Nr. 06 / 2016
Oktober / November
MAGAZIN
sind wir?
Benjamin und der Sinn der Geschichte
0 6
berechenbar
REPORTAGE: Der Schrebergarten – eine deutsche Utopie
4 192451 806907
Wie
STREITGESPRÄCH MIT ALAIN BADIOU: Was hat Europa ausgehöhlt?
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
Big Data vs. freies Leben:
Denker in diesem Heft
Schüler- und Studentenabo Zum Vorteilspreis von 26€ statt 41,40€
S. 50
S. 26
S. 60
Yvonne Hofstetter
Alain Badiou
Thea Dorn
Durch freiwillige Datenpreisgabe macht sich der Mensch zu einem vorhersehbaren Objekt. Die Big-Data-Expertin und Bestsellerautorin („Sie wissen alles“) weist im Dossier eindringlich auf die Gefahren des digitalen Zeitalters hin und erklärt, warum Algorithmen unsere Freiheit bedrohen. Im September erscheint ihr neues Buch „Das Ende der Demokratie“ (beide Bertelsmann).
Der emeritierte Professor für Philosophie lehrte bis 1999 an der Université de Paris VII. Mit dem französischen Intellektuellen Michel Gauchet streitet der Kommunist über die wahren Gründe für die tiefe Krise Europas. In seinem jüngsten Buch „Wider den globalen Kapitalismus“ (Ullstein, 2016) erklärt Alain Badiou, warum der Rückzug auf nationale Identitätskonzepte keines der globalen Probleme lösen wird.
Allein die Angst macht uns berechenbar, behauptet die Philosophin und Schriftstellerin. Im Gespräch mit dem Kabarettisten Vince Ebert beschreibt sie die Lust, aus Lebensmustern auszubrechen. Für ihre Kriminalromane wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis. Ihr aktueller Roman „Die Unglückseligen“ (Knaus) behandelt den Fauststoff im Kontext des 21. Jahrhunderts.
S. 68
S. 16
S. 44
Dieter Thomä
Sabine Müller-Mall
Ethan Zuckerman
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S. 19 im Heft
In seinem aktuellen Buch „Puer robustus“ (Suhrkamp) widmet sich der in St. Gallen lehrende Professor für Philosophie einer vergessenen Figur: dem Störenfried, der die gesellschaftliche Ordnung angreift, ohne sich zu radikalisieren. „Eine Demokratie ohne Störenfriede ist keine“, sagt Thomä im großen Gespräch und betont dabei die Notwendigkeit von Randfiguren im politischen Diskurs.
Nein heißt Nein, Burkaverbot: Anlässlich der jüngsten Forderungen nach verschärften Gesetzen ergründet die Rechtsphilosophin den Einfluss von Verboten auf die Gesellschaft und deren Wertvorstellungen. Sabine Müller-Mall ist Professorin für Rechts- und Verfassungstheorie an der TU Dresden. Ihr Buch „Performative Rechtserzeugung“ erschien 2012 bei Velbrück.
„Die Prognosekraft von Google wird gewaltig überschätzt!“, behauptet Ethan Zuckerman. Warum das so ist, erklärt der Internetaktivist, bekannte Blogger und Philosoph im Dossier. Ethan Zuckerman arbeitet seit 2011 am Massachusetts Institute of Technology und gilt als Erfinder des Pop-ups. Sein jüngstes Buch: „Rewire. Warum wir das Internet anders nutzen müssen“ (Huber, 2014).
Die nächste Ausgabe erscheint am 17. November 2016
Fotos: Jens Schwarz; Jérôme Bonnet/Modds; Pere Rigaud; Malte Jäger; privat; creative commons
(nach dem ersten Jahr)
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe
S. 26 Dialog Was hat Europa ausgehöhlt? Alain Badiou und Marcel Gauchet im Streitgespräch S. 32 Reportage Der Schrebergarten – eine deutsche Utopie Von Svenja Flaßpöhler
Sind wir berechenbar?
S. 68 Das Gespräch Dieter Thomä S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Walter Benjamin und die Geschichte Von Wolfram Eilenberger + Sammelbeilage: „Über den Begriff der Geschichte“
Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Uber-Terrorismus: Die neue Strategie des Tötens / Pokémon GO: Spielend in eine neue Wirklichkeit / Burkaverbot: Wird die Kraft des Rechts überschätzt? S. 20 Prêt-à-penser Die Kolumne von Barbara Vinken Diesmal: Das Zölibat S. 22 Erzählende Zahlen Kolumne von Sven Ortoli
S. 32
S. 42 Unter Platos Zirkel Von Wolfram Eilenberger S. 44 „Die Prognosekraft von Google wird überschätzt!“ Ethan Zuckerman im Gespräch S. 48 Unterwegs zur Cookie-Existenz Von Maurizio Ferraris S. 50 Die Vorausschauer Sechs Expertenporträts Von Jutta Person S. 56 Handbuch zum Überleben in Überwachungsgesellschaften Von Michel Eltchaninoff S. 60 Wer hat Angst vor dem Unberechenbaren? Thea Dorn und Vince Ebert im Dialog
Bücher S. 82 Buch des Monats Das Leben verstehen S. 84 Thema Der Sex der frühen Jahre S. 86 Scobel.Mag S. 88 Die Philosophie-MagazinBestenliste S. 90 Die Hassfrage Drei Bücher über Heidegger
Fotos: Kirill Golovchenko; gallerystock.com; Cig Harvey; David Stewart
Finale
S. 25
S. 44
S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Das Kamel / Das Gare ist das Wahre / Impressum S. 98 Sokrates fragt Jean-Michel Jarre
S. 83
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2016 / 5
Horizonte
Dialog
Alain Badiou / Marcel Gauchet
Was hat Europa ausgehöhlt? Der Brexit war nur das deutlichste Zeichen. Die EU steckt in einer bestands gefährdenden Krise – und mit ihr der gesamte Kontinent. An seinen Grenzen herrscht Krieg, in seinem Inneren Angst. Die Philosophen Alain Badiou und Marcel Gauchet streiten über die tieferen Gründe dieser Entwicklung Das Gespräch führten Martin Duru und Martin Legros
D
as Projekt der Europäischen Union stockt. Innerlich zerstritten, strukturell überfordert und unzureichend legitimiert, verliert es zunehmend an internationalem Einfluss. Wie konnte es zu dieser Sinnkrise kommen? Welche Bedeutung spielen dabei die heutigen Finanzmärkte? Wird Europa, einst imperialistischer Ausgangspunkt der wirtschaftlichen Globalisierung,
Foto: Kyle Bean and Aaron Tilley
Alain Badiou Alain Badiou, lange Zeit ein führender Kopf des französi schen Maoismus, gründete u. a. mit Michel Foucault die Fakultät für Philosophie an der Université de Paris VII, wo er bis 1999 lehrte. Konzepte des Subjekts und politische Philosophie gehören zu seinen Schwerpunkten. Seine kommunistische Orientierung spiegelt sich besonders in dem Buch „Die kommunisti sche Hypothese“ (Merve, 2011) wider
Philosophie Magazin: Es herrscht heute das Gefühl einer allgemeinen Krise: der Demokratie, der nationalstaatlichen Souveränität und auch des globalen Kapitalismus. Worin liegen die Gründe? Marcel Gauchet: Das sind viele Fragen auf einmal! Und es ist schwierig, sie ernsthaft zu behandeln. Alain Badiou muss mir verzeihen, es könnte etwas länger dauern … Alain Badiou: Machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich poliere inzwischen meine Waffen. Gauchet: Was seit der Banken- und Finanzkrise von 2008 vor sich geht, ist der Ausdruck eines strukturellen Problems. Auf dem Papier ist der Kapitalismus völlig gesund: Noch nie hatte er so
mittlerweile von eben diesem Prozess zerfressen? Ist seine nationalstaatliche Vielfalt die Lösung oder vielmehr das Problem? Der Franzose Alain Badiou, einer der einf lussreichsten politischen Denker unserer Zeit und bekennender Vertreter einer kommunistischen Internationalen, geht im Dialog mit Marcel Gauchet, einem glühenden Verfechter der liberalen Demokratie, den Ursachen für die europäische Misere nach.
viel Manövrierfreiheit, um sich weltweit Marcel Gauchet zu entfalten. Und doch ist er krank, schwer und chronisch krank. Der Kapitalismus wird in seinem Inneren von Der Historiker, Philosoph und Soziologe ist einer der einem seiner hervorstechendsten Aspekprominentesten te angegriffen, der wirtschaftlichen und Intellektuellen Frankreichs. Der emeritierte Professor finanziellen Globalisierung. Was ist die widmet sich unter anderem Globalisierung? Sie ist die Möglichkeit, Fragen der modernen die die stärksten Akteure haben, sich der Individualitätsgesellschaft und den Dilemmata der Regeln zu entledigen, die innerhalb der Globalisierung. Sein viel nationalen Räume definiert sind. Ein beachtetes Buch „Erklärung multinationaler Konzern kann den Staader Menschenrechte“ (Rowohlt, 1995) beleuchtet ten seine Gesetze diktieren, man sieht das Gründungsmanifest der die Beweise dafür leider täglich … Man Demokratie in Europa f leht das Kapital an, zu kommen oder nicht wieder wegzugehen. Die Wirtschaftsorganismen haben einen maßlosen Handlungsspielraum bekommen. Das beruht zu einem Großteil auf dem Prozess der Finanzliberalisierung, der am Ende der 1970er-Jahre eingeleitet >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2016 / 27
Horizonte
Reportage
Der SCHREBER
garten –
eine deutsche Utopie Der Schrebergarten ist die perfekte Symbiose zweier als ausnehmend deutsch geltender Sehnsüchte: Natur und Ordnung. Doch welche Ideologie steckt hinter den akkuraten Hecken? Ein Ausflug in die traditionsreiche Berliner Kleingartenanlage „Sonnenschein“ – und die geistige Welt Moritz Schrebers, jenem Arzt und Schwarzen Pädagogen, der als Zuchtmeister des Kindes in die dunkle deutsche Geschichte einging Von Svenja Flaßpöhler / Fotos von Kirill Golovchenko
W
ochenende. Mit einem Seufzer der Erleichterung trete ich durch die Pforte unserer Kleingartenanlage „Sonnenschein“ tief im Osten Berlins. „Naherholungsgebiet“ steht auf einer Steintafel. Als hätte dieses Wort einen Abwehrzauber, verstummt der Lärm der Großstadt sofort. Sogar die Kinder sind plötzlich ganz still. Von meinem Arm aus beobachtet unser Sohn interessiert eine Amsel, die auf dem frisch gemähten Rasen von Parzelle 14 nach einem Wurm pickt. Seine große Schwester reitet auf ihrem imaginären Pferd Flöckchen voraus zu Parzelle 18, wo die gleichaltrige Chantal spielt. 1926 wurde die Anlage gegründet, die meisten Häuser stammen aus dieser Zeit, geräumige Holzhütten mit Küche, Schlafzimmer, Wintergarten, manchmal sogar Öfen. Mein Mann schiebt, leise vor sich hin pfeifend, den voll bepackten Kinderwagen, darin Nudeln, Windeln, Bier, Gelierzucker, was man so braucht für ein Wochenende im Garten. Vor uns flimmert der Hauptweg in der Sommerhitze, zu beiden Seiten ordentlich geharkt, rechts von uns
liegt der Festplatz, dahinter geht es links ab in die Stadionstraße, gleich sind wir da. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Hollywoodschaukel in unserer kühlen, efeubewachsenen Laube, sehe mich mit unserem Baby einen Mittagsschlaf halten, sehr tief und sehr lang, aber das hat natürlich nichts mit der Realität zu tun, denn was ich vor allem sehe, als wir um die Ecke biegen, ist das Unkraut vor unserem Gartenzaun. Eine halbe Stunde später, der Sohn schlummert in der Schaukel, befreie ich das Kartoffelbeet vom giftigen Goldregen, der sich in dieser Saison in der gesamten Anlage ausbreitet. Mein Mann sammelt Fallobst. Zur Ruhe kommen werden wir erst am Abend, wenn die Brombeeren und Äpfel geerntet, die Beete gejätet sind. Ach, und steht nicht auch noch ein kollektiver, verpf lichtender „Arbeitseinsatz“ morgen früh auf dem Festplatz an? Es gibt Freunde, die halten uns für schlichtweg verrückt. Freunde, die mit ihren Kindern am Wochenende einen Ausflug machen, Eis essen, ins Museum gehen, anstatt sich einem Bundeskleingartengesetz zu unterwerfen, dem zufolge ein Drittel der >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2016 / 33
Big Data vs. freies Leben:
Wie berechenbar sind wir?
DOSSIER
G
Foto: Lara Zankoul
entechnologie, Neurowissenschaft, Big Data: Die großen Innovationssprünge unserer Zeit versprechen eine immer präzisere Prognostizierbarkeit menschlichen Verhaltens. Geht es nach dem Willen von Google und Co., wird unser Alltag schon bald exakt voraussagbar sein. Es wäre ein Leben ohne böse Überraschungen, ohne Angst vor tiefen Enttäuschungen, ohne den Terror des Unverfügbaren. Realistische Vision oder schiere Unmöglichkeit? Vor allem aber: Wer von uns wollte ernsthaft in solch einer Welt leben? Wie, wenn überhaupt, könnten wir frei in ihr existieren? Ein Dossier mit Mut zu unvorhersehbaren Antworten. Mit Impulsen u. a. von Thea Dorn, Vince Ebert, Maurizio Ferraris, Yvonne Hofstetter, Christiane Woopen und Ethan Zuckerman
DOSSIER
Sind wir berechenbar?
„Die Prognosekraft
von Google wird gewaltig
überschätzt!“
Das Internet war einmal als globales demokratisches Kommunikationsmedium gedacht. Wie konnte es stattdessen zu einem gigantischen Überwachungsapparat werden? Ethan Zuckerman, selbst ein Protagonist dieser medialen Revolution, gibt Auskunft über seine Geschichte Das Gespräch führte Alexandre Lacroix
Foto: Adam Voorhes/Gallerystock; Autorenfoto: creative commons
Sie Journalist sind, würde ich eher versuchen, Ihnen Herr Zuckerman, beginnen wir mit dem Jahr 1989, als Tim Berners-Lee, einer Ihrer Kollemein Buch zu verkaufen als ein Paar Socken. gen am MIT, das World Wide Web erfand. War ihm bewusst, was er tat? Und dann gibt es noch die gefürchteten CooEthan Zuckerman: Tim Berners-Lee verstand sich in kies der Drittanbieter! erster Linie als Wissenschaftler. Das Internet war für Sie haben recht, die Cookies von Drittanbietern stellen ihn vor allem ein Medium, um den wissenschaftli- heute das Hauptproblem dar. Machen wir uns kurz chen Austausch zu erleichtern. In dieser Hinsicht ist klar, wie eine Webseite aufgebaut ist. Auf Webseiten das Internet tatsächlich ein voller Erfolg. Es bietet lassen sich verschiedene Blöcke platzieren, also Texte, die Möglichkeit, Informationen zu veröffentlichen Bilder oder Videos, die eigentlich von anderen Webund in aller Freiheit miteinander zu kommunizieren. seiten stammen. So funktioniert Werbung im InterAllerdings hat Berners-Lee sich kaum Gedanken um net. Nehmen wir mal an, dass Sie morgens die Seite die ökonomischen Aspekte gemacht oder darüber, von Spiegel Online aufrufen, um die Nachrichten zu wer denn eigentlich der Geldgeber des Internets sein lesen. In diesem Moment wird nicht nur Spiegel Online könnte. Außerdem hat er nicht bedacht, was passie- Cookies in Ihrem Browser platzieren, sondern auch ren würde, wenn sich andere Akteure alle Werbepartner der Zeitung. Nach des neuen Mediums bedienten. Geeiner Zeitungslektüre von zehn Minuten wöhnliche Bürger also und große privahaben Sie etwa 50 Spione auf Ihrem te Unternehmen, die an der Präzision, Rechner, das sind die berüchtigten Dritt mit der sich wissenschaftliche Nutzer anbieter-Cookies. Richtungsweisend war des Internets bedienten, gar kein Interin diesem Zusammenhang der Fall Douesse hatten. Dieser Aspekt spielte aber ble-Click, der 2001 vor ein US-BundesgeEthan richt kam. Im Urteil hieß es, dass der anfangs auch noch gar keine Rolle. Die Zuckerman Einsatz von Drittserver-Cookies keinen Privatwirtschaft zeigte ja erst seit 1993 Ethan Zuckerman studierte Eingriff in die Privatsphäre darstelle. Die oder 1994 Interesse an diesem neuen Philosophie und Musik Richterin verglich den Einsatz von CooMedium. ethnologe in den USA und Ghana und gilt als Erfinder des kies mit einem Telefonat unter FreunPop-ups. Der Blogger 1994 verwendete Lou Montulli, den, bei dem einer das Gespräch laut und Internetaktivist arbeitet der für den damals wichtigsten stelle, damit andere mithören könnten. seit 2011 am Massachusetts Webbrowser Netscape arbeitete, Institute of Technology (MIT), Das sei kein illegales Abhören. Dieses wo er u. a. den Einfluss neuer zum ersten Mal Cookies. War das Urteil hat zur Entstehung eines riesigen Medien auf die Verhaltensder Anfang vom Ende? Marktes geführt. Wenn Sie im Netz sursteuerung untersucht. In seiNatürlich: Cookies sind ein Albtraum! nem aktuellen Buch „Rewire. fen, geht Ihr Profil automatisch an den Aber lassen Sie mich zunächst auch et- Warum wir das Internet bes- Höchstbietenden aller Internetwerber, ser nutzen müssen“ (Huber, was zu ihrer Verteidigung sagen. Ur- 2014) erklärt Zuckerman, wa die Ihnen personalisierte Werbung schisprünglich dienten Cookies nämlich rum das Internet sein Verspre- cken wollen. Dieses automatisierte Marchen nicht erfüllt hat keting ist heute eine der Haupteinnahnicht dazu, Jagd auf die User zu machen, mequellen im Internet. Es entbehrt sondern bloß dazu, eine Session wiederherzustellen. Wenn Sie sich ohne Cookie mit einer nicht der Ironie, dass ausgerechnet die Onlineportale Webseite verbinden, erscheinen Sie dort jedes Mal als der Zeitungen als wichtigste Datenlieferanten fungieUnbekannter. Als würde jemand, den Sie schon mehr- ren, indem sie die Werkzeuge für das Webtracking zur fach getroffen haben, sich einfach nie an Sie erinnern. Verfügung stellen. So haben wir das Paradox, dass Sie Das schränkt den Austausch natürlich sehr ein. Der bei Spiegel Online oder beim Guardian alles über die Cookie bietet eine technische Lösung für dieses Prob- Enthüllungen Edward Snowdens lesen können oder lem: Er ist ein kleines Programm, das die besuchte auch leidenschaftliche Anklagen gegen die NSA und Webseite in Ihrem Webbrowser platziert und es er- deren massive Verletzung unserer Privatsphäre, wähmöglicht, dass Sie bei späteren Besuchen dieser Seite rend Ihr Browser gleichzeitig voller Wanzen ist, die wiedererkannt werden. Wenn Sie meine Webseite Sie ausspionieren. Vollkommen absurd ist das und ethanzuckerman.com zum zweiten Mal besuchen, eigentlich zum Totlachen. könnte ich Ihnen durch Cookies zum Beispiel die Startseite ersparen. Und falls Sie auf meiner Seite ein Paar Nun sind Sie selbst nicht ganz unschuldig. Was bringt der Erfinder der Pop-up-Werbung Schuhe gekauft haben sollten, könnte ich Ihnen sofort zu seiner Verteidigung vor? das Versanddatum mitteilen. Zwischen 1994 und 1999 arbeitete ich für Tripod, eiUnd die Nachteile? nen Informationsdienst für Studenten, der unter anProblematisch wird es mit der Personalisierung von derem bei der Wohnungs- und Jobsuche half. 1998 Inhalten. Hier endet die uneigennützige, symmetri- waren bereits 15 Millionen junge Leute bei uns angesche Kommunikation. Weil ich zum Beispiel weiß, dass meldet. Das war damals eine ziemliche Menge. Unse- >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2016 / 45
DOSSIER
Sind wir berechenbar?
Wer hat Angst vor dem
Thea Dorn Die studierte Philosophin zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen Deutschlands. Für ihren Kriminalroman „Die Hirnkönigin“ (Rotbuch, 1999) erhielt sie den Deutschen Krimi Preis. Ihr Sachbuch „Die deutsche Seele“ (zusammen mit Richard Wagner, Knaus, 2011) war ein Bestseller. Dorns aktueller Roman „Die Unglück seligen“ (Knaus, 2016) behandelt die Frage von Sinn und Möglichkeit eines ewigen Lebens
Lass dich überraschen! So könnte das Lebensmotto der beiden heißen. Die Schriftstellerin Thea Dorn und der Kabarettist Vince Ebert über Luthers Gottvertrauen, deutsche Qualitätsdübel und die grundmenschliche Angst vor einer offenen Zukunft Das Gespräch führte Catherine Newmark / Fotos von Peter Rigaud
D
ass im Unvorhersehbaren immer auch Gräuel stecken können, ist gerade in diesen Tagen mit Händen zu greifen. Wir treffen uns in einem Berliner Café. Die Julisonne strahlt, an sich würde die Republik jetzt gerne kollektiv auf Ferienmodus umschalten. Doch nur 24 Stunden zuvor hat ein junger Afghane ein Axtattentat in einem bayerischen Regionalzug begangen, und auch der Anschlag von Nizza ist omnipräsent. Noch ahnt niemand, was am nahenden Wochenende in München geschehen wird. Fast könnte man vergessen, dass im Unberechenbaren auch Lebenslust und Abenteuer stecken. Und nicht zuletzt Komik, wie der Wissenschaftskabarettist Vince Ebert als ein Meister der überraschenden Pointen beweist. Auch Thea Dorn ist eine Freundin unvorhergesehener Wendungen – in ihren Romanen wie als Autorin ihres eigenen Lebens. Beste Voraussetzungen für ein Gespräch, von dem zu Beginn noch niemand weiß, wohin es führen mag.
60 / Philosophie Magazin Oktober / November 2016
Unberechenbaren?
Vince Ebert Bevor er bei Kundenvorträgen sein kabarettistisches Talent entdeckte, arbeitete der Diplomphysiker als Unternehmensberater. Mit seinem aktuellen Soloprogramm „EVOLUTION“ ist Ebert derzeit auf Tour. Abseits der Bühne ist er in zahlreichen Fernsehformaten wie „Wissen vor acht“ zu sehen. 2016 erschien sein Buch „Unberechenbar. Warum das Leben zu komplex ist, um es perfekt zu planen“ (Rowohlt)
meinem auch nur ansatzweise ähnelt. Also, physikalisch gesprochen bin ich echt ein Messfehler. Ich denke viel darüber nach, warum das so ist.
Philosophie Magazin: Sieht man sich Ihre Lebensläufe an, wirken diese, als seien sie voller Wendungen und sogar von Brüchen durchzogen. Würden Sie zustimmen? Vince Ebert: Auf jeden Fall. Vom Physiker zum Unternehmensberater und dann zum Kabarettisten und Moderator, das ist jetzt nicht der klassische Karriereweg. In meinem Fall hat das aber weniger mit Mut zu tun als mit konkretem Leidensdruck. Physik studiert man ja eigentlich nicht, weil man nicht weiß, was man machen soll. Thea Dorn: Eben, dafür gibt es die Germanistik. Ebert: So direkt wollte ich es jetzt nicht sagen. Und selbst der Schritt von der Physik in die Unternehmensbera-
tung ist eigentlich noch im Normbereich. Ich sage ja immer, als Physiker verstehst du zwar von Beratung genau so wenig wie ein BWLer, dafür aber in der Hälfte der Zeit. Doch dann hielt ich diesen Beruf einfach nicht mehr aus. Diese Power-Point-Präsentationen, zu den Kunden fahren und denen erzählen, wie sie den Laden zu führen haben, das war mir zu absurd. Deshalb habe ich gekündigt und mit dem begonnen, was ich eigentlich machen wollte. Eine echte Kamikazeaktion. Aber der wahre Ausbruch kam bei mir, würde ich sagen, schon früher. Ich bin auf dem Land, in einem Dorf im Odenwald aufgewachsen. Es war wunderschön, meine Eltern sind wahnsinnig liebe Menschen, dennoch habe ich recht früh gemerkt, dass das überhaupt nichts für mich ist. Niemand sonst in meiner Familie hat Abitur. Niemand lebt ein Leben, das
Dorn: Das Einzige, was ich von früher Kindheit an sicher wusste, war auch bei mir: Auf keinen Fall das machen, was meine Eltern machen. Beide waren promovierte Volkswirtschaftler. Aber neben den beiden Alternativen, sich entweder ganz vom Elternleben abzustoßen oder aber es zu kopieren, gibt es ja noch eine dritte Möglichkeit, nämlich deren verdrängte Wünsche für sich zu realisieren. Meine Mutter hat ihren Job, ihre Festanstellung ein Leben lang gehasst. Es ist ein ganz deutliches Kindheitsbild, wie diese Frau, die eigentlich ein halber Hippie war, sich jeden Morgen „bürofein“ machen musste. Das prägt mich bis heute. Sobald ich merke, dass ich in einem System eingebunden bin, in dem ich anfangen muss, mich betriebskonform zu verhalten, verlasse ich es. Ebert: Und das führte dann also zur Entscheidung, Germanistik zu studieren? Dorn: Eigentlich wollte ich Opernsängerin werden. Ich weiß noch, wie ich mich mit 14 Jahren im Wohnzimmer des Familienhauses aufgebaut habe und den goldenen Satz sprach: „Entweder ich werde Maria Callas, oder ich springe >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2015 / 61
Ideen
Dieter Thomä
Das Gespräch
Was tun, wenn man sich fremd in der eigenen Gesellschaft fühlt? Gar eine radikal andere Welt will? Fragen, die im Zentrum des Denkens von Dieter Thomä stehen. Ein Gespräch über kindischen Lebenshunger, gestörte Männer und die tödliche Sehnsucht nach totaler Ordnung Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger / Fotos von Malte Jäger
Dieter
Thomä
»Keine Demokratie ohne Störenfriede!«
A
lles bestens, nur die Musik stört. Zu laut. Freundlich erkundigt sich Dieter Thomä bei der Bedienung seines Stammcafés, ob man sie für die nächsten 90 Minuten leiser stellen könnte. Schließlich gibt es Wichtiges zu besprechen. Über fünf Jahre hat er an seinem Werk „Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds“ (Suhrkamp) gearbeitet. Diesen Oktober wird es erscheinen. Es ist zweifellos das Buch der Stunde. Denn hat man das Thema mit Thomä erst einmal in den Blick genommen, sieht man sie in den westlichen Demokratien derzeit überall: notorische Querulanten, radikalisierte Fundamentalisten, egozentrische Populisten. Menschen, die mit aller Macht und manchmal auch aller Gewalt vom Rande der Gesellschaft ins Zentrum vordringen wollen. Thomä war einst selbst so eine Gestalt. Aus den allzu heilen Lebenswelten Süddeutschlands brach er nach Berlin auf, begann dort zu studieren, schloss sich der Hausbesetzerszene an. Heute, nach langem Marsch durch die akademischen Institutionen, lehrt er bestens etabliert als Professor in St. Gallen. Stören will er freilich noch immer. Und zwar mit der Kraft kluger Gedanken.
Philosophie Magazin: Herr Thomä, was hat Sie am Zustand der Welt als junger Mensch eigentlich so gestört, dass Sie sich für die Philosophie entschieden haben? Dieter Thomä: Da treffen Sie was. Ich war als Jugendlicher tatsächlich furchtbar unzufrieden mit mir, kam bei den Frauen nicht gut an, las dafür wie ein Wahnsinniger und fand dann als 16-Jähriger dieses Buch, durch das mir aufging, dass es um die ganze Welt nicht so gut bestellt ist, nämlich Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“. Das war für mich eine Art Schlüssel. Aber ein Denker der Kritischen Theorie oder Frankfurter Schule sind Sie dann gerade nicht geworden. Nein, denn ich war zeitgleich auch ein riesiger Jazzfan und bekam sehr schnell mit, was Adorno so Fieses und Lustfeindliches über den Jazz geschrieben hatte. Diese Miesmacherei störte mich. Es gab damals zwei Extreme in mir. Einerseits war ich ein wirklicher Buchmensch und versunkener Leser, andererseits aber auch so extrem lebenshungrig, dass ich zeitweilig sogar das Studium abgebrochen habe und stattdessen lieber
>>>
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2016 / 69
76 / Philosophie Magazin Oktober / November 2016
Illustration: SĂŠverine Scaglia, Bildvorlage: public domain
Ideen
Walter
Der Klassiker
Benjamin und die GESCHICHTE Nur wenige Monate vor seinem Selbstmord im Sommer 1940
verfasste Walter Benjamin einen epochalen Text „Über den Begriff der Geschichte“. Läuft die Historie auf ein vorgegebenes Ziel zu? Ist Fortschritt nur eine Illusion? Welche Rolle spielen technische Innovationen? Welche der Klassenkampf ? Welche Gott? Körperlich völlig erschöpft, finanziell am Ende und jeden Tag von der Deportation nach Nazi-Deutschland bedroht, bindet Benjamin im Pariser Exil noch einmal sämtliche Stränge seines Denkens zusammen und entwirft ein neues Geschichtsbild, das so verschiedene Denker wie Theodor W. Adorno, Hannah Arendt oder Jacques Derrida entscheidend prägte. In Zeiten höchster historischer Anspannungen und akuter Krisen öffnen sich nach Benjamins Überzeugung neue Fenster der politischen Hoffnung – gar der Erlösung. Weshalb dieser Text gerade heute wieder eine Leküre lohnt, erklären Wolfram Eilenberger, Victorine de Oliveira und Enzo Traverso.
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2016 / 77
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