Philosophie Magazin Nr. 5 / 2017

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Nr. 05/ 2017

August / September

MAGAZIN

Will ich zu viel oder zu

wenig?

GEFÄHRLICHE DENKER Wir trafen die Köpfe hinter AfD und Pegida EMMANUEL CARRÈRE „Empathie war meine Rettung“

0 5 4 192451 806907

Thoreauvon– Cord und der amerikanische Traum Riechelmann und Dieter Thomä

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

DIE GEDULD DES LEOPARDEN Durch die Wildnis Kirgistans


S. 68

S. 18

Beate Rössler

Emmanuel Carrère

Philipp Hübl

Die Professorin für Philosophie lehrt an der Universität von Amsterdam und ist Mitherausgeberin des European Journal of Philosophy. Ihr Buch „Autonomie“ (Suhrkamp, 2017) stellt die Frage nach den moralischen und politischen Bedingungen eines selbstbestimmten Seins. Im Dossier spricht Beate Rössler über die Spannung zwischen unserem Willen zu mehr Autonomie und den Aufgaben des Alltags.

Der französische Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur ist einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart, dessen Werke zwischen Roman, Autobiografie und philosophischer Meditation changieren. 2017 erschien sein Buch „Ein russischer Roman“ (Matthes & Seitz) auf Deutsch. Im großen Gespräch spricht er über seinen Kampf gegen die Ironie und das Reich Gottes in unserer Mitte.

Herzlich willkommen! Der Juniorprofessor für Theoretische Philosophie ist neuer Kolumnist des Philosophie Magazins. Ähnlich wie in seinem 2015 erschienenen Buch „Der Untergrund des Denkens“ (Rowohlt) deckt er nun in jeder Ausgabe Irrtümer und gedankliche Fallstricke auf und zeigt, wie diese zu vermeiden sind. Im ersten Beitrag geht es um den politisch fatalen Zwang zur Eindeutigkeit.

S. 78

S. 54

S. 1–100

Cord Riechelmann

Tristan Garcia

Der Biologe und Philosoph arbeitet als Autor und Journalist für verschiedene Zeitungen. Zudem war er Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und der Geschichte biologischer Forschung. Zuletzt erschien von ihm „Krähen. Ein Portrait“ (Matthes & Seitz, 2013). Für unser Klassikerdossier führt er in Leben und Werk des amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau ein.

Der Philosoph und Romancier ist der Denker der Stunde, dessen aktuelles Buch „Das intensive Leben“ (Suhrkamp, 2017) als intellektuelles Ereignis gefeiert wird. In diesem buchstarken Essay legt Garcia den Imperativ der Moderne offen: Lebe ein Leben, das du spürst! In unserem Dossier erklärt er im Interview, warum Intensität der neue Besitz ist und was das mit elektrischen Küssen zu tun hat.

Dolly Constanza Rodriguez

220 Seiten | € [D] 18,00 | € [A] 18,50 ISBN 978-3-351-03698-0 Auch als E-Book erhältlich

DER NEUE MANN AN DER SPITZE DER GRANDE NATION

S. 62

»Fuldas Biographie ist ein offenherziger Gesellschaftsroman über die französischen Eliten von heute – und mittendrin ein absolut außergewöhnlicher Mann.« Die Zeit

In Berlin und London studierte unsere Praktikantin Philosophie und Geschichte. Jetzt forscht sie über Machtverhältnisse und Erinnerungskultur in ihrem Herkunftsland Kolumbien. Im Heft geht sie im historischen Pro & Contra der Titelfrage „Will ich zu viel oder zu wenig?“ nach und rezensiert das aktuelle Buch „Widerstand der Vernunft“ (Ecowin, 2017) der Philosophin Susan Neiman.

Die nächste Ausgabe erscheint am 14. September 2017

Fotos: Jeroen Oerlemans/University of Amsterdam; Lea Crispi; Juliane Marie Schreiber/Rowohlt; privat; Livres Hebdo; privat

Denker in diesem Heft


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 28 Reportage Rechts vom System Die Köpfe hinter AfD und Pegida Von Philipp Felsch S. 38 Expedition Die Geduld des Leoparden Durch die Wildnis Kirgistans Von Baptiste Morizot

Will ich zu viel oder zu wenig?

S. 68 Das Gespräch Emmanuel Carrère S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Thoreau und der amerikanische Traum + Sammelbeilage: „Über die Pflicht des Ungehorsams gegen den Staat“ (Auszug)

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Problemfall Brexit: Verrückter Weltgeist? / Terrorangst: Stoisch sein reicht nicht / Mythos Ballermann: Soziologe Sacha Szabo im Gespräch S. 18 Hübls Aufklärung Die neue Kolumne Von Philipp Hübl S. 20 Das Phänomen Macron – und was es bedeutet S. 24 Erzählende Zahlen Die Kolumne von Sven Ortoli

S. 28

S. 46 Das Toni-ErdmannDilemma Von Wolfram Eilenberger S. 50 Mein Wille geschehe? Historisches Pro & Contra S. 54 „Intensität ist der neue Besitz“ Interview mit Tristan Garcia S. 56 Wir wollen mehr – aber wovon? Konsum, Arbeit und Demokratie: Widersprüche in der modernen Gesellschaft Von Nils Markwardt S. 62 „Authentisch handelt, wer sich mit seinen Wünschen identifiziert“ Interview mit Beate Rössler

Bücher S. 82 Buch des Monats „Terror“ S. 84 Thema Wahrheit und Lüge S. 86 Scobel.Mag S. 88 Die Philosophie-MagazinBestenliste S. 90 Sommerempfehlungen der Redaktion: Ferien vom Über-Ich

Fotos: Maia Flore/Vu/laif; Espen Rasmussen/Panos; Lara Zankoul; Paul Fuentes

Finale

S. 64

S. 50

S. 92 Agenda S. 94 Comic + Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Specht / Das Ding an sich / Impressum S. 98 Sokrates fragt Florian Schroeder

S. 67

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 5


Zeitgeist

Analyse

Macron und wie er die Welt sieht

Er ist die neue Lichtgestalt der französischen Politik. Nur wofür Emmanuel Macron konkret steht, ist nach wie vor unklar: Pragmatist oder Idealist? Liberaler oder Arbeiterfreund? Wie große Philosophen ihn wohl eingeschätzt hätten? Um dem Phänomen Macron näherzukommen, haben wir uns in die Köpfe von drei politischen Denkern begeben Von Michel Eltchaninoff, Martin Legros und Samuel Lacroix / Aus dem Französischen von Felix Kurz

Z

um Sprunge gehören. Nicht zu dessen Epilog, dem Gelage‘, meinte Char.“ Dieses Zitat aus „Hypnos“, der Sammlung fragmentarischer Gedichte, die „, René Char während seiner Zeit in der Résistance 1943/ 1944 verfasste, führte Emmanuel Macron 1999 in einem Brief an Paul Ricœur an, dessen Assistent er damals war. „Zum Sprunge gehören“ – ein neuer Aufbruch sein, die von diesen drei Worten umrissene Geisteshaltung könnte die Devise jenes Mannes sein, der die öffentliche Bühne erst 2012 als stellvertretender Generalsekretär des Präsidialamts betreten hat, um seine politische Karriere nur fünf Jahre später mit der Übernahme des höchsten Staatsamts zu krönen. Dabei waren fraglos sehr günstige Umstände im Spiel. Als Macron vor einem Jahr seine Kandidatur verkündete, schien es noch gewiss, dass Alain Juppé die Vorwahlen bei den Republikanern gewinnen und in den Élysée-Palast einziehen würde. Erst eine Serie von überraschenden Wendungen machte Macrons Sieg möglich: Mit einem offensiven Vorwahlkampf setzte sich bei den Republikanern François Fillon durch, der eine Rück­20 / Philosophie Magazin August / September 2017

kehr zur moralischen Ordnung pries, sich dann aber selbst in Affären verstrickte, während Benoît Hamon die Sozialisten mit einem höchst idealistischen Programm und vorbelastet durch ein schwieriges Erbe zu einer desaströsen Niederlage führte. Manche Kommentatoren sehen in Macron einen von Ehrgeiz getriebenen Opportunisten. Das mag zutreffen – doch „zum Sprung gehören“ bedeutet auch, keinen Karriereplan zu verfolgen, auf Sicht zu fahren, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Ermöglicht durch den Zusammenbruch der Sozialistischen Partei wie auch der Republikaner, stellt der Sieg Emmanuel Macrons – der nunmehr jüngster Staatschef in der G-20-Gruppe und jüngster demokratisch gewählter Präsident Frankreichs ist – in jedem Fall ein unvorhergesehenes historisches Ereignis dar. Um dieses politische UFO zu begreifen, haben wir die Geister dreier großer Denker angerufen: von Paul Ricœur, dessen Schüler Macron war, von John Rawls, dem sein Projekt der Versöhnung von Liberalismus und Gerechtigkeit viel verdankt, und von Karl Marx, da Macron von einer Verschiebung im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis profitieren konnte. Ein neuer Aufbruch also – nur wohin?


Mit den Augen von

Paul Ricœur

Jeden Menschen befähigen

D

ieser ambitionierte junge Mann war mein Assistent bei der Arbeit an „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ (2000; dt. 2004). Auf der Internetseite seiner Bewegung schreibt Emmanuel Macron mit Blick auf mich: „Auch heute noch lese ich ihn und versuche, in meinem Handeln aus seinen Ref lexionen zu schöpfen, aus seiner Philosophie und dem, was er mir beigebracht hat.“ Die „französische Idee“ sei es, „alles zu tun, um den Menschen zu befähigen“, erklärt Macron in „Revolution“ (2016; dt. 2017). Nun war ich derjenige, der eine „Phänomenologie des fähigen Menschen“ entwickelt hat! Deren Ideal ist, zur Entstehung eines Menschen beizutragen, „dessen Handlungen mit den Werten, die er sich selbst gegeben hat, vereinbar sind“ („Wege der Anerkennung“, 2004, dt. 2006). Ich betone auch, dass „die Stadt das Milieu bildet, in dem sich die menschlichen Fähigkeiten entfalten“ („Philosophie, Éthique et Politique“, 2017). Nichts ist schlimmer als zu versuchen, Menschen ihr Glück aufzuzwingen. Wie mein bekennender Schüler formuliert: „Es geht nicht länger darum, allen dasselbe zu bieten, sondern jedem das, was er braucht“ („Revolution“). Die Politik sollte diese Selbstverwirklichung ermöglichen. Ein anderes meiner Konzepte ist das der „narrativen Identität“. Jeder von uns gewinnt seine Identität, indem er eine Erzählung von sich den eigenen Veränderungen folgend beständig neu interpretiert. Es gibt keine feste Identität, sondern nur eine permanente Weiterentwicklung. Macron zufolge bringt diese narrative Dimension von Identität die Individualisierung hervor und verbietet es, den Einzelnen unter kollektive Ideale zu zwingen, die ihn auf seinem Weg zu sehr einschränken. Doch diese Art von Identität finden wir auch auf der Ebene der Gemeinschaft. Als Hermeneutiker und Spezialist für Sprach­philosophie stimme ich mit Macron überein, wenn er eine

Fixierung der französischen Identität ablehnt. Für ihn ist „der Kern dessen, was uns verbindet“, nicht eine geschlossene Konzeption eines vermeintlich ewigen Frankreich, sondern „die Beziehung zur Sprache“ – also etwas, das jeder sich aneignen kann. Mit seiner umstrittenen Bemerkung, es gebe „keine französische Kultur“, meinte Macron, dass sich die französische Kultur in Beziehung zu anderen Kulturen in einem offenen Prozess entwickelt. Für heftige Kontroversen sorgte er auch, als er die Kolonisierung Algeriens als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnete. Auch ich war irritiert. Mit dem Begriff des Verbrechens gegen die Menschheit, der jeder Debatte hysterische Züge verleiht, hat sich Macron nicht einem „gerechten Gedächtnis“ („Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“) ge­n ä­h ert – obwohl er dafür eintritt, dass wir die offenen Rechnungen der Kolonialgeschichte begleichen und einen neuen Anfang machen. Unbehagen bereitet mir auch etwas anderes. In „Das politische Paradox“ (1957) habe ich ausgeführt, dass die horizontale Dimension von Politik – die demokratische Diskussion – so unverzichtbar ist wie die vertikale, die sicherstellt, dass „der Staat lenkt, organisiert und entscheidet“. Ich habe den Eindruck, dass der neue Präsident mit seinem „transzendenten“ Politikverständnis eher zur Vertikalität neigt. Wir werden sehen, ob sich Emmanuel Macron an meine Appelle zu Kompromissbereitschaft und Differenzierung erinnert.

Fotos: picture-alliance/AP Photo; picture-alliance/Effigie/Leemage

„Es gibt keine feste Identität, sondern nur eine perma­ nente Weiterentwicklung“

Paul Ricœur (1913–2005) Ricœr, ein durch die phänomenologische Schule Edmund Husserls geprägter französischer Philosoph, hat das Leben durch das Prisma der Texte studiert, die es hervorbringt. Sein Werk berührt sämtliche Bereiche – erst Philosophie und Ethik, aber auch Ästhetik, Psychoanalyse, Geschichte und Politik. Stets bescheiden, zählt der Protestant Ricœur zu den bedeutenden Figuren des französischen Geisteslebens im 20. Jahrhundert.

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 21


Horizonte

Foto: Espen Rasmussen/Panos

Reportage

28 / Philosophie Magazin August / September 2017


RECHTS

VOM SYSTEM

Über Jahrzehnte lag das revolutionäre Potenzial links. Mittlerweile ist es eher im Lager der Rechtspopulisten zu vermuten. Der Sturz des Systems wird hier im Namen einer „Konservativen Revolution“ und eines „Willens zur Selbstbehauptung“ gefordert. Aus welchen geistigen Quellen schöpfen die Vordenker der Neuen Rechten? Und was treibt sie wirklich an? Eine Deutschlandreise der anderen Art Von Philipp Felsch

N

BEREISTE ORTE Schnellroda (Sachsen-Anhalt) Heiligenstadt (Thüringen) Frankfurt am Main (Hessen)

och gerade eben schien die Sonne. Doch jetzt knallen taubeneigroße Hagelkörner aufs Autodach. Die Sicht ist so schlecht, dass es Mühe macht, der schmalen Landstraße zu folgen. Manche viktorianischen Schauerromane fangen damit an, dass der Erzähler in ein Unwetter gerät und seine Zuf lucht in einem abgelegenen Herrenhaus suchen muss. Es ist Ende Mai, und ich bin auf dem Weg nach Schnellroda, um Götz Kubitschek und Ellen Kositza, das Poster Couple der Neuen Rechten zu treffen, das hier, auf einem Rittergut in Sachsen-Anhalt, den Antaios-Verlag, die Zeitschrift „Sezession“ und das sogenannte Institut für Staatspolitik betreibt. Das kleine Schnellroda ist berüchtigt. Manche meinen, dass sich hier Kräfte sammeln, die unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung bedrohen. Noch vor wenigen Jahren waren die Kubitscheks außerhalb der rechten Szene kaum bekannt. Doch dann kamen Pegida und das Wahljahr 2016, in dem die AfD mit triumphalen Ergebnissen in die Landtage von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt einzog. Gleichzeitig wurden die wirtschaftsliberalen Gründer der Partei durch den völkisch-nationalistischen Flügel zurückgedrängt – durch jene rechten Hardliner also, als deren wichtigster Ideengeber Götz Kubitschek gilt. Als Publizist, aber auch als Redner auf Pegida-Demonstrationen hat er aus seiner politischen Gesinnung kein Hehl gemacht. Auf welche Ideen bezieht sich jemand, der die westliche liberale Gesellschaft ablehnt? Speist sich seine Ablehnung aus Ressentiment und Enttäuschung, oder steht so etwas wie ein Weltbild dahinter? Und falls ja – ist dieses Weltbild philosophisch ernst zu nehmen? Welche politische Gefahr >>> geht von ihm aus? Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 29


Horizonte

Expedition

kirgistan

die geduld des

leoparden Tief in der Bergwelt Kirgistans lebt eine der scheuesten Kreaturen des Globus. Der Philosoph Baptiste Morizot hat sich auf die Suche nach dem Schneeleoparden gemacht. Während er den Fährten des „Phantoms der Berge“ nachspürte, erfuhr er eine erhabene Geduld in sich, zu der wir Menschen genau wie die großen Raubtiere imstande sind Von Baptiste Morizot / Fotos von Fanny Morizot / Aus dem Französischen von Till Bardoux


Von Baptiste Morizot

Baptiste Morizot lehrt und forscht als Philosoph an der Universität Aix-en-Provence. Seine Arbeiten sind den Beziehungen zwischen dem Menschen und den Lebewesen in ihm selbst und in seiner Umwelt gewidmet. Er beschäftigte sich unter anderem mit unserem Verhältnis zu den Wölfen sowie mit der Bedeutung der zufälligen Begegnung für die Herausbildung unserer Individualität

Autorenfoto: privat

A

m Zugang zum Naryn-Reservat verteilen wir die Packsättel auf die Pferde. Wir werden mehr als elf Tage vollkommen auf uns allein gestellt sein, in einem Totalreservat, zu dem Menschen keinen Zutritt haben, Refugium für alle anderen Lebewesen, die die Bergkämme, steppenartigen Hochpla­ teaus und Fichtenwälder bevölkern. Nur Ranger und Wissenschaftler dürfen hier hinein. Ziel der Expedition ist die Untersuchung der Wildfauna des Reservats durch Praktiken der Citizen ­Sci­ence. Als Ökovolontäre werden wir Techniken aus der wissenschaftlichen Ökologie anwenden: Beobachtungen, Aufnahme von Vorkommenshinweisen, Zählung und sogenannte Transekte, Wanderungen auf genau vorgegebenen Routen, die bestimmte GPS-Punkte >>> Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 39


DOSSIER

viel –

Will ich zu oder zu wenig?

Foto: Jean-Noël Leblanc-Bontemps

U

nsere gesamte Lebensweise beruht auf dem Imperativ des Mehrwollens. Gerade in Alltag und Beruf führt dieser Wille oft zu einer dauerhaften Selbstüberforderung. Die Lust am Leben wird so gemindert anstatt gesteigert. Aus beglückender Fülle werden Leere und Angst. Der Fall scheint also klar: Wer weniger will, wird seltener enttäuscht, ist entspannter und lebt also zufriedener. Das Wollen selbst ist die Wurzel allen Unglücks, wie Denker von der Stoa bis zu Schopenhauer behaupten. Doch ist es wirklich so einfach? Ist es nicht gerade die Suche nach mehr Intensität, die unserem Leben erst Spannung und Sinn gibt? Wie sähe eine selbstbestimmte Existenz aus, die sich nicht zu früh zufrieden gibt, ohne sich permanent zu überreizen? Ein Dossier auf der Suche nach dem dritten Weg.

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DOSSIER

Will ich zu viel oder zu wenig?

Mein Wille geschehe? Und woran leiden Sie? Chronische Trägheit oder permanente Überambition? Das Problem gehört zu den Dauerbrennern der Philosophie. Sechs klassische Handreichungen, die Sie unbedingt wollen sollten Von Dolly Constanza Rodriguez und Dominik Erhard


Soll ich weniger wollen? Der Sophist Kallikles

Die Stoa

> 300 v. Chr.-180 n. Chr.

Ja,

unbedingt, denn das Zu-viel-Wollen ist die wahre Wurzel allen Unglücks. Würden Sie nicht alles geben, um im Lotto zu gewinnen? Nun, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es Ihnen mit Ihrem plötzlichen Reichtum über kurz oder lang schlechter als vorher geht. Die antiken Weisen der stoischen Schule würden diese Einsicht mit wissendem Nicken quittieren, denn Reichtum, Macht oder gesellschaftliche Anerkennung haben ihrer Ansicht nach mit wahrer Glückseligkeit nicht das Geringste zu tun. Ein Mensch, der

Fotos: Maia Flore/Vu/laif; akg-images/Alfio Garozza; DR

Nur wer sich vom Zirkel des falschen Wollens befreit, kann wahrhaft glücklich werden ständig mehr will, befindet sich bei Lichte betrachtet in einem Zustand trauriger Selbstverwirrung und damit Freiheitsferne. Denn er wird von seinen Affekten und Trieben anstatt von seinem Verstand regiert. Aus Sicht der Stoiker sind Affekte „unnatürliche Bewegungen der Seele“. Sie vernebeln unsere Urteilskraft und erzeugen falsche Formen des Begehrens. Insbesondere die Lust „auf mehr“ beruht auf einem falschen Urteil darüber, was gut ist. Nur wer sich von der Macht seiner Affekte und damit dem Zirkel des falschen Wollens befreit, kann wahrhaft glücklich und selbstbestimmt werden. Wie das gelingt? Wir sollen der Natur entsprechend leben. Die Natur ist für die Stoiker die Ordnung der Welt, Ausdruck der Weltvernunft (logos). Und sie gehorcht in Wahrheit den Gesetzen der Mäßigung und der vernünftigen Selbstbeschränkung. Nach Zenon bedeutet „übereinstimmend mit der Natur zu leben“ nichts anderes, als „nach der Tugend zu leben; denn dahin führt uns die Natur“. Die stoische Tugendlehre beruht auf der Idee des Selbsterhaltungstriebs (oikeiosis) – und dieser ist ursprünglicher als das Streben nach Lust. Als rationale Naturwesen sind wir deshalb in der Lage, Affekte zu unterdrücken, Urteile zu korrigieren und uns dadurch moralisch zu verbessern. Am Ende dieses Prozesses werden wir tugendhafte Handlungen um ihrer selbst willen tun. Der Weg zum Glück ist nicht einfach und verlangt gerade zu Beginn ein hohes Maß an Selbstüberwindung. Doch, ach, nicht jeder findet dazu den nötigen Willen in sich. (dcr)

Quelle: Marc Aurel, „Selbstbetrachtungen“ (Reclam, 1986)

> 5. Jh. v. Chr.

Nein,

das wahre Problem nämlich besteht nicht etwa darin, dass wir zu viel wollen, sondern dass die Mehrheit entschieden hat, dass dies moralisch verwerflich sei. Das Gerücht, gerade die Reichen und Berühmten wären in Wirklichkeit besonders unglücklich, hält sich als hartnäckiger Gemeinplatz unserer Celebrity-Kultur. Der Sophist Kallikles würde es lustvoll auseinandernehmen. Für ihn ist das Mehr-haben-Wollen (pleonexia) ein universelles, ewiges Prinzip unserer Natur, während die stoische Auffassung des tugendhaften, glücklichen Menschen auf einem falschen Verständnis des Menschen beruht. Als Sophist betrachtet auch Kallikles Natur (physis) und Gesetz (nomos) als Gegensätze. Für Kallikles, dessen Positionen uns vor allem durch Platons „Gorgias“ überliefert sind, ist die Vorstellung, dass alle Menschen gleich seien, nur Schein: Von Natur aus gebe es sehr wohl bessere und schlechtere Menschen. Aus Angst, dass die Stärkeren mehr als sie selbst bekämen, hätte die Mehrheit der Schwächeren das Begehren verurteilt: „Sie jagen den stärkeren Menschen, die fähig sind, mehr zu haben, Angst ein, damit sie nicht mehr haben als sie selbst, und sie sagen, dass mehr zu haben, hässlich und ungerecht ist und dass darin die Ungerechtigkeit besteht, im Streben mehr zu haben als die anderen.“ Die Natur aber zeigt für Kallikles, dass es gerecht ist, wenn der Bessere und Fähigere mehr hat.

Es ist gerecht und im Sinne der Natur, wenn der Bessere und Fähigere mehr hat Die fortdauernde Befriedigung unserer Wünsche verstößt also nur gegen Konventionen, nicht aber gegen die Natur. Vernünftige Menschen müssen deshalb zu dem Schluss kommen, dass das, was von Natur aus gerecht ist, sich menschlichen Gesetzen überlegen zeigt. „Luxus, Ungezügeltheit und Freiheit“, verbunden mit der Möglichkeit, das zu haben, was man sich wünscht, „ist Tugend und Glück“. Freiheit bedeutet für den Sophisten auch, dass es für unsere Wünsche keine Einschränkungen gibt. „Wer richtig leben will, muss seine Wünsche möglichst groß sein lassen und darf sie nicht zügeln.“ Die Amerikaner haben dafür eine griffige Formel entwickelt: „Think big!“ (dcr)

Quelle: Platon, „Gorgias“ (Reclam, 2011)

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Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 51


DOSSIER

Will ich zu viel oder zu wenig?

Wir wollen mehr – aber

wovon?

Ratgeber empfehlen heute zwei Dinge: schneller, effizienter und erfolgreicher oder aber bewusster, gelassener und achtsamer zu leben. Doch betrifft die Frage nach mehr oder weniger oft gar nicht den Einzelnen, sondern die ganze Gesellschaft. Gerade in den zentralen Bereichen des Konsums, der Arbeit oder der Demokratie Von Nils Markwardt

56 / Philosophie Magazin August / September 2017

Beide Helden erleben sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts – und damit der Morgenröte unserer Moderne – in einem desorientierenden gesellschaftlichen Ist-Zustand, der ein Update der eigenen Ambitionen erfordert: Arbeitsmarktrevolution, neue Konsummöglichkeiten und Lebensentwürfe, Autokratie versus Volksbegehren. Und während Don Quijote in seinem utopischen Übereifer durchaus etwas Entschleunigung bräuchte, könnte Sancho Panzas allzu erdnaher Pragmatismus des satten Bauches sehr wohl eine Portion Extra-Ehrgeiz und Fortschrittsmut vertragen.

Erfolgsritter oder Karriereverweigerer? Wie konstant die Quijote-Konstellation bis heute ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die anhaltende Schwemme von Ratgeberliteratur. Dort gibt es eigentlich nur noch zwei Arten des Lifecoachings. Zum einen findet man all jene Karrierebibeln, die einem vollmundig versprechen, wie man mehr Impact erzielt, besser, effizienter und vor allem erfolgreicher wird. Diese heißen dann etwa: „Erfolg kann man lernen: 42 Tipps für den Alltag, um deine Konkurrenten hinter dir zu lassen und endlich durchzustarten“, „Nie mehr Mr. Nice Guy: Wie Sie als Mann bekommen, was Sie wollen“ oder „Selbstmotivation: Wie Sie dauerhaft leistungsfähig bleiben“. Zum anderen gibt es dann aber

Fotos: Daniel Tischler/www.plainpicture.com

E

s ist ein eigentümliches Paar, das da über Hunderte Seiten durch das spätmittelalterliche Kastilien trottet. Hier der hagere, hochgewachsene und ­ä ußerst ambitionierte Ritter von trau­r iger Gestalt, dort sein kleiner, pummeliger sowie ängstlicher Diener. Don Quijote und Sancho Panza sind nicht nur das erste Comedy-Duo der Weltliteratur, sondern repräsentieren auf geradezu idealtypische Weise auch zwei klassische Probleme der Willensregulierung: der eine ein weltfremder, chronisch überspannter Selfmade-Superheld, der sich im sprichwörtlich gewordenen Kampf gegen Windmühlen verrennt, der andere ein feister, lethargischer Stallknecht, der konsequent unter seinen Möglichkeiten bleibt. Es gibt gute Gründe, weshalb die zwei tragikomischen Protagonisten, die Miguel de Cervantes in seinem ab 1605 erschienenen Roman durch die spanische Hitze reiten lässt, uns noch heute unmittelbar ansprechen. Als klassische Schwellengestalten zwischen Feudalismus und Kapitalismus, alteuropäischer Ständewelt und dynamischer Globalisierung sowie in ihrem unruhigen Pendeln zwischen aufgebrachtem Wutbürgertum und ehrlichem Partiziptationsverlangen gleichen ihre Kernverwirrungen den unseren.


Leben zu führen. Andersherum mag es subjektiv ebenso zur Selbstverwirklichung beitragen, wenn jemand sein morgendliches Motivationstraining durchzieht. Dennoch scheint solche Ratgeberliteratur eher Teil des Problems als Teil der Lösung zu sein. Zum einen, weil die Frage, ob man zu viel oder zu wenig will, keineswegs nur eine individuelle ist. In vielen gesellschaftlichen Feldern, etwa dem des Konsums, der Arbeit oder der demokratischen Partizipation, zeigt sich der Zwiespalt zwischen dem Mehr- und Wenigerwollen vielmehr als kollektives Problem. Zum anderen sind diese kollektiven Fragen oftmals nicht eindeutig auf lösbar, sondern offenbaren gesellschaftliche Widersprüche.

Freiheit durch Konsum?

noch Unmengen jener Bücher, die Achtsamkeit, Gelassenheit und Downsizing predigen und Titel tragen wie: „Am Arsch vorbei geht auch ein Weg: Wie sich mein Leben von Grund auf verändert hat, als ich mich endlich locker gemacht habe“, „Die 7 Geheimnisse der Schildkröte: Den Alltag entschleunigen, das Leben entdecken“ oder „Achtsam durch den Tag“. Nun sollte man dem Impuls widerstehen, derlei lebensberatende Anleitungen zur Willensregulierung sofort zu belächeln. Denn für den Einzelnen mögen sie tatsächlich einen Nutzen haben. Wer sich etwa über Jahre im Job aufgerieben hat, dem können Achtsamkeitstechniken vielleicht helfen, ein ausgeglicheneres

Was das konkret bedeutet, wird zuvorderst im Bereich des Konsums deutlich. Historisch gesehen wird insbesondere in westlichen Industrienationen kontinuierlich immer mehr gekauft und verbraucht. Ein durchschnittlicher Deutscher nennt heute etwa rund 10 000 Dinge sein Eigen. Gleichzeitig hat sich mittlerweile aber in weiten Teilen der Gesellschaft die zumindest theoretische Erkenntnis durchgesetzt, dass wir insgesamt viel zu viel konsumieren und besitzen. Nicht nur aufgrund der unmittelbaren Folgen, sei es in Gestalt der Arbeitsbedingungen in pakistanischen Sweatshops oder den Zuständen in niedersächsischen Massentierhaltungen, sondern vor allem auch ob der langfristigen ökologischen Konsequenzen, beispielsweise der Klimaerwärmung, der Erosion der Böden oder der Vermüllung der Meere. Für die klassische, marxistisch inspirierte Form der Konsumkritik ist der Grund für diese Entwicklung klar: Aufgrund seines inhärenten Wachstumszwangs schafft der entfesselte Kapitalismus permanent neue, künstliche Bedürfnisse, die mittels Werbung und ­Marketing in die Köpfe der Konsumenten gepf lanzt werden. Denn wo es beständig neue Absatzmärkte braucht, benötigt man eben Millionen dauershoppender Don Quijotes, die nun nicht mehr idealistischen, sondern materialistischen Illusionen nachjagen. Doch iPhones, Louis-Vuitton-Taschen oder Fidget-Spinner befriedigen, so heißt es dann, eben keine wirklich au- >>> Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 57


DOSSIER

Will ich zu viel oder zu wenig?

„Authentisch handelt, wer sich mit seinen Wünschen identifiziert“ Um zu wissen, was wir wirklich wollen, müssen wir vor allem eines sein: autonom. Doch wie können wir gerade im Alltag zu wirklich eigenständigen Entscheidungen kommen? Die Philosophin Beate Rössler hat genau das in ihrem jüngsten Buch untersucht

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Das Gespräch führte Nils Markwardt

Woran kann eine autonome Entscheidung, also die Fähigkeit zu wissen, was man wirklich will, im Alltag scheitern? Beate Rössler: Ein Beispiel für die Möglichkeit des Scheiterns ist das Problem der Selbsttäuschung. Aus philosophischer Sicht ist diese schwer zu erklären. In den klassischen Autonomietheorien kommt sie kaum vor, weil immer davon ausgegangen wird, dass man sich selber transparent ist. Autonom zu sein, hieße dann: Ich überlege, was ich will, um dann zu tun, was ich will. Doch

62 / Philosophie Magazin August / September 2017

Beate Rössler Beate Rössler ist Professorin für Philosophie an der Universität von Amsterdam und Mitherausgeberin des European Journal of Philosophy. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Autonomie – Ein Versuch über das gelungene Leben“ (Suhrkamp, 2017) untersucht sie die moralischen, sozialen und politischen Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens und erläutert die Spannungen, die es zwischen unserem Wunsch zur Autonomie und unserem alltäglichen Leben gibt

«

genau dieses Überlegen ist oft viel schwieriger, als man denkt. Wir können uns selbst täuschen, und zwar nicht nur über die eigenen Fähigkeiten, sondern etwa auch über das Handeln anderer. Dafür gibt es viele wunderbare Beispiele, nicht zuletzt in der Literatur.

Sie zitieren in Ihrem Buch einen Satz der Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch: „Man steckt immer schon bis zum Hals in seinem Leben.“ Wie kann man gerade vor


Foto: June Kim und Michelle Cho; Autorenfoto: University of Amsterdam/Jeroen Oerlemans

Die klassische Ideologiekritik behauptet, dass individuelle Autonomie allein deshalb kaum möglich ist, weil wir gewissermaßen immer schon in einer Art gesellschaftlichem Verblendungszusammenhang stecken. Erst wenn der Schleier der Ideologie gelüftet ist, kann es demnach wirkliche Freiheit geben. Was entgegnen Sie diesem Argument? Ich würde sagen „Ja, aber …“ Einerseits wäre es beispielsweise natürlich naiv zu glauben, Kinder könnten komplett unabhängig von der Werbung ihre eigenen Modewünsche entfalten. Es wäre aber genauso naiv zu denken, dass irgendjemand den erwähnten Schleier wegziehen könnte, sodass wir vollständig autonom handeln könnten.

diesem Hintergrund wirklich wissen, was man will? Zum einen können wir zunächst versuchen, ehrlich gegenüber uns selbst zu sein. Zum anderen können wir uns aber auch von anderen kritisieren lassen. Zu einer wirklich selbstbestimmten Entscheidung kommen wir oft nur dann, wenn wir sie mit anderen besprochen haben. Autonom ist man immer gemeinsam mit anderen.

Warum? Wir entscheiden uns immer unter der Voraussetzung, dass wir in vielerlei Hinsicht beeinflusst oder manipuliert werden. Vor allem in der digitalen Welt ist dies sehr sichtbar, allgemein etwa durch die personalisierte Werbung. Besonders gefährlich ist diese dann, wenn sie nicht nur im Konsumbereich, sondern auch im politischen Bereich angewendet wird, man denke nur an Firmen wie Cambridge Analytica, die das BrexitVotum oder den Wahlsieg Donald Trumps offenbar stark beeinflusst haben. Nun kann man natürlich sagen, dass man dies alles erst vollständig vor dem Hintergrund einer Gesellschaftskritik versteht, wie Foucault sie vertrat, also mit dem detaillierten Wissen, was es heißt, überwacht zu werden, nicht nur politisch, sondern auch als Konsumentin. Dennoch kann ich diese Überwachung ja nur als solche beschreiben, wenn ich als Negativfolie eine Idee davon habe, was eigentlich Selbstbestimmung heißt. Wären wir vollkommen fremdbestimmt, könnten wir also gar nicht sagen, mit welchen Problemen wir im Alltag wirklich konfrontiert sind.

In Ihrem Buch bemerken Sie, dass selbst Frauen, die eine Burka tragen, prinzipiell autonom handeln könnten. Man sollte nicht zu schnell urteilen, wenn es darum geht, wie andere ihr Leben leben und wie sie ihre Entscheidungen treffen. Frauen, die eine Burka tragen und eine sehr strikte Idee von Religiosität haben, ­können dann autonom sein, wenn sie sich halbwegs selbstständig dafür entschieden haben. Ich will nicht verharmlosen, dass es in diesem Zusammenhang natürlich auch Unterdrückung gibt, aber man muss sich schon genau anschauen, nach welchen Kriterien hier eigentlich geurteilt wird. Wenn Frauen begründen können, warum sie die Burka tragen, kann es auch andere Lebensbereiche geben, in denen sie selbstständig handeln, etwa bei der Kindererziehung. Diesen Frauen automatisch die Autonomie abzusprechen, halte ich für paternalistisch und in gewisser Weise auch für zynisch.

Sie argumentieren, dass eine Entscheidung vor allem dann autonom ist, wenn sie authentisch ist. Man muss also seine ganz eigenen Gründe vorbringen können. Doch woher weiß ich denn, dass es wirklich meine eigenen sind? Das ist eine gute Frage. Ich benutze den Begriff der Authentizität nicht als Oppositionsbegriff zur Autonomie, sondern zur Entfremdung. Authentisch handeln wir also dann, wenn wir uns halbwegs mit unseren Wünschen und Überzeugungen identifizieren können. Ich sage „halbwegs“, weil es an dieser Stelle keine ganz klaren Richtlinien gibt. Ich glaube, dass man in der Regel schon merkt, wenn man sich in einer entfremdeten Situation befindet. Man nimmt eine Differenz wahr, die einem klarmacht, dass man hier nicht hingehört, dass man sich für diesen sozialen Kontext nicht entschieden hat, weshalb jemand auch nicht authentisch hinter seinen Handlungen stehen kann. Obwohl es ebenfalls bestimmte Bereiche des >>> Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 63


68 / Philosophie Magazin August / September 2017


Ideen

Emmanuel Carrère

Das Gespräch

Das Werk des großen französischen Schriftstellers Emmanuel Carrère changiert zwischen Roman, Autobiografie und philosophischer Meditation. Ein Gespräch über die Hölle der Ironie, russischen Wahnsinn und das Reich Gottes in unserer Mitte Das Gespräch führte Anne-Sophie Moreau / Fotos von Lea Crespi / Aus dem Französischen von Till Bardoux

Emmanuel

Carrère

»Empathie hat perverse Effekte«

V

iele Umwege führen zu Emmanuel Carrère. Über drei Jahrzehnte rang der Autor damit, jenen ganz eigenen Stil zu finden, mit dem er das Genre des erzählenden Sachbuchs revolutioniert hat. Seine mittlerweile in alle Weltsprachen übersetzten Werke verweben Reportagen und biografische Erfahrungen mit existenziellen Ref lexionen zu Fragen des Glaubens, der Realität sowie der europäischen Geschichte. So auch in seinem zuletzt auf Deutsch erschienenen Buch „Ein russischer Roman“ (Matthes & Seitz, 2017). Carrère, Enkel eines russischen Einwanderers, kehrt hier zu seiner Familiengeschichte zurück. Man lernt einen Autor kennen, der von der Idee besessen ist, in sich selbst eingekapselt zu sein, und der schreibend darum kämpft, seine eigene Menschlichkeit in der Öffnung gegenüber anderen Gedanken, Existenzen und Sprachen zu entdecken.

damit verbundene Trennlinie: die zwischen der Fähigkeit, sich dem anderen zu öffnen, und dem Verschlossensein in sich selbst. Was mich in meinem Schreiben berührt, ist die Abweichung zwischen dem Bild, das man dem anderen zu spiegeln versucht, und jenem trostlosen Bild, das man in seinem Innersten von sich hat. Das Böse als Eingeschlossensein, als Verdammtsein zum Selben, das spüre auch ich in mir – auf gutartigere, aber dennoch grausame Weise.

Philosophie Magazin: Bereits in Ihren ersten Werken lässt sich eine Faszination für das Böse ausmachen – oder für die Verdammten, um eine Wendung Dostojewskis aufzugreifen, der Sie stark beeinflusst hat. Außerdem kommen Sie stets auf das Thema Schuld zu sprechen, als fühlten Sie sich schuldig, Sie selbst zu sein. Wie sieht Ihre Vision des Bösen aus? Emmanuel Carrère: Mehr als für den Gegensatz zwischen Gut und Böse interessiere ich mich eigentlich für eine andere, aber

Sind Sie so schlimm, wie Sie sagen? Ach, so viel Schlechtes habe ich gar nicht angestellt! Auch wenn das ein bisschen einfältig klingen mag: Mir kommt es so vor, als würde ich, sosehr ich kann, zum „Guten“ streben, wenn man darunter Empathie für den anderen versteht. Allerdings wird dieses Verlangen ständig von meiner Schwäche, meinem Egoismus, meiner Engstirnigkeit durchkreuzt. Es gibt bestimmte Personen, die eine Art Gabe für das Gute haben, während es andere Leute gibt, zu denen ich mich selbst zähle, denen das

Verächtlicher Bourgeois, eifersüchtiger Liebhaber … Sie beschreiben die schlimmsten Schwächen Ihrer Persönlichkeit mit einer unerbittlichen Ironie. Stehen Sie mit diesem Schreiben über sich selbst in der philosophischen Tradition des moralischen Bekenntnisses? Absolut. Der von Augustinus oder Rousseau.

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Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 69


76 / Philosophie Magazin August / September 2017

Illustration: SĂŠverine Scaglia, Bildvorlage: Benjamin D. Maxham active 1848-58, National Portrait Gallery, Washington, Public domain, Wikipedia creative commons


Ideen

Der Klassiker

Thoreau und der

amerikanische

TRAUM

Amerika, das ist seit seiner Unabhängigkeitserklärung mehr als nur eine

weitere Nation. Es steht für eine gewisse Idee des Daseins: für das Versprechen von Glück, für den Traum einer sich frei entwickelnden Individualität, für den Mut zu beständiger Selbstkritik und Dynamisierung. In diesem Sinne ist Henry David Thoreau, dessen Geburtstag sich am 17. Juli 2017 zum 200. Mal jährt, der amerikanische Philosoph par excellence. Sein Denken sucht den alten Widerstreit mit seinem Land. An die Stelle des Konsums und der Expansion tritt bei ihm die Beobachtung des Selbst und der Schutz der Natur. Cord Riechelmann erläutert, wie Thoreaus Naturphilosophie mit seinen politischen Idealen zusammenhängt. Und der Philosoph Dieter Thomä legt im Beiheft frei, inwieweit Thoreaus patriotische Kampfschrift „Über die Pf licht zum Ungehorsam gegen den Staat“ gerade heute jedem wahren Amerikaner aus der Seele sprechen muss.

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2017 / 77


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Wille zu welcher Macht? Wer hat Gott getötet? Warum Denken durch den Magen geht Unterwegs zum Übermenschen? Jenseits des Postfaktischen …


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