Nr. 2 / 2020

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Nr. 02 / 2020  – Februar / März

Magazin

Warum ist es so schwer sich zu ändern? Reportage über die Drogenkrise in den USA

Ist Pazifismus naiv? Pro & Contra zur Aufrüstungsdebatte

Magazin

Sammelbeilage Nr. 50

4 192451 807904

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D 7,90 € Ö 8,50 € CH 14,50  SFr Benelux 8,50 €

Das Ende des amerikanischen Traums

ES IT UD ESD TE E R F UDT UD D U RE FRE REU E R DF EUDFREUD UD FDTE Freud U R DF FRE REU EU FREUDFund U UD DF FR T E die Kultur E R FR F DFREFREUREUDREUDU UD UD F UDF EUD Sammelbeilage: E R E RE RE FR Auszug F FRaus „Das Unbehagen DF UDFUDFR U in der Kultur“E FRE FRD FRE U Freud und die Kultur

„Das Unbehagen in der Kultur“ Auszug


Mit Beiträgen von

S. 26

S. 34

Olaf L. Müller

Oliver Percovich

Der Philosoph und Professor für Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin befasste sich be­ reits in zahlreichen Publika­ tio­nen mit dem Pazifismus. Im Pro & Contra verteidigt Müller, anders als der His­ toriker Jörg Baberowski, diese ethische Grundhaltung gegen den Vorwurf der Naivität. Dieses Jahr erschien sein Buch „Zu schön, um falsch zu sein“ (S. Fischer).

Der Skater gründete 2008 in Afghanistan eine NGO, die Kindern in Krisengebie­ ten diese Leidenschaft nahebringt. Ein Porträt von Florian Werner über ei­nen Mann, der von Mel­ bourne nach Kabul zog, um aus Ruinen Rails und Rampen zu machen – und den der Philosoph und Risiko­forscher Nassim Taleb den Meister der Antifra­ gilität nennen würde.

S. 40

S. 64

S. 1–100

Pierre Zaoui

Theresa Schouwink

In unserem Titeldossier erläutert der Philosoph und Dozent an der Universität ­Paris-7-Diderot Baruch de Spinozas Auffassung einer ge­ glückten Veränderung des Selbst. Dem niederländischen Philosophen, so Zaoui, gehe es dabei nicht um einen Neu­ entwurf des Menschen, son­ dern darum, sich selbst treu zu sein. Zuletzt erschien von ihm: „La Traversée des catas­ trophes“ (Seuil, 2010).

Ab dieser Ausgabe verstärkt Theresa Schouwink unser Redaktionsteam. Nach ihrem Bachelor in Theaterwis­sen­ schaft und Philosophie ­widmet sie sich im Zuge ihres Masterstudiums dem Konzept positiver Auto­ri­tät. Im Heft geht sie unter anderem dem Trend der living funerals nach und er­ läutert den volonté générale Jean-Jacques Rousseaus. Herzlich willkommen!

„Wir sind zu Managern ­unserer Einsamkeit geworden“ Gespräch: Der britische Philosoph widmet sich in seinen

Werken der dunklen Seite der Existenz. In New York haben wir mit ihm über die Melancholie als dem Anfang allen Denkens gesprochen.

Die nächste Ausgabe erscheint am 12. März 2020 04

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2020

Fotos: Matthias Heyde; Jelka von Langen; Isabel Asha Penzlien; Franck Ferville/VU/laif; Tina Ahrens

Simon Critchley


Februar / März

Dossier: Warum ist es so schwer, sich zu ändern?

Nr. 02 / 2020

48 Abweichung wagen

Intro

03 Editorial 04 Beitragende

Arena

08 Denkanstöße 10 Einwurf Globale Merdokratie / Lob der Kopie / Bürger auf Zeit 14 Sinnbild 16 Reportage Tod aus Verzweiflung Bericht aus den Epizentren der amerikanischen Opiumkrise von Jack Fereday 24 Fundstück Stoa for Future Seneca:„Vom glücklichen Leben“ 26 Pro & Contra Ist Pazifismus naiv? Jörg Baberowski versus Olaf L. Müller 28 Dorn denkt Feuer der Vernichtung Kolumne von Thea Dorn

Fotos: Olga Kessler; Philip Montgomery; Alisa Resnik

Leben

32 Weltbeziehungen Die eigene Beerdigung proben? / Heiliger Schuh / Kobra-Effekt 34 Der Antifragile Im Porträt: Der Skater Oliver Percovich Von Florian Werner 38 Lösungswege Warum singen wir? 40 „Wir sind zu Managern unserer Einsamkeit geworden“ Gespräch mit Simon Critchley 44 Unter uns Die Sache mit der Sprachnachricht Kolumne von Wolfram Eilenberger

S. 52

Übung macht die Meisterin? Dossier über Wege aus der Routine

Von Svenja Flaßpöhler 52 Die Macht der Gewohnheit Essay von Michel Eltchaninoff 56 Akrobaten der Askese Abdruck aus „Du mußt dein Leben ändern“ von Peter Sloterdijk 58 Meine Enge Fünf Menschen erzählen von schwierigen Veränderungen Kommentiert von Alice Lagaay 64 Wie sich selbst treu sein? Interview mit Pierre Zaoui

Klassiker

68 Freud und die Kultur Essay von Marianna Lieder 74 Überblick

Was ist Existenzialismus? 76 Zum Mitnehmen Rousseaus volonté générale 78 Menschliches, Allzumenschliches Comic von Catherine Meurisse

Bücher

82 Kurz und bündig

S. 16

Reportage: Wie Drogen den amerikanischen Traum zersetzen

Kolumne von Jutta Person

83 Buch des Monats

Parag Khanna: „Unsere asiatische Zukunft“ 84 Der Dichter-Denker 250 Jahre Hölderlin 86 Scobel.mag Kolumne von Gert Scobel

Finale

90 Ästhetische Erfahrung

Musik: „The Center Won’t Hold“ von Sleater-Kinney / Kino: „Little Joe“ / Ausstellung: Trauern 92 Agenda 95 Spiel 97 Leserpost / Impressum 98 Phil.Kids

S. 40

Melancholie als treibende Kraft des Denkens: Simon Critchley im Gespräch

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2020

05


Fatale Sucht: 2016 starben in Philadelphia, Pennsylvania, 900 Menschen an einer Überdosis Opiaten, 30 Prozent mehr als im Jahr zuvor


Arena Raum für Streit und Diskurs

08

Denkanstöße

10

Einwurf

Globale Merdokratie / Lob der Kopie / Bürger auf Zeit

14

Sinnbild

16

24

26

28

Fundstück

Stoa for Future Seneca: „Vom glücklichen Leben“

Pro & Contra

Ist Pazifismus naiv?

Dorn denkt

Feuer der Vernichtung Kolumne von Thea Dorn

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Reportage

„Tod aus Verzweif‌lung“ Reise in die Epizentren der amerikanischen Opiumkrise

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2020

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Lexikon

Ferngespräch

Wolfgang Schäuble Präsident des Deutschen Bundestags in DIE ZEIT

05.12.2019

Sie können einen Laden nicht führen, wenn Sie nicht eine gewisse Autorität haben. Eins der Probleme in der Politik ist, dass wir zu wenig den Eindruck von Führung vermitteln.

Der Zeit nach kommt die Autorität zuerst; den sachlichen Vorrang aber hat die Vernunft. 386 n. Chr.

Augustinus von Hippo Theologe und Philosoph, „Über das glückselige Leben“

Novum

Maschinengeflüster

W

issenschaftler des Massachusetts Institute of Technology haben eine Technik entwickelt die es erlaubt, per Gedanken mit Computern zu kommunizieren. Sie heißt „Alter Ego“ und sieht einem Headset ähnlich. Wenn wir Gedanken innerlich artikulieren, sendet das Gehirn elektrische Impulse aus, die von dem System „verstanden“ und auf einen Rechner übertragen werden. So können wir Geräte über Gedanken steuern oder mithilfe eines Sprachcomputers kommunizieren. Ebenso lassen sich gedanklich Fragen an eine per Bluetooth vernetzte Suchmaschine stellen und Antworten von einer Stimme empfangen, die nur wir in unseren Köpfen hören. Schon Sokrates sprach von unserer inneren Stimme, dem „Daimonion“,

die er als Gottheit interpretierte. In Zukunft könnten wir uns direkt an die innere Stimme wenden und Antworten einfordern – wenn am anderen Ende der Leitung auch nicht Gott sitzt, sondern Google. (jpi)

Machia vellismus (m); Ob Trump, Putin oder Erdoǧan: Autokraten wird oft Machia­ vellismus unterstellt. Damit tut man dem Denker jedoch unrecht Kaum ein autokratischer Politiker, der nicht mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurde: Bis heute steht Niccolò Machiavelli (1469–1527) für die Bereitschaft zu Lüge, Rücksichtslosigkeit oder gar Gewalt. Zuletzt etwa in Bezug auf Björn Höcke. Dem italienischen Denker, der zeitlebens Anhänger der florentinischen Republik blieb, wird das oft nicht gerecht. Ging es ihm doch vor allem um die Rationalisierung von Politik. Sprich: Machiavelli entkoppelte Letztere von jenen utopischen Vorstellungen, wie man sie bei Platon oder Dante fand, indem er die Sphären von Macht und Moral scharf trennte. Damit konnte zwar auch die Lüge zum legitimen Mittel werden, jedoch stand diese bei Machiavelli stets im Dienst von Staatsräson und Stabilität – und war eben kein sinistrer Selbstzweck. Damit zeigte er auch: Macht kommt nicht von Gott, sondern sie muss ganz weltlich erkämpft werden. „Dies ist“, so schrieb Hannah Arendt, „der eigentliche Sinn seiner vielfach missverstandenen Lehre, dass es in der Politik darum gehe zu lernen, ,nicht gut zu sein‘, nämlich nicht im Sinne christlicher Moralvorstellungen zu handeln.“ (nm) Philosophie Magazin Nr. 02 / 2020

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Arena / Einwurf

Müll: Demokratie unter Druck / Dresdner Kunstraub: Kritik der Authentizität / Dienstjahr: Keine Zeit für die Gesellschaft

Müllentsorgung

Staatskrise

Globale Merdokratie

Nach der Demo: Protestierende in Beirut, Libanon, beseitigen Abfälle des Vortags

Dass Silvesterfeiern in den Straßen eine Spur der ästhetischen Verwüstung hinterlassen, daran hat man sich gewöhnt. Aber auch nur, weil diese ritualisierte Vermüllung der Innenstädte schnell wieder beseitigt wird. Wäre dem nicht so, würden die Berge aus Böllerresten schnell zum Politikum. Denn zwischen der wilden Akkumulation von Abfall und kollektiver Frustration besteht ein zentraler Zusammenhang. Das zeigte sich jüngst an zwei Beispielen. Zum einen in Frankreich, wo Emmanuel Macron nach dem Aufstand der Gelbwesten eine landesweite Debatte initiiert hatte, in der Bürgerinnen und Bürger aufgefordert waren, der Regierung ihre Sorgen mitzuteilen. Das überraschende Ergebnis: Über die Hälfte aller Wortmeldungen drehten sich um die defizitäre Abfallentsorgung. 10

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Zweites Beispiel ist der Libanon, der seit Monaten von Protesten erschüttert wird. Neben der Empörung über hohe Arbeitslosigkeit und Korruption spielt hier eben­so die anhaltende Müllkrise eine Rolle. 2015 hatte diese dort bereits Massendemonstrationen der You-stink!-Bewegung provoziert, die jene allgegenwärtige Vermüllung anprangerte, welche durch Misswirtschaft und mangelnde Infrastruktur seit Jahren zunimmt. Und auch historisch avancierte die öffentliche Selbstverschmutzung immer wieder zum Krisensymptom. Dass in Süd­ italien das Vertrauen in die Institutionen nur schwach ist, hängt auch damit zusammen, dass dort ein strukturelles Entsorgungsproblem herrscht, welches die Mafia für ein Millionengeschäft mit illegalen Deponien nutzt. Als wiederum 1979 in Großbritannien der „Winter der Unzufrieden­­heit“ ausbrach, in dem die Müllabfuhr tagelang streikte, gerieten die Bilder von über­ quellenden Plätzen und Straßen zum ikonografischen Ausdruck der Krise. Margaret Thatcher nutzte diese Bilder für ihren Wahlkampf – und löste überraschend deutlich die amtierende Labour-Regierung ab. Das zeigt zum einen: Politische Krisen entspringen nicht nur dem Mangel an Gütern, etwa Nahrung oder Benzin, sondern auch dem Überschuss ihrer Reste.

Zum anderen steht eine mangelnde Müll­ entsorgung aber so emblematisch für das Versagen des Staates, weil sie zivilisationsgeschichtlich eine seiner ersten Aufgaben war. Sobald Menschen sesshaft wurden, so bemerkte Peter Sloterdijk in seinem Buch „Sphären II“, begründeten sie eine „Merdokratie“: Das hygienepolitische Management von Ausflüssen und Abfall wur­de überlebensnotwendigerweise zum sanitären Imperativ jeder guten Administration. Sobald sich der Unrat also dauerhaft in den Straßen türmt, ist dies nicht nur ein ästhetisches Ärgernis, sondern rüttelt an den Grundfesten von Staatlichkeit. Wobei die Merdokratie heute aber längst keine rein nationale Angelegenheit mehr ist. Wie das Problem des Mikro­ plastiks zeigt, das sich in Böden festsetzt, in Weltmeeren konzentriert und in Tie­ren und Menschen ablagert, hat die kollektive Selbstvermüllung eine gleicherma­ßen planetarische wie autoaggressive Dimension erreicht. Oder anders gesagt: Die Weltkloake läuft langsam über. Selbst bei funktionierender Abfallentsorgung stellt sich deshalb zunehmend die Frage: Wohin damit? Sofern die Menschheit nicht bald die Recycling-Revolution schafft, droht die Demokratie auf der globalen Deponie zu versinken. / Nils Markwardt

Fotos: picture-alliance/Bilal Tarabey/Le Pictorium Agency via ZUMA Press; picture-alliance/Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/ZB

Ob im Libanon oder in Frankreich: Die mangelhafte Müllabfuhr birgt politischen Sprengstoff. Die Gründe hierfür reichen weit zurück in die Zivilisations­ geschichte – und sind wegweisend für die Zukunft


Arena / Reportage

Opiumkrise

USA

Tod aus Verzweiflung Alkohol, Drogen, Selbstmord: In den USA schießt die Zahl der Todesfälle in die Höhe, während die Wirtschaft immer weiter wächst. Unser Reporter versucht, dieses Paradox mit der Soziologie von Émile Durkheim zu ergründen

Jack Fereday ist Redakteur bei Philonomist / Philosophie Magazin. Er studierte politische Philosophie an der Sorbonne und arbeitete als freier Journalist in Paris

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Autorenfoto: privat

Von Jack Fereday / Fotos von Philip Montgomery / Aus dem Französischen von Grit Fröhlich


Sophia, einer der am weitesten entwickelten Roboter mit verblüffend menschlicher Mimik, Gestik und Stimme

Dayton, Ohio: Zusammenbruch eines Heroinabhängigen. Zuvor hatten Ersthelfer versucht, die Wirkung des Opiats durch Naloxon zu hemmen

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Arena / Reportage Als Halbwüchsiger fand Jesse oft Zu­ flucht bei einem Freund aus Kinderta­ gen. Man traf sich auf dem abgelegenen Gelände seines Elternhauses. Hier konn­ te man Bier trinken, angeln und von der Ladefläche eines Pick-up schießen. Also ausspannen und völlig ungezwungen sein, wie man es in Louisiana so macht. Inzwischen ist Jesse 30 Jahre alt, und auch heute sitzt er vor dem Haus seines alten Freundes an einem kleinen Teich, starrt auf die Angel im Wasser – und er­ zählt von seinem Vater. „Er stammte aus einer wohlhabenden Familie. Er bekam alles, was er wollte, auf einem silbernen Tablett serviert und er war sehr intelli­ gent – er ist zur Uni gegangen, weil er Lust hatte, etwas zu lernen.“ Dennoch verfällt Jesses Vater den Drogen, kaum dass er erwachsen ist. Irgendwann ent­ deckt er Oxycontin, ein Schmerzmittel, „für ihn das ultimative Ding“. Der Trip endet am 4. Juli 2016, dem amerikani­ schen Nationalfeiertag, durch einen Ge­ wehrschuss mitten ins Herz. „Sein Kampf ist zu Ende“, sagt Jesse leise, seine Stim­ me zittert kaum hörbar. Der Selbstmord seines Vaters war nicht der einzige Tod, den er verkraften musste: Der Vater sei­ ner Halbschwester erhängte sich 2015 nach Jahren der Abhängigkeit von Alko­ hol und Betäubungsmitteln: „Ich habe es nie verstanden“, meint Jesse zu mir. „Manche sagen, es sei eine Krankheit, aber bei manchen Menschen kann man es einfach nicht wissen.“ Er erzählt mir auch, dass sich sein Freund aus Kinderta­ gen irgendwo in dem Holzhaus hinter uns zurückgezogen habe, um Zuflucht in Schmerzmitteln zu suchen. Er wird den ganzen Abend nicht herauskommen.

„Big Pharma“ und die Konjunktur der Opiate Die Stadt Lafayette, aus der Jesse stammt, liegt in Louisiana, doch die Geschichte, die er uns berichtet, spielt sich jeden Tag überall in den Vereinigten Staaten ab: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Zahl der Todesfälle durch Selbstmord, Alko­ hol- und Drogenmissbrauch in den USA in die Höhe geschnellt und trägt so zu ei­ nem allgemeinen Absinken der Lebenser­ wartung bei. Ein Phänomen, das umso 18

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merkwürdiger ist, als es vor allem weiße Männer mittleren Alters betrifft – histo­ risch nicht unbedingt die am stärksten be­ nachteiligte Bevölkerungsgruppe – und das zu einem Zeitpunkt, wo die Wirtschaft seit zehn Jahren ununterbrochen wächst. Der Durchschnittsamerikaner scheint heute „an Verzweiflung“ zu sterben, mei­ nen die Wirtschaftswissenschaftler Sir An­ gus Deaton und Anne Case, die den Aus­ druck death of despair prägten. Sie waren die Ersten, die Alarm schlugen – aber wo­ her genau kommt die Verzweiflung? Es ist ein verblüffendes Paradox: Die Amerika­ ner profitieren einerseits von einer Wirt­ schaft mit einem jährlichen Bruttoinlands­ produkt von fast 60 000 Dollar pro Kopf und einer Arbeitslosenquote, die gegen null tendiert. Doch gleichzeitig bringen

sich immer mehr von ihnen um. Wie also ist dieses merkwürdige Unbehagen im reichsten Land der Welt zu erklären? Die Gebirgskette der Appalachen war im kollektiven Gedächtnis der Amerika­ ner einmal das Rückgrat der Nation: In den Tälern am Fuße dieser dunstverhan­ genen Bergkämme schufen die ersten Siedler eine Kultur, die auf Country-Mu­ sik, Schnaps und harter Arbeit beruhte. Die Kohlebergleute des 20. Jahrhunderts waren ihre stolzen Erben. Doch die Au­ tomatisierung des Bergbaus und die dar­ auffolgende Armut ließen dieses Bild weitgehend verblassen. Schlimmer noch: Diese Region ist heute das Epizentrum einer der heftigsten Drogenepidemien, die das Land erlebt hat. 2017 starben 70 000 Amerikaner an einer Überdosis –


„Die Pharmaindustrie hat erreicht, dass Ärzte bei allen möglichen gewöhnlichen Schmerzen Opiate verschreiben“ Beth Macy, Journalistin

Überdosis an Opiaten: Ersthelfer versorgen einen Drogensüchtigen in Tulsa, Oklahoma (rechts). Für viele, wie auch diesen Mann aus Drexel, Ohio, (links) kommt jedoch jede Hilfe zu spät

also mehr als im Irakkrieg, Afghanistan­ krieg und Vietnamkrieg zusammenge­ nommen –, darunter 48 000 an Opiaten. „Schuld ist die Pharmaindustrie. En­ de der 1990er-Jahre lancierte sie eine massive Kampagne, um die Leute zu überzeugen, dass Opiate nicht schädlich seien. So haben sie erreicht, dass Ärzte bei allen möglichen gewöhnlichen Schmerzen Opiate verschreiben.“ In ei­ nem Restaurant in Roanoke in Virginia liefert mir Beth Macy eine ausgefeilte Argumentation. Durch ihre Medienauf­ tritte ist die erfahrene Journalistin für die Einwohner der kleinen Bergarbei­ terstädte zu einer Lokalmatadorin ge­ worden. Ihren Worten zufolge ist sie selbst Zielscheibe von großen Unter­ nehmensgruppen wie Purdue Pharma, dem Hersteller von Oxycontin, gewor­ den. „Die Opiate wurden Teil amerika­ nischer Hausapotheken“, fährt sie fort,

„und so kamen auch Jugendliche damit in Kontakt.“ Um den Hals trägt sie ein Medaillon mit einem Erinnerungsfoto von Tess, einer jungen Frau, die bereits in ihrer Kindheit traumatische Erlebnis­ se verkraften musste und der man zwei lange Therapien mit Opiaten wegen ei­ ner einfachen Bronchitis verschrieben hatte. Von dieser Behandlung führte der klassische traurige Weg über Betäu­ bungsmittel vom Schwarzmarkt, Heroin in Pulverform (zuletzt intravenös) bis hin zur Überdosis. Die Straße nach West Virginia ver­ läuft über waldige Berge auf und ab. Man hat die nostalgische Stimme John Den­ vers im Ohr, der die „Country Roads“ der „Mountain Mama“ besang. Auf der Fahrt denke ich an das Gespräch mit Beth M ­ acy. Ihre Anklage der Pharmaindustrie wird inzwischen in den USA breit geteilt. Über tausend Gerichtsverfahren wurden gegen die Familie Sackler, die Eigentümer von Purdue Pharma, eingeleitet.

Eine betäubte Gesellschaft Doch Beths Argumentation erklärt nicht alles. Zum Beispiel den Anstieg von Selbstmorden und Alkoholismus unab­ hängig von Opiaten, die sich oft auf die­ selben Gegenden konzentrieren. Außer­ dem vernachlässigt sie die Rolle, die persönliches Leid in der Angelegenheit spielt: Bei allen Betroffenen, die ich in­ terviewte, kamen eine schwierige Kind­ heit, Ängste und Depressionen zum Vor­

schein. Sicher hat die übermäßige Verfügbarkeit von Opiaten verheerende Schäden in den Problemgemeinden an­ gerichtet, die Beth Macy verteidigt. Doch warum wurden die Substanzen überhaupt eingenommen? Warum dieser allgemeine Ansturm auf Psychopharma­ ka, angefangen von Mitteln gegen Angst­ störungen wie Xanax bis hin zu starken synthetischen Opioiden wie Fentanyl? „Genau das ist die Frage, doch nie­ mand stellt sie!“, meint Michael Brumage, Arzt in Charleston, West Virginia, aufge­ bracht. „Was treibt die Leute dazu, aus der Realität flüchten zu wollen? Man beschäf­ tigt sich so sehr mit den direkten Ursa­ chen der Epidemie, dass diese grundsätzli­ che Frage nicht mehr gestellt wird.“ Für den Experten in medizinischer Vorsorge und ehemaligen Leiter des Büros für die regionale Anti-Drogen-Politik liegt der Schlüssel des Problems in den „sozialen Determinanten von Gesundheit“ – ein Begriff, den die Weltgesundheitsorganisa­ tion benutzt, um den Fokus auf die Bedeu­ tung des sozialen Umfelds für die Ge­ sundheit zu lenken statt nur auf individuelle Risikofaktoren. Über die so­ zialen Bedingungen, die zum Phänomen des „Todes aus Verzweiflung“ beitragen könnten, hat Brumage, der selbst aus ei­ nem Bergarbeiterstädtchen im Norden des Bundesstaats stammt, eine Menge zu sagen: „Solange die Bergwerke funktio­ nierten, teilten die Familien dasselbe Schicksal, sie kämpften gemeinsam. Arbeit verschafft nicht nur ein Einkommen, Philosophie Magazin Nr. 02 / 2020

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prägten, ungeordneten Bedingungen ausgesetzt sind, wachsen und gedeihen sie; sie lieben das Abenteuer, das Risiko und die Ungewissheit.“ Antifragilität sei daher „mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser.“ Das Risiko, so Percovich, gehöre zum Skateboarden wesent­ lich dazu: Die Tatsache, dass jeder noch so kleine Stein auf der Fahrbahn einen schmerzhaften Sturz verursachen kann, führe dazu, dass man als Skateboarder extrem achtsam sei. Auf dem Skateboard zu stehen, habe für ihn daher eine geradezu medita­ tive Qualität: „Man ist dadurch sehr präsent, extrem fokussiert.“ Als er 2014, nach sieben Jahren in Kabul, nach Berlin umzog, habe er sich erst einmal daran gewöhnen müssen, dass man hier, von den üblichen Unfallrisiken abgesehen, so unglaublich sicher sei. In Kabul spüre man stets eine latente Lebensgefahr, eine background danger: Die Menschen dort würden sich daher mit geschärften Sinnen durch den Stadtraum bewegen. „Ein biss­ chen“, fügt Percovich hinzu, „ist es so, als würden sie die ganze Zeit auf einem Skateboard stehen.“

Umdeutung des öffentlichen Raums

Skateboarden hat eine ­geradezu meditative ­Qualität: Man ist dadurch sehr präsent, extrem ­fokussiert bewegte sich … und im nächsten Augenblick lag ich auf dem Boden. Der Rücken tat mir weh, aber ich dachte: Davon lass ich mich nicht unterkriegen! Dieses Ding will ich bezwingen! And it hasn’t left me ever since.“ Aber warum sollte man sein Leben einem Gegenstand wid­ men, dessen Betreten ganz offensichtlich mit der Gefahr von Schmerz und Verletzung verbunden ist? Eine Antwort bietet das Prinzip der „Antifragilität“, das der Philosoph und Risikoforscher Nassim Nicholas Taleb in seinem gleichnamigen Buch entwickelt hat. Antifragile Menschen, schreibt Taleb – der selbst aus einem krisengeschüttelten Land, dem Libanon, stammt – stehen den Unwägbarkeiten des Lebens aufgeschlossen gegenüber. Sie „pro­ fitieren von Erschütterungen; wenn sie instabilen, vom Zufall ge­ 36

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Nur folgerichtig, dass Percovichs Hobby in Afghanistan auf so fruchtbaren Boden fiel. Zur Faszination könnte außerdem beige­ tragen haben, dass das Skateboarden eine Inbesitznahme und Umdeutung des öffentlichen Raums erlaubt. „Skateboarder lie­ ben es, Orte und Strukturen zu benutzen, die eigentlich nicht zum Skaten gedacht sind“, erklärt Percovich. Die Kabuler Kin­ der und Jugendlichen skateten unter anderem in einem alten so­ wjetischen Militärschwimmbad, das unter den Taliban für Hin­ richtungen genutzt wurde. Sie kurvten durch den verfallenen Palast von Darul Aman, der bei der Saurrevolution 1978 in Brand gesetzt wurde. Sie fuhren in einem aufgelassenen Brunnen vor der amerikanischen Botschaft, zu Füßen der Statue eines gefalle­ nen Mudschaheddin-Kämpfers – zumindest bis der örtliche Parkwächter kam und sie mit Stockschlägen verjagte. Aus Schau­ plätzen der militärischen Repräsentation wurden so Orte des Spiels und des Sports, der kindlichen Freude an der Grenzüber­ schreitung. Die Skateboarder beteiligten sich, mit Henri ­Lefebvre gesprochen, an der „Produktion des städtischen Raums“. Was bei der Popularisierung des Skateboardens half, war der unklare ontologische Status des Skateboards: Ist es ein Sportge­ rät? Ist es ein Fortbewegungsmittel? Ist es ein Lifestyle-Acces­ soire, eine subkulturelle Praxis, eine Philosophie? Den Eltern seiner ersten Schülerinnen und Schüler erklärte Percovich, dass es sich um ein Spielzeug handele – das ermöglichte ihm, auch Mädchen in den Unterricht einzubeziehen, denen sonst das Aus­ üben von Sport verboten war. Und der Enthusiasmus der Kinder ließ in Percovich noch einen anderen Gedanken reifen: Wenn sich die jungen Kabuler für das Üben von Skateboard-Tricks be­ geistern ließen – dann müssten sie sich auch für andere Lernin­ halte erwärmen lassen. Im Rahmen von Skateistans Back-toSchool-Programm bekommen die Kinder mittlerweile nicht nur


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Leben / Porträt

Ollies und Flips beigebracht, sondern können innerhalb von elf Monaten den Stoff der ersten drei Schuljahre nachholen. Im ver­ gangenen Jahr nahmen insgesamt 700 afghanische Kinder an den Bildungsprogrammen von Skateistan teil. Neben der Schule in Kabul gibt es inzwischen eine weitere in Masar­e Scharif, au­ ßerdem Einrichtungen im südafrikanischen Johannesburg und kambodschanischen Phnom Penh. Für Oliver Percovich ist Skateistan längst ein Vollzeitjob, seine Leidenschaft ist zum Beruf geworden. Darüber hinaus ist Skateboarden die vielleicht treffendste Metapher für sein Le­ ben – wurde ihm doch immer wieder, im wörtlichen wie über­ tragenen Sinn, „der Boden unter den Füßen weggezogen“. Kurz nach dem epiphanischen Erlebnis auf dem Banana Board seines Cousins zog die Familie nach Papua­Neuguinea. Als er zehn Jahre alt war, kehrte sie zurück nach Australien, an das er aber kaum noch Erinnerungen hatte, „ich habe mich dort kulturell nie heimisch gefühlt“. Als er 14 war, starb sein Vater. Als er sei­ nen High­School­Abschluss machte, hatte er acht verschiedene Schulen besucht. In gewisser Weise ist Percovich der geborene Ex­Pat, ex patria, fern von zu Hause – kennt er überhaupt das Gefühl von Heimweh? Oliver Percovich, der sonst ausführlich und druckreif redet, denkt lange nach. „Ich habe sieben Jahre lang in Afghanistan ge­ lebt, und das war damals meine Heimat. Natürlich war das Leben dort manchmal hart … aber ich glaube, Heimweh ist ein Kon­ zept, das für mich keine besondere Rolle spielt.“ Er schaut aus dem Fenster, draußen verfärbt sich der Berliner Himmel allmäh­ lich von Hellgrau zu Schwarz. Möglicherweise ist dies die Ironie in Oliver Percovichs Leben: Dass die größte Konstante ein wackliges, rollendes Brett ist. /

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Dossier

Foto: Jelka von Langen/Soothingshade

Warum ist es so schwer, sich zu ändern?

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Intro

Abweichung wagen Von Svenja Flaßpöhler

52

1. Weg: üben

Die Macht der Gewohnheit. Essay von Michel Eltchaninoff

56 Peter Sloterdijk: „Du mußt dein Leben

ändern“ (Textauszug)

2. Weg: überwinden

58

Fünf Menschen über Wege aus der Angst Kommentiert von Alice Lagaay

3. Weg: wollen

64

Wie kann man sich selbst treu sein? Gespräch mit Pierre Zaoui

Gewohnheiten, Ängste, Orientierungslosigkeit: Vielfältig sind die Gründe dafür, warum wir im Alten verharren, selbst wenn es mit Leid verbunden ist. Das folgende Dossier zeigt drei Wege in eine neue Existenz auf

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Lesermeinung

UND wAs denken Sie? Wieso verbringen wir zu viel Zeit am Smartphone? Machen zu wenig Sport? Ernähren uns ungesund? Wir haben unsere Leserinnen und Leser gefragt, warum es so schwer ist, sich zu ändern

„Weil man zu jedem

Zeitpunkt X ein seinen Möglichkeiten entsprechend optimiertes Leben führt.“

Frank Werner

„Sich zu verändern, heißt immer, sich aus G ­ ewohnheiten und Routinen herauszubewegen, die einen beherrschen, und sich auf Neues und Unbekanntes bei sich oder in der Welt einzulassen.“ Leon Reymann

„Ist es so schwer, sich zu ändern?“ Max Rosenbaum

„Das Eingeständnis, sich ändern zu müssen, beinhaltet auch die unangenehme Erkenntnis, dass man bis zu diesem Zeitpunkt falsch auf die Welt reagiert hat. Eine solche Diskrepanz zwischen Vorstellung und Realität ist uns unerträglich.“ Daniel Schrapps

„Es ist schwer, weil wir uns selber nicht kennen, wir wissen nicht, wer wir sind, wir kennen nicht den Grund unseres Verhaltens.“ Marta Maria


Dossier

Wie sich ändern?

Die Macht der Gewohnheit Wie entkommen wir der Routine, dieser Abfolge von mechanischen Akten, die unmerklich zu einer Abstumpfung unserer Existenz führt? Indem wir sie durch etwas ganz Ähnliches ersetzen, das jedoch viel bereichernder ist: die Übung 1. Weg Von Michel Eltchaninoff / Aus dem Französischen von Felix Kurz

üb

Michel Eltchaninoff Der Philosoph und Journalist ist leitender Redakteur des französischen Philosophie Magazine. 2016 erschien

sein Buch „In Putins Kopf“ (Tropen), 2017 „Dans la tête de Marine Le Pen“ (Actes Sud)

Eine unwiderstehliche Kraft wirkt in uns. Sie be­ herrscht unser Leben, und dabei nehmen wir sie meist nicht einmal wahr. Sie versteht es, stumm und beinahe unsichtbar zu bleiben. Sie dringt in die Poren der Zeit ein, durchzieht unser Tun, spricht und ent­ scheidet an unserer Stelle. Das macht es so schwer, sie zu bekämpfen. Schlimmer noch: Je mehr Zeit ver­ geht, umso mehr setzt sie sich fest. Als Dostojewski in seinem Roman „Die Dämonen“ die Figur des Stepan Trofimowitsch Werchowenskij schildert, eines altern­ den Intellektuellen, der in seiner Neigung zu Faulen­ zerei, Kartenspiel und Wein versinkt, bringt er es auf eine grausame Formel: „Es scheint wohl wahr zu sein, dass die zweite Hälfte des menschlichen Lebens sich gewöhnlich nur aus Gewohnheiten zusammensetzt, die man in der ersten Hälfte erworben hat.“ Ab einem gewissen Zeitpunkt kann man sie nicht mehr ablegen. 52

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Woher rührt die Macht der Gewohnheit? Zunächst wendet sie sich nicht an unseren Geist, sondern schreibt sich in unseren Körper ein. Diese oder je­ ne Idee zu widerlegen, ist vergleichsweise leicht; viel schwerer fällt es, sich von einem Teil seiner selbst zu trennen. Wie Henri Bergson schreibt, ist die Gewohnheit „der versteinerte Überrest einer ehemals geistigen Aktivität“. Auch wenn sie manch­ mal ausgehend von einem Gedanken oder einer Entscheidung entsteht, verankert sie sich unaus­ weichlich in der Materie unseres Körpers. Sehr oft steckt sie in unserer Hand, die sich zum Gruß hebt, in der Wange, die wir jemandem zum Küsschen hinhalten, den Lippen, die sich von ganz allein be­ wegen, um eine Höflichkeitsfloskel zu artikulieren, ohne dass sie von Herzen käme. Wenn wir einen bestimmten Weg zum ersten Mal gehen, finden wir alles entzückend. Schon nach wenigen Wochen aber trotten wir mit mechanischen Schritten dahin, unsere Augen nehmen von nichts mehr Notiz. Was sinnlich greifbar war, ist verblasst: Wir sind un­ empfänglich geworden für die Schönheit der Din­ ge. Gewohnheit bedeutet sterile Wiederholung. Nach Bergson ist „die einmal angenommene Ge­ wohnheit (…) ein Mechanismus, eine Reihe von Bewegungen, die sich untereinander bedingen“. Sie rastet ein und setzt sich fort, ohne dass wir be­

en


Klassiker / Dossier

Klassiker Große Ideen verstehen

Freud und die Kultur

68

Mit einem Essay von Marianna Lieder

Was ist Existenzialismus?

74

Ein Überblick

76

Zum Mitnehmen

Rousseaus „Vom Gesellschafts­ vertrag“ / Der japanische Denker Kitar Nishida / Niklas Luhmann über das Sichzurechtmachen

Menschliches, Allzumenschliches

78

Comic von Catherine Meurisse

Sigmund Freud zusammen mit Prinz Peter von ­Griechenland und Dänemark in Paris im Juni 1938

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Foto: AGIP/Bridgeman Images


Klassiker / Dossier

Freud und die Kultur Auf Sigmund Freuds Couch nahmen nicht nur neurotische Individuen, sondern gleich die gesamte Zivilisation Platz. Vor 90 Jahren gelangte der Übervater der Psychoanalyse zu einer Diagnose, die bis heute aufhorchen lässt: Unsere Kultur gründet auf archaischen Urtrieben, die jederzeit die Überhand gewinnen können. Es droht eine Katastrophe, gegen die keine Vernunft ankommt

Einst glaubte man, die Sonne kreise um die Erde. Dann kam Nikolaus Kopernikus und sagte: Das sieht nur so aus. In Wirklichkeit ist die Erde ein Planet unter vielen, die alle um die Sonne kreisen. Schweren Herzens ver­ abschiedete sich die Menschheit von der Vorstellung, den Mittelpunkt des Universums zu bewohnen. Im­ merhin konnte man sich noch mit dem Gedanken trösten, als „Krone der Schöpfung“ von ungleich edle­ rer Herkunft zu sein als jede sonstige Kreatur auf dem dezentrierten Erdball. 300 Jahre nach Kopernikus kam Charles Darwin und sagte: Das, was ihr Schöpfung nennt, ist eigentlich Evolution. Alle Lebewesen haben sich im Lauf des naturgeschichtlichen Geschehens entwickelt und sind durch einen gemeinsamen Stamm­ baum miteinander verbunden. Folglich ist der Mensch nicht Gottes Ebenbild, sondern ein hochkomplexer, haarloser Affe. Auch dieser zweite Schock saß tief. Gänzlich wollte die Menschheit ihren Gattungsstolz noch immer nicht aufgeben. Wenn man schon zum Tier degradiert wurde, dann bitte schön wenigstens zum vernunftbegabten, zum animal rationale. So klam­ merte man sich im 19. Jahrhundert besonders hartnä­ ckig an das Selbstbild des autonomen Subjekts. Doch nur wenige Jahrzehnte nach Darwin kam Sigmund Freud und sagte: „Das Ich ist nicht Herr im eigenen 68

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Haus“, womit er meinte, dass wir uns zwar einbilden, mit selbstgewissem Geist und freiem Willen durchs Leben zu gehen. In Wahrheit aber wird unser Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich durch das Unbe­ wusste gelenkt – ein abgründiges, schwer zugängliches Verlies unserer Seele, in dem sich geheime Wünsche, verdrängte Erlebnisse, inakzeptable Begierden und ur­ sprüngliche Triebe tummeln. Die dritte und letzte Menschheitskränkung war mit Abstand die schlimmste. Das stand zumindest für denjenigen fest, der sich die Tat stolz auf die eigenen Fahnen schrieb: „Eine Schwierigkeit der Psychoana­ lyse“, lautet der Titel des kurzen Essays von 1917, in dem Freud das Sprengstoffpotenzial seiner Lehre be­ tont und sich gemeinsam mit Kopernikus und Darwin zur Dreifaltigkeit der Desillusionierung erklärt. Angesichts solch enthemmter Selbstbeweihräu­ cherung drängt sich der Einwand auf: Haben nicht die Philosophie und die Literatur viel ältere Rechte am Begriff des Unbewussten als die Psychoanalyse, die hier so triumphierend und vereinnahmend auftritt? Man denke nur an romantische Dichter wie Jean Paul oder E. T. A. Hoffmann, an Eduard von Hartmann, den „Philosophen des Unbewussten“, von Nietzsche ganz zu schweigen. Allerdings versuchte Freud gar

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Von Marianna Lieder


Steckbrief: Freud Leben 1856 Geburt in Freiberg/ Mähren (heute: Pribor/Tschechien)

Hauptberuf Neurologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker, Begründer der Psychoanalyse. Die Vorstellung vom Menschen als rationales Wesen attackierte er durch seine Lehre von der Macht des Unbewussten: Wir mögen uns einbilden, nach Maßgabe der Vernunft und des freien Willens zu handeln, tatsächlich jedoch werde unser Verhalten von verdrängten Begierden und unkontrollierbaren Trieben gesteuert. „Der Mensch“, so Freud, „ist nicht Herr im eigenen Haus.“

Nebentätigkeit Herr im eigenen Haus. Freud war ein Wiener Bourgeois und Familienpatriarch wie aus dem Bilderbuch. Während er das Menschenbild revolutionierte, hielt ihm seine Frau Martha ganz traditionell den Rücken frei und erzog die sechs gemeinsamen Kinder. Auch als Cheftheoretiker der Psychoanalyse hatte er das Zepter in der Hand. Viele seiner berühmten Meisterschüler fielen irgendwann in Ungnade, darunter Carl Gustav Jung, Alfred Adler, Otto Rank, Otto Gross und Wilhelm Reich.

1899 „Die Traumdeutung“ erscheint (vordatiert auf 1900) 1930 Veröffentlichung von „Das Unbehagen in der Kultur“

Freunde

Josef Breuer (1842–1925): Arzt und Mitbegründer der Psychoanalyse. 1885 veröffentlichte er mit Freud die „Studien über Hysterie“, die als Gründungsdokument der Lehre gelten. Wilhelm Fließ (1858–1928): Hals-Nasen-Ohren-Spezialist von genialer „Verrücktheit“, wie Freud fand, der mit Fließ seine „Selbstanalyse“ durchführte. Anna Freud (1895–1982): Psychoanalytikerin, Freuds „Lieblingskind“, Assistentin, Pflegerin und Nachlassverwalterin. Jacques Lacan (1901–1981): Psychoanalytiker, der die Lehre Freuds mit linguistischen und strukturalistischen Methoden weiterentwickelte.

1933 Bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung gehen Freuds Werke in Flammen auf 1938 Freud flieht mit seiner Familie nach London ins Exil 1939

„Das Sexualleben des Kultur­ menschen ist doch schwer geschädigt“

Tod in London

„wO ES wAR, AR, SOLL ICH wERDEn“ – Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse

– Das Unbehagen in der Kultur

Feinde Wie alle großen Theorien hat auch die Psychoanalyse heftigen Widerspruch hervorgerufen. Zu spekulativ, zu suggestiv, zu sehr auf Sex fixiert, lauten bis heute beliebte Einwände. Andere wiederum fanden Freuds Lehre zu rationalistisch. Während des Nationalsozialismus erreichte das Freud-Bashing seinen traurigen Höhepunkt. Die Psychoanalyse galt als „jüdische Wissenschaft“ schlechthin, als Inbegriff des lebensfeindlichen Geistes, der „zersetzenden“ Logik und Berechnung.

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