Innere Sicherheit / The State I Am In
„In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“
An interview with the two Photoszene curators Katja Stuke and Oliver Sieber Ein Interview mit den beiden Photoszene-Kuratoren Katja Stuke und Oliver Sieber“What kind of society do we want to live in?”
Katja Stuke und Oliver Sieber haben gemeinsam die zentrale Ausstellung während des diesjährigen PhotoszeneFestivals kuratiert: „Innere Sicherheit / The State I Am In“. Damian Zimmermann sprach mit den beiden über die politische und gesellschaftliche Dimension des Themas, was sie antreibt und warum ihnen die Fotografie alleine manchmal nicht ausreicht.
Das Thema des Festivals lautete ursprünglich nur „Innere Sicherheit“. „The State I Am In“ kam später als Ergänzung und Bestimmung hinzu. Ist dieses Thema für euch besonders aktuell?
Katja Stuke: Ich finde, es ist ein immer aktuelles Thema. Auch wenn es gerade von vielen Leuten wahrgenommen und als besonders aktuell angesehen wird, enthält es eine Frage, die man sich immer stellen soll. Der englische Zusatz macht es uns Deutschen leichter, die Doppeldeutigkeit beider Titelteile zu erkennen. Einem Engländer oder Amerikaner fällt sie gar nicht unbedingt auf. Eine Übersetzung von „Innere Sicherheit“ ist „The State I Am In“ ja nicht, denn die würde „Homeland Security“ lauten. Und was das genau ist, müssten wir erst erklären.
Die Doppeldeutigkeit war mir zwar gleich klar: einmal die innere Sicherheit als politischer Begriff und dann die, die ich als Individuum ganz privat empfinde. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, dass „Innere Sicherheit“ ein feststehender Begriff aus der Bonner Republik und der Zeit der RAF ist.
Katja Stuke: Genau. Und wir haben jetzt festgestellt, dass viele Leute, die jünger als 30 Jahre alt sind, diese Bedeutung überhaupt nicht erkennen. Das hat mich doch ein bisschen überrascht, muss ich sagen.
Oliver Sieber: Sie haben das gar nicht politisch wahrgenommen. „Innere Sicherheit“ ist für sie kein Thema, sie interessieren sich mehr für Stalking, innere Befindlichkeiten, Zukunftsängste. Solche Sachen. Das ist interessant, weil das Themen sind, die uns als Künstler und Freiberufler auch immer beschäftigen. Wie verändert sich unsere Welt, wie verändert sich dadurch unsere Zukunft? Von unserer Elterngeneration glaubten wir gelernt zu haben, wie das Leben wahrscheinlich verlaufen wird, und dann ist doch alles anders gekommen. Weil es mit dem Lebensentwurf nicht hingehauen hat, wirft man plötzlich die eigenen Werte und Ausrichtungen über den Haufen.
Das könnte ein weiterer Aspekt in den von euch kuratierten Ausstellungen sein: Wie verändert sich so ein Menschenleben mit Perspektiven, Hoffnungen, Enttäuschungen …?
Katja Stuke: Ja, und davon hängt ab, welche Sorgen und Ängste entstehen. Das verändert auch die Haltung gegenüber politischen Entwicklungen. Wie wir mit uns selbst klar kommen, wie wir unsere Zukunft sehen, welche Ängste wir haben, all das projizieren wir auch, all das spiegelt sich in unserem Verhalten mit Anderen wider. Das, was wir uns vom Leben vorstellen oder erhoffen, lässt sich nicht in jeder Gesellschaft verwirklichen.
Katja Stuke and Oliver Sieber have jointly curated the central exhibition during this year’s Photoszene festival: “Innere Sicherheit / The State I Am In”. Damian Zimmermann spoke with the two about the theme’s political and societal dimension, what motivates them, and why, sometimes, photography alone is not enough, in their view.
The festival’s theme was originally just “Innere Sicherheit”. “The State I Am In” was added later, as a determiner. Is this theme particularly current for you both?
Katja Stuke: I think it’s always a current theme. Even if it’s being noticed by lots of people at the moment and being viewed as particularly current, it contains a question you should always ask yourself. The English addition makes it easier for us Germans to recognize the ambiguity of the two parts of the title. It won’t even necessarily strike an English or American person. After all, “The State I Am In” isn’t a translation of “Innere Sicherheit”, because that would be “Homeland Security”. And we’d have to explain exactly what that is first.
I noticed the ambiguity straight away: first, homeland (inner) security as a political term and then the security that I feel wholly privately as an individual. Having said that, I only realized in retrospect that “Innere Sicherheit” is an established term from West Germany and the Rote Armee Fraktion period.
Katja Stuke: That’s right. And now we’ve noticed that many people under 30 don’t even recognize that meaning. That did surprise me a bit, I have to say.
Oliver Sieber: It hasn’t been on their political radar at all. “Homeland Security” just isn’t a concern for them, they’re more interested in stalking, inner states, fears for the future. Things like that. That’s interesting, because those are topics that always preoccupy us too as artists and freelancers. How is our world changing, how is our future changing as a result of it? From our parents’ generation we thought we’d learned how life will probably go, and then everything happened a different way after all. Because things didn’t work out with the life plan, you suddenly throw over your own values and focuses.
That could be a further aspect in the exhibitions that you curate: How does a human life change like this, with prospects, hopes, disappointments...?
Katja Stuke: Yes, and this determines what worries and fears arise. It also alters attitude towards political developments. How we cope with our lives, how we view our future, what fears we have, we project all that too, it’s all reflected in our conduct with other people. What we imagine or hope for from life can’t become reality in every society.
Not only does photography play a major role for you two, both in private and professional life, but film, advertising, fashion, music, books do as well; additionally, you don’t only take photographs yourselves, you also
Für euch spielt nicht nur die Fotografie eine große Rolle im privaten wie berufl ichen Leben, sondern auch der Film, die Werbung, die Mode, Musik, Bücher, außerdem fotografiert ihr nicht nur selbst, sondern macht auch Bücher, Manifeste, Magazine und Veranstaltungen. Diese Vielfalt spiegelt auch das Festival wider: Neben den Ausstellungen, in denen es nicht nur Fotografie zu sehen gibt, habt ihr einen Handapparat online gestellt, es gibt ein Schaufenster in der Buchhandlung König, es gibt ein Filmprogramm im Museum Ludwig, es gibt eine Zusammenarbeit mit der Traumathek.
Katja Stuke: Es ist schon toll, in eine Ausstellung zu gehen und einfach großartige Arbeiten zu sehen. Wir wollen das Werk an sich nicht schmälern. Aber das, was ich bereits gewusst und gesehen und erlebt habe, vergesse ich ja nicht, wenn ich in eine Ausstellung gehe und mir eine Fotografie angucke. Deshalb hat das alles miteinander zu tun. Und gerade die Fotografie ist allgegenwärtig. Wie weit wir das fassen, wird ja auch ganz gut sichtbar in dem erwähnten virtuellen Handapparat, den wir schon seit Februar im Netz betreiben.
Oliver Sieber: Wenn man sich den Film von Marc Thümmler über den Ostkreuz-Fotografen Harald Hauswald oder das Buch „The Fleck“ von Günter Karl Bose anschaut, beides Arbeiten, die sich mit der DDR auseinandersetzen, denkt man doch unwillkürlich an andere politische, nicht-demokratische Systeme.
Katja Stuke: Bei Bose geht es auch darum, was aus der Geschichte wird. Wer ist der Gewinner der Geschichte und erzählt die Geschichte dann aus seiner Perspektive?
Oliver Sieber: Wir zeigen unter anderem auch den Film „Die Lügen der Sieger“ von Christoph Hochhäusler, den genau das interessiert: Wer bestimmt heute über die Geschichte? Es sind die, die Leute kontrollieren und Ängste schaffen können. Und diese Leute muss man im Auge behalten. Die Arbeit von Beate Geissler und Oliver Sann macht darauf aufmerksam, dass wir auch über das Highspeed-Trading nachdenken sollten. Sie haben sich gefragt, wie es in den Büros aussieht, in denen Finanzgeschichte geschrieben wird. Und dann werden diese Fotos plötzlich zensiert.
Katja Stuke:Viele Mitarbeiter solcher Firmen für Hochfrequenzhandel sagen selbst, dass sie nicht so richtig verstehen, was da eigentlich vor sich geht. Die automatisierten Prozesse sind nicht mehr sichtbar. Und das bringt uns auf die Frage, was die Fotografie abbildet, was sie erklärt und warum das die betroffenen Leute irritiert und sie nicht wollen, dass die Bilder in der Öffentlichkeit erscheinen – obwohl man ja vermeintlich gar nichts sieht.
Oliver Sieber: Das Bild und der Titel bilden bereits so viel Kontext ab, dass das für die Firma, die den Fotografen eine Klage androhte, offensichtlich bereits Sprengkraft genug besaß. Und da wir gerade über die Macht von Fotografie reden: Im „Revolutionären Archiv“ von Jochem Hendricks, das alte Polizei-Fotos
produce books, manifestos, magazines and events. The festival reflects this diversity too: In addition to the exhibitions, which don’t only feature photography, you’ve put a reference library online, there’s a display window at König booksellers, there’s a film programme at Museum Ludwig, there’s a collaboration with the Traumathek.
Katja Stuke: It’s great to walk into an exhibition and simply see fantastic works. We don’t want to detract from the work itself. But you know I don’t forget what I’ve already known and seen and experienced when I walk into an exhibition and look at a photograph. That’s why it’s all interlinked. And precisely photography is everywhere you go. How far we grasp that is really clear in the virtual reference library you’ve mentioned, which we’ve already been running online since February.
Oliver Sieber: When you take a look at the film by Marc Thümmler about the Ostkreuz photographer Harald Hauswald or the book “The Fleck” by Günter Karl Bose, both of them works that deal with the GDR, you can’t help but think of other political, non-democratic systems.
Katja Stuke: Bose also looks into what emerges from history. Who’s the winner in history, and does history then tell its story from the winner’s perspective?
Oliver Sieber: Among other films we’re also showing “Die Lügen der Sieger” (the victors’ lies) by Christoph Hochhäusler, who’s interested in precisely that: Who decides what course history takes today? It’s those who are able to control people and generate fears. And you need to keep an eye on these people. The work by Beate Geissler and Oliver Sann draws attention to the fact that we should also give some thought to high-speed trading. They asked themselves how things are looking in the offices where history is made. And then these photos suddenly get censored.
Katja Stuke: Many employees at high-frequency trading firms like these say, themselves, that they don’t really understand what actually goes on there. The automated processes are no longer visible. And that brings us to the question of what photography illustrates, what it explains and why the people concerned are annoyed and why they don’t want the images to appear in public – even though you supposedly can’t even see anything.
Oliver Sieber: The image and the title already illustrate so much context that it was obviously explosive enough for the firm that threatened the photographers with a lawsuit. And while we’re on the subject of the power of photography: In “Revolutionäres Archiv” by Jochem Hendricks, which shows old police photographs, we see demonstrators and police officers going at one another with cameras. That was in the seventies and we’re seeing exactly the same thing today. Opponents photographing the opposing side, whatever kind of peculiar photographic gesture that is.
zeigt, sehen wir, wie Demonstranten und Polizisten mit Kameras aufeinander losgehen. Das war in den siebziger Jahren und das sehen wir heute genauso. Die Gegner fotografieren sich gegenseitig, was auch immer das für eine merkwürdige fotografische Geste ist.
Das Fotografieren als Machtinstrument. In unserem Beitrag von Wolfgang Lorentz geht es darum, dass wir unsere Daten und Bilder zunehmend unkontrolliert im Netz verteilen. Doch gleichzeitig reagieren wir immer allergischer und aufgeregter, wenn wir in der Öffentlichkeit fotografiert werden.
Katja Stuke: Marvin Heiferman schreibt in seinem Essay unter anderem, dass man denkt, man habe seine Daten unter Kontrolle. Ich poste etwas bei Instagram oder bei Facebook in dem Glauben, dass ich es kontrollieren und mein Bild in der Öffentlichkeit steuern könnte. Aber du hast natürlich niemals die hundertprozentige Sicherheit, dass die Betrachter das genauso interpretieren, wie du es gemeint hast. Es ist wie mit der Sprache. Man sagt einen Satz und denkt, der ist komplett harmlos, doch irgendjemand bekommt ihn in den falschen Hals oder zitiert ihn falsch. Das passiert mit Bildern genauso. Bilder werden verwendet wie Wörter, aber da muss man noch einmal ganz anders aufpassen, gerade weil es auch andere Leute sehen.
Die Flüchtlingskrise habt ihr im Ausstellungsbereich nicht berücksichtigt. Warum? Weil es sowieso überall in den Medien ein Thema ist?
Katja Stuke: Die Flüchtlingsfrage, die sich gerade stellt, ist nicht wirklich neu. Seit Jahrzehnten sind Leute auf der Flucht, es wird nur im Moment hier wahrgenommen, weil sie plötzlich an der Grenze stehen. Deshalb lautet die Frage: Ist das eigentlich eine Flüchtlingskrise oder ist es nicht doch eher eine gesellschaftliche Krise? Müssen wir uns nicht Gedanken darüber machen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen? Die Fragen beschäftigen die meisten der Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung. Wie gehe ich zum Beispiel mit der Thematik von Gender und Homosexualität um, die Ryudai Takano aufwirft? Oder was tun, wenn ich einen Ort gefunden habe, der mir Sicherheit gibt und den mir die Stadt wieder schließt, so wie es Nils Petter Löfstedt dokumentiert? Oder was denke ich über die Menschen bei Stephen Gill, die gegen die Veränderungen wegen der Olympischen Spiele in London protestieren? Wenn ich zu einem dieser Themen eine Haltung habe, dann habe ich auch eine Haltung dazu, wie offen meine Gesellschaft sein soll.
Das Interview führte Damian Zimmermann.
Photographing as an instrument of power. The subject of our article by Wolfgang Lorentz is our unbridled distribution of data and images on the Net. But at the same time, we’re getting more and more allergic and agitated about being photographed in public.
Katja Stuke: Among other subjects, in his essay Marvin Heiferman writes that you think you’ve got your data under control. I post something on Instagram or Facebook in the belief that I can control it and manage my image in public. But of course you can never be 100% certain that viewers will interpret it exactly the way you’d intended it. It’s like with language. You say a sentence and think, that’s totally harmless, but somebody or other will get the wrong end of the stick or misquote it. Exactly the same thing happens with images. Images are used like words, but you’ve got to take extra care there, precisely because other people will see it.
You haven’t taken the refugee crisis into consideration in your exhibition area. Why? Because it’s all over the media anyway?
Katja Stuke: The refugee issue that’s currently being raised isn’t really new. People have been fleeing for decades; it’s only being noticed at the moment because they’re suddenly at the border. That’s why the question is: Is this really a refugee crisis or is it not, rather, a societal crisis? Don’t we need to be thinking about what kind of a society we want to live in? These questions preoccupy most of the artists in the exhibition. How, for example, do I deal with the topic of gender and homosexuality, which is thrown up by Ryudai Takano? Or what do I do when I’ve found a place that offers me security and that’s barred to me again by the city, as Nils Petter Löfstedt documents it? Or what do I think about the people looked at by Stephen Gill, who protest against the changes due to the Olympic Games in London? If I have a stance on any of these topics, then I’ll also have a stance on how open I want my society to be.
The interview was conducted by Damian Zimmermann.
In außergewöhnlichen Zuständen Altered states
Marvin HeifermanAnfang des letzten Jahres wurde Shorts, eine neue Foto-App, ausgetüftelt und zur Marktreife gebracht. Die App erfüllt einen simplen Zweck: Bildermachen wird mit ihr noch mehr als ohnehin schon zu einer Erfahrung, die Menschen miteinander teilen. Kaum sind Fotos oder Video-Clips mit dem Handy des Nutzers aufgenommen, werden sie auch schon an die Handys der Freunde versandt und können von ihnen sofort angeschaut werden. Zunächst waren alle, die die App ausprobierten, begeistert. „Die Leute klebten den ganzen Tag an ihren Handys und warteten darauf, dass etwas hereinkam“, sagte der Entwickler von Shorts, Paul Davison. Aber dann trat ein Problem auf, das, wie auch Davison zugab, „unheimlich“ war. Es hat mit dem unvorhersehbaren Inhalt live übermittelter Bild-Feeds zu tun.
Noch unheimlicher wurde die Sache unter dem Aspekt der Sozialen Medien oder der Überwachung. Denn die erste Version der App verfügte über das Feature „Discover“. Es erlaubte, dass auch Freunde von Freunden und sogar Leute, von denen der Algorithmus der App bloß annahm, dass sie Bekannte des Nutzers sein könnten, sehen konnten, was dessen Kamera aufnahm und ihnen zulieferte. Der Erfolg von Instagram hat darin bestanden, es Menschen ganz leicht zu machen, ausgewählte Bilder ihres Lebens mit andern zu teilen. Shorts bot nun etwas, das noch riskanter und extremer schien, nämlich in Realzeit und ungefiltert miterleben zu können, was andere anschauen und fotografieren. Doch bald schon überließen es die Vermarkter der App klugerweise den Nutzern, darüber zu entscheiden, welche ihrer Bilder sie verbergen und welche sie teilen wollen.
Seit Erfindung der Fotografie ist mit ihr unsere voyeuristische Faszination am Leben und an den Perspektiven der andern unauflöslich verknüpft. Wir sind erpicht darauf zu sehen, was wir normalerweise nicht sehen können, vor allem dann, wenn wir annehmen, dass wir daraus Belehrung, Unterhaltung, Erregung oder Abenteuer mitnehmen können. Genauso erpicht auf die Bilder sind aber auch verschiedene staatliche Stellen, sind Firmen und Institutionen, die uns routinemäßig verfolgen und kontrollieren. Nicht nur Facebook und Instagram, auch eine beunruhigende Anzahl von Apps, die mit Bilderstellung wenig bis gar nichts zu tun haben, bitten uns regelmäßig um Erlaubnis, auf die Kamerafunktion unserer Handys zugreifen zu dürfen. Aus Unaufmerksamkeit, Faulheit oder weil wir von etwas profitieren wollen, das uns ansonsten ganz unwichtig erscheint, klicken wir „Ja“. So räumen wir nach Bildern stöbernden Datensammlern einen Beifahrersitz in unserem Kopf ein. Sie nehmen auf und werten aus, was wir betrachten, was wir zu mögen scheinen oder was wir einfach interessant genug finden, um es zu fotografieren.
Es hat etwas Jenseitiges, wenn wir die erstaunlichen Details der Welt betrachten, ihr Spektakel, so wie es sich uns widerspiegelt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das, was wir sehen, von einer Technologie oder von den Augen oder dem Bewusstsein von jemandem geformt worden ist. Auch das gehört zu den grundlegenden Eigenschaften der Fotografie. Als Mitte des 19. Jahrhunderts das Stereopticon die
Early last year a new photo app, Shorts, was being tinkered with and made market ready. Its goal was simple: to make picture-taking even more of a shared experience than it had already become. As soon as photos and videos were shot on users’ phone they would be sent to their friends’ phones, immediately viewable. At first, early testers were enthralled. “People were glued to their phones all day waiting for things to come in,” Short’s developer, Paul Davison said. But there was an issue with unpredictable content of live picture feeds, a problem that Davison admitted “was scary.”
Scarier still – depending upon your interests in social media and surveillance – was the “Discover” feature of the app’s launch version, which allowed friends of friends and even people the app’s algorithms thought you might know to see your camera roll feed, as well. Instagram became successful because by making it easy for people to share curated pictures of their lives with others. Shorts was offering something that seemed riskier and more extreme, the opportunity to track unedited evidence of what people looked at – and photographed –in real time. But quickly and wisely, the app’s promoters also gave users the option to decide which of their images to hide or share.
Our voyeuristic fascination with the lives and perspectives of others has been hard-wired into the photographic experience since the medium’s invention. We are eager to see what we normally cannot, especially when we suspect there is something instructional, entertaining, titillating, or advantageous to be gained from looking. So, too, are the various governmental agencies, corporations and institutions that routinely track and monitor us. Today, not only Facebook and Instagram, but a startling number of apps with little or nothing to do with imaging routinely ask permission to access our phones’ camera rolls. And through inattention, laziness, or the desire to get something for what seems like nothing, we say yes. We offer image-scavenging data collectors a passenger-seat inside our heads from which to take in and profit from what we look at, seem to value, or are simply curious enough to take a photograph of.
The other-worldliness of seeing the startling detail and spectacle of visual world reflected back at us, shaped by technology or someone else’s eyes or consciousness, is another of photography’s defining qualities. Commenting on the stereopticon craze in the
Menschen in wahre Begeisterungsstürme versetzte, notierte Oliver Wendell Holmes, das „Ausblenden aller Objekte der Umgebung, die volle Konzentration der Wahrnehmung rief eine Hochstimmung wie in einem Traum hervor ... ein Traum, in dem wir unseren Körper verlassen und wie Geister von einer sonderbaren Szene zur nächsten schweben“. Ein Jahrhundert später nannte Roland Barthes die Fotografie „eine neue Halluzination“ und das Foto „ein verrücktes, ein vom Wirklichen abgetriebenes Bild“.
Die digitale Bildverarbeitung hat demonstriert, wie leicht die angebliche Objektivität der Fotografie manipuliert und sie zu einem Spielzeug werden kann. Der Fotograf David LaChapelle merkte witzig an: „Ist dir nach Realität, steig lieber in einen Bus.“ Im vergangenen Jahr begeisterte eine App namens Face Swap Millionen Downloader. Sie erlaubt, mit wem oder was gerade in der Nähe ist, das Gesicht zu tauschen und einen Schnappschuss vom Ergebnis zu machen. Boomerang, eine App, die mit der Zeit jongliert, indem sie kurze Video-Sequenzen wieder und wieder rückwärts und vorwärts abspult, erzeugt unerwartet surreale Ergebnisse und Reaktionen. Snapchat wurde zum am schnellsten wachsenden sozialen Netzwerk. Sobald seine Bilder geliefert werden, verschwinden sie auch schon wieder. Die Beschäftigung mit Bildern hat nun, wie der Fotojournalist Stephen Mayes feststellt, „weniger mit Dokumentieren oder Beweisen und mehr mit Gemeinschaft und Erfahrung zu tun. Und das ist ja nicht schlecht.“
Ein Bild, fährt Mayes fort, „befindet sich in einer Umgebung, die sich unaufhörlich verändert, deren Kontext nie feststeht. Die Bedeutungen von Bildern wandeln sich, verschieben sich. Deshalb können Bilder gleichzeitig an ganz verschiedenen Orten mit ganz verschiedenen Bedeutungen existieren.“ So erklärt sich, dass die erstaunliche Anzahl von Bildern und Bildsorten, denen wir täglich begegnen, zusammen eine so wacklige Montage ergeben. Die entscheidenden Augenblicke, die entscheidenden Begriffe, die einst fotografische Autorität ausgemacht haben, sind zum größten Teil eine Sache der Vergangenheit, angesichts einer globalen visuellen Kultur, deren auswechselbare Bilder von Tragödien, Errungenschaften und Fototerminen sich im Nu abwechseln und deren Fotografien ebensosehr als Datenmaterial wie als Stoff für Geschichten ausgebeutet werden. Ihr verrücktes Kommen und Gehen erinnert an die dynamische Mechanik der Quantenphysik, die der theoretische Naturwissenschaftler Carlo Rovelli als „ein pausenloses, rastloses Gewimmel von Dingen“ beschrieben hat, „ein unaufhörliches Auf- und Abtauchen flüchtiger Wesen“.
Vor bald 200 Jahren charakterisierte der britische Fotopionier Henry Fox Talbot das Medium als „die Kunst, einen Schatten zu fixieren“. Heute wird die Fotografie von der Flüchtigkeit ihrer Bildgebung charakterisiert, die immerzu neu definiert, neu durchdacht,
mid-nineteenth century, Oliver Wendell Holmes described how the “shutting out of surrounding objects, and the concentration of the whole attention … produces a dream-like exaltation … in which we seem to leave the body behind us and sail into one strange scene after another, like disembodied spirits.” Roland Barthes, a century later, called photography “a new form of hallucination” and the photograph “a mad image, chafed by reality.”
Digital imaging has exposed how easily photography’s supposed objectivity can be manipulated or turned into a plaything. “If you want reality, take the bus” is how photographer David LaChapelle amusingly put it. This past year a wildly popular app, Face Swap, delighted millions of downloaders, enabling them to exchange facial features with whoever or whatever was next to them and then snap a picture of the result. Boomerang – the app that toys with time by playing brief moments of video backwards then forwards, again and again – triggers a predictably surreal result and response. Snapchat became the fastest growing social network by delivering and then disappearing images that are now, as photojournalist Stephen Mayes noted, “less about document or evidence and more about community and experience, and that’s not a bad thing.”
An image, Mayes went on to say “exists in a perpetually fluid environment in which the context is never fixed. Images’ meanings morph, move and can exist in multiple places and meanings at one time.” That is why the astonishing number and types of images we encounter daily create such an unstable collage. Decisive moments and notions of photographic authority are, for the most part, things of the past in a global visual culture where interchangeable images of tragedies, achievements, and photo-ops replace one another rapidly and were photographs are mined for data as much as for narrative. The trippy comings and goings of images seems to parallel the agitated mechanics of quantum physics, described by theoretical scientist Carlo Rovelli as “a continuous, restless swarming of things, a continuous coming to light and disappearance of ephemeral entities.”
Two hundred years ago, British photographic pioneer Henry Fox Talbot characterized the medium as “the art of fixing a shadow.” Today what characterizes photography is its volatility
DAS LEBEN WIRD DURCH EINE LINSE ANDERS ANGESCHAUT UND ERFAHREN.
LIFE DOES LOOK AND IS EXPERIENCED AND REMEMBERED DIFFERENTLY WHEN SEEN THROUGH A LENS.
neu bearbeitet wird. Währenddessen ändern sich auch unsere unterschiedlichen persönlichen Einstellungen zur Fotografie. Ein Beispiel dafür ist, dass Fotos für viele zu einer Sache werden, die nicht von Absicht, sondern von Spaß bestimmt wird, Fotografieren ist nun, wie der Fotograf Eric Kim formuliert, eine „autotelische“ Aktivität, etwas, das man um seiner selbst willen tut und das sich mit dem Tun selbst belohnt.
Thomas Ruff sagte der Zeitschrift „Interview“, „ich glaube, eine Fotografie ist den Leuten egal geworden, sie machen so viele Bilder bloß aus Jux“.
Seit die Handykamera stets dabei ist, ist das Fotografieren nicht mehr etwas, was hin und wieder getan wird, sondern eine unaufhörliche Aktivität – sie dient dazu, unseren Weg durch die Welt zu erspüren, ist aber auch ein Hochsitz, von dessen Abstand aus wir alles überblicken können. Mit erregter Spannung machen wir Bilder, übermitteln sie sofort oder speichern sie in unseren Handys oder in unserer Cloud ab, um sie später einmal, wenn überhaupt je, anzuschauen. „In Zukunft werden wir alles fotografieren und nichts mehr anschauen“, prophezeite kürzlich ein Artikel in „The New Yorker“
„Ich fotografiere, um herauszufinden, wie die Welt auf Fotos aussieht“, sagte vor vielen Jahrzehnten Garry Winogrand, der berüchtigt dafür war, dass er keine Lust hatte, die vielen, vielen Fotos, die er schoss, noch ein zweites Mal anzuschauen. Nun zeigt sich, dass Winogrands obsessive Praxis die fürs 21. Jahrhundert typische, hyperaktive Beschäftigung mit Fotos vorweggenommen hat. Es ist eine Beschäftigung, die zu riskanten Verhaltensweisen führen kann. In den Medien hört man immer wieder von Teenagern, die, vom Snap-Chatten abgelenkt, in Verkehrsunfälle verwickelt werden, oder beim Herstellen von Selfies von Hochhäusern oder Klippen stürzen oder von einfahrenden Zügen mitgerissen werden.
2013 sagte Robert Frank: „Es gibt nun zu viele Bilder, zu viele Kameras. Wir werden alle beobachtet. Es wird alberner und alberner. Es ist, als ob alles, was geschieht, Bedeutung hätte. Dabei ist nichts dermaßen wichtig. Es ist halt Leben.“ Aber Leben wird doch durch eine Linse ganz anders angeschaut und erfahren. In seinem Buch „Thinking, Fast and Slow“ (deutsche Ausgabe: „Schnelles Denken, langsames Denken“) hat der Verhaltensökonom Daniel Kahneman die These aufgestellt, dass wir zweierlei Selbst haben, ein Erfahrungsselbst und ein Erinnerungsselbst. Der vielleicht außergewöhnlichste und berauschendste Aspekt der Fotografie ist dieser außergewöhnliche Zustand, in den wir geraten, wenn wir eine Kamera nehmen, wenn Fühlen und Sehen eins werden und unsere beiden Selbste miteinander verschmelzen.
as imaging is continually being redefined, reimagined, and re-engineered. In the midst of that process, our various and personal relationships to photography also change. One example of that is how picture-making has become, for many, an increasingly pleasure-driven rather than a purposeful pursuit, what photographer Eric Kim called an “autotelic” activity, something done for its own sake and where the reward is the activity itself. As Thomas Ruff said in “Interview” magazine, “I think nobody cares about a photograph anymore because they’re taking so many pictures just for fun.”
With camera phones close at hand, photography is no longer an occasional event but an ongoing activity – as much a way to feel our way through the world as providing a perch from which to step back and survey it. We excitedly take the pictures we distribute immediately or stockpile on phones or in digital clouds to review later, if at all. “In the future we will photograph everything and look at nothing,” a recent article for “The New Yorker” predicted.
“I photograph to see what the world looks like in photographs,” said Garry Winogrand decades ago, a man notorious for his lack of interest in taking second looks at the many, many pictures he shot. His compulsive practice was, it turns out, a harbinger of the twenty-first century hyperactive photographic engagement, some of which leads to risky behaviors. The media now regularly reports on snapchatting, distracted teenagers who crash their cars and on selfie-shooters who, for the sake of a picture, fall from skyscrapers, topple over ledges, and are struck by an oncoming trains.
“There are too many images, too many cameras now,” Robert Frank said in 2013. “We’re all being watched. It gets sillier and sillier. As if all action is meaningful. Nothing is really all that special. It’s just life.” But life does look and is experienced and remembered differently when seen through a lens. In his book, Thinking, Fast and Slow, the behavioral economist Daniel Kahneman proposed the we each have dual selves, an experiencing self and a remembering one. Perhaps the most unique and intoxicating aspect of photography is the alternate state we achieve the moment we pick up a camera, when feeling and seeing converge, and our two distinct selves become one.
Wer das Buch von Günter Karl Bose durchblättert, sieht Fragmente einer ausrangierten DDR-Fahne, nie aber das Gesamte. Erst in der Installation aus 33 aufgeschlagenen Büchern wird das Stück Stoff symbolisch wieder zusammengesetzt.
Browsers through the book by Günter Karl Bose will see fragments of a discarded GDR flag, but never the whole thing. The piece of fabric is only symbolically put back together in the installation, made up of 33 open books.
Foto: Günter Karl Bose Photo: Günter Karl BoseThe Fleck
In einem Müllcontainer vor der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig lag sie obenauf – ausrangiert, aber sorgfältig gefaltet –, jene DDR-Fahne, der Günter Karl Bose mit „The Fleck“ ein geradezu drastisch monothematisches Buch gewidmet hat. Akribisch führt uns seine Kamera darin in drei Bahnen abwärts, an den Details der Fahne entlang – an keiner Stelle des Buches wird dabei das große Ganze sichtbar. Dass ein solch objektophiler Blick als Idee für ein Buchprojekt nicht an seiner Eintönigkeit scheitert, sondern von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag, liegt auch an der Besonderheit des Gegenstandes: Vor dem Hintergrund der Geschichte und Funktion jener Fahne des gescheiterten DDR-Sozialismus entwickelt zunächst jede Falte, jede Franse, jeder bleiche Fleck und jeder gerissene Aufhänger beim Durchblättern einen übertragbaren Wortsinn – und wird zum Symbol für den Niedergang eines Staates, seine Versprechungen und die verblassende Erinnerung an ihn. Bose hat die Bildfolge mit zwei Textstücken eingerahmt, die jeglicher Überhöhung des Gegenstandes mutwillig entgegenzuwirken scheinen. Zum einen gibt es da die kurze, vollkommen unpointierte Anekdote über den Fund der Fahne und eine Begegnung mit dem damaligen Hausmeister.
Zum anderen fragt Ernst Jandls makkaronische Dichtung über eine Fahne und was mit ihr zu tun ist, nach der Zweckmäßigkeit solcher nationaler Symbole. „(Let’s) throw it, / werfen / into a dreck / that’s / a zweck”, heißt es da schließlich. An der Hochschule für Grafik und Buchkunst hatte man sich anscheinend mit einiger Verspätung an diese Aufforderung gehalten – bevor Günter Karl Bose im richtigen Moment am Container vorbei kam.
Auf dem Photoszene-Festival wird erstmals eine Installation aus aufgeschlagenen Büchern die insgesamt 33 „Teile“ der Fahne wieder zu einem großen Bild zusammenfügen.
There it lay, atop a skip outside the Academy of Fine Arts in Leipzig – discarded, but carefully folded –, the GDR flag to which Günter Karl Bose devoted an almost drastically monothematic book with „The Fleck“. Painstakingly, his camera leads us down into it in three paths, along the flag’s details –at no point in the book does the whole become visible. That such an objectophilic gaze as a book-project concept does not fall on its own monotony, but is able to engross from the first page to the last, is due also to the object’s specificity: Against the background of the history and function of this flag of failed GDR socialism, every fold, every snag, every pale fleck and every torn hook develops at first, on leafing through, a transferable sense – and becomes a symbol of the downfall of a state, its promises and our fading recollection of it. Bose has framed the visual sequence with two texts, which seem wilfully to counteract any exaltation of the object. For one thing, there is the short, perfectly non-pithy anecdote about the flag’s finding and an encounter with the janitor at the time. For another thing, Ernst Jandl’s macaronic poem and what is to be done with it questions the purpose of such national symbols. “(Let’s) throw it, / werfen / into a dreck / that’s / a zweck” the poem says, after all. At the Academy of Fine Arts, this demand, after some delay, had apparently been complied with – before Günter Karl Bose came past the container at just the right moment.
At the Photoszene festival, an installation made up of open books will join together the total 33 “parts” of the flag to form one large image for the first time.
Radfahrer
Damian Zimmermann Marc Thümmler / Harald HauswaldHarald Hauswald, der Fotograf und Mitgründer der Agentur Ostkreuz, wurde wegen seiner angeblich „feindlich-negativen Handlungen“ jahrelang von der DDR-Staatssicherheit beobachtet. Marc Thümmler hat für seinen Film „Radfahrer“ Fotografien von Hauswald mit aus dem Off verlesenen Auszügen aus dessen Stasi-Akte konfrontiert. Neben dem bedrückenden Ohnmachtsgefühl, als Bürger von der Staatsmacht auf Schritt und Tritt verfolgt und ausspioniert zu werden, vermittelt der Film absurd-komische Augenblicke: Wenn ein Stasispitzel beginnt, Hauswalds Schwarz-Weiß-Fotografien vom Ost-Berliner Alltag sehr gekonnt zu analysieren und sie einer ideologisch gefärbten „Kunst-Kritik“ zu unterwerfen, offenbart dies die ganze Paranoia des Systems.
Harald Hauswald, photographer and co-founder of the Ostkreuz agency, was under observation by GDR State Security for years on account of his allegedly “hostile and negative acts”. For his film “Radfahrer”, Marc Thümmler has confronted photographs by Hauswald with extracts read offcamera from the latter’s Stasi file. In addition to the oppressive feeling of powerlessness that comes with being followed and spied on, as a citizen, by the state power at every turn, the film conveys absurdly comic moments: When a Stasi spy starts very skilfully analysing Hauswald’s black-and-white photographs of everyday life in East Berlin and subjecting them to ideologically tinted “art criticism”, this lays bare the system’s whole paranoia.
© Harald Hauswald/OSTKREUZAuszüge aus der Stasi-Akte von Harald Hauswald:
Die Bilddarstellung ist nach Wertung des IM trist, ohne jedoch grundsätzlich pessimistische Aussage. Zum Teil zeigen die Arbeiten gute Beobachtungsgabe. Vordergründig zeigen die ausgestellten Arbeiten Skepsis zum in den Fotos dargestellten Leben in der DDR.
H. versucht, mit Fotografien sogenannte „authentische“ Dokumente darüber zu schaffen, dass die Politik von Partei und Staat gegen die Interessen des Volkes gerichtet und die sozialistische Realität der DDR von militaristischen Handlungen, alternativen Lebensformen und der Verletzung der Menschenrechte geprägt ist.
Gutachten „Ostberlin – Die andere Seite einer Stadt“:
Die Fotoauswahl wurde so getroffen, dass sie die Textaussagen stützt. In ihrer Zusammenstellung vermitteln die Fotos ein tendenziös äußerst entstellendes Bild der Hauptstadt, mehr noch ein Gegenbild, sorgsam darauf bedacht, beim Betrachter nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, diese Stadt könne liebenswert sein, es lohne sich, darin zu leben, ihre Bewohner könnten sich darin wohlfühlen. Insbesondere die Bildauswahl verrät, dass es sich um ein langfristig konzipiertes Buch handelt. Da wurde zusammengetragen, was an düsterem, beklemmendem und ärmlichem Milieu, an Primitivstem nur auffindbar oder verwertbar war. Offenbar wurde auch bewusst auf farbige Motive verzichtet, weil ausschließliche Schwarz-Weiß-Wiedergabe das angeblich Graue, Trostlose und Triste der Ost-Berliner Wirklichkeit unterstreicht. Um das Grau des Alltags hervorzukehren, wurde vornehmlich trübes, lichtarmes Milieu bevorzugt, bzw. beim Entwickeln ein solcher Effekt erzielt. Im Innenteil nach einem Panorama und vier weiteren Fotos mit dem Fernsehturm als Motiv aus verschiedenen Perspektiven geht es gleich hinein in den Ost-Berliner Alltag: drei verbiestert dreinschauende Fahrgäste in einem öffentlichen Verkehrsmittel; Käuferschlange in der Karl-Liebknecht-Straße; Polizeikontrolle (siehe Polizeistaat DDR); in der Mülltonne nach Verwertbarem ausschauende alte Frau; Imbiss an der schmutzigen Mülltonne. Solcherart eingestimmt, bekommt dann der Betrachter weitere typische Motive vorgesetzt. Vergammelte, fast menschenleere Straßen und Häuserfronten gibt es mehrfach auf Seite 63. Dazu ein Bild eines verwaisten Kinderspielplatzes. Wo sind die Kinder? Ab und zu sieht man welche auf anderen Fotos, ein paar Mal sogar in größeren Mengen. Aber damit diese Motive nicht zu sehr haften bleiben: auf Seite 161 beispielsweise eine große, kahle, unverputzte Hauswand. Davor, einsam im Dreck spielend: ein Kind. Ost-Berliner Slum. Je trostloser, desto besser. Was fotografiert
According to the appraisal of the IM, the visual representation is triste, without, however, fundamentally pessimistic statement. Some of the works exhibit good gift for observation. Ostensibly the exhibited works show scepticism towards the life in the GDR depicted in the photos.
H. attempts to use photographs to create so-called “authentic” documents on the subject of the politics of party and state being directed against the interests of the people and the socialist reality of the GDR being characterized by militaristic acts, alternative ways of life and the breach of human rights.
Appraisal of “Ostberlin – Die andere Seite einer Stadt”:
The photos have been selected so as to support the written statements. In their composition the photos convey a biased, extremely distorting image of the capital city, even more than that a counter-image, carefully designed not to raise in the beholder the impression that this city could be worth loving, that it could be worth living in it, that its citizens could feel at ease in it. The image selection in particular betrays that this is a book a long time in the planning. It represents a compilation of whatever could be found or used in terms of gloomy, oppressive and squalid milieu, of the most primitive. Evidently there was also a conscious decision to dispense with colour motifs, because exclusively black-and-white reproduction underlines the alleged greyness, desolateness and tristesse of East Berlin reality. In order to emphasize the everyday greyness, bleak, poorly-lit milieu was chiefly preferred, or respectively such an effect was produced during the development process. In the inner section, following a panorama and four more photos featuring the television tower as a motif from various perspectives, there is immersion straight into East German everyday life: three grouchy-looking passengers in a mode of public transport; lines of buyers in Karl-Liebknecht-Straße; police checks (see police state GDR); old woman looking for useful things in the waste bin; snack bar next to the dirty waste bin. Now in the required mood, the beholder then gets further typical motifs put in front of him. Seedy, almost empty streets and house fronts abound on page 63. In addition to these a picture of a childless playground. Where are the children? Now and then one sees some in other photos, even in larger amounts a few times. But to make sure these motifs do not stick too much: on page 161 for example a big, bleak, uncleaned house wall. In front of it, playing lonely in the dirt: a child. East Berlin slum. The more desolate, the better. What does one photograph when one is in the Pionierpark? The Palace? Or the railway? Or something else interesting? No, why is there a presently neglected open-air stage in the end? That is typical of the ever-present decay in East Berlin, after all.
man, wenn man im Pionierpark ist? Den Palast? Oder die Eisenbahn? Oder etwas anderes Interessantes? Nein, wozu gibt es schließlich eine zu dem Zeitpunkt vernachlässigte Freilichtbühne? Die ist doch typisch für den in Ost-Berlin allgegenwärtigen Verfall.
Bevorzugtes Motiv: die Skinheads oder anderes aus „der Szene“. Er fand sie so schön, dass sie gleich im halben Dutzend großformatig abgebildet wurden. Wer seine innere Haltung zur Solidarität auf solch persönliche Weise demonstriert wie Hauswald, verdient seine acht Groschen redlich – in West.
In der für Hauswald typischen Betrachtungsweise sollen die Fotos die Einsamkeit und Verlorenheit der Menschen im grauen DDR-Alltag widerspiegeln. Der Mensch kommt sich in einer Übermacht von Beton, Arbeit, Verkehr und anderem klein und verlassen vor. Angebliche Widersprüche zwischen Volk und Staatsmacht werden durch bewusst isolierte, abgrenzende Darstellung von Polizei und Armee im Straßenbild konstruiert. Hauswald versucht darzustellen, dass alles Staatliche dem Menschen fremd und gleichgültig ist. Eine offen erkennbare oder konzeptionell gewollt feindliche Aussage haben die Fotos und die Ausstellung insgesamt nach Einschätzung der Quellen nicht.
Die neu hinzugefügten Bilder sind in der pessimistisch-düsteren Aussage adäquat den anderen, darunter sind einige der raffiniert aufgenommenen Motive. Beispiel: Aufnahme von einer Gruppe Fahnenträger am Schluss der Mai-Demonstration 1987, wo bekanntlich ein Unwetter sich entlud. Hauswald hat genau den Moment abgepasst, wo eine für sich abgespaltene Fahnenträgergruppe von Regen und Wind durcheinandergewirbelt wird. Fahnenstangen kreuz und quer, gebeugte, sich mühsam haltende Fahnenträger. Übertragene Wunschvorstellung des Reporters?
Preferred motif: skinheads or other things from “the scene”. He thought them so attractive that they got illustrated by the half-dozen in large format. Anyone who, like Hauswald, demonstrates their inner attitude to solidarity in such a personal way can earn their pennies honestly – in West.
In Hauswald’s typical way of looking at things the photos are meant to reflect the isolation and forlornness of people in the everyday grey GDR. A person feels small and abandoned in a supremacy of concrete, labour, traffic and other things. Alleged contradictions between people and state power are constructed through deliberately isolated, delimitative depiction of police and army in the streetscape. Hauswald tries to depict that everything to do with the state is alien and indifferent to the person. Following appraisal of the sources, the photos and the exhibition overall have no openly discernible or conceptually intended hostile statement.
In their pessimistically gloomy statement, the newly added images fit the other ones; among them are some of the subtly taken motifs. Example: shot of a group of flag-bearers and the close of the May demonstration in 1987, where a storm famously came unannounced. Hauswald caught exactly the moment where a split-off group of flag-bearers is whirled apart by rain and wind. Flagpoles all over the place, flag-bearers bent over, struggling to stay upright. Reporter’s transferred wishful thinking?
Jan Dirk van der Burg
Censorship Daily
Wenn der in Teheran lebende Niederländer Thomas Erdbrink seine Abendzeitung, das „NRC Handelsblad“, von seiner Fußmatte aufhebt, dann ist er nicht der erste, der dieses Exemplar liest: Die iranische Zensurbehörde hat sie zuvor genauestens unter die Lupe genommen und unpassende Stellen unkenntlich gemacht. Allerdings erregen nicht die Texte die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter, sondern die in der Zeitung abgedruckten Fotografien von Sportlern, Film- und Theateraufführungen, Modeschauen und anderen tagesaktuellen Ereignissen, in denen unsittlich gekleidete, bzw. gar nicht bekleidete Personen abgebildet sind. Das können ein tiefes Dekolleté, die Beine einer Kunstturnerin oder auch die Genitalien eines nackten Schauspielers in einem Theaterstück sein. Aber auch die Mohammed-Karikaturen aus dem Satiremagazin „Charlie Hebdo“ werden verdeckt.
When Teheran-based Dutchman Thomas Erdbrink picks up his evening newspaper, the “NRC Handelsblad”, off his doormat, he is not the first person to read this copy: the Iranian censorship body has previously scrutinized it and made inappropriate points of it unrecognizable. However, it is not the texts that prompt the employees’ attention, but the photographs reproduced in the newspaper of athletes, film and theatre presentations, fashion shows and other of the day’s events, illustrating persons who are immorally dressed, or even not dressed at all. It can be a plunging décolleté, a gymnast’s legs or the genitalia of a naked actor in a play. But the Mohammed caricatures from satirical magazine “Charlie Hebdo” are also covered up.
Artist Jan Dirk van der Burg has collected these newspapers. They not only illustrate the effects of a state-ordered morality, but also show how arbitrarily the censorship is perfor-
Der Künstler Jan Dirk van der Burg hat diese Zeitungen gesammelt. Sie verdeutlichen nicht nur die Auswirkungen einer staatlich verordneten Moral, sondern auch, wie willkürlich der Zensur-Eingriff gehandhabt wird. Mal sind es nur Details, mal ganze Personen, die unter den charakteristischen dunkelblauen Aufklebern verschwinden. Das leichte Dekolleté auf dem einen Bild kann schon zu tief sein, das wesentlich tiefere auf einem anderen lässt man dagegen passieren. Durch die Zensur-Aufkleber, deren Farbe stark an das typische Yves-Klein-Blau erinnert und deren rechteckige Formen ständig variieren, erhalten die Zeitungsausschnitte den Charakter unfreiwilliger Minimal Art.
med. Sometimes it is only details, sometimes whole persons that disappear beneath the characteristic dark-blue stickers. In the one picture, the slight décolleté can already be too low; the considerably more plunging neckline in the next, on the other hand, passes muster. Through the censorship stickers, the colour of which strongly recalls the typical Yves Klein Blue and the rectangular shapes of which constantly vary, the newspaper cuttings are lent the character of involuntary Minimal Art.
Da, wo viel Unheil seinen Lauf nimmt, ist zunächst nichts Bedrohliches zu erkennen: Die Arbeitsplätze, die das Künstlerpaar Beate Geissler und Oliver Sann für seine Serie „Volatile Smile“ in Chicagoer Hochfrequenzhandels-Firmen fotografierte, strahlen eine gähnende Ruhe aus. Vor dem vorherrschenden Schwarz der ausgeschalteten Monitore – mannigfach über- und nebeneinander arrangiert – liegen nur vereinzelt banale Beweisstücke menschlicher Anwesenheit: Hautlotion, „Heinz“-Ketchup, handschriftliche Notizen.
Es sind aber gerade die schlafenden Automaten, die auf den zweiten Blick das Gefühl einer stillen Gefahr erzeugen: Sie repräsentieren ein Hauptmerkmal unseres Zeitalters, in dem der Mensch sein jahrtausendealtes Privileg der Kommunikationsund Entscheidungsfähigkeit mit dem Computer teilen muss. Der Hochfrequenzhandel an der Börse ist wohl eines der besten Beispiele dafür, dass wir noch eine Weile brauchen werden, um mit dieser neuen Situation angemessen umzugehen. Wenn auf der einen Seite Algorithmen in Bruchteilen von Sekunden Spekulationsgeschäfte eigenständig steuern können, stehen auf
Beate Geissler & Oliver Sann
Volatile Smile
At the place where great calamity takes its course, nothing menacing can be discerned at first: the workstations that artist duo Beate Geissler and Oliver Sann photographed for their series “Volatile Smile”, at Chicago high-frequency trading firms, radiate a yawning calm. In front of the dominant black of the switched-off monitors – multiply arranged in stacks and rows – there are only scattered, banal proofs of human presence: body lotion, “Heinz” ketchup, handwritten notes.
It is, however, precisely the sleeping machines which, at second glance, generate the feeling of a latent danger: they represent a principal characteristic of our age, in which mankind is obliged to share its millennia-old privilege of communication and decision-making competence with the computer. High-frequency trading at the stock exchange is probably one of the best illustrations that we have a while to go before dealing with this new situation appropriately. If, on the one hand, algorithms are able to manage speculation transactions autonomously in fractions of seconds, there are, on the other,
der anderen die Risiken dieses Prinzips und das Leid, das es erzeugt, wenn die Verselbstständigung in eine falsche Richtung ausschlägt. In dieser Hinsicht scheint es der Arbeit von Geissler und Sann nicht nur um die Dokumentation eines Sichtbaren zu gehen. Sie fragt vielmehr nach etwas, das an dieser wichtigen Schaltstelle offensichtlich fehlt: eine moralische Instanz.
„Volatile Smile“ knüpft damit an allgemeinere Fragen der Technosphäre an, die Geissler und Sann schon in vielen früheren Projekten beschäftigte. Wie wirkt sich die Freiheit sich selbstständig steuernder Computer auf unsere persönliche Freiheit aus? Wie verhält sich der virtuelle Raum der Maschine zum Lebensraum des Menschen? Und lässt sich beides überhaupt noch so scharf unterscheiden?
2014 fassten die Künstler fünf verschiedene Projekte in einem Buch zusammen:
Schon 2008 hatten sie im Umkreis von Chicago damit begonnen, verlassene Eigenheime in Serie zu fotografieren („the real estate“, 2009). Sie dokumentierten die Auswirkungen der Mechanismen des modernen Finanzhandels und die Machtlosigkeit ihnen gegenüber. Mit „Volatile Smile „folgte dann eine tiefere bildliche Analyse der Ursachen. Eine Serie von Schreibtischporträts („desktop“, 2011), ebenfalls entstanden im Chicagoer Hochfrequenzhandel, einige Bilder der ältesten Terminbörse der Welt – der Chicago Board of Trade (2013) – sowie drei sehr anspruchsvolle und ideenreiche Textbeiträge vervollständigten das Ganze zu einem spezifischen Zeitporträt. Eingefasst ist das Buch von einigen älteren Fotografien, die den Gesichtsausdruck junger Menschen in genau dem Moment festhalten, in dem sie beim Computerspiel den Gegner erschießen (aus der Serie „Shooter“, 2000).
In der Zusammenschau aller Serien wird deutlich: Der Hochfrequenzhandel und das Computerspiel teilen sich das Unbefangene im Virtuellen, dort, wo die Moral außer Kraft gesetzt scheint. Was aber, wenn virtuelle Entscheidungen millionenfach das physische Leben erschüttern können? Wird dann das Spiel nicht zur Fahrlässigkeit?
Eine der Hochfrequenzhandelsfirmen wollte sich solche Fragen nicht gefallen lassen und drohte mit einer Klage gegen die Künstler. Diese machten dann die Zensur selbst zum Thema ihrer Kunst: Einige der Bilder wurden für kommende Ausstellungen mit einem schwarzen Lack übermalt, der die Konturen der Fotos durchscheinen lässt und ein optisches Relief erzeugt. Andere wurden in Anlehnung an Mephistos tierische Hülle in Goethes „Faust“ durch einen Pudel ersetzt – der Moment der Selbstentlarvung wurde zum eigenen Kapitel dieser großen Geschichte über den TechnoKapitalismus.
Für den kuratierten Teil des Photoszene-Festivals werden Geissler und Sann im Ausstellungsraum „Gold und Beton“ den Themenkomplex erneut aufgreifen und im Zusammenspiel von Installation und Performance einmal mehr nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Technik fragen. Auf einem Teppich aus Bildschirmen wird sich alles abspielen – ein großartiges Bild der Durchdringung zweier Welten.
the risks of this principle and the suffering that it generates when the transition to autonomy takes a wrong turn. In this respect, it seems that Geissler’s and Sann’s work is concerned not only with documenting something visible. Rather, it enquires into something that is evidently absent at this important interface: a moral authority.
“Volatile Smile” thereby links with more general issues of the technosphere, which has already preoccupied Geissler and Sann in many earlier projects. What impact does the freedom of autonomously self-managing computers have on our personal freedom? What is the virtual realm of the machine to the liferealm of mankind? And can such a sharp distinction even be drawn between the two?
In 2014, the artists brought together five different projects in one book. Back in 2008 they had begun, in the environs of Chicago, to photograph abandoned homes (“the real estate”, 2009). They documented the effects of modern financial trading mechanisms, and powerlessness in the face of these. There then followed a more in-depth visual analysis of the causes with “Volatile Smile”. A series of desk portraits (“desktop”, 2011), likewise taken in Chicago’s high-frequency trade, and a number of images of the world’s oldest futures exchange – the chicago board of trade (2013) –, along with three highly sophisticated and imaginative text contributions, completed the whole to form a specific temporal portrait. The book is framed by a number of older photographs, which record young people’s facial expressions at exactly the moment they shoot dead their opponent during a computer game (from the series “Shooter”, 2000).
In the synopsis of all the series, one thing becomes clear: Common to high-frequency trading and the computer game is the uninhibited in the virtual, where morality seems to be overruled. What if, though, virtual decisions are able to convulse physical lives millions of times over? Does not play then become negligence?
One of the high-frequency trading firms was not amused by such questions and threatened to sue the artists. The latter then made censorship itself the theme of their art: some of the images were overpainted for future exhibitions with a black lacquer, which allows the outlines of the photos to shine through and generates an optical relief. Others, in the style of Mephistopheles’s animal guise in Goethe’s “Faust”, were replaced by a poodle – the moment of self-unmasking was turned into its own chapter of this great story about technocapitalism.
For the curated part of the Photoszene festival, in the “Gold und Beton” exhibition space, Geissler and Sann will reprise the topical complex and, in the interplay of installation and performance, query the relationship between mankind and technology once again. It will all play out on a carpet of screens – a great image of the pervasion of two worlds.
Beate Geissler & Oliver Sannit Serien wie „How to contact a man“ oder „With me“ setzt sich Takano, mehr oder minder explizit, mit dem oft nackten menschlichen Körper, mit Homosexualität und Pornografie auseinander. Die Fotos der Serie „With me“ waren zunächst nicht zur Veröffentlichung gedacht. Sie entstanden vielmehr ab 2005 als fotografische Fingerübung: Bei der Arbeit zu „How to contact a man“ faszinierte den Fotografen, dass die Hautfarben seiner Modelle trotz gemeinsamer japanischer Herkunft variierten. Er bat sie, sich nackt mit ihm zu fotografieren, um so die Vielfalt des menschlichen Körpers zu verdeutlichen.1
Das Ergebnis sind anmutige, teilweise leicht skurril wirkende Körperstudien, in denen etwas Ungeplantes geschieht: In der spontanen Begegnung zweier nackter Körper wird die Konfrontation des inneren Zustands mit äußeren Instanzen in den Blick genommen. Wie verhalte ich mich zum anderen? Wie verhalten wir uns beide, nackt, zur Kamera? Der Körper wird hier als Ort der Selbstreflexion und Identitätsbildung offenbar, die innere (Un-) Sicherheit wird abgelichtet.
Zugleich ist die Rezeptionsgeschichte der Arbeiten ein Beispiel dafür, dass Bilder des Körpers mit dem öffentlichen – und damit
ith series such as “How to contact a man” or “With me” Takano engages, more or less explicitly, with the often naked human body, with homosexuality and pornography. The photos in the series “With me” were initially not intended for publication. Rather, they were taken from 2005 as photographic practice: while working for “How to contact a man”, the photographer was fascinated by the observation that, despite common Japanese origins, his models’ skin colours varied. He asked them to photograph themselves naked with him, in order thus to illustrate the diversity of the human body.
The results are gracious, sometimes slightly bizarre-looking physical studies, in which something unplanned occurs: In the spontaneous encounter between two naked bodies, a glimpse is had of the confrontation of the inner state with external agencies. How do I behave towards the other? How do we both, naked, behave towards the camera? The body becomes evident here as a place of self-reflection and identity formation; its inner (in)security is exposed on film.
At the same time, the reception history of the works is an example of how images of the body can come into conflict with the
Wo verläuft die Grenze zwischen innerer und äußerer, individueller und staatlicher Sicherheit?
Wann erscheint Kunst als Bedrohung für den Staat? Am menschlichen Körper verdichten sich diese Fragen auf besondere Weise, wie die Arbeiten des japanischen Fotografen Ryudai Takano (*1963) verdeutlichen.
Where is the boundary-line between inner and outer, individual and state security? When does art appear as a threat to the state? On the human body these questions condense in a particular way, as the works by the Japanese photographer Ryudai Takano (*1963) illustrate.
auch potenziell staatlich verwalteten – Raum in Konflikt geraten können. Im August 2014 waren Takanos Fotos Teil der Gruppenausstellung „Photography Will Be“ im Aichi Prefectural Museum of Art in Nagoya. Da in Japan die offene Darstellung von Homosexualität im Allgemeinen und männlicher Geschlechtsteile im Besonderen heikel ist, wurde eine vorsichtige Präsentationsform gewählt, wie man sie in den USA und Europa von Ausstellungen skandalumwitterter Fotografen wie Robert Mapplethorpe oder Andres Serrano kennt: Der Ausstellungsraum wurde mit einem Vorhang abgetrennt und mit einem Warnschild versehen. Trotz dieser präventiven Maßnahmen veranlasste eine anonyme Beschwerde einige Polizisten dazu, die Bilder als „obszön“ zu klassifizieren. Die nackten Körper schienen die staatliche Sicherheit zu gefährden, die Veranstalter wurden aufgefordert, die Kunstwerke abzuhängen, sonst stünden Verhaftungen ins Haus.
Takano entschloss sich zu einem kreativen und wortwörtlichen Umgang mit dieser Aufforderung: Anstatt die Bilder zu entfernen, verhüllte er die Geschlechtsteile mit halb-transparentem Archivpapier, das den Blick auf den Akt der Zensur als solchen lenkte: „If the government deviates from its stated purpose, i.e. to temporarily borrow authority from its citizens, and instead makes a display of this power, that act is far more grotesque than something like the display of genitalia.” (Wenn der Staat von seiner festgelegten Bestimmung abweicht, nämlich sich von seinen Bürgern auf Zeit Macht übertragen zu lassen, und er stattdessen seine Macht zur Schau stellt, dann ist das weit grotesker als etwa die Zurschaustellung von Genitalien.)
Der Vergleich mit Robert Mapplethorpes Bildern, die nicht nur sehr viel expliziter sind, sondern auch Gewalt beinhalten, verdeutlicht, dass die Entscheidung, was als bedrohlich eingestuft wird, zwar von Staat zu Staat variiert, die Praktiken der inneren und äußeren Zensur im Ausstellungsraum aber gleich bleiben.
Mit dem Akt der Verschleierung bedient sich Takano einer interkulturell verständlichen Geste, um subversiv auf diese Zensur aufmerksam zu machen und sie zu kritisieren.
Mit dieser Rezeptionsgeschichte im Hintergrund werden Ryudai Takanos Bilder auf mehreren Ebenen lesbar. Metaphorisch reflektieren sie „The State I Am In“ nicht nur als Zustand und innere Haltung einer Person, sondern im erweiterten Sinne auch als kulturelles und staatliches Umfeld, in dem sich der Künstler bewegt und mit dem er eine Wechselbeziehung eingeht. Und sie verdeutlichen, dass die vielschichtigen Verflechtungen von Staat, Körper und Individualität vor allem eins sind: diskutierbar. Sie verlangen nach Einmischung.
public – and hence also potentially state-administrated – space. In August 2014 Takano’s photos were part of the group exhibition “Photography Will Be” at the Aichi Prefectural Museum of Art in Nagoya. As the open depiction of homosexuality in general and of male genitalia in particular is a tricky subject in Japan, a cautious form of presentation form was chosen, as is familiar in the USA and Europe from exhibitions of scandalous photographers such as Robert Mapplethorpe or Andres Serrano: The exhibition space was partitioned off with a curtain and provided with a warning sign. Despite these preventive measures, an anonymous complaint prompted a number of police officers to classify the images as “obscene”. The naked bodies appeared to jeopardize state security; the event organizers were requested to take down the artworks, or else arrests were imminent.
Takano resolved to deal creatively and literally with this request: Instead of removing the images, he clad the genitalia in semi-transparent archive paper, which steered the gaze onto the act of censorship as such: “If the government deviates from its stated purpose, i.e. to temporarily borrow authority from its citizens, and instead makes a display of this power, that act is far more grotesque than something like the display of genitalia.”
The comparison with Robert Mapplethorpe’s images, which are not only much more explicit but also contain violence, illustrates that though the decision on what is classified as a threat varies from state to state, practices of internal and external censorship in the exhibition space remain the same.
With the act of concealment, Takano uses an interculturally understandable gesture in order subversively to draw attention to this censorship and to criticize it.
With this reception history in the background, Ryudai Takano’s images can be read on multiple levels. Metaphorically they reflect “The State I Am In” not only as a state and inner attitude of a person, but in the broader sense, too, as cultural and state environs in which the artist moves and with which he enters into interrelation. And it illustrates that the multi-layered entanglements of state, body and individuality are one thing above all: up for debate. They demand intervention.
„Benetton war ein Glücksfall für die FotografieGeschichte“
“Benetton is a stroke of luck for photography history”
Woher kommt deine Leidenschaft für Plakate?
Ich habe vor langer Zeit ein McDonald’sPlakat geschenkt bekommen. Da war ein Junge drauf, der lachte und hatte eine Pommes im Mund. Da habe ich zum ersten Mal einen Unterschied gesehen, wenn du etwas aus dem öffentlichen Raum in deinen intimen Privatraum transferierst. Das hatte plötzlich eine solche Kraft, auf die man reagieren muss. Und die Basis von allen Plakaten, die ich seitdem sammle, muss immer eine Fotografie sein. Mit Kunst hatte ich früher ja überhaupt nichts zu tun. Ich hatte Mitte der Siebziger eine Lehre zum Werbefotografen gemacht und bin 1977 nach Kanada ausgewandert. Dort habe ich eine Fotografie-Ausstellung gesehen mit Arbeiten von August Sander, Robert Frank, Walker Adams und Eugène Atget. Die Präsentation hat meine Sicht auf die Fotografie grundlegend geändert, ich war vollkommen verwandelt. Da habe ich mir meine Nikon genommen und habe mich in Ottawa zum ersten Mal getraut, auf die Straße zu gehen und zu fotografieren. Und auf diesen Bildern waren auch schon ein paar Plakatwände drauf zu sehen.
Du warst Fotograf, hast aber nie Fotos auf der Straße gemacht?
Nein. Ich habe in einem wirklich großen Studio gelernt und ich hatte das Studio auch zu vertreten. Für Estée Lauder haben wir eine Werbung gemacht. Dann sagte mein Lehrmeister zu mir: „Geh mal mit der Hasselblad auf die Straße und mach einen Beleg von so einem Plakat.“ Da habe ich mich geschämt. Ich dachte: Wenn dich ein Kollege sieht, wie du vor so einer blöden Plakatwand stehst.
Weil es zu profan war?
Ja, das war gegen die Ehre. Wir hatten einen Standard und mussten darauf achten, immer nur das Beste abzugeben. Nach drei Jahren Werbefotografen-Lehre bist du so konditioniert, dass du alles unter Kontrolle haben musst. Und auf der Straße spricht dich vielleicht jemand an, dann kommt ein Auto oder ein Fahrradfahrer oder es guckt dir einer zu. Deswegen war mir das so peinlich, auf der Straße zu fotografieren und eventuell von einem Kollegen dabei gesehen zu werden.
Welch’ Ironie, dass ausgerechnet Plakatwände zu deinem Thema geworden sind.
Mich hat dieses „Bild im Bild“ interessiert, das Plakat im Kontext der urbanen Szenerie. Das war anfangs aber noch nicht konzeptionell, sondern nur ein emotionaler Zugang. 1979 bin ich dann zurück nach Köln gekommen und habe beschlossen, freie Fotografie zu machen und nicht mehr in die Werbung zurückzuwollen.
Nun war die Fotografie noch nicht in der Kunst angekommen.
Klaus Honnef hatte mit der Documenta 1977 die Fotografie ins Zentrum gerückt, aber durch die Neue Malerei war das schnell wieder vorbei. Die Konzeptionisten haben natürlich schon Fotografie genutzt, aber das war für sie ein dienendes Medium. Ich war damals schon davon überzeugt,
Ein Gespräch mit / A conversation with Max Regenberg
Max Regenberg fotografiert seit fast 40 Jahren Werbeplakate im öffentlichen Raum. Beim Photoszene-Festival ist er gleich mit zwei Ausstellungen vertreten: Die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur zeigt einen Überblick über sein Werk, die PhotoszeneKuratoren Katja Stuke und Oliver Sieber präsentieren vier Arbeiten aus seiner Dokumentation der Benetton-Kampagne – natürlich auf Plakatwänden. Außerdem öffnet der 65-Jährige sein privates Benetton-Archiv für die Besucher. Damian Zimmermann sprach mit Regenberg über die visuelle Kraft von Werbeplakaten, die Umkehrung des New Topographics-Begriffs und die politisch-gesellschaftliche Dimension von Oliviero Toscanis BenettonAnzeigen.
/ Max Regenberg has been photographing advertising posters in the public space for almost 40 years. He is represented at the Photoszene festival with not one, but two exhibitions: The Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur is showing an overview of his oeuvre; Photoszene curators Katja Stuke and Oliver Sieber are presenting four works from his documentation of the Benetton campaign – on poster walls, of course. The 65-year-old is opening his private Benetton archive to visitors in addition. Damian Zimmermann spoke with Regenberg about the visual impact of advertising posters, the inversion of the New Topographics concept and the socio-political dimension of Oliviero Toscani’s Benetton advertisements.
dass die Fotografie einen Boom erleben wird. Und ich habe gesehen, dass in der Werbung Sachen passierten. Und alles basierte auf Fotografie. Aber es waren eben keine Fotografen, die Kunst machten, sondern Werbeleute.
Bis heute wird die Position vertreten, dass die Fotografie für Familienschnappschüsse und für die Werbung taugt, nicht aber für die Kunst.
Ich habe das genauso wahrgenommen und gleichzeitig gesagt: Das wird arbeiten, da passiert etwas. Die Werbeleute werden die Grundlage dafür legen, dass die Gesellschaft die Fotografie akzeptieren wird. Damals fing die Visualisierung an, fand die Schulung statt. Du kannst dir nicht vorstellen, was in den achtziger Jahren alles an Werbung auf der Straße zu sehen war: Selbst die kleinste Boutique entwickelte damals eine ganz eigene Bildsprache, die nicht abgeglichen war mit der der Großen. Die haben einfach ihr Ding gemacht. Und das musste ich festhalten, weil das sonst keiner machte. Ich habe für meine Arbeit unheimlich lange Ablehnung erfahren. „Wie, du sammelst Werbung?“, wurde ich gefragt. Das war ein Tabu, Werbung war der große Manipulator. Ich habe aber immer das Medium gesehen. Dass die manipulieren, ist nicht wegzureden, aber trotzdem passiert da etwas für das Medium Fotografie und es wird eine Akzeptanz entstehen. Und Köln war damals zugepflastert mit Werbung. Es gab allein hier 8.000 Großflächen.
Und dann hast du angefangen, die Plakate zu sammeln.
Natürlich gab es auch andere, die gesammelt habe, z. B. das Plakatmuseum. Aber ich wollte dem Archiv des Museums auch meine private Sicht entgegensetzen. Ich sehe ja andere Zusammenhänge als ein Kunsthistoriker. Mir war z.B. immer die Werbung von Marlboro wichtig, dazu habe ich auch ein eigenes Buch gemacht, weil ich damals gesehen habe: „Mensch, das ist doch alles im Westen!“ Gerade diese westlichen Landschaften der USA wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Expeditionen von Landvermessern und von Fotografen erschlossen. Das damals noch sehr junge Medium Fotografie war ein elementarer Faktor, den gesamten Westen, diese unberührte erhabene Landschaft, zu verbildlichen. Mit diesen Fotos wurde dann an der Ostküste der USA bei Immigranten mit der Schönheit und verheißungsvollen Fülle des Westens geworben, damit sie getreu der Manifest Destiny aufbrechen, das Land erobern und bewirtschaften. Streng genommen waren diese frühen Landschaftsaufnahmen schon Werbebilder. Aber genau mit diesen Landschaften haben wir in Europa gar nichts zu tun, aber Marlboro hat mit ihnen richtige Bildorgien gefeiert. Und natürlich kannte ich auch den Begriff der New Topographics.
Du hast den Inhalt der New Topographics umgedreht: Statt die Spuren der Zivilisation in der Landschaft zeigst du, wie die Werbeindustrie mit der romantischen Landschaft im längst zerstörten urbanen Raum spielt.
Ja, ich habe mich immer gefragt, wie es sein kann, dass die Kunst den Landschaftsbegriff
anders aufzäumen will, damit wir ihn endlich mal anders sehen, und diese Werbeleute haben eine Macht und setzen das alles wieder ins Gegenteil um. Da werden Machtverhältnisse auch wieder deutlich. Die können weltweit einen solchen Begriff auf eine Nulllinie bringen. Es gab in den USA ja auch schon früh eine Umweltbewegung, die die Zerstörung der Landschaft thematisiert hat – und dann feiert die Werbung das romantische HeileWelt-Bild und bringt das auch noch zu uns nach Europa.
Welche Bedeutung hat die BenettonKampagne für dich?
Die Benetton-Kampagne ist ein Glücksfall für die Fotografie-Geschichte. Das fing Mitte der 1980er Jahre mit Anzeigen mit fröhlichen jungen Menschen an, aber schon da gab es gesellschaftliche Anspielungen wie den Ost-West-Konflikt oder Rassen- und Kulturunterschiede. Anfang der 1990er ging es dann aber richtig los, als Toscani plötzlich journalistische Fotografien anderer verwendete und damit in den Grenzbereich zwischen Journalismus und Kunst gegangen ist. Da habe ich gesehen, dass Oliviero Toscani Benetton benutzt hat, um wichtige gesellschaftliche Themen in die Gesellschaft zu tragen. Und das in 100 Ländern gleichzeitig. So viele Kunstausstellungen kannst du gar nicht machen, um so viele Menschen zu erreichen. Und gleichzeitig hat er eben auch ganz viel für das Medium Fotografie gemacht.
Wie siehst du den Zusammenhang zwischen deiner Arbeit mit der BenettonKampagne und dem Thema des PhotoszeneFestivals „Innere Sicherheit / The State I Am In?“ Inwiefern bedrohen die Anzeigen die Innere Sicherheit, oder was haben diese Plakate mit den Menschen gemacht?
Wenn du davon ausgehst, dass diese Bilder im Stadtraum waren, dann hat das mit den Leuten etwas gemacht. Das Bild mit der Kinderarbeit an der Widdersdorfer Straße in Köln z.B. Als ich
das Plakat abfotografiert habe, kam einer vorbei und wollte mich verprügeln. Der hat tatsächlich gedacht, ich wäre von Benetton. „Ich hau dir gleich auf die Fresse. Wie kannst du so etwas auch noch fotografieren. Du bist doch pervers.“ Daran habe ich gesehen, dass das wirklich provoziert hat. Die haben immer gedacht, ich wäre ein Handlanger von Benetton und wäre beauftragt worden, das zu dokumentieren.
Das ist eine typische Reaktion der Menschen. Allein die Tatsache, dass man sich mit diesem Thema beschäftigt, finden viele Menschen verdächtig und lehnen es ab.
Exakt. Wer das abbildet und es multipliziert, der kann nur etwas damit zu tun haben und findet das auch gut. Aber natürlich bringen die Benetton-Motive eine gewisse Verunsicherung in den öffentlichen Raum. Zumindest damals. Heute ist das nicht mehr möglich, denn die Fotografie ist dermaßen egalisiert. Du musst heute schon wirklich jemanden schockieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen und Empörung zu verursachen. *
Es gab letztes Jahr das Foto vom toten Flüchtlingsjungen am Strand. Das Thema war schon seit Wochen in den Medien, aber plötzlich kommt dieses verhältnismäßig harmlose Foto und löst eine riesige Empörungswelle aus. Gleichzeitig haben Hilfsorganisationen zehnmal so viele Spenden wie üblich bekommen. Das Foto hat also etwas ausgelöst.
Aber bei Benetton steckte eine ganze Firma dahinter. Hier geht es um Ökonomie. Luciano Benetton ist ja kein Samariter. Toscani argumentiert damit, dass er die Möglichkeit bekommen hat, gesellschaftlich relevante Bilder zu kontextualisieren. Und zwar weltweit und noch vor der digitalen Verbreitung und alles zur gleichen Zeit. Und dass alle gleich gesehen werden, egal ob Deutsche, Franzosen, Japaner oder Amerikaner. Wir schauen alle auf die gleichen Bilder. Wir werden uns über
die Werbeplakate aneinander angleichen. Den Anspruch, den die Kunst hat, nämlich einen Einfluss in die Gesellschaft zu haben, hat sie nie erreicht.
Dann kommen wir zu der Lesbarkeit von Fotografie und von Bildern. Das ist aber nur machbar, wenn die Botschaft nicht zu komplex ist. Wenn sie zu komplex ist, wird sie eben doch nicht mehr in Japan und in Deutschland verstanden.
Richtig. Aber irgendwann haben wir ein Level erreicht, wo du gleichgeschaltet bist. Wenn dir das lange genug vorgesetzt und du damit gefüttert wirst, wird eine Gewöhnung oder ein Erkennen einsetzen. In Arabien gibt es ja noch viele Tabus in Bezug auf nackte Haut. Aber wenn man das langsam, aber stetig macht, dann wird das dort irgendwann auch so verstanden wie bei uns. Die Unternehmen sind daran interessiert, dass ihre Werbung überall verstanden wird. Marlboro hat da eine relativ einfache Kampagne gehabt. Die Kunst wünscht sich das, die Musik braucht das nicht so.
Kurz vor Drucklegung von „L. Fritz“ No. 3 hat die „Abteilung Motivgenehmigung“ der Firma Ströer, auf deren Plakatflächen am Ebertplatz Max Regenberg seine Fotos der BenettonKampagne zeigt, sein Foto „Zum Tode verurteilt“ „aufgrund der derzeitigen politischen Lage abgelehnt“.
Where does your passion for posters come from?
I got a McDonald’s poster as a gift a long time ago. It showed a boy, laughing and with a fry in his mouth. For the first time, I saw a difference when you transfer something from the public space into your intimate private space. It suddenly had such an impact, which one has to react to. And the basis of all of the posters I’ve collected since then always has to be a photograph. I had absolutely nothing to do with art before, you know. I’d done an apprenticeship to become a promotional photographer in the mid-Seventies and emigrated to Canada in 1977. There I saw a photography exhibition featuring works by August Sander, Robert Frank, Walker Adams and Eugène Atget. The show fundamentally altered my view of photography, I was totally transformed. So I picked up my Nikon and ventured out onto the streets of Ottawa for the first time, to take photographs. And one or two poster walls could already be seen in those pictures, too.
You were a photographer, but had never taken photos in the street?
No. I learned in a really big studio and it was my job to represent the studio as well. We did a promotion for Estée Lauder. So my teacher said to me: “Take the Hasselblad out onto the street and get proof of one of the posters.” I felt really embarrassed. I thought: If a colleague sees you standing in front of one of those dumb poster walls.
How ironic that poster walls – of all things –have become your theme.
I was interested in this “image within the image”, the poster in the context of urban scenery. Initially, though, it wasn’t conceptual yet, but only an emotional approach. In 1979 I came back to Cologne and decided to take photographs on a freelance basis and not to try to get back into advertising.
Now, photography hadn’t arrived in art yet.
Klaus Honnef put the focus on photography at Documenta in 1977, but New Painting meant that it was a fleeting trend. The Conceptualists had already used photography, of course, but it was a means to an end for them. Back then I was already convinced that photography was going to experience a boom. And I saw that things were happening in advertising. And everything was based on photography. But the thing is, it wasn’t photographers who were making art, but advertising people.
The view persists, to this day, that photography’s suitable for family snapshots and advertising, but not for art.
That’s exactly the way I saw it, and at the same time I said: The advertisers are going to pave the way for society accepting photography. That’s when people started visualizing, practising. You can’t imagine the variety of advertising that was on show in the street in the Eighties: back then, even the smallest boutique would develop a visual language of its very own which didn’t align with that of the big players. They simply did their thing. And I had to record that, because nobody else was doing it.
I had my work rejected for an immensely long time. “What, you collect advertising?”, I was asked. That was a taboo; advertising was the great manipulator. But I always saw the medium. There’s no denying that they manipulate, but still, things are happening for the medium of photography there, and there’ll be acceptance.
And then you started collecting the posters.
Of course there are others who collected, the Poster Museum for example. But I wanted to offer my private view, too, in reply to the museum’s archive. After all, I see different contexts to an art historian. For example, Marlboro advertising was always important to me, I’ve even done a specific book on the subject, because I noticed at the time: “Gosh, it’s all in the west!” Precisely these western USA landscapes were opened up in the mid-19th century through expeditions by land surveyors and photographers. The medium of photography, still very young at the time, was an elementary factor in illustrating the entire west, this untouched noble landscape. These photos were then used on the East Coast of the USA to entice immigrants with the beauty and promising abundance of the west so that, true to Manifest Destiny, they’d conquer and exploit the land. Strictly speaking, these early landscape shots were already promotional images. We in Europe have nothing to do with these landscapes specifically, but Marlboro used them to throw veritable visual orgies. And of course I was also familiar with the New Topographics concept.
You turned around the content of New Topographics: Instead of the traces of civilization in the landscape, you show how the advertising industry plays with the romantic landscape in the long-since destroyed urban space.
Yes, I have always asked myself how we can get art to re-hitch the landscape concept so that we finally see it in a different way, and these advertising people have the power to twist the whole concept around. They can reduce a concept like that to zero, around the world. There was an environmental movement right early on in the USA too, you know, which thematized the destruction of the landscape – and then advertising celebrates the romantic pristine-world image and brings that to us in Europe as well.
What does the Benetton campaign mean to you?
The Benetton campaign is a stroke of luck for photography history. It really got going at the beginning of the 1990s, when Oliviero Toscani suddenly used press photographs by other people and thereby entered the borderland between journalism and art. I saw that Toscani used Benetton to introduce important social themes into society. And did so in 100 countries simultaneously. It’s utterly impossible to do as many art exhibitions, in order to reach as many people. And he did a whole lot precisely for the medium of photography at the same time.
How do you view the association between your work with the Benetton campaign and
the theme of the Photoszene festival, Innere Sicherheit / The State I Am In? To what extent are advertisements a threat to inner security, or what have these posters done to people?
When you approach it from the angle that these images were in the urban space, then that had an effect on people. The image showing child labour, for example. While I was taking a photograph of the poster, somebody came by and tried to beat me up. He thought I was from Benetton. That’s what told me that it was a real provocation. Of course, the Benetton motifs bring a certain unsettling effect into the public space. At least they did at the time. Today that’s no longer possible, as photography is equalized to such an extent. Today, you really have to shock someone in order to get attention and cause an uproar. *
Last year there was the photo of the dead refugee boy on the beach. The topic had already been in the media for weeks, but suddenly this relatively inoffensive photo comes along and sets off a massive wave of indignation. At the same time, aid organizations got ten times as many donations as usual. So the photo triggered something.
But in Benetton’s case, a whole company was behind it. It’s about economics here. Luciano Benetton is no Good Samaritan, after all. Toscani uses the argument that he got the opportunity to contextualize societally relevant images. And to do so worldwide and even before digital dissemination, and all at the same time. And that everyone is viewed equally, be they Germans, French, Japanese or Americans. We all look at the same images. We are going to grow closer to one another via advertising posters. The claim that art has, namely to have an influential effect on society, has never been made good by art.
* Shortly before L. Fritz No. 3 went to print, the “motif approval department” at Stroer, the company on whose billboards Max Regenberg is showing his photos of the Benetton campaign at Ebertplatz, rejected his photo “Sentenced to death” “due to the current political situation”.
The Pier
Nils Petter Löfstedt
Jule SchafferEin Mann in Kapuzenpulli rollt mit dem Fahrrad die nächtlichen Straßen Malmös entlang, einen großen Sack Baumaterial auf dem Lenker, beschienen vom verregneten Licht der Straßenlaternen. Dazu ein schwedischer Song, der Lust auf Abenteuer macht. Nils Petter Löfstedt filmt Erik Vestman auf dem Weg zu einer geheimen und wundersamen Mission: „The Pier“
Einige Monate zuvor, im Dezember 2008, sind die beiden Street-Art-Künstler auf Entdeckungstour am Strand von Malmö, als sie auf eine unscheinbare Öffnung stoßen: Unter den Ausläufern eines Landungsstegs verbirgt sich ein mannshoher Hohlraum, voller Steine, Schrott, Seetang und roher Betonwände. Wo andere einen unwirtlichen Ort sehen, erahnen Löfstedt und Vestman poetisches Potenzial. Für die nächsten sechs Monate arbeiten sie daran, der dunklen Höhle ein neues Gesicht zu geben und das Unmögliche möglich zu machen: Am Rande Malmös, inmitten von Geröll und Beton, entsteht unter einem Pier ein Raum mit weißen Wänden, Parkettboden, einer kleinen Miniaturtür und Fenstern.
Löfstedt begleitet den Bauprozess mit der Kamera, es entstehen ein Film, Fotos und auch ein Buch, die im Rahmen des Photoszene-Festivals zu sehen sein werden: In einer stilistischen Mischung aus „Blair Witch Project“, Märchengeschichte, Coming-of-Age-Film und Schachtarbeiterdokumentation sieht man schemenhafte SchwarzWeiß-Bilder einer nächtlichen Wanderung, Kies und Müll, einen Mann mit einer Stirnlampe und die verschiedenen Etappen des Ausbaus. Dazu gehört die Suche nach Baumaterial, der magische Moment, als die erste weiße Farbe die Betonwand berührt und alles mit dem Zauber des Möglichen überzieht, eine Maus, die sich über das Brot der beiden hermacht, aber auch die Panik, als Stimmen sich dem geheimen Raum nähern – wird das Projekt vorzeitig entdeckt? Durchbrochen wird der Fluss der Schwarz-Weiß-Bilder durch pastellige Farbaufnahmen der Landschaft, Wellen, die schäumend am Ufer
anbranden und Porträts der beiden nächtlichen Arbeiter, in denen Momente erschöpfter, ekstatischer Freude sichtbar werden. Es ist die Freude darüber, so führt Vestman aus – und man glaubt es ihm sofort –, den eigenen Vorstellungen im wahrsten Sinne des Wortes einen Raum zu geben, ein selbstbestimmtes Projekt zu verfolgen. Auch und gerade, wenn dieses zunächst kurios bis sinnlos erscheinen mag. Es ist nicht die einzige Arbeit, welche die StreetArt-Künstler im öffentlichen Raum verwirklicht haben. Für „Club 13“ etwa brachte der Fotograf und Filmemacher Löfstedt Bilder von Freunden und Bekannten auf öffentlichen Steinplatten an, andere Arbeiten umfassen Reklamewände im Wald, interaktive, fußballspielende Holzpuppen an Betonwänden und mystisch anmutende Bildprojektionen auf stehende Gewässer.
Doch mit ihrer Konstruktion unter dem Pier erobern und eröffnen die Künstler selbst für die Street Art neue Räume. Die rauen Betonwände, der schmale Einstieg, die Angst, von Passanten entdeckt zu werden, nicht zuletzt die Strichliste, mit der die Künstler ihre Zeit „unter Tage“ dokumentieren – all das erinnert an einen Bunker, ein Versteck, das Sicherheit bietet in einer ansonsten kunstfremden oder gar kunstfeindlichen Umgebung. Die Aktion kulminiert in der Eröffnungsfeier des „Piers“, mit der die Idee des musealen White Space ad absurdum geführt und zugleich mit Leben erfüllt wird: Man sieht Besucher (jung wie alt), die durch den kleinen Tunnel robben und im Innenraum mit Bier zu Musik auf dem Parkett tanzen, Kerzen anzünden, sich in Schlafsäcken für die Nacht zusammenrollen, Gästebücher mit ihren Gedanken füllen. Der von Löfstedt und Vestman geschaffene Raum wird zum Treffpunkt, an dem Kunst aktiv gelebt wird. „The Pier“ ist eine Aufforderung, im Alltag das Potenzial für Poetik zu sehen und zu realisieren, die Kunstszene auszuweiten und neue Räume zu schaffen, die uns – zumindest temporär – die innere Sicherheit geben, dass alles möglich ist.
Nils Petter Löfstedt, Erik VestmanEverything can be changed and turned into poetry.
man in a hoodie cycles along the night-time streets of Malmö, a large bag of construction material on the handlebars, illuminated by the streetlamps’ rainy light. The call of adventure is heard through a Swedish song playing in the background. Nils Petter Löfstedt films Erik Vestman on the way to a secret and wondrous mission: “The Pier”.
Some months previously, in December 2008, the two street artists were on an exploratory tour on Malmö beach when they came across a humble-looking opening: concealed beneath the far ends of a landing stage was a man-high cavity, full of stones, rubble, seaweed and rough concrete walls. Where others see an inhospitable place, Löfstedt and Vestman glimpse poetic potential. For the next six months they work on transforming the dark cave and making the impossible possible: On the edge of Malmö, amid boulders and concrete, a room is created beneath a pier with white walls, parquet floor, a miniature door and windows.
Löfstedt follows the construction process with his camera; a film, photos and a book are created, which will be on show as part of the Photoszene festival. In a stylistic mix of “The Blair Witch Project”, fairytale, coming-of-age film and mining documentary, one sees shadowy blackand-white images of a night-time hike, gravel and refuse, a man with a miner’s headlamp and the various stages of the conversion. These include the search for construction material, the magic moment when the first white paint touches the concrete wall and covers everything with the enchantment of potential; a mouse that patters over the pair’s bread; but also the panic when voices approach the secret room – will the project be discovered prematurely? The flow of black-and-white images is interspersed with pastel-coloured shots of the landscape, waves breaking on the shore, and portraits of the two night-time workers in which moments of exhausted, ecstatic joy can be seen.
It is the joy, as Vestman explains – and one believes him straight away –, of giving space to one’s own ideas in the truest sense of the word, of pursuing a self-determined project. Even if, and pre-
cisely though, this project may seem curious to pointless at first. It is not the only work that the street artists have realized in the public space. For “Club 13”, for instance, photographer and film-maker Löfstedt posted images of friends and acquaintances on paving stones in the public space; other works encompass poster walls in the forest, interactive, football-playing wooden dolls on concrete walls and mystical-looking image projections on stagnant waters.
But with their construction beneath the pier, the artists conquer and open up spaces that are new even for street art. The rough concrete walls, the narrow entrance, the fear of being discovered by passers-by, not least the tally that the artists use to document their time “below ground” – all this is reminiscent of a bunker, a place of concealment that offers safety in an otherwise art-alien or even art-hostile environment. The action culminates in the opening ceremony of the “pier”, with which the concept of the museum white space is carried ad absurdum and simultaneously filled with life: One sees visitors (young and old) wriggling on their bellies through the little tunnel and, once inside, drinking beer and dancing to music on the parquet floor, lighting candles, rolling themselves up in sleeping-bags for the night, filling visitors’ books with their thoughts. The room created by Löfstedt and Vestman becomes a meeting-place where art is actively lived. “The Pier” is a call to see and to realize the potential for poetry in everyday life, to expand the art scene and create new spaces which – at least temporarily – provide us with the inner assurance that everything is possible.
Ebertplatz 50668 Köln
Wer an den großformatigen Fotografien von Luisa Whitton (geb. 1991) nur rasch vorüberläuft oder ihr Fotobuch „What About the Heart?“ (2015) nur schnell durchblättert, mag zunächst Porträts wahrnehmen, die irritierend statisch erscheinen. Doch bald fällt auch allerhand technisches Gerät in werkstattartigen Räumen auf. Einige Fotografien geben Einblick in die Herstellung humanoider Roboter und zeigen beispielsweise geöffnete Hinterköpfe, aus denen Kabel und Gestänge ragen, oder eine unfertige Maske, die auf einem Tisch liegt. Die britische Fotografin setzt sich in ihrem Projekt mit Technologien auseinander, „die eine unmittelbare Auswirkung auf die conditio humana haben“, und begann bereits während ihres Fotografie-Studiums am London College of Communication, mit dem Porträtieren zu experimentieren, um „die Beziehung von Technologie und Identität zu verdeutlichen“. Dank des IdeasTap Photographic Award with Magnum Photos konnte sie 2012 für mehrere Monate nach Japan reisen, um verschiedene Wissenschaftler in ihren Laboren zu interviewen und dort zu fotografieren, wo an den Grenzen von Wissenschaft, Kunst und Philosophie danach geforscht wird, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Vor allem Professor Hiroshi Ishiguro von der Universität Osaka fasziniert sie: Er hat eine Roboter-Replik seiner selbst gebaut, um zu untersuchen, ob auch Androide „Sonzai-Kan“ in sich tragen können. „Sonzai-Kan“ ist der japanische Ausdruck für das Gefühl von menschlicher Präsenz.
Die von Katja Stuke und Oliver Sieber kuratierte Ausstellung in den Kunsträumen der Michael Horbach Stiftung zeigt „What About the Heart?“ als eines von 18 fotografischen Projekten, die sich mit dem Thema „Innere Sicherheit / The State I Am In“ befassen. Dazu gehören für die Kuratoren auch persönliche Aspekte der inneren Sicherheit, etwa Fragen nach Identität und Individualität. Whittons Roboter-Bilder tragen zu dieser Debatte bei, denn sie verunsichern darüber, wer uns gerade gegenübersteht. Japaner hätten einen we-
At first, anyone just dashing past the large-format photographs by Luisa Whitton (born 1991) or just flicking through her photobook “What About the Heart?” (2015) may notice portraits that seem confusingly static. But soon, all kinds of technical apparatus in workshop-like rooms catch the eye. A number of photographs provide an insight into the manufacture of humanoid robots and show, for example, opened backs of heads, with cables and rods protruding out of them, or an unfinished mask on a table.
In her project, the British photographer examines technologies “that had direct effects on the human condition”, and even during her photography studies at the London College of Communication she “started experimenting with using portraiture to illustrate the relationships between technology and identity”. Thanks to the IdeasTap Photographic Award with Magnum Photos, she was able to travel to Japan for several months in 2012 in order to interview various scientists in their laboratories and to take photographs in locations where, at the boundaries of science, art and philosophy, research is conducted into what it means to be human. Professor Hiroshi Ishiguro, from the University of Osaka, fascinates her in particular: He built a robot replica of himself in order to investigate whether “sonzai-kan” can be an inherent feature of androids, too. “Sonzai-kan” is the Japanese expression for the feeling of a human presence.
The exhibition curated by Katja Stuke and Oliver Sieber at the Kunsträume of the Michael Horbach Stiftung is showing “What About the Heart?” as one of 18 photographic projects that deal with the theme of “Innere Sicherheit / The State I Am In”. In the curators’ view, this theme also encompasses personal aspects of inner security, questions concerning identity and individuality for instance. Whitton’s robot images contribute to this debate, for they cause discomfiture over who is standing in front of us.
What About the Heart?
niger angstvollen Zugang zu Robotern und einen anderen Umgang mit ihnen, so die Kuratoren, Whitton stelle emotionale Fragen an diese Entwicklung. „Wir haben festgestellt, dass die Konfrontation mit Robotern wirklich verunsichert und zu starken Reaktionen führt. Wie verändern die Menschen sich, ihre Selbst-Versicherung bei der Konfrontation mit Robotern? Selbst die Reaktion Hiroshi Ishiguros war verunsichert: Dass er alterte, aber der Roboter nicht, hat dazu geführt, über die Endlichkeit bzw. Sterblichkeit nachzudenken.“
In Whittons Fotobuch finden sich Zitate aus Gesprächen mit Ishiguro, die auf diese Auseinandersetzung verweisen und auf die der Projekttitel zurückgeht. Auf die Frage, welchen Einfluss Technologie und Androide darauf haben, was es bedeute, menschlich zu sein, antwortet der Wissenschaftler: „Die Definition des Menschlichen wird komplizierter werden. Es gibt keine absolute Definition. Wir verwenden immer mehr künstliche Organe und ersetzen unsere Körper durch Maschinen.“ „Was ist mit dem Herzen?“ fragt Whitton. „Das Herz ist der einfachste Teil. Künstliche Herzen sind gerade sehr gefragt. Die Leber ist schwieriger.“
Vor allem der Detailreichtum der Roboter-Gesichter und die klassischen Porträtformeln in Bildausschnitt und Pose rücken Whittons Roboter-Porträts irritierend nahe an das menschliche Original. Diese Doppelung des Porträts – der Roboter als „technisches Porträt“ einer Person, von dem ein fotografisches Porträt erstellt wird – verunsichert die tradierte Erwartung an das Porträt, etwas über die Persönlichkeit des Porträtierten erfahren zu können. Denn „eine Fotografie ist nur eine flache Oberfläche“, so Luisa Whitton, „es sind unsere Deutungen und Projektionen, die uns den Eindruck geben, es wäre eine menschliche Präsenz vorhanden.“
Japanese people have a more fearless approach to robots and a different way of dealing with them, the curators explain; Whitton’s approach to this development is an emotional one. “We’ve noticed that confrontation with robots really unsettles and leads to strong reactions. How do people change, how does their self-assurance change when they’re confronted with robots? Even Hiroshi Ishiguro’s reaction was one of unease: the fact that he’s ageing, but the robot isn’t, led to reflection concerning finiteness or mortality.”
Whitton’s photobook contains quotes from interviews with Ishiguro which refer to this confrontation and inspired the project’s title. To the question of how technology and androids could change the definition of what it means to be human, the scientist responds: “The definition of human will become more complicated. There is no absolute definition. We use artificial organs more and more, and replace our bodies with machines.” “What about the heart?” asks Whitton. “The heart is the easiest part. Artificial hearts are very popular now. The liver is more difficult.”
The wealth of detail in the robots’ faces, especially, and the classic portrait formulae in image detail and pose move Whitton’s robot portraits confusingly close to the human original. This duplication of the portrait – the robot as “technical portrait” of a person, which is turned into a photographic portrait – upsets the traditional expectation that a portrait facilitates learning about the portrait-sitter’s personality. For “a photograph is just a flat surface”, explains Luisa Whitton, “it’s our reading and our projection that makes us feel like there’s a human presence there.”
Jason Lazarus Too Hard To Keep
Dieses Foto bleibt in Erinnerung und das nicht nur, weil es an das berühmte Selbstporträt von Nan Goldin erinnert: Denn es zeigt ein junges Mädchen mit einem blauen Auge, und Gewalt gegenüber einer jungen Frau lässt wohl niemanden unbeteiligt. Stammt die Verletzung von einer Schlägerei unter zwei aggressiven Jugendlichen oder wurde die Porträtierte ein Opfer häuslicher Gewalt, sei es vom Vater oder vom Freund? Und zu welchem Zweck entstand das Foto überhaupt? Dient es als Dokumentation einer realen Tat? Oder wurde der Bluterguss lediglich inszeniert, also geschminkt? Wer das Bild aufgenommen hat und wie es in den Besitz des Fotografen, Kurators und Hochschullehrers Jason Lazarus (*1975) gelangt ist, mag dieser nicht preisgeben. Diskretion ist die Gegenleistung für Einreichungen zu seinem Projekt „Too Hard To Keep“ (T.H.T.K.). Indes verdanken sich die Spannung und der Reiz der Bildersammlung gerade der Unkenntnis über die Hintergründe. Seit 2010 trägt der in Florida beheimatete Künstler Fotografien zusammen, die – wie der Titel sagt – too hard to keep sind: Deren ursprüngliche Besitzer mochten und konnten die Bilder nicht behalten, weil deren Anblick für sie zu schmerzhaft war. Da sie die Fotos aber nicht einfach wegwerfen oder vernichten wollten, haben sie ihre Aufnahmen Lazarus überlassen, der sie anonym in seinem Blog veröffentlicht und in Kunstausstellungen präsentiert
Sind es digitale Fotos, sendet er eine Eingangsbestätigung und bittet um Löschung der originalen Datei. Er ist überzeugt davon, dass bestimmte Fotografien dauerhaft zu traumatisieren vermögen. Darum bietet er all jenen Bildern, die für ihre Besitzer mit einer quälenden Erinnerung belastet sind, eine neue Heimat.
Da es sich fast durchweg um Amateurfotos handelt, sind technische und gestalterische Aspekte kaum von Bedeutung. Einige Fotos sind arg überbelichtet, unscharf und sehr hart angeschnitten. Aber es geht hier nicht um fotografische Perfektion, sondern um die Motive und Inhalte.
Grob lässt sich das Konvolut T.H.T.K. in drei Kategorien einteilen. Bei Bildschirmfotos von Face-Time-Chats, Fotografien von Men-
schen im Sarg oder Tieren auf dem OP-Tisch ist klar: Der ursprüngliche Bildbesitzer hat eine Trennung zu verarbeiten. Das sind die eher langweiligen Aufnahmen.
Zur zweiten Kategorie zählen jene Bilder, die sich hervorragend für wilde Spekulationen eignen. Zum Beispiel das Foto einer lachenden Frau, die mit einem Rasierapparat in der Hand in einem Abwaschbecken sitzt. Dokumentiert es eine Spaßaktion mit einer verflossenen Liebe? Und was mag es mit dem Studioporträt eines Mädchens auf sich haben, das einen blauen Plüschhund im Arm hält?
Lebt das Kind nicht mehr? Hat es sich von seinen Eltern losgesagt? Oder schämt sich die inzwischen wohl Erwachsene schlichtweg für die kitschige Inszenierung?
Die Bilder der dritten Kategorie weisen hingegen wenig narrative Elemente auf. Da sie kaum Anknüpfungspunkte bieten, wirken sie enorm rätselhaft. Mit welcher schmerzhaften Erinnerung mag etwa ein Foto verknüpft sein, das einen Mann unter den Stützpfeilern eines Piers zeigt? Und warum trennt sich einer oder eine von einem Bild, das einen Holzpfahl am Strand zeigt? Sind auf diesen Einreichungen womöglich Tatorte zu sehen?Was auch immer der Grund sein mag, Lazarus konfrontiert sein Publikum mit Bildern, die oft Fragen stellen und selten Antworten geben. Das Vorgehen erinnert an „Evidence“ von Larry Sultan und Mike Mandel aus dem Jahr 1977 (siehe auch „L. Fritz“ No. 2). Die beiden Amerikaner kompilierten anonyme Bilder von technischen, medizinischen und pädagogischen Versuchsanordnungen und entzogen sie somit ihrem ursprünglichen Kontext. Indem Jason Lazarus Bilder aus unbekannten Privatsphären verwendet, fordert er den Betrachter galant auf, seine Wahrnehmung zu reflektieren. Keine schlechte Strategie, um den eigenen Unsicherheiten beim Betrachten von Fotografien auf die Spur zu kommen.
This photo lingers in the memory, and not only because it recalls the famous self-portrait by Nan Goldin: for it shows a young girl with a black eye, and violence against a young woman is likely to leave no-one uninvolved. Does the injury originate from a fight between two aggressive youths, or was the portrait-sitter a victim of domestic violence, be it by father or boyfriend? And to what end was the photo taken, anyway? Does it serve as documentation of a real deed? Or was the bruise merely staged, so painted on?
Who took the picture and how it came into the possession of photographer, curator and university teacher Jason Lazarus (*1975), the latter is reluctant to reveal. Discretion is the favour returned for submissions to his project “Too Hard To Keep” (T.H.T.K.). Meanwhile, the image collection’s excitement and attraction are thanks precisely to this ignorance of the background facts. Since 2010 the Florida-based artist has been bringing together photographs which – as the title says – are too hard to keep: whose original owners were unwilling and unable to keep the images because looking at them caused them too much pain. As they did not want to just throw away or destroy the photos, though, they handed over their shots to Lazarus, who publishes them anonymously in his blog and shows them in art exhibitions.
If they are digital photos, he sends a confirmation of receipt and asks that the original file be deleted. He is convinced that certain photographs are capable of causing permanent trauma; this is why he offers a new home to all images that are encumbered with memories that torment their owners.
As these are almost consistently amateur photos, technical and design aspects hardly signify. A number of photos are grossly overexposed and blurred, and with very hard bleeds. But it is not about photographic perfection but about motifs and content.The T.H.T.K. bundle can be divided
roughly into three categories. The case with screenshots from face-time chats, photographs of people in coffins or animals on the OP table is clear: the original image-owner has a separation to cope with. These are rather boring shots.
The second category includes the kind of images that are outstandingly suited to wild speculations. For example, the photo of a laughing woman who sits in a washbasin, holding an electric razor. Was it documenting a bit of fun with a bygone love? And what is the deal with the studio portrait of a girl clutching a blue cuddly toy dog? Is the child no longer with us? Has she disowned her parents? Or is the probably now-grown woman simply embarrassed by the kitsch set-up?
By contrast, the images in the third category exhibit few narrative elements. As they offer barely any clues, they have an enormously puzzling effect. What kind of painful memory can be associated with a photo that shows a man beneath the pillars of a pier? And why is someone parting with an image that shows a wooden pole on the beach? Can crime scenes possibly be in evidence in these submissions? Whatever the reason may be, Lazarus confronts his audience with images that often pose questions and rarely provide answers. The procedure recalls “Evidence” by Larry Sultan and Mike Mandel from 1977 (see also “L. Fritz” No. 2). The two Americans compiled anonymous images from technical, medical and pedagogical test set-ups, thus removing them from their original context. By using images from unknown private spheres, Jason Lazarus gallantly requests that the beholder reflect on his perception. Not a bad strategy for tracking down one’s own uncertainties when looking at photographs.
Daniel Josefsohn
Am Leben Alive
Der deutsche Fotograf Daniel Josefsohn ist bekannt für seinen direkten, provokativen, aber auch ironischen und intimen Blick, der den Betrachter dazu auffordert, selbst genau hinzuschauen. Seit den 1990er Jahren, als er mit seiner MTV-Kampagne Miststück erste Berühmtheit erlangte, hat er für zahlreiche Magazine gearbeitet und immer wieder Prominente vor der Kamera inszeniert. Große Gesten oder technische Hilfsmittel braucht er dafür nicht. So unaufgeregt beiläufig die Fotografien scheinen, so expressiv muten sie doch an. Da ist Freiheit, Wildheit und immer auch eine Straightness zu spüren, die sich über glattgebügelte Sehgewohnheiten erhebt.
2012 erlitt Josefsohn einen Schlaganfall, seitdem ist er linksseitig gelähmt und gehbehindert.
Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Karin Müller dokumentierte er 2014 für das „Zeitmagazin“ das gesamte Jahr über sein Leben vor und nach seinem Schlaganfall. Für die damit entstandene Serie „Am Leben“ erhielt das Paar den deutschen LeadAward für die beste Reportagefotografie. Begleitet von Erinnerungen, Beschreibungen und Kommentaren, werden die Fotos zu einem Dokument der gnadenlosen Selbstbeobachtung, in der sich der Fotograf nun selbst ins Zentrum rückt. Josefsohn zeigt sich nackt in der Dusche, im Krankenbett, im Rollstuhl sitzend vor dem Selbstporträt Martin Kippenbergers im Rollstuhl. Das Foto zieht eine Metaebene ein: Der nun gebrechliche Starfotograf inszeniert sich vor der Erinnerung des damals schon gebrochenen Starkünstlers. Das Foto wird zur humorvollen Selbstvergewisserung.
Zur Heftigkeit, Schnelligkeit des Vorher gesellt sich eine Langsamkeit, ein Innehalten und die Schwermut des Nachher. Der Witz, das Unprätentiöse und die Leidenschaft sind ihm jedoch geblieben.
German photographer Daniel Josefsohn is known for his direct, provocative, but also ironic and intimate gaze, which demands that the beholder himself take a closer look. Since the 1990s, when he first achieved fame with his MTV campaign Miststück, he has worked for numerous magazines and taken celebrity portraits again and again. He requires no great flourishes or technical aids for this. As unexcitedly casual as the photographs may seem, they have an expressive look for all that. Freedom, wildness and always a straightness, too, can be sensed there, rising above ordered visual habits.
In 2012 Josefsohn suffered a stroke; since then he has been paralysed down the left side and has difficulty walking.
Together with his life partner Karin Müller, in 2014 he documented his life through the whole year for “Zeitmagazin” before and after his stroke. For the series that thus arose, “Am Leben”, the couple received the German LeadAward for best reportage photography. Accompanied by reminiscences, descriptions and comments, the photos are transformed into a document of merciless self-observation, during which the photographer places himself, now, at the focus. Josefsohn shows himself naked in the shower, in his hospital bed, sitting in a wheelchair in front of Martin Kippenberger’s self-portrait in a wheelchair. The photo involves a meta-level: The now breakable star photographer presents himself in front of the commemoration of the already broken star artist. The photo becomes a humorous act of self-reassurance.
The intensity, the swiftness of the Before is joined by a slowness, a pausing and the melancholy of the After. Wit, the unpretentious, and passion have remained with him, however.
Simon Menner TOP SECRET
Am Ende der Straße steht ein Mann. Er trägt eine viel zu enge Jacke für diese Jahreszeit, hat die Hände hinter dem Rücken und lächelt ein wenig. Aber er meint es nicht freundlich. Denn er beobachtet uns. Wochenlang verlässt er nicht seinen Posten an der alten Litfaßsäule. Und er ist nicht allein. In ganz Köln tauchen plötzlich diese Männer auf, stehen einfach nur da und observieren die Straßen, die Häuser, die Menschen. Die Fotos, die Simon Menner (Jahrgang 1978) auf 100 sogenannte Kultursäulen, verteilt in der ganzen Stadt, angebracht hat, hat er nicht selbst gemacht. Sie stammen aus dem Archiv der Staatssicherheit der DDR und sind während eines Verkleidungsseminars entstanden. Die Mitarbeiter sollten also lernen, sich unauffällig zu kleiden und unentdeckt zu bleiben, die Fotos dienten ihnen anschließend als Anschauungsmaterial. Die Stasi gibt es nicht mehr. Aber das heißt nicht, dass wir heute nicht auch beobachtet werden. Nur eben nicht mehr von merkwürdigen Herren, die viel zu warm angezogen am Ende der Straße auf uns warten. Unsere heutigen Beobachter machen ihre Arbeit viel genauer und sind dabei unsichtbar, denn wir liefern ihnen die gewünschten Informationen meist freiwillig – in Form unserer Smartphone-Daten, unseres Konsumverhaltens und unserer Likes.
At the end of the street stands a man. He is wearing a jacket that is far too snug for this time of year, has his hands behind his back and is smiling a little. But his intentions are not friendly. For he is watching us. For weeks and weeks he does not leave his post on the old advertising column. And he is not alone. These men appear suddenly throughout Cologne, simply stand there and observe the streets, the houses, the people.
The photos, hung by Simon Menner (born 1978) on 100 so-called culture columns distributed right across the city, were not taken by the artist himself. They originate from the GDR State Security archive and were created during a disguise seminar. Employees attended in order to learn how to dress inconspicuously and to remain undiscovered; they used the photos afterwards as visual aids.
The Stasi no longer exists. But that does not mean that we are not being watched today, too. Just no longer by odd-looking gentlemen, dressed far too warmly, waiting for us at the end of the street. Our present-day observers do their work with far greater precision and are invisible in the process, as we generally supply them with the desired information voluntarily – in the form of our smartphone data, our consumer behaviour and our likes.
Litfaßsäulen („Kunstsäulen“) im gesamten Stadtgebiet Advertising columns (“Art Columns”) throughout the city
Die Fotoserien „Am Güterbahnhof“ von Allan Gretzki und „Off Ground“ von Stephen Gill spielen mit der Kontextualisierung von Dingen. In diesen Serien wird deutlich, dass ein Bild allein nicht unbedingt „mehr als 1000 Worte sagt“. Sowohl der Kölner Gretzki (Jahrgang 1979) als auch der Brite Gill (Jahrgang 1971) haben gefundene Gegenstände vor einem grauen Hintergrund fotografiert, die Bilder erinnern eher an die nüchterne Beweissicherung der Kriminalpolizei als an die Ästhetik der Werbe- und Produktfotografie.
Und tatsächlich waren es „Tatorte“, an denen sie die Gegenstände eingesammelt haben. Gretzki hat den „Müll“ fotografiert, der nach der Loveparade-Tragödie 2010 in Duisburg übrig geblieben ist: zerbrochene Sonnenbrillen, Haarspraydosen und einen Energydrink, aber auch einen einzelnen Flip-Flop, einen Rucksack und eine Flasche aus Metall, stark zerkratzt und platt gedrückt, als wäre ein Auto darübergefahren. In ihrer konzentrierten Ansammlung bekommen diese Dinge eine gewisse Traurigkeit – eben weil sie als Metaphern für das genaue Gegenteil einer Tragödie mit 21 Toten stehen.
Gill hingegen hat nach den Protesten und Ausschreitungen im Londoner Stadtbezirk Hackney die Steine fotografiert, die möglicherweise kurz zuvor von Demonstranten geworfen worden sind. Sie werden zu Symbolen für die Unruhen und für den Widerstand gegen Polizeigewalt, Rassismus, Ungerechtigkeit und Gentrifizierung im Zuge der Planungen für die Olympischen Spiele 2012. (dz)
The two photo series “Am Güterbahnhof” by Allan Gretzki and “Off Ground” by Stephen Gill play with contextualization. In them, it becomes clear that a picture alone does not necessarily “say more than a 1000 words”. Both the Cologneborn Gretzki (born 1979) and the Briton Stephen Gill (born 1971) have photographed found objects against a grey background; the images are more reminiscent of the sober preservation of evidence by criminal investigators than of the aesthetic of promotional and product photography.
And, indeed, it was “crime scenes” at which they picked up the objects: Gretzki photographed the “trash” that was left behind following the Loveparade tragedy in Duisburg: smashed sunglasses, hairspray cans and an energy drink, but also a single flip-flop, a rucksack and a metal drink bottle, heavily scratched and squashed flat as though a car had driven over it. These are all things which, in their concentrated accumulation per se, have a certain sadness – precisely because they actually stand as metaphors for the precise opposite of a tragedy with 21 dead.
Gill, by contrast, following the protests and riots in the London borough of Hackney, photographed stones that possibly had been thrown by demonstrators just beforehand. They become symbols of the unrest and of the resistance against police violence, racism, injustice and gentrification in the course of plans for the 2012 Olympic Games. (dz)
Es gibt wohl kaum einen besseren Ort, um eine Ausstellung wie diese zu präsentieren: Das K18 ist ein kleines Wohnhaus in einer schmalen Seitenstraße, es ist die selbsternannte Nationalgalerie von KölnEhrenfeld und wirkt zugleich, als würde es kurz vor dem Abriss stehen. Und damit ist es perfekt geeignet für die drei Fotoserien von Frederic Lezmi, Matthias Jung und Theodor Barth, die sich alle mit Orten beschäftigen, die unsicher geworden sind, sich verändern, zerstört oder neu belebt werden.
In „#Taksim Calling“ hat Frederic Lezmi (Jahrgang 1978) die gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um den Gezi-Park und den angrenzenden Taksim-Platz mit seinem Handy dokumentiert und die Aufnahmen von Tränengasangriffen, provisorischen Barrikaden und übermalten Parolen an Häuserwänden in einem Fotobuch veröffentlicht, das aussieht wie eine Tageszeitung. Fast schon zynisch ist jedoch, dass Lezmi seine Fotos jeweils auf einer Doppelseite und auf deren Rückseiten Vergrößerungen von Postkarten mit alten Ansichten vom Taksim-Platz präsentiert: Die heile Welt, die die Souvenirhändler den Touristen verkaufen, existiert nicht mehr. Gleichzeitig kann das Zeitungsformat als Kritik an den türkischen Medien verstanden werden, die nahezu nichts über die Proteste gebracht haben.
Um den Verlust einer ganzen Heimat geht es in der Langzeitarbeit „Revier“ von Matthias Jung (Jahrgang 1967), in der er sich mit dem Braunkohle-Tagebau Garzweiler und der damit verbundenen Umsiedlung ganzer Ortschaften beschäftigt. Jung fotografiert Landund Ortschaften, zeigt uns die Menschen und deren verlassene Häuser, ihre Traditionen und ihre Erinnerungen, Umweltaktivisten und Kartoffelköniginnen, den Bürgerbeirat und direkt gegenüber den leeren Saal des Braunkohleausschusses als Metapher für das Ungreifbare. Es sind sehr präzise gestaltete Aufnahmen – mal hell und nüchtern im dokumentarischen Stil, dann wieder düster und in ein magisches Licht gehüllt.
Eine geradezu magische Licht-Aufnahme hat auch Theodor Barth (Jahrgang 1964) in seiner Serie „Home ist where you’re born“. Darauf sehen wir zwei junge Männer arabischer Herkunft, wie sie in einem deutschen Wohnzimmer stehend die Glühlampe in einem Rattan-Lampenschirm auswechseln. Es ist das Haus, in dem Barth zusammen mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern aufgewachsen ist. – Und in das nach dem Tod des Vaters und dem anschließenden Leerstand zehn Männer aus Syrien, dem Irak und dem Libanon im Alter von 19 bis 37 Jahren zogen. Es sind Flüchtlinge, die ein neues Zuhause bekommen haben. Barth begleitet sie in ihrem Alltag und erlebt, wie sie den Ort, der ihm am vertrautesten ist, zu ihrem Ort machen. Es ist eine berührende Langzeitreportage über Verlust, Hoffnung und das Neue, das man bekommt, wenn man sich darauf einlässt.
Frederic Lezmi Matthias Jung
Theodor Barth
For showing an exhibition like this one, there is probably no better place: K18 is a small residence in a narrow side street; it is the self-appointed national gallery of Köln-Ehrenfeld and, at the same time, looks ripe for demolition. And this makes it perfectly suited for the three photographic series by Frederic Lezmi, Matthias Jung and Theodor Barth, who all deal with locations that have become unsafe, are changing, have been destroyed or newly filled with life.
In “#Taksim Calling” Frederic Lezmi (born 1978) has documented the violent confrontations around Gezi Park and the adjacent Taksim Square using his mobile phone, and published the shots of tear gas attacks, temporary barricades and overpainted slogans on house walls in a photobook that looks like a daily newspaper. It is almost cynical, however, that Lezmi has given each of his photos a double-page spread and, on the reverse, presented enlargements of postcards showing old views of Taksim Square: the idyllic world that souvenir dealers sell to tourists no longer exists. Simultaneously, the news-
paper format can be understood as a critique of Turkish media, which reported virtually nothing of the protests.
The loss of an entire home region is the subject of the long-term work “Revier” by Matthias Jung (born 1967), in which he deals with brown coal opencast mining and the associated relocation of entire settlements. Jung photographs landscapes and localities, shows us the people and their abandoned houses, their traditions and their memories, environmental activists and potato queens, the citizens’ advisory panel and, directly opposite, the empty brown coal committee room as a metaphor for the intangible. These are very precisely designed shots – now bright and sober in documentary style, now dusky and enshrouded in a magical light.
A well-nigh magical light shot also features in the series by Theodor Barth (born 1964), “Home is where you’re born”. In it we see two young men of Arab origin, as they stand in a German living room and change the lightbulb in a rattan lightshade. It is the house in which Barth grew up, together with his parents and five siblings. – And into which, following the father’s death and the subsequent vacancy, ten men from Syria, Iraq and Lebanon, aged 19 to 37, moved. They are refugees who have been given a new home. Barth accompanies them in their everyday routine and experiences how they turn the place that is most familiar to him into a place of their own. It is a touching long-term reportage on loss, hope and the new opportunities that one is given if one is open to them.
K18 Körnerstraße 18 50823 KölnJochem Hendricks
Revolutionäres Archiv
Der in Frankfurt lebende Konzeptkünstler Jochem Hendricks (geboren 1959) beschäftigt sich auf vielfältige Weise mit dem Realen. 2014 hat er mit dem „Revolutionären Archiv“ eine komplexe Arbeit geschaffen, die Realität scheinbar vollkommen ungefiltert in Form von polizeilichen Aufnahmen zeigt, die aus unterschiedlichen Ermittlungen stammen. Ausgangspunkt für die mehrteilige Arbeit war der Fund eines Konvoluts von Film- und Fotomaterial aus den 1970er und 1980er Jahren in einem Abrisshaus in Frankfurt, in dem sich ehemals eine Polizeistation befand. Zu den Motiven gehören Tatort-Fotos ebenso wie Szenen aus dem Hausbesetzermilieu und von politischen Demonstrationen und Protestaktionen der Zeit. Die nüchtern-funktionale Kameraführung bewirkt, dass der Betrachtende selbst die Rolle des Überwachenden einnimmt. Eine ästhetisch-inhaltliche Komponente erhält das „Revo-
lutionäre Archiv“ durch die Mitarbeit von Magdalena Kopp, die einmal den Revolutionären Zellen angehört hat. Sie hat das Schwarz-Weiß-Negativmaterial im Silbergelatineverfahren auf hochwertigem Barytpapier per Hand abgezogen. Aber Kopp brachte nicht nur ihre professionelle Kompetenz als klassische Fotografin in das Projekt mit ein. Die ehemalige Lebensgefährtin des legendären, einst international als „Top-Terrorist“ gesuchten Carlos wirkt an der Produktion der polizeilichen Fotoserie auch als authentische Zeugin des damaligen, die Innere Sicherheit der Bundesrepublik erschütternden Zeitgeschehens mit.
Frankfurt-based conceptual artist Jochem Hendricks (born 1959) deals diversely with the real. In 2014, with “Revolutionäres Archiv”, he created a complex work which shows apparently perfectly unfiltered reality in the form of police shots originating from various investigations. The departure point for the multi-part work was the finding of a bundle of film and photographic material from the 1970s and 1980s in a house scheduled for demolition in Frankfurt, in which a police station had been formerly located. The motifs include crime scene photos, as well as scenes from the homeowner milieu and of political demonstrations and protest measures of the time. The effect of the soberly functional camera-work is that the beholder himself or herself assumes the role of the surveillance operator. “Revolutionäres Archiv” is provided
Labor
Ebertplatz 50668 Köln
with aesthetic content through the collaboration of Magdalena Kopp, who once belonged to the Revolutionary Cells. Using the silver gelatine method, she printed the black-and-white negative material on high-quality Baryta paper. But Kopp did not just contribute her professional skills as a classic photographer to the project. The former life partner of the legendary, once internationally wanted “top terrorist” Carlos also collaborates on the production of the police photo series as an authentic witness to the events that convulsed the homeland security of the Federal Republic at the time.
XU YONG NEGATIVES
Der Tian’anmen-Platz in Peking, auch bekannt als Platz des Himmlischen Friedens, steht heute für die blutige Niederschlagung der Studentenproteste im Jahr 1989, bei denen bis zu 2.600 Menschen gestorben sein sollen.
Tian’anmen Square in Beijing, also known as the Gate of Heavenly Peace, today symbolizes the brutal put-down of the student protests in 1989, during which up to 2,600 people are reported to have died.
Inmitten dieser Tumulte befand sich auch der damals 35 Jahre alte Fotograf Xu Yong, der die Ereignisse und die brisante Atmosphäre mit seiner Kleinbildkamera festhielt. Die chinesische Regierung zensierte anschließend jegliche Information zu den Vorfällen, weshalb er seine Fotos 25 Jahre lang versteckt hielt. Diese Zensur thematisiert Yong damit, dass er auf eine Invertierung der Bilder verzichtete – er zeigt uns keine Positiv-Abzüge seiner Fotografien, sondern lediglich vergrößerte Ansichten der Negative. Mit diesem Kunstgriff erzeugt er ein Gefühl der Beklemmung: Xu Yong weiht den Betrachter in sein Geheimnis ein und lässt ihn zugleich ratlos zurück, weil die Negative aufgrund der Verfremdung nur schwer zu lesen sind. Einen Ausweg bietet Yong mit der Farbumkehr-Funktion des Smartphones an, welche ein Betrachten der Positive und somit eine Interaktion ermöglicht. Doch weder wird das Gezeigte auf diese Weise deutlicher, noch nehmen die Bilder einen wertenden oder kritischen Charakter an. Das hat die chinesische Regierung nicht davon abgehalten, den Vertrieb seines 2014 erschienenen Buches zu verhindern, weshalb es 2015 vom Kettler Verlag erneut aufgelegt und zugänglich gemacht worden ist. Da in China der öffentliche Diskurs über die Proteste bis heute verboten ist, fungieren Yongs Bilder als Beweisdokumente für ihre Existenz und wirken so der angestrebten historischen Amnesie entgegen. Xu Yongs „Negatives“ werfen viele Fragen auf, die über die Geschehnisse hinausgehen und uns über unsere eigene Auffassung von Realität, kollektivem Gedächtnis und Geschichtsschreibung reflektieren lassen, ja sie in Frage stellen.
Photographer Xu Yong, 35 years old at the time, found himself in the midst of this tumult and recorded the volatile atmosphere with his compact camera. The Chinese government subsequently censored all forms of information concerning the incidents, which is why he kept his photos hidden for 25 years. Yong thematizes this censorship by dispensing with an inversion of the images – he shows us no positive prints of his photographs, but merely enlarged views of the negatives. By means of this trick he generates a sense of the oppression: Xu Yong lets the beholder into his secret and leaves him clueless at the same time, because, on account of the alienation, the negatives are hard to read. Yong offers a way out with the smartphone’s colour-invert function, which enables positives to be viewed and hence interaction. Yet, this way, neither is what is shown made clearer, nor do the images take on an appraising or critical character. This did not prevent the Chinese government from hindering the distribution of his book, published in 2014, which is why it was reprinted and publicized by Kettler Verlag in 2015. As open debate on the protests is prohibited to this day, Yong’s images function as documentary proof of their existence, and thus counteract the hoped-for historical amnesia. Xu Yong’s “Negatives” throw up many questions that go beyond the events and allow us to reflect on, indeed question, our understanding of reality, collective memory and historiography.
Xu YongJohn Heartfield
John Heartfield war zwar innerhalb der Berliner Dada-Gruppe nicht der einzige und er war vermutlich auch nicht der erste, der sich der neuen Technik der Fotomontage bediente, doch war er es, der sich ihrer politischen Massenwirksamkeit erst bewusst wurde und sie entsprechend als Werkzeug nutzte. Schon zu Dada-Zeiten entstanden aus Heartfields Feder bzw. Messer jene ersten Collagen aus Fotografien, unmissverständlich motiviert vom politischen Widerstand, der den Berliner Dadaisten im Gegensatz zu ihren Zürcher, Kölner oder Hannoveraner Kollegen eigen war. Zur Entfaltung und zu voller Wirksamkeit gelangten Heartfields Ideen jedoch erst, als er sich im Jahr 1930 als ständiger Mitarbeiter der von dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg herausgegebenen „Arbeiter Illustrierten Zeitung“ (AIZ) anschloss. In diesem Zusammenhang konnte er seine bissigen Montagen regelmäßig einem kritischen und großen Publikum präsentieren. Die AIZ erreichte im Jahr 1931 eine Auflagenstärke von über einer halben Million Exemplaren und erschien wöchentlich. Sie war damit eines der einflussreichsten deutschsprachigen Massenmedien ihrer Zeit.
Immer wieder warnten Heartfields
Bilder vor den kriegerischen Tendenzen des Nationalsozialismus, wie z.B. seine Collage auf Basis eines Gemäldes von Franz von Stuck: Hitler auf einem abgekämpften Gaul, über Leichen staksend und am Horizont das blitzende Hakenkreuz. („Der Krieg“, 1933)
Vor dem Hintergrund des diesjährigen Festival-Themas zeigen Heartfields Montagen den Ursprung eines wichtigen Regulators für die Innere Sicherheit im öffentlichen Sinne. Sie markieren den Moment, in dem die manipulierbare Kraft des fotografischen Bildes im politischen Kontext nicht mehr ausschließlich als Gefahr, sondern auch als Chance gesehen werden konnte – als Instrument der Entlarvung gesellschaftlicher Irrwege.
Im September zeigt die Galerie Arbeiterfotografie deshalb nicht nur einen der wohl wichtigsten Pioniere der Fotomontage, sondern auch jemanden, dem als entschiedenem Kriegsgegner die Innere Sicherheit sehr am Herzen lag.
Though John Heartfield was not the only person, and presumably not the first, within Berlin’s Dada group to use the new technique of photomontage, it was he who first became aware of the technique’s political mass effectiveness and accordingly to use it as a tool. Heartfield penned, or rather knifed, those first collages of photographs right back in Dada times, unequivocally motivated by the political resistance that was peculiar to the Berlin Dadaists as opposed to their Zurich, Cologne or Hanover colleagues. However, it was not until 1930, when he became associated as a permanent employee with the “Arbeiter Illustrierte Zeitung” (AIZ), brought out by communist publisher Willi Münzenberg, that Heartfield’s ideas fully unfolded. This context enabled him to present his vicious montages to a critical and extensive public on a regular basis. In 1931 the AIZ had achieved a circulation of more than half a million copies and was being published weekly. It was therefore one of the most influential German-language mass media of its time.
Heartfield’s images warned repeatedly of the belligerent tendencies of National Socialism, as does for example his collage based on a painting by Franz von Stuck: Hitler riding on a worn-out nag, teetering over corpses and, on the horizon, the glittering swastika. (“Der Krieg”, 1933)
Against the background of this year’s festival theme, Heartfield’s montages show the origin of an important regulator for inner security in the public sense. They mark the moment at which the manipulable force of the photographic image in the political context was able to be regarded no longer exclusively as a risk, but also as an opportunity – as an instrument for exposing the error of society’s ways.
In September, therefore, Galerie Arbeiterfotografie is not only showing probably one of the most important pioneers of photomontages, but also somebody to whom, as a crucial opponent of war, homeland security was of great concern.
In the Ghetto
Wenn die Polizei in Rio de Janeiro die Favelas stürmt, haben die Bewohner vor ihnen wohl ebenso viel Angst wie vor den Gangstern der Drogenkartelle. Dabei wurde die Sondereinheit UPP 2009 eigens gegründet, um die Armenviertel zu befrieden und das Vertrauen der dort lebenden Menschen zu gewinnen. Manchmal rücken auch Soldaten ein, um für Ordnung zu sorgen.
Wie komplex und schwer zu durchschauen das „Pacificação“ genannte Befriedungsprogramm ist, erlebte der Dortmunder Fotostudent Felix Kleymann (*1984) während eines dreimonatigen Aufenthalts vor Ort. Seit den 1970er Jahren gelten die verwinkelten Favelas als bevorzugte Rückzugsorte für die Clans der Drogendealer. Anders als in den weltberühmten Stadtteilen Copacabana und Ipanema, die als Inbegriff des schönen und sorglosen Strandlebens gelten, ist das Leben hier von Gewalt, Korruption und Armut geprägt.
Die körnigen Schwarz-Weiß-Bilder Kleymanns vermitteln dem Betrachter stets das Gefühl, unmittelbar am Geschehen teilzuhaben: sei es bei der Kontrolle Verdächtiger, einer Streifenfahrt, dem Auffinden eines
When the police in Rio de Janeiro storm the favelas, the residents are probably just as scared of them as they are of the gangsters from the drug cartels. Having said that, special unit UPP 2009 was set up specifically in order to pacify the poverty-struck district and gain the trust of the people living there. Sometimes soldiers move in as well, to ensure order.
How complex and opaque the pacification programme – called “Pacificação” – is was experienced by Dortmund-based photography student Felix Kleymann (*1984) during a three-month stay in the locality. Since the 1970s the winding favelas have been favoured hiding places for drug-dealing clans. In contrast to the situation in the world-famous districts Copacabana and Ipanema, which are regarded as the epitome of carefree beach life, life here is characterized by violence, corruption and poverty.
Kleymann’s grainy black-and-white images always convey to the beholder a feeling of being directly involved in events: be it during the checking of suspects, a patrol by car, the discovery of a murder victim
Mordopfers oder der Erkundung von unsicherem Gelände. Die Bilder der bewaffneten Uniformträger ergänzt der Fotograf um Porträts von spielenden Kindern, ohne dass der Gegensatz plakativ gerät. Und obwohl sie auf den Bildern zuweilen fröhlich lachen, ist offensichtlich, dass sie eigentlich nicht viel zu lachen und so gut wie keine Perspektiven haben.
Kleymann reichte seine beeindruckende Serie „Pacificação“ als Diplomarbeit ein und veröffentlichte sie 2013 erstmals in Form einer Tageszeitung. Vermutlich wird die Publikation noch immer aktuell sein.
Anders als die Favelas benötigt die kleine Siedlung Monterrey am nördlichen Stadtrand von Johannesburg keine Befriedung von außen. Sie ist auf Abgrenzung gegründet. Eine hohe Mauer umgibt die gesamte Wohnanlage, die nur durch ein großes, bewachtes Tor zugänglich ist. Jeder Bungalow ist zudem mit einer weiteren Mauer und oft auch noch mit Hochspannungsdrähten gesichert. Es sind private Mini-Festungen, die sich vor unbefugten Blicken wegducken. Hinter den grauen Mauern liegen jedoch nicht etwa luxuriöse Anwesen mit Swimming-Pools oder blühenden Obstbäumen und Blumenbeeten, sondern winzige, öde Gärten mit verdorrtem Rasen und wenig Grünpflanzen.
Mit seiner Serie „Monterrey“ gewährt der Kölner Timo Klein (*1980) Einblick in die spießige Sicherheitszone. Die nüchternen Farbbilder bevorzugen Details und enge Ausschnitte, so dass sich der Effekt des Eingeschlossenseins verstärkt. Zwar mag die bauliche Einigelung Einbrecher und Bettler abhalten, doch zugleich schotten sich die Hausbesitzer auch gegen ihre unmittelbare Nachbarschaft ab. Nette Grillabende sind an so einem Ort nur schwer vorstellbar und Kinder, die in den Gärten Räuber und Gendarm spielen, schon gar nicht.
Auf der Internetplattform Vimeo ist übrigens Timo Kleins Video „Walls of Jozi“ zu sehen, das er auf einer langen Autofahrt entlang von Siedlungsmauern in Johannesburg aufgenommen hat und das das Ausmaß der Abschottung verdeutlicht.
or the reconnaissance of unsafe terrain. The photographer supplements the images of armed uniformed police with portraits of playing children, without allowing the contrast to become striking. And even though they are sometimes laughing happily in the images, it is obvious that they do, in fact, lack much to laugh about and have as good as no prospects in life.
Kleymann submitted his impressive series “Pacificação” as a degree paper and published it for the first time in 2013 in the form of a daily newspaper. The publication is probably still current.
Unlike the favelas, the little settlement of “Monterrey” on the northern city edge of Johannesburg needs no pacification from outside. It is established on separation. A high wall surrounds the whole housing complex, which is accessible only through a big, guarded gate. In addition, every bungalow is secured with a further wall and, often, with high-voltage wires as well. These are private mini-fortresses, ducking away from unauthorized gazes. Located behind the grey walls, however, are not luxury estates, for instance, with swimming-pools or blossoming fruit trees and flowerbeds, but tiny, desolate gardens with sun-scorched grass and few green plants.
With his series Monterrey, Cologne-based Timo Klein (*1980) provides an insight into this middle-class security zone. The sober colour images favour details and tight cropping, meaning that the effect of being closed in is amplified. The structural hedgehog-like curling into a ball may deter burglars and beggars, but the homeowners also wall themselves off from their immediate neighbourhood at the same time. Pleasant barbecue evenings are barely conceivable in such a place, and children playing cops and robbers in the gardens are totally unthinkable.
Incidentally, Timo Klein’s video “Walls of Jozi” can now be watched on Internet platform Vimeo. Filmed on a long car journey along settlement walls in Johannesburg, it illustrates the extent of the walling-off.
Photobooks from the library
Olivier Jobard hat 2004 Kingsley auf seiner Flucht aus Kamerun durch Algerien, Marokko und Spanien nach Paris begleitet. Er fotografiert ihn vor der Abreise, mit anderen Flüchtlingen in klapprigen Lastwagen in der Wüste und auf dem Mittelmeer in baufälligen Booten. Den Bildern werden persönliche Beschreibungen Kingsleys gegenübergestellt. Ein eindrucksvolles Buch, das verdeutlicht, dass die Flüchtlingsfrage nicht erst existiert, seit sie in unserem Bewusstsein angelangt ist.
Olivier Jobard accompanied Kingsley in 2004 on his flight from Cameroon through Algeria, Morocco and Spain to Paris. He photographs him before departure, with other refugees in clapped-out trucks in the desert and on the Mediterranean Sea in rickety boats. The images are placed opposite Kingsley’s personal descriptions. An impressive book, which makes it clear that the refugee issue exists long before it comes to our awareness.
Olivier Jobard, “Kingsley. Carnet de route d’un immigrant clandestin” (2006, Edition Marval, 160 Seiten/pages, ab/from 48 EUR)
Edmund Clark untersucht das System der illegalen Entführung durch den US-amerikanischen Geheimdienst und die Unterbringung von Entführten in sogenannten Black Sites: In geheimen und illegalen Camps in Rumänien, Litauen, Syrien, Libyen oder Guantánamo ließen die Geheimdienste die Entführten bis in die Mitte der 2000er Jahre foltern. Drehkreuz für die Flüge war Frankfurt am Main. Edmund Clark verknüpft Dokumente mit Gerichtsprotokollen, Fotografien und weiteren Informationen.
Edmund Clark examines the system of illegal kidnapping by US intelligence and the accommodation of abductees on so-called black sites: in secret and illegal camps in Romania, Lithuania, Syria or Guantánamo, the secret services had the abductees tortured into the mid2000s. The hub for flights was Frankfurt am Main. Edmund Clark links documents with court records, photographs and other information.
Edmund Clark und/and Crofton Black, “Negative Publicity. Artefacts of Extraordinary Rendition” (mit einem Essay von/with an essay by Eyal Weizman, Aperture/Magnum, 288 Seiten/pages, ca. 49,95 EUR)
In Hans-Peter Feldmanns Fotodokumentation finden sich neunzig Personen, die zwischen 1967 und 1993 ihr Leben verloren (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Chronologisch beginnt die Reihe der Toten mit Benno Ohnesorg und endet bei Wolfgang Grams (angehängt sind noch drei Vermisste). Jeder Person widmet Feldmann im Buch eine Doppelseite und zeigt ein Foto, darunter den Namen und das Todesdatum.
Hans-Peter Feldmann’s photographic documentary comprises ninety persons who lost their life between 1967 and 1993 (with no claim to completeness).
Chronologically the series of dead begins with Benno Ohnesorg and ends with Wolfgang Grams (three missing persons are appended). To each person Feldmann devotes one page of the book and shows a photo, name and date of death underneath.
Hans-Peter Feldmann, “Die Toten – 1967–1993. Studentenbewegung, APO, Baader-Meinhof, Bewegung
2. Juni, Revolutionäre Zellen, RAF” (Feldmann Verlag, 1998, 192 Seiten/pages, vergriffen –antiquarisch lieferbar/ out of print – available second-hand)
1992 reiste Dana Lixenberg nach South Central Los Angeles, um über die Unruhen, die nach dem Urteil im Fall Rodney King ausgebrochen waren, zu berichten. Sie kehrte in den folgenden 22 Jahren immer wieder zurück, lernte die Bewohner kennen und konnte so die Familien im Wohnprojekt „Imperial Courts“ porträtieren und ein anderes Bild als das der sehr eindimensionalen Reportagen über die „Gangs of LA“ schaffen.
In 1992 Dana Lixenberg travelled to South Central Los Angeles in order to report on the unrest that had broken out following the verdict in the Rodney King case. She returned repeatedly over the subsequent 22 years, got to know residents and was thus able to portray the families in the “Imperial Courts” residential project and create a different image than that of the very one-sided reportages about the “gangs of LA.”
Dana Lixenberg, “Imperial Courts 1993–2015” (2015, Roma Publications, 296 Seiten/pages, 60 EUR)
Wir haben die Kuratoren des Photoszene-Festivals
We asked the curators of the Photoszene festival
“Innere Sicherheit / The State I Am In”, Katja Stuke and Oliver Sieber, for their very own personal recommendations.
Der Bruder von Vittorio Mortarotti starb 1999 bei einem Autounfall. Seine letzte Freundin, die Japanerin Kaori, schrieb auch nach dem Unfall weiter Briefe aus Japan. 2012 machte Mortarotti sich auf die Suche nach ihr, reiste nach Japan in die Umgebung von Fukushima. Die persönlichen Ereignisse werden mit der Reaktorkatastrophe und mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki verknüpft, lassen emotionale Porträts und Landschaftsaufnahmen entstehen.
Vittorio Mortarotti’s brother died in 1999 in a car accident. His final girlfriend, the Japanese Koari, continued to write letters from Japan even after the accident. In 2012 Mortarotti set off in search of her, travelled to Japan to the environs of Fukushima. The personal events were associated with the reactor disaster and with the nuclear bombings of Hiroshima and Nagasaki; they gave rise to emotional portraits and landscape shots.
Vittorio Mortarotti, “The First Day of Good Weather” (2015 Skinnerboox, 35 EUR)
In “American Recordings” blickt Francesco Jodice zurück auf das 20. Jahrhundert, das er als das „amerikanische“ interpretiert. Politik, Filme und Musik haben mehrere Generationen weltweit geprägt. Im Buch stellt er Bilder von in den USA entstandenen Mythen und Helden zusammen und reflektiert über die Macht der Bilder und ihre Rolle bei der Entstehung von kulturellen Prozessen.
In “American Recordings” Francesco Jodice looks back on the 20th century, which he interprets as the “American one.” Politics, films and music shaped several generations worldwide. In the book he compiles images of the legends and heroes created in the USA and reflects on the power of images and their role in the genesis of cultural processes.
Francesco Jodice, “American Recordings” (2016, Humboldt Books, 160 Seiten/pages, 20 EUR)
Dieses wissenschaftliche Buch (mit Fotos von Angus McBean) erzählt von einer vergessenen Jugend- und Naturbewegung im England der 1920er Jahre, die zahlreiche Einflüsse durch Kelten, Ägypter, amerikanische Ureinwohner und englische Mythen aufnahm, archaisch und hypermodern zugleich war und sich als Alternative zu den militärisch-autoritär organisierten Pfadfindern verstand – die allerdings auch immer sehr zweideutig in ihrer politischen Ausrichtung war und sich nie wirklich von faschistischen Idealen distanziert hat.
This scientific book (featuring photos by Angus McBean) tells of a forgotten youth and nature movement in 1920s England, which absorbed numerous influences by Celts, Egyptians, Native Americans and English myths, was archaic and ultra-modern simultaneously and understood itself to be an alternative to the militarily organized and authoritarian Boy Scouts – but which, however, was still very ambiguous in its political orientation and never really distanced itself from fascist ideals.
Annebella Pollen, “The Kindred of the Kibbo Kift. Intellectual Barbarians” (2016, Donlon Books, 228 Seiten/ pages, £ 35)
Die erste Ausgabe dieses wunderbaren Archivs von Batia Suter ist lange vergriffen; auf der Website von Roma Publications wird aber die “Parallel Encyclopedia 2” angekündigt. Bilder aus der Natur, aus Technik, Geschichte, Makro- und Mikrokosmos, Kunst und dem alltäglichen Leben werden assoziativ gegenübergestellt. Vergangenheit und Gegenwart werden zusammengeführt, Formen verglichen und gemutmaßt, dass in dieser Welt alles mit allem in Verbindung steht.
The first edition of this wonderful archive by Batia Suter has long been out of print; however, the “Parallel Encyclopedia 2” is announced on the Roma Publications website. Images from nature, from technology, history, macro and microcosmos, art and everyday life are associatively contrasted. Transience and presence are merged, forms are compared, and it is surmised that everything is connected with everything in this world.
Batia Suter, “Parallel Encyclopedia” (2009 / 2016, Roma Publications)
„Innere Sicherheit / The State I Am In“, Katja Stuke und Oliver Sieber, nach ihren ganz persönlichen Empfehlungen gefragt.
Kein anderer Name ist in Köln so eng mit der Fotografie verbunden wie der von Leo Fritz Gruber. Geboren wurde er am 7. Juni 1908 in der Domstadt. Er studierte Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, Zeitungswissenschaft, Völkerkunde und Sprachen. 1933 emigrierte Gruber nach London und arbeitete dort als Werbeund Fotokopie-Fachmann sowie für die Jahrbücher „Modern Photography“ und die Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“. Zurück in Köln, baute L. Fritz Gruber die von Bruno Uhl neu gegründete Fachmesse photokina mit auf und erfand die bis heute legendären „Bilderschauen“, in denen bereits 1950 nationale wie internationale Fotografen (teilweise zum ersten Mal in Deutschland) gezeigt wurden – unter anderem hatte 1951 hier August Sander seine erste große Schau, durch die er weltweit bekannt wurde. Im selben Jahr initiierte Gruber die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh), 1977 legte die Sammlung Gruber mit über 1000 Arbeiten den Grundstock für die Fotografische Sammlung des neu gegründeten Museum Ludwig. L. Fritz Gruber starb am 30. März 2005 im Alter von 96 Jahren. 2012 wurde ein Platz in der Kölner Innenstadt nach ihm benannt. Mit unserem Magazin „L. Fritz“ wollen wir die Verdienste und die jahrzehntelange Leidenschaft L. Fritz Grubers in Erinnerung halten.
Warum L. Fritz?
IMPRESSUM / IMPRINT
Titel / cover
Simon Menner: „Aus einem Verkleidungsseminar für Stasiagenten“ / „From a Disguise Seminar for Stasi Agents“
Photoszene-Magazin L. Fritz
Chefredaktion / editor-in-chief
Damian Zimmermann
Mitarbeiter dieser Ausgabe / people who helped to make this issue
Jennifer Crowley, Marvin Heiferman, Doris Krystof, Wolfgang Lorentz, Julian Mawick, Jule Schaffer, Katja Stuke & Oliver Sieber, Julius Tambornino, Helena Weber, Markus Weckesser
Konzeption / conception
Heide Häusler, Nadine Preiß, Inga Schneider, Damian Zimmermann
Lektorat / copy-editing
Stefan Ripplinger
Why L. Fritz?
In Cologne, no other name is so closely associated with photography as that of Leo Fritz Gruber. He was born on 7 June 1908 in Cologne. He studied philosophy, German language and literature, art history, drama, journalism, geography and languages. In 1933 Gruber emigrated to London and was employed there as an advertising and photocopy specialist, as well as at the annuals “Modern Photography” and the magazine “Gebrauchsgraphik”. Back in Cologne, L. Fritz Gruber helped to build up the photokina trade show, newly founded by Bruno Uhl, and invented the still-legendary “Bilderschauen”, in which, as early as in 1950, both national and international photographers (sometimes for the fi rst time in Germany) were exhibited – among others, August Sander had his fi rst big show here, which made him world-famous. In the same year Gruber initiated the founding of the German Photographic Association (DGPh); in 1977 the Gruber Collection, comprising more than 1000 works, laid the foundation for the Photographic Collection at the newly established Museum Ludwig. L. Fritz Gruber died on 30 March 2005 at the age of 96. A square in Cologne’s inner city was named after him in 2012. We wish to sustain the memory of L. Fritz Gruber’s contributions and decades-long passion with our magazine “L. Fritz”.
Übersetzung dt-engl / translation Ger-Engl
Alexandra Cox
Übersetzung engl-dt / translation Engl-Ger
Stefan Ripplinger
Grafische Gestaltung / graphic design
Studio Carmen Strzelecki
Lithografie / lithography
Heinrich Miess
Druck & Vertrieb / print & distribution
DruckVerlag Kettler GmbH
Papier / paper Maxioffset 110 g/m2
Herausgeber / publisher
Internationale Photoszene Köln gemeinnützige Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) i.G. Körnerstr. 6-8 50823 Köln +49-(0)221-700 30 65 info@photoszene.de www.photoszene.de
Geschäftsführung / managing director
Damian Zimmermann, Heide Häusler (in Elternzeit) und Inga Schneider
Kuratoren / curators
„Innere Sicherheit / The State I Am In” Katja Stuke, Oliver Sieber
Assistenz / assistance
Sandra Dürdoth
Diese Ausgabe erscheint im Rahmen des Photoszene-Festivals 2016 / This issue has been published as part of the Photoszene-Festival 2016
© 2016
Internationale Photoszene Köln gemeinnützige Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), die Fotografen und Autoren
„L. Fritz” erscheint jährlich am 19. August. Die Ausgaben 1 und 2 schicken wir Ihnen gerne gegen einen Unkostenbeistrag von 4 Euro pro Heft innerhalb Deutschlands zu. Schreiben Sie uns dafür einfach eine Mail an info@photoszene.de
“L. Fritz” is published annually on 19 August. We will gladly send you Editions 1 and 2 for a charge to cover overheads of 4 Euro per magazine, within Germany. To request this simply write us an e-mail at info@photoszene.de
FÖRDERER/PATRONS
NETZWERK/NETWORK