Nr. 5 / 2019

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Nr. 05/ 2019

August/September

MAGAZIN

Gelassen sein Warum ist das so anstrengend?

Menschen genetisch optimieren? Peter Dabrock streitet mit Reinhard Merkel

Das Lachen der Medusa

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Bentham und die Transparenz

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

Gespräch mit Hélène Cixous


Für Schüler / Studenten Jahresabo / Jahresabo plus

ÜBER

37 % SPAREN

S. 40

S. 98

S. 58

Wilhelm Schmid

Françoise Cactus

Heinz Bude

Der Philosoph lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Neben Themen wie Glück, Liebe und Lebenskunst gehört auch die Gelassenheit zu den Schwerpunkten seines Denkens. Sein gleichnamiges Buch (Suhrkamp, 2014) avancierte zu einem Bestseller. Im Dossier kommentiert Wilhelm Schmid die Geschichten von fünf Personen, die durch ganz verschiedene Techniken zur Seelenruhe gelangen.

Vor 20 Jahren gründete Françoise Cactus mit ihrem Mann Brezel Göring die Band Stereo Total. Bis heute hat diese nichts von ihrer Experimentierfreudigkeit eingebüßt. Kaum ein Thema, das ihr zu heikel, keine Melodie, die zu ausgefallen und keine Farbe, die zu schrill wäre. Am 12. Juli erscheint das neue Album der Band „Ah! Quel Cinéma!“ Im Heft stellen sich die beiden gemeinsam unserem sokratischen Fragebogen.

Im Dossier diskutiert der Soziologe mit der Philosophin Alice Lag­aay darüber, was uns gelassener macht: Die Religion oder der Zufall? Die Ordnung oder das Chaos? Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel und einer der pointiertesten Gegenwartsdiagnostiker des Landes. Zuletzt erschien von Heinz Bude das Buch „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ (Hanser, 2019).

S. 24

S. 66

S. 18

Reinhard Merkel

Hélène Cixous

Paul Mason

Wenn die Risiken als erlaubt akzeptiert werden können, sind Eingriffe in die Keimbahn legitim: So lautet eine der Grundüberzeugungen von Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Hamburg. Mit dem Theologen Peter Dabrock diskutiert er im Heft die Frage, ob wir uns genetisch optimieren dürfen. Zuletzt erschien von ihm: „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ (Nomos, 2008).

Die französische Schriftstellerin und Philosophin ist eine der bedeutendsten Feministinnen des 20. Jahr­hunderts und begründete die Écriture feminine. Im großen Gespräch verteidigt Hélène Cixous ihr Konzept des weiblichen Schreibens gegen Kritik und erklärt, was sie von der #MeToo-Bewegung hält. Ihr zuletzt erschienenes Buch „Meine Homère ist tot …“ (Passagen, 2019) war für den Internationalen Literaturpreis nominiert.

In der Rubrik Zeitgeist plädiert der Wirtschaftstheoretiker für ein zweites Brexit-Referendum. Zudem erläutert er, wie ein marxistischer Blick neue Perspektiven auf das britische Austrittschaos eröffnen kann. „Lichte, klare Zukunft“ (Suhrkamp, 2019) lautet der Titel seines jüngsten Buches, in dem er Strategien gegen den Rechtsruck, die Renationalisierung und einen grassierenden Antihumanismus entwirft.

Als Abo plus inkl. Sonderausgaben

Jetzt bestellen >>> www.philomag.de/abo >>> auf Seite 80 im Heft >>> Tel. +49 (0)40 / 38 66 66 309

Die nächste Ausgabe erscheint am 12. September 2019

Fotos: Peter Rigaud; Tibor Boni/laif; Daniel Hofer; Müller-Stauffenberg/Ullstein Bild; Urban Zintel; Marta Jara/Eldiario.es/Wikimedia CC BY-SA 3.0

Denker in diesem Heft


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Leserbriefe S. 7 Ihre Frage

S. 24 Dialog „Dürfen wir uns genetisch optimieren?“ Streitgespräch zwischen Reinhard Merkel und Peter Dabrock S. 30 Analyse Sprezzatura – die Kunst der Eleganz Von Andrea Baldini

Gelassen sein – warum ist das so anstrengend?

S. 66 Das Gespräch Hélène Cixous: „Beim Schreiben muss man dem Körper alles abverlangen“ S. 72 Werkzeugkasten Lösungswege / Das Ding an sich / Die Kunst, recht zu behalten S. 74 Der Klassiker Bentham und die Transparenz + Sammelbeilage

Zeitgeist S. 8 Sinnbild S. 10 Denkanstöße S. 12 Resonanzen Gendergerechte Sprache / Lachen als souveräner Akt / Deepfakes / Ahnentourismus S. 16 Hübls Aufklärung Kolumne von Philipp Hübl Diesmal: Angriff ohne Argument S. 18 Perspektive Paul Mason: „Linke müssen für die Aufklärung kämpfen“ S. 20 Erzählende Zahlen Kolumne von Sven Ortoli

S. 46

S. 38 Wenn alles verfügbar wird Von Svenja Flaßpöhler S. 40 Meine Seelenruhe Fünf Menschen erzählen Kommentiert von Wilhelm Schmid S. 46 Unterwegs zur inneren Mitte. Drei Positionen S. 50 „Die starre IchZentrierung belastet uns“ Gespräch mit Kai Marchal S. 54 Soldaten des Gleichmuts Essay von Nils Markwardt S. 58 „Ordnung oder Zufall – wo wohnt die Gelassenheit?“ Alice Lagaay und Heinz Bude im Gespräch

Bücher S. 82 Buch des Monats Michael Pauen: Die Machtspiele der Demokratie S. 84 Thema Alexander von Humboldt S. 88 Kolumne Das philosophische Kinderbuch S. 90 Sommertipps

Fotos: Brian Stauffer; Christine Rösch; Simon Brann Thorpe; Maja Daniels

Finale

S. 54

S. 24

S. 92 Agenda S. 94 Comic Catherine Meurisse: Menschliches, Allzumenschliches S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Die Wasserschlange S. 97 Spiele / Impressum S. 98 Sokrates fragt Françoise Cactus

S. 23

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 5


Zeitgeist

Perspektive

Paul Mason

„Linke müssen für die Aufklärung kämpfen“ Ob Großbritannien am 31. Oktober wirklich die EU verlässt, ist nach wie vor nicht sicher. Der Publizist und Marxist Paul Mason plädiert für ein zweites Referendum und für mehr direkte Demokratie in Europa Das Gespräch führte Dominik Erhard Paul Mason Herr Mason, Sie plädieren für ein zweites EU-Mitgliedschaftsreferendum in Großbritannien. Dabei bedeutet Demokratie doch gerade: Wahlen akzeptieren. Würde ein zweites Referendum nicht zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft führen? Paul Mason: Natürlich sagen die Rechtsextremen, die offen Fremdenfeindlichen der UKIP und der Brexit-Partei, dass ein zweites Referendum das demokratische Prinzip aushebeln würde. Tatsache ist aber, dass sie Theresa Mays Deal mit der EU nicht mittragen, ja ihn mit allen Mitteln verhindern wollen. Natürlich würde ein zweites Referendum zu einer noch tieferen kulturellen Spaltung führen – aber das passiert ohnehin. Wie hätte das Brexit-Drama, das sich gerade abspielt, verhindert werden können? Erstens: Durch eine Reform der Freizügigkeit. Zweitens: Durch eine linke Labour-Führung, die den Arbeitern Hoffnung statt technokratischer Blindheit geboten hätte. Drittens: Proaktive Kontrolle all jener Wahlkampfspenden, deren Quellen nicht offengelegt wurden. Aber obwohl ich für „Remain“ gestimmt habe, bin ich auch nicht völlig unglücklich über das Drama, das sich gerade abspielt. Denn wenn der Brexit das Schlimmste ist, was Großbritannien passiert, können wir alle erleichtert sein. Ich habe Industrieländer am Rande des Zusammenbruchs gesehen, New Orleans nach Katrina, Athen während der Krise 2015. Es kann noch viel schlimmer kommen. Sie befürworten Modelle direkter Demokratie. Ist unsere heutige Welt allerdings nicht zu komplex, um alle Entscheidungen auf eine mitunter schlecht informierte Masse zu übertragen? Zunächst einmal befürworte ich den Ausbau der parlamentarischen Demokratie sowie die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Da beides von rechts bedroht wird, sollten 18 / Philosophie Magazin August / September 2019

wir nichts tun, was diese schwächt. Darüber hinaus lassen sich Formen direkter Demokratie immer leichter umsetzen, durch Versammlungen oder E-Voting. Podemos hat dies zuletzt in Städten wie Barcelona und Madrid erprobt. Langfristig ist es deshalb durchaus möglich, dass Elemente direkter Demokratie leichter zu verwirklichen sind, sodass die Herausforderung der linken Sozialdemokratie darin liegt, sie als Ergänzung der parlamentarischen Institutionen, nicht als deren Unterminierung einzusetzen. Das erste Referendum zeigte einen deutlichen Graben zwischen Jung und Alt auf. Die älteren Bürger haben mehrheitlich für „Leave“, die jüngeren für „Remain“ gestimmt. Sollten wir denen mehr Stimmrecht geben, die die jeweiligen Entscheidungen noch länger betreffen? Nein, aber wir sollten den moralischen Anspruch der Jugend auf die Zukunft anerkennen. Dies trifft den Kern der Frage, wofür die Linke stehen will. Die alte Linke, zu der auch ich gehöre, ist noch immer besessen davon, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, die aus dem 20. Jahrhundert stammen – und das ist gut so. Aber die nächste Generation hat diese Ungerechtigkeiten nicht erlebt. Was ihr Leben stattdessen prägen wird, ist der Umweltkollaps, es sei denn, wir stoppen ihn in den nächsten zehn Jahren. Die Politik muss also Lösungen für künftige und drängende Bedrohungen finden: die Krise der Globalisierung, den Aufstieg der Rechten, die Frage der künstlichen Intelligenz und den Klimawandel. Der theoretische Hintergrund Ihrer Analysen ist seit vielen Jahren Karl Marx. Wo können seine Ansätze in diesem historischen Moment des Brexit noch fruchtbar sein? Ein marxistisch geschulter Blick erhellt Klassendynamiken. Im schlechtesten Fall reduziert er alles darauf. Richtig verstanden vermag er jedoch zum einen jene Klasseninteressen freizulegen, die Teile der britischen Elite mit ihrer Abwen-

Paul Mason ist einer der bedeutendsten Wirtschafts­theoretiker der Gegenwart. In seinem Buch „Lichte, klare Zukunft“ (Suhrkamp, 2019) entwirft er Strategien gegen den Rechtsruck, die Rena­ tio­­­­na­lisierung und eine weltweit grassierende antihumanistische Stimmung


Foto: Odd Anderson/AFP/Getty Images; Autorenfoto: Marta Jara/Eldiario.es/ Wikimedia CC BY-SA 3.0 Paul_Mason

Immer wenn ich eine Erklärung des IWF lese, denke ich: Hätten sie doch nur eine Theorie des Kapitalismus!

dung von der EU verbinden. Zum anderen kann man mit Marx die aktuellen Krisen in einen größeren Krisenkontext aus Stagnation und Akkumulation einbetten. Jedes Mal, wenn ich eine Erklärung des IWF lese, in der steht, warum die Investitionen so niedrig oder die Ungleichheiten so groß sind, schaue ich auf die abstrakten mathematischen Werkzeuge, die dort benutzt werden, und denke: Wenn sie doch nur eine Theorie des Kapitalismus hätten! Welchen der Anwärter auf das Amt des Premierministers bevorzugen Sie und warum? Keinen. Alle liberalen Konservativen sind bereits aus dem Rennen oder werden es bald sein. Eine ganze Tradition, die in meinem Land seit 200 Jahren vorherrschte – mit der ich nicht einverstanden war oder bin, die ich aber respektiere –, stirbt: Ihr Tod begann mit Thatcher und wird sich schlussendlich vollzogen haben, wenn Boris Johnson Premierminister ist. Es gibt keinen einzigen proeuropäischen Liberalen mehr, der sich Hoffnungen auf das Amt machen könnte. Wenn Sie eine abschließende Prognose wagen: Wie sehen Sie die Zukunft Europas? Schreddern wir den Vertrag von Lissabon und beginnen wir von vorne. Ich war kürzlich in Deutschland und habe

gespürt, welch große Begeisterung es für einen europäischen Green New Deal hier gibt. Um den CO2-Ausstoß in Europa allerdings tatsächlich schnell und drastisch zu reduzieren, brauchen wir Investitionen im Maßstab des Marshallplans, die zunächst mit Schulden finanziert werden müssen. Heben wir also die Maastrichter Kriterien auf, wonach das jährliche Haushaltsdefizit auf maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt wird. Heben wir ebenso Beschränkungen für öffentliche Subventionen und Möglichkeiten der Verstaatlichung auf. Da der Brexit für Großbritannien so traumatisch verläuft, wird die EU vermutlich nicht auseinanderbrechen. Eher wird sie sich in der Praxis langsam auflösen, indem Nationalstaaten sich jeweilige Vorteile und Ausnahmen erstreiten oder die EU-Institutionen einfach immer mehr missachten. Wir müssen das neoliberale Wirtschaftsmodell aus dem EU-Vertrag streichen und Letzteren zu dem machen, was er von Anfang an hätte sein sollen: eine Verfassung – und keine Mischung aus Verfassung und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Inzwischen muss sich die Eurozone konsolidieren. Vor allem aber muss das liberale, grüne und linke Europa für die Ideale der Aufklärung kämpfen: Rationalität, Wissenschaft, Demokratie und Gerechtigkeit. Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 19



Horizonte

Dialog

Dürfen wir uns

genetisch optimieren? Der genetisch optimierte Mensch ist in greifbare Nähe gerückt. Ein Horrorszenario – oder eine Errungenschaft mit Potenzial? Wo wäre die Grenze zwischen einem legitimen und einem illegitimen Eingriff zu ziehen? Der Theologe Peter Dabrock diskutiert mit dem Philosophen Reinhard Merkel Das Gespräch führte Barbara Bleisch

D

ie Phil.Cologne 2019. 14 000 Menschen kommen in diesen Junitagen zum philosophischen Festival nach Köln. Auch der grüne Saal der Comedia ist komplett gefüllt – kein Wunder bei einem Thema, das unser aller Zukunft betrifft. Im November letzten Jahres hat der chinesische Forscher He Jiankui das Erbgut von Zwillingen so verändert, dass sie fortan resistent gegen HIV sein würden. Die Welt schrie

Illustration: Brian Stauffer

Reinhard Merkel Der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte an der Universität Hamburg und ist Mitglied des Deutschen Ethikrats. Zu seinen Forschungsschwer­ punkten gehört die Frage nach der menschlichen Freiheit im Kontext technischer Innovationen. Sein Buch „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ (Nomos, 2008) ist eine von Merkels Publikationen zum Thema

Philosophie Magazin: Herr Merkel, Herr Dabrock, am 26. November 2018 kamen zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte genetisch veränderte Babys zur Welt. War dieser Eingriff in die menschliche Keimbahn ein Tabubruch? Peter Dabrock: Für mich war das in der Tat ein Tabubruch, genauer gesagt: ein unverantwortlicher Menschenversuch. Die Risiken, die mit diesem Versuch einhergehen, sind überhaupt noch nicht absehbar. Als ich davon hörte, bin ich regelrecht vom Stuhl gekippt. Übrigens hatte eine chinesische Arbeits-

auf – aber wollen wir auf die Möglichkeiten der genetischen Optimierung wirklich kategorisch verzichten? Auf der Bühne Platz genommen haben der Theologe Peter Dabrock und der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Im Verlauf des Abends wird Dabrock in manchen Fragen skeptischer sein. Doch auch der Theologe meint: Die biologische Grundlage ist nicht gleichbedeutend mit dem Menschen selbst. Also darf man die Keimbahn antasten? Falls ja, zu welchem Zweck?

gruppe die CRISPR-Cas-Methode bereits 2015 angewendet, damals allerdings an nicht lebensfähigen Embryonen. Damit war klar: Das Thema kommt auf uns zu, weshalb wir als Deutscher Ethikrat uns aufgefordert sahen, hierzu Stellung zu beziehen und auch die Zivilgesellschaft an der Debatte zu beteiligen. Wir haben es hier mit einer Menschheitsfrage zu tun, die uns alle betrifft. Reinhard Merkel: Der Eingriff des chinesischen Forschers hat fundamentale Normen verletzt. Mögliche künftige Schäden waren und sind nicht absehbar. >>>

Peter Dabrock Der evangelische Theologe ist Professor für Systema­ tische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Univer­ sität Erlangen-Nürnberg. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Deutschen Ethik­rats. Veröffentlichun­g zum Thema u. a. : zus. m. M. Bölker, M. Braun u. J. Ried (Hg.): „Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Mach­ bar­keit?“ (Karl Alber, 2011)

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 25


Reportage

Sprezzatura – die Kunst der

ELEGANZ Je hässlicher das Äußere, desto schöner das Wesen. Was zählt, ist allein das Denken – zumal, wenn von Männern die Rede ist. So lautet, auf den Punkt gebracht, eine wirkmächtige Kernthese der Philosophiegeschichte. Eine fatale wie falsche Annahme, meint der Philosoph Andrea Baldini. Er führt einen Stil ins Feld, der sich durch Imperfektion und gekonnte Lässigkeit auszeichnet und vom Sein schlechterdings nicht zu trennen ist: die Sprezzatura

Andrea Baldini

Von Andrea Baldini / Aus dem Englischen

G

ehen Sie nach der Konferenz noch auf eine Hochzeit?“ Als ein junger Philosophieprofessor mir diese Frage stellte, reagierte ich mit echtem Staunen, was, wie Platon sagt, der Anfang der Philosophie ist. Ich war damals Doktorand und nur wenige Jahre jünger als mein Gesprächspartner. Seine Erkundigung verblüffte und verwirrte mich. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, rang um eine Antwort. Anzug und Krawatte schienen mir die angemessene – wenn nicht erforderliche – Bekleidung in einem beruf lichen Kontext. Ich bin in Italien aufgewachsen, dem Mekka der Herrenmode, und dort ist es nicht unüblich, dass Männer aller Gesellschaftsschichten und jedes Alters sich förmlich kleiden. Ganz anders jedoch auf Philosophiekonferenzen in den USA. Aus der Frage des Professors sprach mehr als nur Die Moderne zieht Neugier. am Himmel vorbei:Ihr Ton und Gestus ließen keinen Zweifel Die Wohnviertel daran, dass er mein Stilempfinden und mein Bedürfnis der ärmeren Völker nach Eleganz nicht teilte. Sein Blick verriet, dass er >>> Berlins grenzen direkt ans Nichts

30 / Philosophie Magazin August / September 2019

Andrea Baldini ist außerordentlicher Professor für Ästhetik und Kunsttheorie am Kunstinstitut der Universität Nanjing, China. Er liebt Anzüge im Princeof-Wales-Check, grellbunte Seidenkrawatten und Slipper in allen Formen und Designs

Foto: Trunk Archive/posed by model; Autorenfoto: Qilai Shen/Panos

von Michael Ebmeyer


Foto: Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

Horizonte

Analyse


DOSSIER

Gelassen

U

nruhig und angespannt: So sind wir gestrickt in modernen Zeiten. Kein Wunder, sind wir doch aufgefordert, unser Glück in die eigene Hand zu nehmen, alles unter Kontrolle zu haben – selbst im Urlaub. Zeit also, dem Geheimnis einer gelasseneren Welthaltung nachzuspüren. Einem Dasein, das in stillen Momenten das Leben bejaht, anstatt es zu verwalten, und sich durch die antike Schule der Stoa genauso inspirieren lässt wie von der fernöstlichen Philosophie. Ein Dossier über die Seelenruhe – auch in ihren Abgründen. Mit Beiträgen unter anderem von Heinz Bude, Alice Lagaay, Kai Marchal und Wilhelm Schmid

36 / Philosophie Magazin August / September 2019

Foto: Eivind Hamran ; Model: Le Management

sein – warum ist das so anstrengend?



DOSSIER

Gelassen sein

Unterwegs zur inneren

Mitte

Gelassenheit ist eine hohe Kunst, die uns im Umgang mit unseren Affekten, der Sterblichkeit und der Technik allzu leicht misslingt. Drei hilfreiche Handreichungen aus der Philosophiegeschichte Illustrationen von Christine Rรถsch

46 / Philosophie Magazin August / September 2019


I

Seneca

Kontrolliere deine Affekte

K

ennen Sie den Impuls, auf eine Ungerech­ tigkeit sofort und entschlossen reagieren zu müssen, um der Welt und sich selbst zu zeigen: „Ich lasse mir nichts gefallen und bin außerdem im Recht!“? In unserer digitalisierten Zeit, der Zeit der Hasskommentare und leidenschaftlich geführten Social-Media-Debatten, ist dieser Impuls weiter verbreitet denn je, doch wir kennen ihn auch aus dem analogen Alltag, wenn uns die verschmierte Zahnpasta im Waschbecken oder das falsch geparkte Auto des Nachbarn wieder mal zur Weißglut treibt. Der antike Philosoph Seneca (1–65 n. Chr.), seines Zeichens Stoiker und Politiker, wusste es besser und rät entschieden zu einer gelassenen Existenz, die Provokationen gekonnt an sich abtropfen lässt. So zeichnet den wahrhaft weisen Zeitgenossen gerade aus, dass er seinen Affekten keinen freien Lauf lässt, sondern sie durch die Kraft seiner Vernunft zügelt. Die Vernunft ist dabei „nichts anderes als ein Teil des göttlichen Geistes, der in einen menschlichen Körper eingesenkt ist“. Aber was hat der Mensch nun

konkret von seiner Selbstkontrolle? Nun, nur auf diese Weise könne, so Seneca, der höchste Zustand, die ataraxia, zu Deutsch: Seelenruhe erreicht werden, die für ein glückliches Leben unabdingbar sei. „Wer klug ist, besitzt auch Selbstbeherrschung; wer Selbstbeherrschung besitzt, ist auch beständig; wer beständig ist, ist ungestört; wer ungestört ist, ist ohne Traurigkeit; wer ohne Traurigkeit ist, ist glücklich; also ist der Kluge glücklich, und Klugheit ist ausreichend für ein glückliches Leben.“ So schreibt der Denker im 66. Brief an Lucilius. Jedoch war die Gelassenheit für Seneca keineswegs nur der Weg zum Glück, sondern, viel wesentlicher, der Weg zum Guten. Wer seine Affekte zügelt, stellt das Gemeinwohl über die eigene Existenz. Wichtiger als die Rettung der Ehre war für Seneca Beständigkeit und Frieden. Und so hielt er am Ideal der Seelenruhe sogar noch fest, als er von Kaiser Nero zum Tode verurteilt wurde, und fügte sich ohne zu zögern seinem Schicksal. Zum Weiterlesen: Seneca, „Briefe an Lucilius“ (Reclam, 2014)

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 47


DOSSIER

Gelassen sein

„Die starre

Ich-

Zentrierung belastet uns“

Wer auf sich gestellt ist, versteift sich auf das eigene Ego und neigt zur Hyperproduktion. Auch das fernöstliche Denken legt den Fokus auf die einzelne Person – aber in einem Modus, der aus der Ich-Spirale befreit. Der Philosoph Kai Marchal im Interview Das Gespräch führte Dominik Erhard

Philosophie Magazin: Herr Marchal, vor ­kurzem hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg einem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Sonderurlaub zu­ gesprochen, damit er an einem fünftägigen Volkshochschulkurs unter dem Titel „Yoga I – erfolgreich und entspannt im Beruf mit Yoga und Meditation“ teilnehmen kann. Warum stehen Angebote rund um das Thema ­Gelassenheit mit fernöstlicher Anmutung hierzulande so hoch im Kurs? Kai Marchal: Viele Menschen verspüren im Alltag ein Gefühl der Entfremdung. Zum einen geht das sicher auf den Verlust traditioneller Werte und Normen zurück. Die Religion verliert an existenzstabilisierender Kraft, Familienkonstellationen bauen sich radikal um und die Arbeitswelt verändert sich rapide. Durch diese Verunsicherung werden die Menschen auf sich zurückgeworfen und glauben, dass sie der Nabel der Welt sind. Oder aber, dass diese sich nicht weiterdreht, wenn sie nicht beständig liefern. Beides erzeugt alles andere als Gelassenheit. Der nicht ausformulierte Imperativ unserer Zeit scheint der einer hyperaktiven 50 / Philosophie Magazin August / September 2019

Produktion zu sein, was zu einer narzisstischen Versteifung führt. Diese starre Ich-Zentrierung belastet uns, sodass das Gegenmodell dazu attraktiv scheint, das sich in Teilen fernöstlicher Lehren und Praktiken findet. Fernöstliches Denken und Ich-Zentrierung, so könnte man sagen, sind radikale Gegensätze.

Wie sieht dieses Gegenmodell aus? Im Daoismus, Konfuzianismus und auch im Buddhismus spielen das Nichts und die Leere eine bedeutende Rolle. Und wer dauernd produziert, verspürt ir­ gend­­wann den Wunsch nach eben diesem Gegengewicht: Schweigen, sich der Sprache entledigen, die eigene Leiblichkeit wieder wahrnehmen. Es gibt einen Drang hin zur Leere und zur Gelassenheit. Auch hier liegt also der Fokus auf der einzelnen Person, allerdings nicht im Modus permanenten Forderns, sondern in einem produktiven Selbstbezug. Der Unterschied ist, dass der Mensch einmal als überfordertes Individuum im Zentrum steht und einmal in einer gelassenen Selbstbetrachtung zu sich kommen soll. Der Fokus ist identisch, einzig die Vorzeichen sind grundlegend andere.

Kai Marchal Der Professor für Philosophie an der National Chengchi University (Taipeh, Taiwan) ist spezialisiert auf chinesische Philosophie sowie politische Philosophie und Ethik. Er veröffentlichte bereits zahlreiche wissenschaftliche und literarische Texte. Jüngst erschien von ihm das Buch „Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist“ beim Verlag Matthes & Seitz


für ihn einen „weisen Menschen“ ausmacht. Ihm zufolge ist nicht derjenige weise, der das Dao besonders gut beschreiben oder vermitteln kann, sondern derjenige, der es verkörpert und nicht mehr über es spricht. Oder besser noch: in ihm wohnt.

Foto: Justin Guariglia/Redux/laif; Autorenfoto: W. Blume

Wie vollzieht sich diese Einübung ins Nichts konkret? Hier spielt die körperliche Komponente eine entscheidende Rolle. Heute sehen wir das in Praktiken wie Tai Chi oder Yoga. Aber auch beim Lesen des Daodejing, das eines der wichtigsten Bücher der chinesischen Philosophie ist, geht es nicht ausschließlich um ein intellektuelles Begreifen des Inhalts, sondern um ein praktisches Einüben der Spruchkapitel. Ähnlich verhält es sich mit der Kalligrafie. Wer das schon einmal gesehen hat, weiß, dass das ewige Wiederholen der Schriftzeichen etwas sehr Monotones haben kann. Aber gerade diese Wiederholung erlaubt es, eine kritische Distanz zum eigenen Leben einzunehmen. Man wird sich selbst im Zirkulären zum Gegenstand, den man mit Distanz und interesselos beobachten kann. Wer Mühe hat, sich aus dem Trubel seiner Umwelt herauszuhalten, kann hierin einen Quell der Gelassenheit finden.

Nun kann man sich unter dem Nichts nur schwer etwas vorstellen. Können Sie das er­ läutern? Das ist im Grunde die Frage nach dem Dao. Sie könnten jetzt fragen: Was ist denn eigentlich das Dao? Aber genau das wäre die falsche Frage, und die alten Zen-Meister hätten an dieser Stelle wohl etwas Merkwürdiges getan, zum Beispiel sich einen Schuh auf den Kopf legen und dann nichts mehr sagen. Denn der Fragende muss erst einmal zu dem Punkt gebracht werden, wo er merkt, dass es unmöglich ist, das Dao restlos mit begrifflichen Mitteln zu erfassen. Es geht besser über Geschichten, Parabeln und Metaphern. In aller Kürze: Das Dao hat in den verschiedenen Schulen des alten China sehr verschiedene Ausdeutungen erhalten, doch fast immer geht es dabei um den Gesamtzusammenhang der Welt jenseits der eigenen Egozentrizität, den Urgrund aller Existenz, der in seiner Abgründigkeit aber gar nicht mehr als Grund verstanden werden darf – oder, praktischer: die Einheit der Lebenskurve, die erst aufsteigt und dann wieder abfällt. Wang Bi, einer der einflussreichsten Denker Chinas im dritten nachchristlichen Jahrhundert, spricht an einer Stelle davon, was

Nun hat der Psychiater C. G. Jung die Ent­ rücktheit des ostasiatischen Denkens einmal mit folgenden Worten beschrieben: „Das Licht dieser Weisheit leuchtet nur in der Dun­ kelheit, nicht im elektrischen Scheinwer­ferlicht des europäischen Bewusstseins- und Willenstheaters.“ Was bedeutet das für unse­ re Möglichkeit, gelassen zu sein? Muss uns der Kern fernöstlicher Seelenruhe notwendig verschlossen bleiben? Natürlich hört sich vieles von dem, was ich bisher gesagt habe, für westliche Ohren esoterisch an. Mir erging es am Anfang meiner Beschäftigung mit dem fernöstlichen Denken nicht anders, weil es sich einem schnellen Zugang schlicht verweigert. Es gibt in dieser Tradition allerdings ebenso rationale Elemente wie im westlichen Denken. Was dieser Philosophie fernliegt, ist der starke Wille zum Behaupten, den wir bereits am Anbeginn der westlichen Philosophie finden. Fernöstliche Denker hätten die an Besessenheit grenzende Überzeugung, mit der Sokrates seinen Gesprächsteilnehmern begegnet ist – der zufolge die Wahrheit, die so vielen Generationen verborgen geblieben ist, hier und jetzt innerhalb eines 40-minütigen Gesprächs entdeckt werden könne –, wohl als Taktlosigkeit zurückgewiesen. Vielerorts werden Meditationsräume für Mit­ arbeiter eingerichtet, damit diese sich entspannen und anschließend noch mehr leisten können. Wie viel Optimierungslogik steckt in der fernöstlichen Philosophie? Natürlich schreiben sich viele diese Praktiken auf die Fahnen, was im ersten Moment ja auch sehr stimmig >>> Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 51


DOSSIER

Gelassen sein

Alice Lagaay Zu den Forschungs­ schwerpunkten der Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg gehören die Philosophie des Schweigens und des Nichttuns. Letzte Buchveröffentlichung (hg. m. A. Seitz): „WISSEN FORMEN. Performative Akte zwischen Wissenschaft und Kunst“ (transcript, 2018)

Ordnung oder Zufall – wo wohnt die Gelassenheit? Die Überbetonung des Ichs ist das zentrale Stressmoment des modernen Menschen. Wie aber wäre wahre Gelassenheit zu finden: In der Akzeptanz des Zufälligen – oder dem Glauben an eine höhere Macht? Die Philosophin Alice Lagaay diskutiert mit dem Soziologen Heinz Bude Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Daniel Hofer 58 / Philosophie Magazin August / September 2019


Heinz Bude Der Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel leitete 1997 bis 2015 den Bereich „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sein Buch „Gesellschaft der Angst“ (Hamburger Edition, 2014) ergründet die tiefen Ursachen für das moderne Gefühl der Haltlosigkeit. Sein jüngstes Buch: „Solidarität“ (Hanser, 2019)

A

lice Lagaay und Heinz Bude kommen beide ein paar Minuten zu spät. Anstatt leger darüber hinwegzugehen, wird entschuldigend auf Terminlage und Verkehrssituation verwiesen, wodurch sogleich ersichtlich wird: Hier sprechen zwei Menschen miteinander, die viel beschäftigt sind und Gelassenheit eher als Fernziel im Auge haben. Theoretisch aber kommen der Soziologe und die Philosophin aus ganz anderen Richtungen – und sind zudem, wie es scheint, auch existenziell verschieden in die Welt gestellt. Heinz Bude begreift die „Gesellschaft der Angst“, die tiefe Verunsicherung unseres Weltgefühls und die Imperative der modernen Leistungsgesellschaft als wesentlich für die moderne Angespanntheit. Alice Lagaay hingegen ist eine Denkerin des Lassens, der Passivität und des Nichttuns, die mit der französischen Philosophie von Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida für ein ganz anderes Verständnis von Sein plädiert. Und während Heinz Bude auf die beruhigende Kraft der Spiritualität verweist, erkennt Lagaay gerade im Zufall, der „Liebe zum Beliebigen“, den Schlüssel zur Gelassenheit. Religion oder Ästhetik – das ist, so zeigt sich schnell, die Kernfrage des gelungenen Lebens. Die Suche nach der >>> Antwort beginnt. Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 59



Ideen

Hélène Cixous

Das Gespräch

Sie ist eine führende Denkerin der Dekonstruktion und avancierte mit ihrer Theorie der Écriture feminine zu einer der einf lussreichsten Feministinnen des 20. Jahrhunderts. Im Gespräch erklärt Hélène Cixous, warum ihr Konzept des weiblichen Schreibens auch in Zeiten von #MeToo noch anschlussfähig ist Das Gespräch führte Nils Markwardt / Fotos von Urban Zintel

Hélène

Cixous

»Beim Schreiben muss man dem Körper alles abverlangen«

K

urz nachdem Hélène Cixous im Salon eines Berliner Hotels Platz genommen hat, ent­ schuldigt sie sich, dass sie leider nicht so lange sprechen könne, da ihre Stimme ange­ griffen sei und sie abends noch eine Podi­ umsdiskussion habe. Am Ende wird das Interview dennoch 80 Minuten dauern. Und das erscheint insofern exemplarisch, als dass Hélène Cixous nie Debatten scheute, keiner Auseinandersetzung aus dem Weg ging. Geboren und aufgewachsen im algerischen Oran, wo Cixous’ deutschstämmige Mutter und Großmutter Zuflucht vor den Nazis fanden, avancierte die Philosophin, Schriftstellerin und Theaterautorin nach ihrer Übersiedlung nach Frankreich zu einer der einfluss-

reichsten Intellektuellen des Landes. Ihr umfangreiches Werk kreist dabei nicht nur um die frühen Erfahrungen von Ausgrenzung und Antisemitismus, sondern auch um das Wesen von Sprache und Geschlecht. Sie, die eine lebenslange Freundschaft mit Jacques Derrida verband, wurde somit nicht nur eine führende Stimme der Dekonstruktion, sondern prägte mit ihrem Konzept der Écriture feminine auch die feministische Theorie. Und wenngleich sie dadurch unzählige Debatten ausfechten musste, ist sie der Diskussionen nicht müde geworden. Auch in den 80 Gesprächsminuten setzt sich Cixous, die bis heute als Professorin an der Universität Paris VIII lehrt, pointiert mit dem Zustand der Gegenwartsliteratur, der Bedeutung des Feminismus oder #MeToo auseinander. Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 67

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74 / Philosophie Magazin August / September 2019

Illustration: EloĂŻse Oddos; Bildvorlage: akg-images


Ideen

Der Klassiker

Bentham und die

TRANSPARENZ Im Gefängnis

, das Jeremy Bentham 1791 als „Panoptikum“ entwarf, sollte das Licht der Auf klärung noch den hintersten Winkel erhellen. Die Moral des Delinquenten sollte reformiert, seine Gesundheit bewahrt, seine Arbeitsleistung gesteigert werden – und all dies dank einer simplen architektonischen Idee: In der Mitte der Haftanstalt steht ein Wachturm, von dem aus jede Zelle permanent beobachtet werden kann. Ob die Insassen tatsächlich rund um die Uhr observiert werden, ist dabei zweitrangig. Es kommt lediglich darauf an, dass sie sich beobachtet fühlen. Diese Idee geriet bei der Nachwelt in Verruf. Bentham wurde zum Vordenker moderner Disziplinar- und Überwachungstechniken erklärt, zum zynischen Architekten eines alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Transparenzwahnsinns. Im Mittelheft ist seine berühmt-berüchtigte Schrift in Auszügen abgedruckt. Der Frage, inwiefern wir heute der Logik des Panoptikums folgen, widmet sich Marianna Lieder auf den folgenden Seiten.

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2019 / 75


Die neue Sonderausgabe

>>> Alle Details auf der nächsten Seite


Foto: Chen Wei, Courtesy of Ota Fine Arts, Shanghai/Singapore/Tokyo

Der Wille zur Wahrheit

Foucault

DES

WISSENS

Der Wille zur Wahrheit

Der Wille zur Wahrheit

65 65 Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

Foucault   Der Wille zur Wahrheit

25

IM

ARC HIV

Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

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POLITIK UND WAHRHAFTIGKEIT

„Ich schreibe nichts als Geschichte“, sagt Michel Foucault 1978 in einem Interview. Mehr noch: Er schreibt eine Geschichte der Gegenwart aus ihren Quellen. Seine entschlossene Historisierung macht vor keiner vermeintlich überzeitlichen Idee halt: die Wissenschaften und ihre unterschiedlichen Formen des Wissens, aber auch die Vernunft und selbst die Wahrheit – ja sogar der Mensch. Sie alle sind entstanden – und können vergehen

97 Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

Foto: Chiara Goia

Der „Mut zur Wahrheit“, der sein eigenes Leben aufs Spiel setzt – das ist eine Radikalität, die der späte Foucault in der antiken Philosophie, bei Sokrates, Platon und dem Kyniker Diogenes, findet und die ihn fasziniert. Denn die Frage nach der Wahrheit, die sich durch sein gesamtes Werk zieht, ist nicht nur mit Wissenschaft, Macht, Sexualität verbunden, sondern ebenso mit Politik – und mit der Möglichkeit, sich für politische Veränderung einzusetzen

Der Wille zur Wahrheit

Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

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SAGEN

Foto: Moises Saman/Magnum Photos/Agentur Focus

Der Wille zur Wahrheit

DIE

Foucault

Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

BE BEGE GEHH RE RENNSS

WAH R HEIT

Foucault   Foucault

Foto: Ryan James Caruthers

Der Wille zur Macht

Sexualität Sexualität ist in Foucaults ist in Foucaults historischer historischer Rekonstruktion Rekonstruktion eine eine ErfindungErfindung der Neuzeit der und Neuzeit die Idee, und die es gelte Idee, jetzt es gelte etwas jetzt etwas Unschuldiges Unschuldiges und Unterdrücktes und Unterdrücktes zu befreien zu befreien und endlich und endlich offen zu offen bereden, zu bereden, ist selbst ist Teilselbst dieser Teil Erfindung. dieser Erfindung. Denn wasDenn was tut die Moderne tut die Moderne anderes,anderes, als permanent als permanent über Sexüber zu reden, Sex zu reden, darüber,darüber, was normal wasistnormal und was ist und pervers, was was pervers, verboten was verboten und was und erlaubt? was erlaubt?

JENSEITS JENSEITS DES DES

Foucault

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Der Wille zur Macht

Foucault   Foucault

Foto: Ryan James Caruthers

K UN ST WER K

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„Könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind eine Lampe oder ein Haus Kunstobjekte und nicht unser Leben?“ Die Frage, die Foucault in einem Gespräch 1983 stellt, beschäftigt ihn seit den späten 1970er-Jahren: Er wendet sich ab von der Analyse der Machtverhältnisse in der Neuzeit und hin zu antiken Quellen und der Frage nach einer „Ästhetik der Existenz“

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ALS

Philosophie Magazin Sonderausgabe 12

Wahnsinn, Gefängnis, Sex – die Themen, die sich Michel Foucault vornahm, sie kamen nicht aus dem Zentrum des philosophischen Kanons. Und doch zielte Foucault mit seinen historischen Untersuchungen über Randständiges ins Herz der Philosophie, denn seine Fragen gingen aufs große Ganze: Wie haben sich unser Denken, unsere Methoden der Wissenschaft, unsere Vorstellung von Vernunft, Wahrheit, Normalität oder persönlicher Identität überhaupt entwickelt, was ist ihre Geschichte?

Der Wille zur Wahrheit

L E BE N

DAS

Foucault

Der Wille zur Wahrheit

Foucault

Die neue Sonderausgabe

Mit zahlreichen Originaltexten und Beiträgen u. a. von Ulrich Raulff, Petra Gehring, Martin Saar, Philipp Sarasin und Wilhelm Schmid.

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Per Telefon >>> +49 (0)40 / 38 66 66 309

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