglich halten würden. Was war geschehen? Nun, ich hatte mich auf eine Reise begeben, die derzeit offenbar sehr viele antreten; mein Motiv war, zu sehen, was dabei philosophisch zu holen sei. Die Rede ist von Psychedelika. In dem Fall: Ayahuasca, ein pflanzlicher Sud aus Lianen und Blättern eines Kaffeestrauchs der Amazonas-Gebiete. Eine Erfahrung bei dem Seminar war, dass ich mich in einen Panther verwandelte, eine bei diesem Ri16

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tual nicht unübliche „Vision“. Und obwohl es immer noch gute Gründe gibt zu argumentieren, dass ich hinter der vollen Wahrheit, wie es bei Nagel heißt, zurückblieb und nicht wirklich wusste, wie es ist, ein Panther zu sein, so wurden die Grenzen meiner Vorstellungskraft gesprengt wie nie zuvor. Ich hatte mindestens ein tiefes Erlebnis der Stärke und Bewegung dieses Tieres und nahm diese in mich auf. „Das Bedürfnis, das Bewusstsein zu erforschen, ist in allen Kulturen verankert“, sagt Manuel (54), Leiter meines Ayahuasca-­ Seminars. Nur hätten die westlichen Gesellschaften das lange Zeit vernachlässigt. Der Spanier führt die 20-köpfige Gruppe mit Meditation, Achtsamkeitspraktiken und Musik an die Erfahrung heran, die in der Regel fünf bis acht Stunden dauert. Wir alle verbringen drei Tage und zwei Nächte in einem großen Raum. 20 Matten sind mit nur wenigen Abständen zueinander verteilt, jeder hat sich Kissen und Decken bereitgelegt, sich eine ihm angenehme Liegestätte gestaltet. In der Mitte des Raumes stehen Instrumente: Trommeln und Gitarren. Zwischen den Zeremonien gibt es Zeit für Schlaf, Spaziergänge und Sauna. „Das Augenmerk der Zeremonien ist auf Heilung und Selbsterforschung gerichtet“, erklärt Manuel, der seit 20 Jahren als Leiter solcher Seminare tätig ist. „Es kommt zu einer tiefen Verbindung mit den eigenen Emotionen, und manchmal erlebt man einen Zustand reinen Bewusstseins, jenseits des Denkens.“

Rausch als Kitt der Gesellschaft? Fast jedes Wochenende werden in der Schweiz, in Deutschland oder in den Niederlanden, erst recht in Südamerika, solch mehrstündige Trips angeboten, die, so heißt es, ins eigene Innere führen, mit dem Universum verbinden, das Bewusstsein erweitern. In Brasilien und Peru wird Ayahuasca als nationales

Autorinnenfoto: privat

Susanne Schmetkamp


Erbe indigener Bevölkerungsgruppen geschützt. In den USA wird der Gebrauch mit Verweis auf die Religionsfreiheit bewilligt. In einigen Ländern wie Kanada werden für die Rituale religiösen Gemeinden Sonderrechte eingeräumt. In der Schweiz ist die Einnahme verboten. Gerade hier aber, wo der Chemiker Albert Hofmann 1943 das LSD entdeckte, werden viele wissenschaftliche Studien mit Psychedelika durchgeführt. Substanzen wie MDMA, der Wirkstoff in der Partydroge Ecstasy, und Psilocybin, der Wirkstoff in Magic Mushrooms, könnten, so vermuten viele Forscher, eine Alternative sein zu Antidepressiva und anderen Psychopharmaka. Manche sehen in den (bislang verbotenen) Psychedelika gar den neuen Kitt der Gesellschaft. MDMA gilt als empathiefördernd und verbindend, sowohl mit anderen

Menschen als auch mit der Natur. In den USA und in Deutschland liefen in den vergangenen Jahren Forschungsprojekte zur therapeutischen Wirksamkeit von MDMA bei Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), etwa bei Kriegsveteranen. Psilocybin soll Vertrauen und Offenheit fördern, Verkrampfungen lösen, insbesondere bei sterbenskranken Menschen, die Angst vor dem Tod haben oder unter Depressionen leiden. Auch Ayahuasca gilt bei Depressionen und PTBS als wirksam. Philosophisch stellen sich zahlreiche erkenntnistheoretische und ethische Fragen: Die Zustände, die unter diesen Substanzen erlebt werden, scheinen völlig andere als die, die wir im normalen Wachbewusstsein erleben. Halluzinogene rufen kaleidoskop­ artige Visionen hervor, man sieht vor dem inneren Auge unPhilosophie Magazin Nr. 03 / 2020

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Leben

Zeit für existenzielle Fragen

Weltbeziehungen

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Heilsame Helden / Grübelstopper / Parkinsons Gesetz

Porträt

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Zwischen Besonderheit und Normierungsdruck: Das Model Catharina Geiselhart

Lösungswege

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Müssen wir Ordnung halten?

Dialog

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Die Lehren des Leibes Die Medizinerin Giulia Enders im Gespräch mit dem Philosophen Gernot Böhme

Unter uns

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Die Sache mit dem MultiAnti-Tasking. Kolumne von Wolfram Eilenberger

Foto: Christopher Anderson/Magnum Photos/Agentur Focus

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Leben / Porträt

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Das Model Einzigartigkeit und Normierungsdruck kreuzen sich in der Modewelt wie nirgends sonst. Catharina Geiselhart lief für die ganz großen Designer. Porträt einer Frau, ­die sich vom Blick der anderen zu befreien versucht Von Theresa Schouwink / Fotos von Gene Glover

Paris, 7. Arrondissement, im Jahr 2004. Durch die Art-Déco-­ Gänge des Edelkaufhauses Le Bon Marché eilt kurz vor Ladenschluss ein 15-jähriges Mädchen mit ihrer Mutter. Bald merken die beiden, dass sie beobachtet werden. Eine auffallend hübsche Frau folgt ihnen über alle Stockwerke, versteckt sich immer wieder hinter Kleiderständern, durch die sie hindurchspäht. Schließlich kommt sie auf das Mädchen zu. Ob sie Mannequin sei – sie sehe aus und laufe wie eines. Als das Mädchen verneint, breitet sich Freude über das Gesicht der Verfolgerin aus, die sich als Agentin der renommierten Modelagentur Karin Paris entpuppt. Berlin Kreuzberg, Januar 2020. Aus dem Mädchen ist eine 30-jährige Frau geworden. Catharina Geiselhart sitzt in der Küche ihrer Altbauwohnung. Helles Licht, weiße Oberflächen, reduziertes Design. Hier und da liegt Spielzeug ihrer beiden Kinder. Sie sei in einer deutschen Familie in Paris aufgewachsen, erzählt die junge Frau. Der Vater, studierter Philosoph, sei Berater, die Mutter habe historische Romane geschrieben. Eine wohlhabende Familie, so lässt sich heraushören, in der Bildung viel zählt. Catharina Geiselhart ist schmal, hat leuchtend blaue Augen und ausgeprägte Wangenknochen. Ein Gesicht, das auffällt, aber auch auf Abstand hält. Ein besonderes Gesicht. „Oh là là, je t’adore!“, so empfing man sie damals überschwänglich in der Agentur: Ich bewundere dich! Ihre Agentin ist sicher, einen Coup gelandet, die nächste Gisele Bündchen gefunden zu haben. Und tatsächlich: Bald folgen Anfragen der großen Designer: Yves Saint Laurent, Louis Vuitton, Prada. Gleich ihre erste Show läuft sie für Chanel. In ihrem autobiografischen Roman „Hello Paris“ beschreibt sie die Stimmung: Der exaltierte Karl Lagerfeld zupft ihre Haare zurecht, kommentiert sie mit einem „Hübsch, hübsch“ und klagt darüber, ständig Taschen kreieren zu müssen. Während der Show fühlt sie sich benommen, läuft „wie durch einen Nebel“ hindurch. Dass in der ersten Reihe Prominente wie Victoria Beckham sitzen, kommt ihr erst später zu Bewusstsein. Das junge Model geht weiterhin zur Schule, doch Nachmittage und Wochenenden füllen sich mit Castings,

Shows und Fotoshootings. Für ihre Aufträge reist sie nach Hongkong, Sankt Petersburg, Nizza und Monte Carlo. Der Verdienst: Für große Fotoshootings bis zu 6000, für Shows etwa 1000 Euro. Am beeindruckendsten aber seien die Kleider gewesen: „Haute Couture wird mit unheimlich viel Aufwand und Handwerkskunst gefertigt. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Chanel-Kleid aus weißer Spitze, dessen Jacke mit in allen Farben schimmerndem Perlmutt bestickt war.“ Von ihr gibt es eine Fotografie in besagtem Kleid: Ins dunkle Haar sind Blumen gesteckt, darunter das helle, ebenmäßige Gesicht, der schmale Körper in weißer Robe. Sehr jung sieht sie aus, auf selbstvergessene Weise elegant.

Sei besonders! Auffallen. Gesehen und bewundert werden. Besonders sein. Ein zentrales kulturelles Ideal, das Menschen wie Catharina Geiselhart par excellence verkörpern. Und nach dem wir heute, folgt man dem Soziologen Andreas Reckwitz, im Grunde alle streben. In der „Gesellschaft der Singularitäten“, so Reckwitz in seinem gleichnamigen Buch, steht die alltägliche Durchschnittsexistenz unter Wertlosigkeitsverdacht. Man will nicht länger sein wie der andere, will nicht haben, was die Nachbarin besitzt, sondern sich unterscheiden. Herausgehoben sein. Einzigartig. Im besten Falle sogar ein Star. In der Gesellschaft der Singularitäten werden – siehe Instagram, YouTube, TikTok, Germany’s next Topmodel – Berühmtheitsmodelle zu Lebensmodellen. Und zu einer For­derung, der zu entsprechen den wenigsten wirklich gelingt, ja, die bei näherem Hinsehen ein Widerspruch in sich ist. Denn wenn alle besonders sein sollen: Hebt sich das Besondere dann nicht selbst auf? Und: Wie soll das Besondere besonders bleiben, wenn es durchaus allgemeinen, profitorientierten Regeln und Gesetzen gehorcht? Eine Erfahrung, die Catharina Geiselhart auf schmerzhafte Weise macht. Bald nämlich mischen sich unter Bewunderung Philosophie Magazin Nr. 03 / 2020

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Leben /   / Dialog

Die Lehren des Leibes Dass wir einen Körper haben, wird uns meist erst bewusst, wenn er schmerzt. Dabei ist er es, der die Antworten auf die großen Fragen der Existenz tief in sich trägt: Giulia Enders und Gernot Böhme über die Intelligenz des Darmes und Leibsein als Aufgabe Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Julia Sellmann

Mit ihrem Buch „Darm mit Charme“ erreicht ­Giulia Enders weltweit Millionen von Menschen. Wie der Darm unser Denken und Sein beeinflusst und was wir von ihm über uns selbst lernen können, legt die Medizinerin so anschaulich wie eindrücklich dar. Auch der Phänomenologe Gernot Böhme erkennt im Leib jene „große Vernunft“, von der bereits Friedrich Nietzsche sprach und die uns, so Böhme, das Leben selbst lehre. In seinem Buch „Leibsein als Aufgabe“ tritt Böhme entsprechend der Auffassung entgegen, unser Körper sei einfach ein Objekt, das quantifiziert, trainiert, behandelt werden kann – und wendet sich damit auch gegen die Schulmedizin. Giulia Enders hingegen verteidigt ihre Disziplin: Ist der Arzt, die Ärztin im Zweifelsfall eben doch klüger als der Leib, der wir sind? Philosophie Magazin: Frau Enders, zu Beginn Ihres Buches „Darm mit Charme“ erzählen Sie eine sehr persönliche Leidens-, oder man könnte auch sagen Leibesgeschichte, die der Anstoß für die Beschäftigung mit Ihrem Thema war. Was ist das für eine Geschichte? Giulia Enders: Im Alter von 17 Jahren hatte ich eine Hautkrankheit, die ich erst einmal komplett ignoriert habe, zumindest habe ich das versucht. Da waren Wunden an meinem ganzen Körper, über die 38

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Beine verteilt, über die Arme. Ich musste zusätzlich Leggings anziehen, weil es immer durchgenässt hat. Erst nach ein paar Monaten habe ich mir eingestanden: Du musst endlich hinschauen. Und zwar ganz genau. Dieses Hinschauen, dieses Hineingesogenwerden in ein Immer-noch-mehr-wissen-Wollen über den eigenen Körper habe ich dann eigentlich als sehr positiv erlebt. Ich habe ganz neu auf mich geschaut und die Welt um mich herum. Und auch auf die Dinge, die ich zu mir nehme, meinem Körper zuführe. Seither verstehe ich den Menschen anders. Gernot Böhme: Auch meine Beschäftigung mit dem Leib wurde durch ein Ereignis ausgelöst: die Geburt meines ersten Kindes, meiner ältesten Tochter. Das war damals die Zeit, in der Väter überhaupt erstmals dabei sein durften bei diesem Vorgang. Für mich war die Geburt extrem eindrucksvoll. Ich dachte: „Die menschliche Leiblichkeit! Das ist ja unglaublich, dass ein Mensch im Bauch entsteht.“ Und da bin ich auf das Werk von Hermann Schmitz gestoßen … PM: Hermann Schmitz, einer der bedeutendsten Phänomenologen der Gegenwart … Böhme: Ja, und gleichzeitig habe ich damals JeanPaul Sartres „Das Sein und das Nichts“ gelesen, wovon große Partien ebenfalls die menschliche Leiblichkeit behandeln. Interessant für mich war

Giulia Enders Mit ihrem Vortrag „Darm mit Charme“ gewann Giulia Enders 2012 einen Science Slam. Es folgte das gleichnamige Buch, veröffentlicht 2014 bei Ullstein, das zum Weltbestseller wurde. Die Illustrationen im Buch trug ihre Schwester, Jill Enders, bei. Giulia Enders arbeitet als Ärztin in Hamburg

Gernot Böhme Der emeritierte Professor für Philosophie an der TU Darmstadt ist einer der wichtigsten Phänomenologen des Landes. Die Achtung vor der Leiblichkeit des Menschen steht im Zentrum seiner Forschung. Zuletzt erschien von ihm zum Thema: „Leib. Die Natur, die wir selbst sind“ (Suhrkamp, 2019)


diese eigentümliche Differenz bei Schmitz und Sartre: Bei Schmitz lernt man den Leib kennen als etwas, das einem widerfährt: das Pathische, wie ich es nenne. Bei Sartre hingegen erfährt man seinen Leib von der Aktion, von der Tätigkeit her. Nehmen Sie die Augenschmerzen, die Sartre in seinem Werk behandelt. Er entdeckt sie nicht am Auge, sondern er erkennt sie im Grunde daran, dass ihm das Lesen schwerfällt. PM: Aber auch in Ihrer Biografie gab es durchaus eine Leidensgeschichte. Böhme: Meine zweite Frau Farideh Akashe-Böhme ist 2008 an Krebs gestorben. Mit ihr gemeinsam

habe ich das Buch „Mit Krankheit leben“ geschrieben. Und es stellte sich heraus, dass in dem Moment, als wir anfingen, über Faridehs Erkrankung und unser Buch zu sprechen, überall in der Verwandtschaft ähnliche Erfahrungen zur Sprache kamen, die vorher nie thematisiert wurden: Operationen, Leid, Therapien und so weiter. Uns hat in dem Buch interessiert, wie Menschen mit ihrem Krankenstatus fertig werden. Und die Beschäftigung hat uns dann zu der These geführt, dass Gesundheit und Krankheit kein Gegensatz sind, sondern dass Gesundheit darin besteht, wie man mit seinen Krankheiten und Behinderungen fertig wird. Fast alle Menschen sind, wenn man es genau nimmt, krank. Würden Sie mir da zustimmen, Frau Enders? Philosophie Magazin Nr. 03 / 2020

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Dossier

Eigentum verpflichtet – aber wozu? 48

Intro

Die sichtbare Hand des Marktes Von Nils Markwardt

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Historischer Überblick

Wem gehört die Schlossallee? Positionen zum Privatbesitz von der Antike bis heute

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Interview

Thomas Piketty: „Eigentum muss permanent umverteilt werden“

Kritische Kommentare

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Haben Sie das bedacht, Herr Piketty? Einwände von Werner Plumpe, Stefan Gosepath und Tilo Wesche

Foto: Urban Zintel

Wenige Menschen besitzen viel. ­ Die meisten fast nichts. In welcher Verantwortung stehen Eigentümer zu Besitzlosen? Ein aufklärendes ­Dossier über eine heiß umkämpfte Frage

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Dossier

Eigentum verpflichtet

„Eigentum muss permanent umverteilt werden“ Die soziale Schere wird immer größer. Der Ökonom Thomas Piketty schlägt gegen diesen Trend einen partizipativen Sozialismus vor. Ein Interview

Thomas Piketty ist Professor an der Paris School of Economics und der École des hautes études en sciences sociales. Mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ kritisierte er die Vermögenskonzentration im Kapitalismus und löste weltweit Debatten aus. Soeben ist sein neues Werk „Kapital und Ideologie“ erschienen (beide C. H. Beck)

Mit „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ sorgte ­Thomas Piketty 2013 international für Aufsehen: In dem umfassenden Werk zeigte er, dass die ­Zukunft den Erben gehört und jene, die durch ­ihre Leistung zum Wohle aller beitragen, kaum noch Vermögen erwirtschaften können. Nun erscheint sein neues Buch „Kapital und Ideologie“ (C. H. Beck). Der französische Wirtschaftswissen­ schaftler geht hier noch einen Schritt weiter und kritisiert die „Sakralisierung des Eigentums“ scharf als Urgrund gesellschaftlicher Ungleichheit. Seine Gegenmittel: temporäres Eigentum und ein partizipativer Sozialismus. 54

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Philosophie Magazin: In Ihrem aktuellen Buch verfolgen Sie die Geschichte der Ungleichheit und ihrer Rechtfertigungen. Wie verlief die Entwicklung von der Ideologie „natürlicher“ Hierarchien zu den heutigen Ungleichheiten, denen Leistung und Verdienst zugrunde liegen sollen? Thomas Piketty: Zahlreiche Gesellschaften – das Europa der Frühen Neuzeit, das präkoloniale Indien oder das kaiserliche China – lebten nach einer dreigliedrigen inegalitären Ordnung. Die Macht lag in der Hand von zwei Gruppen: einer Klasse von Kriegern, die für die Einhaltung der Ordnung und

Foto: Audoin Desforges/Pasco & Co

Das Gespräch führte Michel Eltchaninoff / Aus dem Französischen von Till Bardoux


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Klassiker / Dossier

Schelling und die Klimakrise Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war der Naturphilosoph schlechthin. Vor über 200 Jahren kehrte er die Blickrichtung auf die Natur um und dachte sie als natura naturans, als freies, handelndes Subjekt. Seine Gedanken, die sich dem fortschrittsseligen Credo des 19. Jahrhunderts entgegenstellten, sind heute, in Zeiten der Klimakrise, auf nahezu unheimliche Weise aktuell

Dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, konnte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schon damals, vor mehr als 200 Jahren, nicht begreifen. Zu jener Zeit kam mit der Aufklärung nicht nur das vernünftige Denken in die Welt, sondern auch die Hybris, die Anmaßung gegenüber der Natur. Wie „aufgeklärt“ das Denken war, lässt sich heute beobachten: Zum ersten Mal in der Geschichte wird es zunehmend eng auf diesem Planeten, brennen ganze Kontinente, versinken Südseeinseln, ziehen Wirbelstürme verheerend über das Land. Was jahrhundertelang als Ausweis menschlicher Überlegenheit galt, als epochaler Schritt vom Mythos zum Logos, hat sich heute in sein Gegenteil verkehrt. Mit dem globalen Kollaps der Natur droht auch die menschliche Freiheit in Ohnmacht zu versinken. Schelling war weder der erste Umweltschützer noch ein früher Klimaaktivist. Aber er ist der erste unter den Philosophen der Moderne, der die Natur nicht vom menschlichen Zugriff abhängig sein lässt, sondern ihr eine Freiheit und undurchschaubare Eigensinnigkeit einräumt, die eine tiefe Einsicht in das Wesen alles Lebendigen verrät: Nicht nur der Mensch ist Subjekt, auch die Natur ist es. Nicht nur das Subjekt stellt sich die Gegenstände außer ihm vor, 68

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Peter Neumann ist Essayist, Lyriker und wissenschaft­ licher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Er wur­de mit einer Arbeit über Schelling promoviert. 2018 erschien sein Buch „Jena 1800“ (Siedler)

formt die Welt nach seinen Maßstäben: hier der sukzessive Zusammenhang von Ursache und Wirkung, da die wie Perlen an einer Schnur hübsch aufgereihten Gegenstände der empirischen Anschauung. Für Schelling hat Natur selbst Subjektcharakter, ist frei, beweglich und handelnd. Noch in den elementarsten Phänomenen der Natur wie der Elektrizität, dem Magnetismus oder dem chemischen Stoffwechsel lassen sich dieselben Prinzipien entdecken, nach denen auch menschliches Bewusstsein organisiert ist: Kontraktion und Expansion, Trieb und Drang nach höherem Leben. Und nur weil das so ist, also nur weil Natur nicht bloß die Vorstellung eines Subjekts ist, sondern – im Gegenteil – immer schon ein gehöriges Stück Freiheit in sich birgt, sich selber organisiert, kann der Mensch, der eben nicht nur vernünftiges, sondern auch ein zutiefst sinnliches, natürliches Wesen ist, sich in ihr als frei erkennen. Schelling ist jung, als er mit diesen Thesen 1797 die philosophische Bühne betritt. Ein Shooting-Star, würde man heute sagen, gerade 22 Jahre alt und schon sind seine gerade erst erschienenen „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ in aller Munde. Insbesondere an dem über die Landesgrenzen hinweg bekannten Musenhof im Herzogtum Sachsen-Weimar, wo

Foto: Azoor Photo Collection/Alamy Stock Photo; Autorenfoto: Dirk Skiba

Von Peter Neumann


Steckbrief: Schelling

Leben 1775

Hauptberuf Neben Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) gilt Schelling als Hauptvertreter des Deutschen Idealismus. Er begründete die Naturphilosophie als eigenständige Wissenschaft, gilt als Philosoph der Romantik schlechthin und Vordenker des Unbewussten. Schelling zufolge sind „Geist“ und „Natur“ kein Gegensatzpaar. Die Natur ist nicht einfach die Vorstellung eines Subjekts, sondern hat als natura naturans selbst aktiven Subjektcharakter.

Nebentätigkeit Ehemann einer der eigenwilligsten Frauen der Romantik: Caroline, geb. Michaelis, war Muse, Schriftstellerin und Übersetzerin. Durch ihre politischen Ansichten und eine uneheliche Schwangerschaft ruinierte sie beinahe ihre gesellschaftliche Existenz. Als Schelling sie 1798 in Jena kennenlernt, war sie mit August Wilhelm Schlegel verheiratet. Die Affäre mit dem Philosophen wurde halbherzig toleriert. 1803 heiratet Caroline den zwölf Jahre jüngeren Schelling. Dieser hat ihren frühen Tod 1809 niemals ganz verwunden.

„Die bloße Reflexion ist eine GeisteskrAnkheit des Menschen“ chen“ – Ideen zu einer Philosophie der Natur

Geburt am 27. Januar in Leonberg, Herzogtum Württemberg 1797 Veröffentlichung der „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ 1798 Auf Goethes Betreiben hin wird Schelling Professor in Jena 1800 Das „System des transzendentalen Idealismus“ erscheint 1809 Die „Freiheitsschrift“ erscheint. Caroline Schelling stirbt

Freunde

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832): „Dichterfürst“, Schelling-Fan der ersten Stunde und sein Wohltäter in beruflichen wie privaten Angelegenheiten. Goethe sorgte dafür, dass Schelling als Professor nach Jena kam, und trieb die Scheidung Carolines von August Wilhelm Schlegel voran. Maximilian II. (1811–1864): König von Bayern, auf den Schelling, der ihn in seiner Kronprinzen-Zeit unterrichtet hatte, große Stücke hielt („mein bester Schüler“). Als Schelling starb, ließ Maximilian auf den Grabstein meißeln: „Dem ersten Denker Deutschlands.“ Martin Heidegger (1889–1976) trug maßgeblich zur Schelling-Renaissance im 20. Jahrhundert bei.

„Die wirkliche Freiheit besteht in der Vereinigung mit der Notwendigkeit“ – Über das Wesen der menschlichen Freiheit

1854 Tod am 20. August in Ragaz, Schweiz

Feinde

Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851): Schellings Erzfeind zu Lebzeiten. Der evangelische Theologe wurde im selben Haus wie Schelling in Leonberg geboren. Paulus verwarf die Offenbarungsphilosophie des späten Schelling als reaktionären Mystizismus. Kreis“, eine Gruppe von Philosophen, Der „Wiener Kreis“ Mathematikern und Naturwissenschaftlern, artikulierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine grundsätzliche Metaphysikkritik, die sich sowohl gegen Schelling als auch gegen den Idealismus insgesamt richtete.

Philosophie Magazin Nr. 03 / 2020

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