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wir* kein generationenheft fr端hling 2010

Unabh辰ngiges Magazin zum jugendmedienworkshop im deutschen bundestag HERAUSGEGEBEN von der Jugendpresse DEUTSCHLAND mit Unterst端tzung DER Bundeszentrale f端r politische Bildung


inhalt

krisenprotokolle…S.04

2009 war ein krisenjahr: ein geplatzter traum, ein schlimmer unfall, eine tödliche krankheit. drei menschen erzählen von ihrer persönlichen krise.

In 19 Jahren um die Welt…S.05

Fünf Städte, zwei Kontinente, ein Leben: Lukas hat keine Heimat, würde sein Leben aber nicht tauschen wollen. Das Portrait eines Kosmopoliten.

ES GEHT UM DIE WURST...S.06-07 Früher hat er mit Millionen jongliert, dann wurde Thomas BrauSSe gefeuert. Der Ex-broker verkauft jetzt Würstchen. Das Porträt eines Verlierers der Finanzkrise, der zum Gewinner wurde.

DAX kann jeder...S.08

Die Wirtschaftskrise verändert die Gesellschaft. Doch die Börse in Frankfurt ist nicht der einzige Indikator, der zeigt, wie die Wirtschaft tickt.

die jugend macht sich krisenfest... S.9

die deutsche jugend guckt immer pessimistischer in die zukunft, obwohl die krise noch gar nicht bei ihnen angekommen ist. Ein INterview mit klaus hurrelmann, dem leiter der shell-jugendstudie.

lauf, krisenkind, lauf!...S.9 Ein kommentar

Der Doppeldeutsche...S.10-11

Thomas Fischer ist Bild-Zeitung und Boheme, er ist DDR und BRD, er reist gern, ist aber nicht welterfahren. Ein Portrait.

wendewissen...S.12

dIE NACHWENDEKINDER SIND ERWACHSEN. WIE ERKLÄREN WIR DEN NACHFOLGENDEN GENERATIONEN TEILUNG UND EINHEIT?

das grauen aus den wänden...S.13 wenn matthias melster nach hohenschönhausen zurückkehrt, kommt auch die erinnerung zurück: an den stasiknast, an die folter.

Das groSSe einheitsquiz...S.14-15

Alle reden von der Einheit – doch wie gut weiSSt Du eigentlich über den Mauerfall, Spreewaldgurken und dein Heimatland bescheid? politikorange macht den Test.

das menü aus der tonne...S.16-17 sie ernähren sich von dem, was sie im müll finden: freeganer streifen durch die hinterhöfe der supermärkte. doch was sie tun ist illegal.


gewissensbissen...S.18 klimakiller: Abendessen. ein Steak verursacht 7,2 kilo kohlstoffdioxid. doch es geht auch anders.

Den unis aufs dach steigen...S.19 Es sind ehrgeizige Ziele, die sich Studenten bundesweit gesetzt haben: Mit dem Projekt „unisolar“ sollen die Universitäten zu Öko-Zentren werden. Doch nicht immer funktioniert das reibungslos.

frauenquote am frühstückstisch...S.20

Phoenix ist nicht gerade der Lieblingssender der meisten Jugendlichen. Sie mit dem Wahlrecht ab 16 für die Poltik zu begeistern, davon hält die Bundestagsvizepräsidentin Gerda Hasselfeldt nichts.

Die cleveren vier Wände von Morgen...S.21

Die Nachhaltigkeit kann gleich morgen bei uns zu Hause einziehen. Ingenieure und Architekten haben die Konzepte längst in ihren Schubladen.

die welt zu gast bei mir...S.22-23 hostel war gestern. der backpacker 2.0 sucht sich heute seine schlafstätte im internet aus und verändert dabei die welt.

ÖKOTANTE VS. MARKTFETISCHIST...S.24 Ist die Globalisierung nun ein Fluch oder ein Segen? Ein Turbokapitalist und eine Waldorfschülerin im rhetorischen Schlagabtausch.

die nächste krise kommt bestimmt...S.25

krise hier, krise da – wir stehen am Rande eines medialen Overkills. keiner will mehr etwas von der Krise hören. Dabei ist jetzt die Zeit, die groSSen Krisen der zukunft zu verhindern.

GOETHE auf tour...S.27

das goetheinstitut ist da, um deutsche kultur im ausland bekannt zu machen. vor allem durch musik.

die perfekte welle...S.27 Die Deutsche Welle hat von der Globalisierung profitiert – aus denselben Gründen muss sie nun die Krise fürchten. Ein Tag in der Redaktion.

Der Stoff, aus dem Alpträume sind...s.28 Wenn eine Jeans im Laden hängt, hat sie eine Weltreise hinter sich. Eine Reise mit Kinderarbeit, Sweatshops und LuNgenkrebs.


Editorial Wir sind anders. Ein bisschen anders. Irgendwie anders. Also, wenn wir müssen jedenfalls. Unsicher zu sein gehört zu unserer Generation. Selbstbewusst sein aber auch. Und Entscheidungen zu meiden. Und Entscheidungen zu treffen. Und genauso auch, einfach nicht mehr zu wissen, was das ist: Eine Generation. Unsere Großeltern waren im besten Fall die Nachkriegsgeneration, die das Land wieder aufgebaut hat. Im schlimmsten Fall waren sie etwas anderes, über das wir nicht so gern reden wollen. Jedenfalls nicht, wenn es um Oma und Opa geht. Unsere Eltern waren die 68er. Oder Hippies. Oder die einzige richtige DDR-Generation.

KRISENPROTOKOLLE

2009 war ein krisenjahr: ein geplatzter traum, ein schlimmer unfall, eine tödliche krankheit. drei menschen erzählen von ihrer persönlichen krise.

Generation Praktikum Generation iPod Generation Google Generation Benedikt Generation Wikipedia Generation unpolitisch Generation Porno Generation web 2.0 Generation flatrate Generation Leistungsdruck Generation Feuchtgebiete Generation Bio Das alles wollen wir nicht sein und sind es eigentlich auch nicht. So wollen andere uns sehen. Wer „die Anderen“ sind, wissen wir auch schon wieder nicht. Und doch ganz genau: die Medien, unsere Eltern, gelangweilte Autoren, unsere Lehrer, die Politiker. Doch wir haben uns auf die Suche gemacht – nach uns selbst. Nach dem, was uns wichtig ist und uns ausmacht. Dabei entstand dieses Heft. Das Ergebnis: Es gibt „uns“ nicht. Wir sind weder die Generation iPod, noch die Generation Leistungsdruck, noch sind wir Krisenkinder. Wir sind zwar alle geprägt vom Mauerfall, von der Wirtschaftskrise, von den ökologischen Herausforderungen und der Globalisierung. Aber deshalb tragen wir nicht alle dasselbe Etikett. Wir wollen mehr als ein Label. Wir können uns mit dem Etikett des überzeugten Kapitalisten bekleben. Doch direkt daneben prangt das des „Hard Rock-Fan“. Und unten drunter noch „Veganer“. Wir tragen mittags den Anzug, abends die Röhrenjeans. Wir färben unsere Haare bunt, nennen uns Indie und wollen doch mal für einen Finanzdienstleister arbeiten. Der Bildungsstreik vergangenes Jahr hat zwar gezeigt: Wenn es wirklich drauf ankommt, fühlen wir uns auch mal als wir. Doch dabei bleiben wir trotzdem ganz viele Ichs. Jeder verfolgt seine eigenen Ziele. Dieses Heft beweist die Vielfalt, die vielleicht das einzige verbindende Element unserer Generation ist. Es handelt von jungen Menschen, die sich freiwillig von Müll ernähren. Von Deutschen, die kaum in Deutschland gelebt haben. Und Studenten, die in die Sonne investieren. Von Leuten, die anders sind und doch sie selbst. Mandy Buschina und Patrick Kremers

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Fotos: Jonas Fischer

So einfach ist das bei uns nicht. Auch wenn das viele erwarten. Was früher ging, muss auch heute funktionieren. Deshalb geben sie uns immer wieder neue Namen:

Claudia Neuhoff wollte polizistin werden und scheiterte Von Claudia Neuhoff

ein autounfall zerstörte fast judith leys zukunft Von Miriam Gräf

florian s. musste den tod eines freundes verarbeiten Von Charlotte Adler

Ich wollte schon immer Polizistin werden. Um mit der Ausbildung anfangen zu können, muss man allerdings eine sportliche Aufnahmeprüfung bestehen. Viele Monate habe ich dafür trainiert, und das bedeutete in erster Linie: rennen, rennen, rennen. Mindestens sechs Runden im Stadion in zehn Minuten, das war mein Ziel. Ich war nie besonders sportlich gewesen. Doch jetzt rannte ich, bis mir schwarz vor Augen wurde. Bis ich meine Beine nicht mehr spürte. Kurz bevor die Prüfung endlich anstand, hatte ich mein Ziel erreicht. Sechs Runden in gut neun Minuten.

Es ist etwa einen Monat vor meinem Abitur passiert. Landstraße, hundert Stundenkilometer und plötzlich schneidet mich dieses andere Auto. Ich komme von der Fahrbahn ab und pralle gegen eine Betonwand.

Der Satz des Pfarrers war wie ein Schlag ins Gesicht. „Tim ist tot.“ Ich war gerade auf einer protestantischen Jugendfreizeit, unbeschwerte Ferien eigentlich. Ich konnte die Worte nicht begreifen – wie kann ein 16-Jähriger einfach sterben?

Nach dem Test saß ich im Polizeipräsidium. Die Tür ging auf, der Ausbilder kam rein, und dann ging es Schlag auf Schlag. „Ihre schulischen und sportlichen Leistungen sind ausgezeichnet, Frau Neuhoff“, sagte er mit Blick auf meine Unterlagen. Ich atmete auf. Dann sagte er: „Aber Sie haben eine Sehschwäche. Damit können Sie die Polizeischule leider nicht besuchen.“ Das zog mir den Boden unter den Füßen weg. Eine Sehschwäche von 3,75 Dioptrin hat meinen Traum zerstört. Alles futsch. Mittlerweile habe ich mich mit der Situation abgefunden. Und ein neues berufliches Ziel vor Augen: Ich möchte jetzt Italienisch, Deutsch und Ethik auf Lehramt studieren. Darauf bin ich durch die Studientage an meiner Schule gekommen. Manchmal denke ich zwar noch an den Polizeiberuf zurück, aber eigentlich bin ich mit meiner neuen Perspektive sehr zufrieden.

In diesem Moment muss ich ziemlich viele Schutzengel gehabt haben. Denn ich bleibe unverletzt und muss nur eine Nacht im Krankenhaus bleiben, für eine Untersuchung. Doch als der Arzt mir am nächsten Morgen sagt, dass ich die nächsten zwei Wochen still liegen bleiben soll, bekomme ich richtig Schiss. Zwei Wochen? Wie soll das gehen? In knapp vier Wochen schreibe ich meine Abiturprüfung. Die Unterstützung meiner Eltern in diesen Wochen war sehr wichtig für mich, und auch die Lehrer haben mir geholfen. Zum Glück habe ich außerdem viele Freundinnen, mit ihnen konnte ich immer wieder über den Unfall sprechen. Sie halfen mir mit dem Lernstoff, während ich zu Hause das Bett hüten musste. Trotzdem war das eine schreckliche Zeit. Ich bekam Angst. Angst durchzufallen. Angst zu versagen. Angst, dass mein ganzes Leben plötzlich zusammenbrechen könnte. Ich habe sogar darüber nachgedacht, mein Abitur um ein ganzes Jahr zu verschieben. Vor ein paar Tagen war ich auf meinem Abiball. Als Absolventin.

Ich kannte Tim aus der Schule, jeden Morgen fuhren wir gemeinsam mit dem Bus. Irgendwann hieß es, bei ihm sei Knochenkrebs diagnostiziert worden. Tim fehlte im Unterricht, irgendwann war er wieder da. Es schien alles gut zu sein, ein knappes Schuljahr lang. Doch sechs Wochen vor den Sommerferien fanden die Ärzte Metastasen. Als das neue Schuljahr anfing, saß Tim trotzdem auf seinem Platz. Nach drei Wochen fehlte er wieder.– ein paar Wochen später war er tot. Ich habe mich nicht einmal von ihm verabschieden können. Bei der Beerdigung war die Kirche voll. Tim war ein lieber Mensch, reif für sein Alter, ich habe mit ihm über Vieles reden können. Erst ein Jahr später habe ich seiner Mutter einen Brief geschrieben. Ihr gesagt, was Tim mir bedeutet hat. Und um ein paar Bilder von ihm gebeten, als Erinnerung. Erst nach ihrer Antwort habe ich alles überwinden können. An sein Grab gehe ich regelmäßig. Seine Mutter glaubt, dass er es gut hat, dort wo er jetzt ist. Ich bin zwar nicht gläubig, aber in diesem Fall will ich es sein.

Claudia Neuhoff,

Miriam Gräf,

Charlotte Adler,

Claudia, 18, aus Tiengen hat keine Ahnung vom Schreiben, tut es aber trotzdem leidenschaftlich gerne.

Miriam, 18, lebt in Wonsheim und macht 2011 ihr lang ersehntes Abitur.

Charlotte, 17, wohnt in Hamburg und denkt seit ihrem Abi darüber nach, was wirklich wichtig im Leben ist.


in 19 Jahren um die Welt

Fünf Städte, zwei Kontinente, ein Leben: Lukas hat keine Heimat, würde sein Leben aber nicht tauschen wollen. Das Portrait eines Kosmopoliten. Von fritz habekuß und thembi wolfram Viertel. Zwischen gestutzten Hecken und grünen Rasenflächen scheint der graue Moloch nur selten durch. Innerhalb der Mauer zaubern chinesische Gärtner inmitten von Shanghai eine irreale Wirklichkeit. Gleich hinter der Mauer liegt ein trüber Kanal, wo eine Schlachterei ihre Abfälle entsorgt.

Heute ist er 19 und in vier Ländern und aufzwei Kontinenten aufgewachsen. Alle drei, vier Jahre musste sein Vater als Angestellter der deutschen Botschaft den Arbeitsplatz wechseln und umziehen. Lukas, seine Mutter und die jüngeren Geschwister mit ihm. Er hat mehr von der Welt gesehen als viele seiner Altersgenossen.

Lukas geht auf die Deutsche Schule der Stadt. Die Schulbücher kommen aus Bayern. Er lernt Englisch und Französisch, Chinesisch spricht er kaum. Weil in Shanghai lange kein ordentliches Brot zu bekommen ist, kauft die deutsche Community beim Chefkoch des Hilton Hotels, einem Deutschen. Lukas kennt quasi nur Landsleute, trotzdem fühlt er sich nicht fremd unter den Chinesen. “Wir waren alle Teil desselben Alltags. Nichts Besonderes”, sagt er. Wenn er über seine Zeit im fernen Osten erzählt, klingt es wie das Normalste auf der Welt.

Vom spieSSigen Bonn in die Megametropole

Das unspektakuläre Bonn ist die erste Station in Lukas’ Leben. Im ruhigen und spießigen Vorort zwischen schmucken Reihenhäuschen und mit gepflegten Vorgärten bleibt seine Familie aber nur kurz. Sie zieht nach Paris. Erinnerungen an die Zeit in der französischen Hauptstadt hat Lukas kaum.

Das ordentliche Brot besorgt der Hotel-Chefkoch

Das Diplomaten-Ghetto verlässt er, wenn beispielsweise sein Fahrrad kaputt ist, dann läuft er zur Tankstelle außerhalb. Dort verhandelt er mit den chinesischen Mechanikern über den Reparaturpreis – in der Landesspra-

Kindheit verbindet er heute mit einem anderen Ort: Shanghai. Die Megametropole ist die zweitgrößte Stadt Chinas. Fast 20 Millionen Menschen leben in der riesigen Industriestadt – ein unglaubliches Chaos. Davon bekommt Lukas damals kaum etwas mit. Eine massive Mauer umschließt das Diplomaten-

che. Wenn ihm langweilig ist, setzte er sich zu den alten Männern im nahen Park und beobachtet sie beim Mahjongg spielen. Als er die Regeln versteht, spielt er einfach mit.

ihn ist Heimat kein fester Ort. „Meine Familie ist immer die Konstante in meinem Leben gewesen“, sagt Lukas. Lukas entscheidet sich

Sich auf andere einlassen hat Lukas früh gelernt. „Das habe ich mir bis heute erhalten. Ich kann unbeschwert auf fremde Menschen zugehen“, erzählt er. Dabei ist er auch auf der Schule unter seinesgleichen. Und selbst am Wochenende sieht er seine Schulfreunde. „Die Eltern haben uns in Anzüge gesteckt, und die Familien trafen sich im Garten des Botschafters“, erinnert sich Lukas. Immer wieder muss er freunde zurücklassen

Zur Lebenswirklichkeit eines DiplomatenKindes gehört auch die Trennung. Wenn die Familie umzieht, reißt das jedes Mal eine Lücke in den Freundeskreis. „Das schmerzt – und daran kann man sich nicht gewöhnen“, sagt Lukas. Das war auch nach dem Umzug von Shanghai nach Wien so. In der Schule ist er am Anfang wenig integriert. Ein halbes Jahr lang beginnt er jedes Gespräch mit „bei uns in Shanghai“. Erst später empfindet er Wien als neue Heimat. Dabei versteht er Heimat als etwas anderes als die meisten Leute: Für

für den nächsten Umzug

Mit fünfzehn zieht er nach Berlin. „Meine schönste Zeit“, findet Lukas heute. Hier setzt er sich intensiv damit auseinander, was es heißt, ein kosmopolitanes Leben zu führen. Ihm wird bewusst, dass er ein ganz anderes Leben führt als viele Gleichaltrige. Er reagiert nicht mit Rebellion, sondern mit lakonischem Gleichmut: „Ist halt so“, sagt Lukas und klingt wie einer der alten Männer, mit denen er in Shanghai einst Mahjongg spielte. Nachdem Lukas sein Abitur in Brüssel gemacht hat, entscheidet er sich für einen Studiengang. Seine Wahl fällt auf Physik im schottischen Edinburgh. Zum ersten Mal kann Lukas selbst entscheiden, ob er umziehen will. Und bricht auf zu neuen Ufern. Ein neues Land, eine neue Stadt, neue Freunde. Mal wieder. „Und als Physiker kann ich später auf der ganzen Welt arbeiten“, sagt er. Lukas wird auch in Zukunft Kosmopolit bleiben.

Fritz Habekuß und Thembi Wolfram Fritz, 20, studiert Wissenschaftsjournalismus in Dortmund. Thembi, 19, hat schon mal kosmopolitisch in Südafrika gelebt.

Foto: flickr.com/several seconds

Lukas sucht mit seinem Kindermädchen das Mittagessen aus. Auf dem Marktplatz stapeln sich Eimer, Waschbretter und Aquarien. In engen Käfigen drängen sich Hühner aneinander. Wer eins kaufen will, kann es gleich rupfen lassen. Lukas zeigt aber auf einen Fisch. Sein Kindermädchen ist einverstanden, der Fisch wird geschuppt. Zusammen gehen sie nach Hause, und sie kocht den Fisch. Damals ist Lukas sechs Jahre alt und lebt in Shanghai.

Heimat to go: Wer ständig von einem Land ins andere zieht, braucht andere Konstanten.

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GENERAtION KRISE

„warst du nicht fett und rosig? warst du nicht glücklich?“ DIE StERNE

es Geht um die Wurst

früher hat er mit millionen JonGliert, dann Wurde thomas brauße Gefeuert. der eX-broker verkauft Jetzt Würstchen. das porträt eines verlierers der finanzkrise, der zum GeWinner Wurde. von Leon wierer Und tiM schLUchter Thomas Brauße steht hinter dem Grill seines Imbisswagens im Frankfurter Bankenviertel. Es riecht nach Friteusenfett. So wie jeden Tag tummeln sich die Kunden vor seiner Bude. Die meisten tragen Anzug und Krawatte und arbeiten in einem der Bank-Tower. Thomas Brauße war auch mal so einer. Die weiße Schürze hat er noch nicht lange an. Vor gut einem Jahr war er ebenfalls ein Anzugsträger, war Abteilungsleiter einer Niederlassung der US-Handelsplattform Instinet in Frankfurt. Sein Job: sechs Broker zu koordinieren und den Kontakt mit Kunden zu pflegen. Doch dann kam dieser Mittwoch. eine e-mail später ist er arBeitslos

Es ist der 10. Dezember 2008, Thomas Brauße steht auf, so wie jeden Morgen um sechs Uhr, und fährt zur Arbeit. Gegen elf Uhr bekommt er eine E-Mail. Er und seine Abteilung werden für 14 Uhr zu einem wichtigem Treffen gerufen. Die Nachricht: Alle werden entlassen. Als Brauße an diesem Nachmittag das Büro verlässt, ist er arbeitslos. Zunächst ist er benommen, macht sich dann aber Gedanken über seine Zukunft. Im Finanzsektor sieht er keine. Schon als Broker hatte er die Idee, als zweites Standbein einen Imbiss zu eröffnen. „Ich liebe einfach deftige Currywurst mit Fritten“, sagt Brauße in breitem Hessisch. Schon 2004 hatte er sich um einen Stellplatz beim Messeturm bemüht, denn dieser ist seiner Ansicht nach der beste in ganz Frankfurt. „Stark frequentiert, zwölfbis sechzehntausend potenzielle Kunden“,

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schätzte er, ganz Finanzprofi. Diesen Platz wollte ihm der Inhaber des Geländes jedoch nicht verpachten. So verwarf er die Idee. Doch sie holt ihn wieder ein. Drei Tage vor seiner Entlassung macht Brauße vor dem Messetower eine Raucherpause. Am Aschenbecher trifft er eine Kollegin. Sie sprechen über das schlechte Kantinenessen. „Jetzt ‘ne gute deutsche Currywurst mit Pommes“, sagt sie. „Richtig“, denkt Brauße und erzählt ihr von seinem gescheiterten Imbissbuden-Plan. Doch die Frau hat eine gute Neuigkeit für ihn: Sie weiß, dass der Eigentümer am Messeturm gewechselt hat. Kurzerhand schreibt sie ihm die Nummer des neuen Besitzers auf einen Zettel. Dass dieses Stück Papier noch so wichtig für sein Leben werden würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

nicht. Das Geschäft hält ihn den ganzen Tag auf Trab. Seine neue Arbeit ist aber wesentlich realer, sagt Brauße. Das schätzt er. Früher handelte er nur mit Zahlen auf Papier: „Das war so ungreifbar.“ Nun gibt er die Wurst raus und bekommt Bares in die Hand. Brauße verdient zwar jetzt weniger, dennoch ist seine Lebensqualität nicht gesunken. Im Gegenteil: Bei seinem neuem Beruf sei er wesentlich freier, da er keine Vorgesetzten hat. Seine Bekannten und ehemaligen Kollegen sind von seinem Imbiss begeistert, den er „Frankfurter Worscht Börse“ nennt. Gefallen an ihm fanden auch die Medien. Fast alle berichteten über Brauße, den Broker, der zum Würstchenmann wurde. Gute Werbung für ihn. Seit Januar schreibt er schwarze Zahlen. „Wenn das Geschäft so weiter läuft“, sagt Brauße, „bin ich wirklich ein Gewinner der Finanzkrise.“

drei, zwei, eins – mein imBiss

Drei Tage später ist er seinen Job los. Das einzige, was er aus dem Büro mitnimmt, ist dieser Zettel mit der besagten Telefonnummer. Nachdem er sich mit seinem ehemaligen Arbeitgeber über die Abfindung geeinigt hat, beschäftigt er sich das erste Mal intensiv mit der Idee, einen eigenen Imbiss zu eröffnen. Schnell erhält er den Zuschlag für den Standort am Messeplatz. Dann ersteigert Brauße im Internet einen alten Linienbus, er renoviert ihn undbaut ihn zum Imbisswagen um. Heute hat er einen anderen Arbeitsalltag als früher, viel mehr Freizeit bleibt ihm aber trotzdem

Leon Wierer und Tim Schluchter Leon, 17, ist körperlich nicht groß, aber mental ein Hüne. Tim, 16, ist Cheflayouter beim „Echo“ am Gymnasium Wertingen.

die finanzkrise

faule kredite und panik an der bÖrse 2001 wurde in den USA der Leitzins gesenkt. Was sehr technisch klingt, beeinflusste das Leben vieler Amerikaner: Hunderttausenden von ihnen wurde es auch ohne finanzielle Sicherheiten ermöglicht, also beispielsweise ohne ein regelmäßiges Einkommen, billige Kredite aufzunehmen. Diese konnten sie anfangs zurückzahlen, da der Zinssatz ja sehr niedrig war. Als dieser jedoch wieder stieg, wurde es vielen Kreditnehmern unmöglich, den Betrag zurückzuzahlen. Die Kredite wurden faul, die Banken gerieten unter Druck. Weil die Finanzinstitute die Kredite aber untereinander wie Aktien gehandelt hatten, wurde die gesamte Finanzwelt in den Strudel der ausfallenden US-PrivatKredite gezogen. Im September 2008 ging die Bank Lehman Brothers pleite. An der Börse brach Panik aus, Banker wurden Kreditnehmern gegenüber misstrauisch. Wenn nun ein Unternehmen zu einer Bank kam und um Geld bat, wurde oft keins ausgegeben. Ohne Kredite konnten die Unternehmen nicht mehr investieren und produzieren. Das ließ die Wirtschaft einbrechen. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt, der Indikator unserer Wirtschaftsleistung, sank 2009 um fünf Prozent – so stark wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.


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Foto: Jonas Fischer

Die Currywurst wurde für Thomas BrauSSe zum Wahrzeichen seines neuen Erfolges. Nachdem er als Broker gefeuert wurde, erÖffnete er die „Frankfurter Worscht Börse“.


DAX kann jeder

Die Wirtschaftskrise verändert die Gesellschaft. Doch die Börse in Frankfurt ist nicht der einzige Indikator, der zeigt, wie die Wirtschaft tickt. Von Jonas rosenbrück und Konrad schröpfer Jonas Rosenbrück und Konrad Schröpfer

der baltic-dryindex

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Quelle: Bloomsberg

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Juni 2008

September 2008

Sommer 2008

Sommer 2009

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Sommer 2010

Ausland Inland

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Quelle: Escort-Service aus Frankfurt/Main

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Juni 2007

Juli 2008

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Quelle: Google

Sommer 2007

Der porsche stottert Die Spitzenverdiener hat die Finanzkrise nur schwach getroffen. Die Verkaufszahlen von Porsche in Deutschland gingen kaum zurück. Anders sieht es schon im Mutterland des Kapitalismus aus: Vor allem in den USA verzichteten die Käufer auf die Edelflitzer. 2009 verbuchte Porsche trotzdem einen fetten Milliardengewinn – das lag vor allem aber daran, dass der Konzern erfolgreich mit VW-Aktien spekulierte.

die nachfrage nach kurzarbeit

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3. Quartal 2008

4. Quartal 2008

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Wechsel 2009/2010

Mittelmeer Deutschland

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Je mehr „Kurzarbeit“ gegoogelt wurde, desto heißer die gesellschaftliche Debatte über das Arbeitsmarktinstrument. Es hat wahrscheinlich Hunderttausende vor dem Rauswurf gerettet: Statt der Kündigung erhielten sie die Anweisung, befristet kürzer zu arbeiten – für weniger Lohn. Ein Erfolgsmodell in Europa, das den deutschen Arbeitsmarkt mutmaßlich vor dem totalen Absturz bewahrt hat. Kurzarbeit darf übrigens jetzt länger dauern, entschied die Bundesregierung und erlaubte, die Maßnahme auf 18 Monate auszuweiten.

der home-SweetHome-Faktor Krisenzeiten sind Sparzeiten, und gespart wird am Urlaub. Selbst toskanischer Wein und französisches Baguette können die Deutschen in der Krise nicht dazu bewegen, ans Mittelmeer zu reisen. Der deutsche Tourismus dagegen profitiert: Müllers und Meiers fahren lieber nach Usedom. Quelle: GfK

80 Quelle: GfK

Quelle: Escort-Service aus Frankfurt/Main

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Dezember 2008

Das horizontale Gewerbe geriet nur kurz ins Schwanken. Die regionale Nachfrage nach erotischen Dienstleistungen blieb in Frankfurt überraschend konstant, wie ein Insider berichtet. Das merkt auch der Edelsektor der Rotlichtbranche: Mittlerweile blättern in Frankfurt sogar mehr Männer als 2008 bis zu 1.800 Euro für eine Nacht hin.

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Oktober 2008

Der DAX fällt in der Finanzkrise um nicht mal die Hälfte, und die Banker stöhnen. Hätten sie mal auf den Baltic-Dry-Index geguckt – satte 95 Prozent verlor dieser Chart, der abbildet, wie teuer es ist, Trockengut von A nach B zu schiffen. Er ist so was wie das Frühwarnsystem der Weltwirtschaft. Sinkt die Nachfrage nach Rohstoffen, wird also weniger Stahl von Afrika nach Europa geliefert, dann fällt der BalticDry-Index. Auf absehbare Zeit wird die globale Industrie gewissermaßen in Seenot geraten.

der banker geht steil

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Jonas, 18, beginnt bald sein Politik- und Wirtschaftsstudium. Konrad, 17, lebt seine eigenen Krisenkurven mit allen Höhen und Tiefen.

Mai 2006

Mai 2007

Mai 2008

Mai 2009


die JuGend macht sich krisenfest

die deutsche JuGend Guckt immer pessimistischer in die zukunft, obWohl die krise noch Gar nicht bei ihnen anGekommen ist. ein intervieW mit klaus hurrelmann, dem leiter der shell-JuGendstudie. von sara jasMin bhatti Und Marc becker

Klaus Hurrelmann, 66, lehrt Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Zuvor war er Professor für Erziehungswissenschaften und Soziologe an den Universitäten Essen und Bielefeld. Hurrelmann ist maßgeblich an den Shell-Jugendstudien beteiligt, die alle vier Jahre dem Lebensgefühl der Jugend auf den Zahn fühlen. Er leitet auch die aktuelle Studie, die im Herbst veröffentlicht wird. Die neue Shell-Jugendstudie untersucht vor allem die Auswirkungen der Finanzkrise auf das Lebensgefühl der Jugend. Dafür wurden 2500 Jugendliche befragt. Wer die vergangenen Studien liest, bekommt viele thesen über unsere Generation serviert. Mädchen werden offenbar immer klüger als Jungs, außer in Mathe. Die Mädels wollen auch Job und Familie vereinbaren, die jungen Männer lieber Alleinverdiener sein.

Herr Hurrelmann, sind wir eine bemitleidenswerte Krisengeneration? „Nein, zu bemitleiden sind Sie nicht. Aber eine strukturelle Ungewissheit könnte man Ihrer Generation schon zuschreiben. Sie wissen nicht, ob Sie überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen und ein großer Teil hat das auch nicht geschafft. Trotzdem haben Sie als junge Generation durchaus mit einer vergleichsweise trockenen und pragmatischen Grundhaltung reagiert.“ Vor acht Jahren haben sich 55 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland große Sorgen um ihre berufliche Zukunft gemacht. Vor vier Jahren waren es bereits 69 Prozent. Sind wir im Jahr 2010 alle nur noch Pessimisten? Das könnte man annehmen, wenn man diesen Trend auf sich wirken lässt. Mein Team und ich gehen auch davon aus, aber konkrete Zahlen gibt es noch nicht. Wir müssen nun

schauen, ob unsere Vermutung sich durch die neue Shell-Studie nachweisen lässt. Die wirtschaftliche Situation für die jungen Leute hat sich in der letzten Zeit aber auf jeden Fall verschlechtert. Heißt das, dass die Wirtschaftskrise im realen Leben der Jugendlichen angekommen ist? „Die meisten nehmen zwar durch die Medien wahr, dass es eine Krise gibt, aber wirklich erfahren haben sie das im privaten Bereich noch nicht. Allerdings haben wir in den letzten Studien den Trend gesehen, dass die meisten jungen Leute glauben, durch Bildung dieser Misere zu entkommen. Vor allem die jungen Frauen fallen auf, sie haben ihrePosition im Bildungssystem enorm verbessert. Und natürlich denken sie sich etwas dabei: Sie wollen sich krisenfest machen.“ Bleibt dabei das Rebellentum, eigentlich ein wichtiges Kriterium der Jugend, nicht auf der Strecke? „Man könnte sagen, dass die Jugendpragmatischer wird. Sie erkennt, wie schwierig ihre Lage ist. Aber gleichzeitig wird sie nicht kopflos, sondern sagt: „Jetzt erst recht! Jetzt reagiere ich auf meine Weise, damit ich kein Opfer der Krise werde!“ Dieser Gedanke war ein auffälliges Merkmal der letzten Studien.“ Stehen wir zunehmend unter Druck? „Wir haben von den vorigen Jugendstudien Hinweise darauf, dass sich die Jugendlichen unter Druck gesetzt fühlen: Jeder Fünfte hat in den letzten zwölf Jahren regelmäßig keinen Arbeitsplatz bekommen und ist damit vom Schritt in eine gesellschaftliche Vollmitgliedschaft abgehalten worden.“ Wie äußert sich das? „Die Situation schlägt sich auf das Selbstbewusstsein dieser Jugendlichen nieder. Sie sind verzweifelt, teilweise sogar aggressiv und fremdenfeindlich. Wir können außerdem erkennen, dass der Druck bei denen zuerst ankommt, die niedrige Schulabschlüsse haben. Anteilsmäßig gilt das besonders für Männer und für Jugendliche aus Familien, die keine guten Bildungsabschlüsse haben.“ Es ist also ein Teufelskreis? „Wer einmal in diese Gruppe hineinge-

klaus hurrelmann: legt die deutsche Jugend auf die couch.

raten ist, muss sich leider völlig berechtigt zu den Abgehängten zählen. Meist finden diese Jugendlichen keinen Anschluss mehr. Wegen der demographischen Entwicklung könnte sich das in Zukunft aber ändern. Der Anteil der arbeitsfähigen jungen Leute wird in den nächsten Jahren kräftig sinken. Dann könnten auch die bisher Benachteiligten eine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten.“ Entwickeln wir uns zu einer Einzelkämpfer-Generation? „Ja, das ist ein Preis, den man in einer Leistungsgesellschaft zahlen muss. Das geht an einigen jungen Leuten nicht spurlos vorbei. Wir merken zum Beispiel, dass das politische Interesse gesunken ist. Damit haben auch das Interesse und die Bereitschaft abgenommen, sich für öffentliche Belange einzusetzen.“ Wir hatten doch gerade einen großen Bildungsstreik. Geht diese Entwicklung nicht in die richtige Richtung? „Die Streiks sind tatsächlich ein Zeichen für mich, dass eine politische Artikulation bereits stattfindet. Da, wo die Studienbedingungen schlecht oder die Zahlungsmöglichkeiten eng

werden, formiert sich Protest. Wir werden sicherlich noch eine weitere Protestwelle in den nächsten Jahren bekommen, wenn aufgrund der Doppelabitur-Jahrgänge viel zu viele Bewerber an die Unis drängen.“ Inwieweit sind die Medien schuld an dem zunehmenden Druck, wenn sie zum Beispiel ständig von uns als „Krisengeneration“ sprechen? Wird uns da nicht etwas eingeredet? „Nein, es handelt sich in der Tat um eine krasse Finanz- und Wirtschaftskrise mit abenteuerlichen Überschuldungen. Insofern haben die Medien in diesem Fall, wie eigentlich immer, zwar dramaturgisch zugespitzt berichtet – aber die Situation nicht falsch dargestellt.“

Sara Bhatti und Marc Becker Sara, 19, studiert Journalistik und Medienmanagement in Magdeburg. Marc, 18, macht nächstes Jahr Abitur in Kassel und schreibt für seine Schülerzeitung.

lauf, krisenkind, lauf! ein kommentar von jenny schneider

Jenny Schneider Jenny, 16, schreibt für die Jugendredaktion der Berliner Zeitung.

Jeder von uns ist ein Krisenkind, das steht schon mal fest. Der Leidensweg beginnt gleich nach dem Abitur, wenn die Studiengebühren auf uns zukommen. Bevor wir jungen Erwachsenen auch nur einen einzigen Cent verdient haben, lastet bereits ein großer Schuldenhaufen auf unseren Schultern. Startschulden, vielen Dank auch. Bezahlen können wir diese Schulden nicht, denn Geld verdienen wir auch mit einem Uniabschluss in der Tasche nur selten. Stattdessen machen wir ein unbezahltes Praktikum nach dem anderen – in der Hoffnung, dass ein Job dabei herausspringt. Davon profitieren nur die Firmen.

Seien wir mal ehrlich: Wir schauen in eine unsichere Zukunft. Die Krise besteht aber nicht in unseren Köpfen, vielmehr steckt sie im System. Dabei haben wir viele Ideen die Welt zu verbessern, doch unser Protest wird von der Gesellschaft stets unterbunden. Wer sich auflehnt, erntet Feinde. Und verbaut sich außerdem seine Zukunft. Um die eigene Existenz zu sichern, muss sich jeder ausbeuten lassen. Schlechte Arbeitszeiten und geringe Löhne sind die Regel. Nach oben buckeln und nach unten treten. Jeder gegen jeden. Die Gesellschaft hat kein gemein-

sames Ziel mehr. Es gibt keine Wortführer. Wir wurden zu Einzelgängern erzogen. Die Politik kriegt diese Probleme nicht in den Griff. Aber von uns erwartet jeder, dass wir die Welt verbessern? Die Politikprofis in Berlin sind dafür kein gutes Vorbild. Sie brechen Wahlversprechen. Ehrlichkeit ist ihnen ein Fremdwort geworden. Wie sollen wir da bitte optimistisch in unsere Zukunft blicken? Ja, wir sind Krisenkinder.

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Foto: Universität Bielefeld

zur p e r s o n


Foto: Evgeny Makarov

Thomas Fischer in seiner Kreuzberger Altbauwohnung. „Hätte ich früher reisen können, wäre ich wohl weltgewandter“.

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Generation einheit

„kommt zusammen. das kann keiner allein“

2raumwohnung

Der Doppeldeutsche

Thomas Fischer ist Bild-Zeitung und Boheme, er ist DDR und BRD, er reist gern, ist aber nicht welterfahren. Ein Portrait Von Nico Schmolke und Katharina Bhata Der Mauerfall teilt das Leben von Thomas Fischer in zwei Hälften. Eine Hälfte seines Lebens real existierender Sozialismus, die andere Kapitalismus. Erst DDR, dann Bundesrepublik. 20 Jahre hier, 22 Jahre dort. Er ist ein Doppeldeutscher. Heute lebt er in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Er ist Fotograf, seine Ausrüstung liegt in der Wohnung verstreut. Außerdem layoutet er seit 14 Jahren für die BildZeitung. Oft arbeitet er in seinem Wohnzimmer. Hier dient eine Glasplatte auf Böcken als Tisch, darauf stehen DesignerSchalen mit Milchkaffee. Im Aschenbecher liegen die ersten Zigarettenstummel. Eine Zimmerwand ist eine Tafel, Fischer benutzt sie als überdimensionales Notizbuch. Thomas Fischer ist wie seine Wohnung – eine Mischung aus Stil und Nachlässigkeit. Er ist ein kräftiger Mann mit Dreitagebart. Jemand, der gerne und ausschweifend redet. Jung und Verliebt in der DDR

In der ersten Hälfte seines Lebens war er DDR–Bürger. Fischer fühlte sich aber nicht als Mitglied der sozialistischen Gesellschaft, sondern vor allem als Jugendlicher. „Das war mein Land! Ich war jung und verliebt“, zitiert er den Kultfilm Sonnenallee. „Man war nicht frei, aber das Nötigste und auch ein bisschen mehr war für jeden drin – ein Haus, eine Beförderung und ein teures Hobby“, sagt Fischer. Der Arbeitsplatz war sicher, eine Krankenversicherung hatte jeder. Selbstverantwortlichkeit und Eigeninitiative sei den jungen Menschen in der DDR allerdings aberzogen worden. „Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass hier überall Papierstapel rumliegen. Freiheit bedeutet nämlich auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen“, sagt Fischer. In Konflikt mit dem System geriet er wegen seiner Schwester. Sie hatte Flugblätter verteilt, Widerstand geleistet, wurde verhaftet und eingesperrt. Obwohl er selbst nie politisch aktiv war, flog er deswegen von der Fachschule für Lehrerbildung. Vorsicht und Unauffälligkeit waren ab sofort geboten. Er

musste aufpassen, dass Äußerungen nicht als staatsfeindlich verstanden wurden. Das war mit dem Mauerfall vorbei. „Ich war froh, dass der ganze Quatsch ein Ende hatte“, sagt Fischer. Er sieht sich selbst nicht als Revoluzzer, aber schon als jemanden mit ungeheurem Freiheitsdrang, mit der Lust zu reisen, mit dem jugendlichen Bedürfnis zu feiern. Für den jungen Leipziger bedeutete das: Wrangler-Jeans, Reisen und Platten von Herbert Grönemeyer. All das, was junge Menschen in der DDR vermisst hatten, war plötzlich zu haben. Der erste Ausflug in den Westen war für ihn ein Angriff auf die Sinne. Zu laut, zu grell und viel zu viel. Das zeigte sich etwa bei seinem ersten All-you-can-eat-Mittagessen bei Pizzahut. Er nahm sich ein bisschen Salat und ging zur Kasse. Als das seine Schwester bemerkte, nahm sie ihn am Arm und zog ihn zurück zum Buffet. Sie kannte sich schon aus und zeigte ihm, wie er so viel Essen wie möglich auf den Teller quetschen konnte. „Ich fühlte mich wie ein Urmensch“, erinnert sich Fischer. Mit Anfang zwanzig probierte er sich im Zeichnen und Layouten aus. Eine gute Zeit, um in diesem Beruf einzusteigen. Die Ostdeutschen gierten nach Westmedien. „Man hätte wahrscheinlich das Telefonbuch drucken können, wenn da ‚Bild’ vorne draufgestanden hätte.“ Fischer brauchte Geld und die Bild-Zeitung brauchte dringend Layouter, so kam er zu seinem Arbeitgeber. Eigentlich wollte er nur für ein Jahr bleiben. „Die Redaktion war gar nicht so konservativ, wie ich erwartet hatte“, sagt Thomas. „Linksautonome Leipziger haben die Bild-Zeitung gemacht, es waren wunderbare Zeiten für Quereinsteiger.“ Der Springer-Verlag wusste nicht immer, wen er sich ins Haus holte. Die Neuen druckten es nämlich eines Nachts über die Pressen des Verlags ein Punkmagazin – getarnt als Literaturzeitschrift. Doch die Wende brachte nicht nur Gutes. „Eine Eigenschaft, die es leider ziemlich unbeschadet aus der DDR nach Einheitsdeutschland geschafft hat, ist der Opportunismus der Leute.“ Sich mit der Situation abzufinden, dass man eh nichts

machen kann, nur bei Sonnenschein auf die Straße zu gehen, das sei heute typisch Deutsch. Von den Idealen der Revolution 1989 ist für Fischer nichts mehr übrig. Wenn er am Vorabend des 1. Mai im Café sitzt, rechts die pubertierenden Jugendlichen sieht, links die Polizisten in ihren martialischen Uniformen, ist er enttäuscht: „Das hat nichts mehr mit Revolution zu tun, sie haben kein gemeinsames Feindbild.“ Gegen den Kapitalismus hat Fischer nichts, er entspricht der Natur des Menschen, meint er. „Problematisch ist aber, dass es keinen Gegenentwurf mehr gibt. Die Kraft des Kapitalismus kann ohne Widerstand walten.“ Umbruch als Chance

Der heutigen Jugend wünscht er irgendwann die Möglichkeit eines Neuanfangs, wie damals zur Wende, dass sich die Karten neu mischen. „Es waren Wanderjahre für 17 Millionen DDR-Bürger“, sagt Fischer, „und da haben sich großartige Chancen aufgetan“. So wenig man es ihm anmerkt, wenn er in seiner Kreuzberger Kreativenwohnung auf dem Stuhl fläzt – die 20 Jahre im Osten haben trotzdem ihre Spuren bei Fischer hinterlassen. „Hätte ich früher reisen können“, sagt er heute, „wäre ich wohl weltgewandter.“

Nico Schmolke und Katharina Bhata Nico, 18, absolviert ein FSJ beim Netzwerk für Demokratie und Courage in Chemnitz. Katharina, 16, ist Schülerin aus Köln und hat in Berlin zum ersten Mal journalistisch gearbeitet.

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„abstrahieren“

wendewissen

die nachwendekinder sind erwachsen. wie erklären wir den nachfolgenden Generationen Teilung und Einheit? von Ekaterina Karabasheva

Ekaterina Karabasheva Ekaterina, 20, kommt aus Sofia und studiert Medienwissenschaft und Japanologie in Trier.

Tino Hentrich, 32 Jahre, Brandenburg Arzt „Ich komme aus dem Osten und meine Frau aus dem Westen, deshalb ist das bei uns ein sehr wichtiges Thema, das wir bei unseren Kindern auf jeden Fall ansprechen werden. Aber erst, wenn sie etwa 15 Jahre alt sind. Vorher ist der Begriff „Einheit“ zu abstrakt.“

„prägen“

„fragen“

„Diskutieren“

Annika Gläser, 19 Jahre, Berlin

Stephan Glatt, 25 Jahre, offenburg

Studentin

student

Jenny Seifert, 20 Jahre, Berlin Schülerin

„Viel kann ich meinen Kindern später nicht über

„Natürlich werde ich meinen Kindern später

„Ich habe das geteilte Deutschland zwar nicht selbst

das geteilte Deutschland erzählen. Ich werde

vom geteilten Deutschland erzählen. Das ist

erlebt, aber zu Hause gab es immer Streit. War im Os-

ihnen sagen: „Frag lieber die Oma.“ Was soll es

ein wichtiges Thema und prägt auch heute

ten wirklich alles so viel schlechter als im Westen?

ihnen denn bringen, wenn ich von einem Ereig-

noch unsere Politik und die Gesellschaft. Des-

Ich werde meinen Kindern mal erzählen, dass es da

nis erzähle, bei dem ich selbst noch gar nicht

halb müssen unsere Kinder davon erfahren.“

keine einheitliche Meinung gibt.“

gelebt habe?

„informieren“

„erklären“

Arkin Alptekin, 32 Jahre, Berlin

Ruth Spitzley, 42 Jahre, Berlin

Verkäufer

Mathematikerin

Bäckermeister

„Ich kann meiner Tocher nicht viel über das

„Ich werde meinem Sohn den geschichtlichen Hinter-

„Als ich zum letzten Mal in Berlin war, stand

Marco Henn, 41 Jahre, Baumholder

Leben im geteilten Deutschland erzählen.

grund erklären, wenn er noch recht jung ist. In den

die Mauer noch. Seitdem hat sich hier viel ge-

Trotzdem ist das ein wichtiges Thema, das

Vorschulen kommt das Thema Einheit ohnehin schon

tan. Die Veränderungen zeugen vom Umbruch in

unsere Gesellschaft auch in 100 Jahren noch

häufig vor. Da werden dann bestimmt auch die ersten

unserer Gesellschaft. Darüber werde ich auch

beschäftigen wird. Deshalb soll meine Tochter

Fragen meines Sohnes auftauchen.“

mit meinen Kindern sprechen. Aber erst, wenn

informiert sein und mitreden können.“

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„verändern

sie alt genug sind.“


das grauen aus den wänden

wenn matthias melster nach hohenschönhausen zurückkehrt, kommt auch die erinnerung zurück: an den stasiknast, an die folter. von philipp Gärtner und Kristin Ullrich

Das Trauma des Matthias Melster versteckt sich. Hinter der grünen Tapete mit den aufgedruckten Farnwedeln, im Sperrholzschrank und unter dem lackierten Holztisch. Man sieht dem Zimmer nicht an, dass hier einmal Menschen gefoltert worden sind. Doch Melster weiß es besser. Wenn er sich erinnert, weicht alles vermeintlich freundliche aus diesem Raum. Dann wird das Zimmer wieder zu dem, was es eigentlich ist: Teil von Hohenschönhausen, dem ehemaligen Staatssicherheitsgefängnis der DDR, in dem Melster vor 23 Jahren misshandelt wurde.

Schaut man ihm heute ins Gesicht, sieht man einen gefassten Mann vor sich. „Ich habe keine äußerlichen Narben oder Knochenbrüche. Ich kann nichts vorzeigen“, sagt er, während seine Schritte durch die langen, kalt belichteten Flure hallen, in dem sich Zelle an Zelle reiht. Wenn Melster von seiner Haft erzählt, klingt es, als hätte er Angst, seine Zuhörer könnten die Wahrheit seiner Geschichte in Frage stellen. Zu unvorstellbar muten seine Worte an, die von physischer und psychischer Folter erzählen, von Schlafentzug und psychischer Manipulation. „Es ging um mehr als ein Geständnis, die wollten Informationen über die illegale Opposition, der ich angehörte“, erzählt er. Während der Haft versucht die Stasi, seinen Willen zu brechen, ihm seine Identität zu nehmen. Drei Offiziere, speziell nur für ihn zuständig, verhören ihn Tag für Tag. Der erste schreit ihn permanent an, der zweite schweigt, weicht ihm jedoch nie von der Seite, der dritte ähnelt in Statur, Alter und Charakter absichtlich seinem Vater. Diesem Offizier vertraut Melster sich an. „Aber ich habe keinen meiner Freunde in den Knast gebracht“, betont er. Wie viele Häftlinge genau in Hohenschönhausen einsaßen, weiß niemand. „Menschen, die nicht ins System passten, wurden gezielt misshandelt“, sagt er. Und Melster passte schon früh nicht ins System. Mit 14 Jahren wird er zum ersten Mal „auffällig“, als er seinen Lehrern erklärt, die Wahlen seien nicht wirklich frei. Er wird deshalb nicht zum Abitur zugelassen, seinen Traum vom Studium kann er begraben. Erst etliche Jahre nach seiner Entlassung wird er ihn doch noch in die Realität umsetzen. Seine Sehnsucht nach Freiheit verliert er auch in der Haft nicht. Und auch den Offizieren bleibt sie nicht verborgen: In seiner Lektüre, die von den Stasi-Offizieren ausgesucht wird, finden sich zahlreiche Reiseromane und Bildbände von Südamerika, Afrika, der Unterwasserwelt Kubas. „Als würde einem Hungernden das Essen immer wieder vor der Nase weggezogen“, berichtet Melster. Nachdem seine damalige Freundin sich wäh-

Foto: Jonas Fischer

Im Frühjahr 1987 wird der heute 44-Jährige festgenommen und nach Hohenschönhausen gebracht. Drei Ausreiseanträge hat er bis dahin gestellt, alle wurden abgelehnt. Melster ist zu freiheitsliebend für die Deutsche Demokratische Republik. Er will raus, plant seine Flucht. Doch diese scheitert und Melster landet zunächst in einem tschechischen Gefängnis. Von dort wird er in die zentrale Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit nach Hohenschönhausen verlegt. Fünf Monate lang wird er hier verhört, ohne dass er weiß, wo er ist. Offiziell verurteilt man ihn wegen „ungesetzlichem Grenzübertritts“ zu einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis. Nach rechtstaatlichen Gesichtspunkten ist er jedoch unschuldig. Das Wissen darum ist das Schlimmste für Melster.

Tristess pur: zelle in Hohenschönhausen.

rend seiner Inhaftierung per Brief von ihm trennt, findet er einmal unter Tränen einen Stapel von Liebesromanen in der Zelle vor. Melster zählt die Farne auf der Tapete, damit er nicht verrückt wird. Doch er hat Glück: Nach fünf Monaten wird er von Hohenschönhausen in ein Zuchthaus der DDR verlegt, wo er noch einmal fünf Monate einsitzen muss und die Haftbedingungen besser sind. Dann wird er von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Es dauert lange, bis Melster zurückkehrt. Erst nach der Wende besucht er die ehemalige Haftanstalt im Norden Berlins noch einmal. Das einstige Gefängnis wurde mittlerweile zur Gedenkstätte umgebaut, jeder kann nun in Melsters ehemalige Zelle hineinblicken und ihm bei den Führungen durch die endlosen Flure zuhören. Das Interesse an der Aufarbeitung der DDRVergangenheit ist riesig: Über 1,7 Millionen Menschen haben die Haftanstalt bis jetzt besichtigt. Auch Melster setzt sich noch heute mit seiner Vergangenheit auseinander und führt Besuchergruppen durch Hohenschönhausen. Er will über die Greueltaten der Stasi berichten, darüber aufklären und damit die Welt ein Stück verbessern.

Die schreckliche Vergangenheit ist aber nur noch ein Teil seines Lebens. Melster hat seinen Traum doch noch verwirklicht: Er hat Politik studiert und eine Fotografie-Ausbildung gemacht. Sein erster Bildband ist vor einigen Wochen erschienen. Seinen Wunsch nach Freiheit konnte das SED-Regime nicht brechen. Doch wenn Matthias Melster im Gefängnishof steht, an seiner Zigarette zieht und die Besucher verabschiedet, holt ihn die Vergangenheit wieder ein. Er deutet Richtung Ausgang. „Da könnt ihr raus, das Tor ist ja offen“.

Kristin Ulrich und Philipp Gärtner Kristin, 19, absolviert zurzeit ihr FSJ an der Université Paul Verlaine in Metz. Philipp, 19, geht in Würtingen zur Schule.

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Das groSSe einheitsquiz

Alle reden von der Einheit – doch wie gut weiSSt Du eigentlich über den Mauerfall, Spreewaldgurken und dein Heimatland bescheid? politikorange macht den Test! von Judith Ley und Julia Herzke

Frage 1: Ein „Mufuti “ ist…

Judith Ley und Julia Herzke

… der Name eines Mixgetränkes aus Orangensaft und Eierlikör.

Julia, 17, wohnt an der Nordsee und weiß nun auch, was ein Mufiti ist. Judith, 19, aus NRW, ist ein absoluter Einheitscrack.

… ein Tisch, der in vielen ostdeutschen Haushalten zu finden war. … mir total egal: Was weiß ich, was das sein soll?

Frage 2: In welchem Jahr wurde die Berliner Mauer gebaut und wann ist sie gefallen? 1945 & 1989 1953 & 1990 1961 & 1989

Frage 3: „FDJ“ ist die Abkürzung für: „Fühl Dich Jung“– ein Fitnessprogramm, das sich ein findiger Sportlehrer aus Bochum ausgedacht hat. Freie Deutsche Jugend – die einzige staatlich anerkannte und geförderte Jugendorganisation in der DDR. „Für Das Jungvolk“ – die berühmteste Disko in Ostberlin.

Frage 4: Das heutige Sandmännchen hat einen Vorfahren. Um wen handelt es sich? Es ist das Ost-Sandmännchen. Es ist das West-Sandmännchen. Es ist eine Mischung aus Ost- und West-Sandmännchen.

Frage 5: Wie viele Menschen zog es bis zum Mauerbau 1961 vom Westen in den Osten? 500.000 Foto: Mandy Jochmann

1.000.000 50.000

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Aufl ösung

Frage 6: Welche Neuentwicklung revolutionierte das Fernsehen im Jahr 1967?

Zähle, welches Symbol du am häufigsten angekreuzt hast.

Die Bilder konnten endlich mit Ton unterlegt werden. Die ersten Worte im DDR-Fernsehen lauteten: „Freundschaft, Genossen!“ Live-Übertragungen konnten geschaltet werden. Die erste Übertragung war die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten. Farbfernsehen eroberte die Wohnzimmer. Die Bundesrepublik Deutschland war damit das erste europäische Land mit Sendungen in Farbe.

Frage 7: Wann wurde die Produktion des späteren DDR-Kultautos „Trabbi“ eingestellt?

Einheitscrack Du bist der Einheitscrack! Du weißt alles, egal, ob es um den Mauerbau oder die Kultobjekte der DDR geht: Du kannst sogar Erich Honecker imitieren. Dein Wissen zum Thema „Einheit“ ist komplett. In der Schulzeit warst du der Klassenbeste im Geschichte-Leistungskurs und der Liebling deines Lehrers. Jede neue Information nimmst du sofort begeistert auf. Du kannst stolz auf dich sein! Du solltest aber Acht geben, dass du deine Mitmenschen nicht vergraulst. Denn was nützt dir dein enormes Wissen, wenn dir niemand mehr zuhören will?

1991 1987 1995

Der Chaot

Die Prügel-Strafe in Schulen wurde abgeschafft. Ausgenommen waren Klosterschulen. Der millionste VW-Käfer wurde gebaut. Er hatte eine goldfarbene Lackierung und geschliffene Glasperlen auf den Chromteilen. Elvis startete seine Karriere mit „That’s All Right Mama/Blue Moon Of Kentucky“ beim Label Sun Records.

Frage 9: Was durfte auf keiner DDR-Party fehlen? Der Käse-Igel. Verbotene Songs, die heimlich abgespielt wurden. Spreewaldgurken, die in Unmengen vertilgt wurden.

Der Unwissende Du hast keine Ahnung von der Materie. Die neuesten Klingeltöne interessieren dich mehr als geschichtliche Ereignisse. In deinen Augen hat David Hasselhoff die Mauer niedergeschrien und Gorbatschow kennst du nur als WodkaMarke. Das Wort Sozialismus klingt in deinen Ohren wie eine fiese Krankheit. Im Grunde aber ist dir das egal, du hast dieses Quiz sowieso nur gemacht, weil deine Lieblings-Trashsendung gerade nicht im Fernsehen lief. Aber es gibt Hoffnung: Wenn du in Zukunft in einer freien Minute ein Geschichtsbuch zur Hand nimmst, dann werden dir solche Quizfragen nicht mehr so schwer fallen.

Die richtigen Antworten lauten: 1b); 2c); 3b); 4a); 5a); 6c); 7a); 8b); 9a)

Frage 8: Welches Ereignis machte 1955 Schlagzeilen?

Du weißt nichts genau, aber alles „so irgendwie“. Verschiedene Wortfetzen, die du aufschnappst, baust du zu einem wirren Gebilde zusammen. Du verwechselst wichtige Ereignisse und vertauschst Personen. Historische Fakten sind für dich so unüberschaubar wie das Chaos in deinem Zimmer. Du verzettelst dich manchmal aus Übermut in deinem Halbwissen. Daher solltest du vorsichtig sein, sonst könntest du schnell als Lügner gelten und dann wird dir so schnell niemand mehr glauben – auch nicht in dem Moment, in dem du den Mauerbau endlich mal richtig datieren kannst.

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Generation nachhaltigkeit

„Oh Jonny! Aber hast du kein Gewissen?“ Jan Delay

das menü aus der tonne

sie ernähren sich von dem, was sie im müll finden: freeganer streifen durch die hinterhöfe der supermärkte. doch was sie tun ist illegal. Von Andrea lösel, katherine kügler und lisa brüßler Mitternacht. Es ist stockfinster auf dem kleinen Platz hinter dem Supermarkt. In der Luft hängt ein süßlicher Geruch. Michael* leuchtet sich mit seiner Taschenlampe den Weg, vorbei an hoch aufragenden Palettenstapeln hin zu einer Reihe grauer Müllcontainer. Solche Szenen sind für ihn Routine. Er hält Ausschau nach Restmüllcontainern, die nicht abgeschlossen sind, leuchtet hinein und sucht sie Zentimeter für Zentimeter nach Essbarem ab. Das tut der 20-jährige Student nicht etwa, weil es ihm am nötigen Geld fehlt, etwas im Supermarkt zu kaufen. Michael ist nicht arm, er ist Freeganer. frei, umsonst und pflanzlich

Der Begriff kommt vom englischen Wort „free“ – was auf deutsch nicht nur „frei“, sondern auch „kostenlos“ bedeutet – und „vegan“ für jemanden, der keine Tierprodukte verzehrt.

Andrea Lösel, Katherine Kügler und Lisa Brüßler Andrea, 18, macht leidenschaftlich gerne Sport, in Mülltonnen geklettert ist sie allerdings noch nie. Katherine, 19, absolviert zurzeit ein FSJ-Kultur beim Bürgerrundfunk in Trier. Lisa, 18, kommt aus Kassel und bleibt dem Fleisch treu.

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Als Freeganer lebt Michael von Lebensmitteln aus Mülltonnen, um ein Zeichen gegen die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft zu setzen, wie er sagt. Und obwohl er in dieser Nacht weit und breit der Einzige auf dem kleinen Platz hinter dem Supermarkt ist – mit seiner Einstellung ist er nicht alleine. Die Ursprünge des Freeganismus sind unbekannt. Fakt ist jedoch, dass die Bewegung immer mehr Anhänger findet, vor allem in westlich geprägten Ländern. Es ist schwer einzuschätzen, wie viele Aktivisten es inzwischen gibt. Die meisten wollen anonym bleiben. Abfall gilt in Deutschland als Privatbesitz und das Wühlen im Müll der Supermärkte wird als Straftat verfolgt. Trotzdem gibt es einige Freeganer, die es darauf anlegen und an den Müllcontainern stets Zettel mit ihren Personalien hinterlassen. Angeklagt wurden sie trotzdem noch nie. Diese Praxis, auch als „Mülltauchen“ oder „Containern“ bezeichnet, ist nur ein Teilbereich des Freeganismus, wird aber oft gleichgesetzt. Bei manchen steckt mehr dahinter.

sich in einer behaglichen Wohnung lebt er in einem leerstehenden Altbau – ohne Strom. „Ein autarkes Leben ohne jegliche Konsumgüter, das ist es was ich will, auch wenn viele das nicht verstehen. Aber bald ziehe ich in eine Art Kommune von Freeganern, die sich selbst versorgen und ökologischen Anbau betreiben.“ Bevor es soweit ist, bleibt es für ihn beim Containern.

kompromisslos konsumfrei

Abgesehen von der Gesetzesübertretung, die das Containern bedeutet – auch gesundheitlich ist es nicht ganz risikofrei. Michael vermutet, dass eine Bekannte, die nach dem Genuss von Lebensmitteln aus der Mülltonne schwer erkrankt ist, durch Rattengift vergiftet worden ist. Solche Geschichten haben ihn beim Containern noch vorsichtiger werden lassen. Von seiner Überzeugung weicht er allerdings nicht ab. Die nächtlichen Beutezüge sollen auch in Zukunft Bestandteil seines Lebens bleiben.

„Die Freeganismus-Bewegung richtet sich gegen die kapitalistische Volkswirtschaft und ihre Auswirkungen auf Mensch und Tier“, sagt Michael. Sein Ärger ist ihm deutlich anzumerken, wenn er über seine Motivation spricht: „Menschen werden ausgebeutet und bei dem ganzen Profitdenken werden ethische Werte völlig nebensächlich.“ Die Alternative der Freeganer: aus dem System aussteigen. So wollen sie gegen die Wegwerfgesellschaft rebellieren, in der Öffentlichkeit hitzige Debatten anstoßen.

risikofaktor rattengift

Michael ist fündig geworden. Aus einer Mülltonne zieht er Äpfel. Ein Salatkopf, ein paar Orangen und Backwaren vom Vortag folgen. Eine mäßige Ausbeute. Manchmal findet er aber auch Pralinenschachteln, Reis und Cornflakes. Leicht beschädigte oder Waren mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum werden einfach weggeschmissen, weil sie niemand mehr kaufen würde. Für große Supermarktketten ist es außerdem oft günstiger und unproblematischer, Lebensmittel wegzuwerfen und neue zu kaufen, als Lagerflächen anzumieten.

*Name von der Redaktion geändert Doch das Leben als Freeganer umfasst nicht nur die Beschaffung und die Verwertung weggeworfener Lebensmittel, sondern alle Bereiche der Grundversorgung. Michael trägt Klamotten aus Altkleidercontainern. Anstatt

freeganer

in die tonne tauchen Containerer nennen sich auch Freeganer und ernähren sich von Müll, genauer gesagt: von Lebensmitteln, die in den Containern hinter den Supermärkten gelandet sind. Oft ist das Haltbarkeitsdatum des Joghurts nur um einen Tag überschritten, der Apfel hat nur eine kleine Druckstelle oder die Kekspackung ist leicht eingerissen – alles Gründe für einen Handelskonzern, die Ware aus der Hochglanz-Auslage zu nehmen. Aber kein Grund, die Sachen nicht mehr zu essen, sagen die Freeganer. Am Anfang stand ein Film. Eine Gruppe Magdeburger war erschüttert von „We feed the World“, einem Film, der das massenhafte Wegwerfen von Essen in der westlichen Welt anprangert. So erschüttert, dass sie die Initiative gegen die Vernichtung von Lebensmitteln gründeten. Damit sind sie die einzigen organisierten Containerer in Deutschland. Die Magdeburger schätzen, dass sie etwa 120 Kolleginnen und Kollegen in Deutschland haben, die sich ähnlich ernähren. Kontakt zu ihnen herzustellen ist jedoch schwierig. Sie haben allen Grund, vorsichtig zu sein: Was Containerer machen, ist illegal. Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn die Sachen im Mülleimer liegen. Einige Supermärkte schützen ihren Müll mittlerweile mit Zäunen und Schlössern. In Deutschland gab es bisher eine Verurteilung wegen Containerns. Eine Kölner Straßenmusikerin musste Sozialarbeit leisten. Sie hatte in den Mülleimern eines Supermarktes zwei Becher Joghurt und etwas altes Brot gefunden.


Foto: Evgeny Makarov

Sich Nahrungsmittel aus der M端lltonne zu suchen verstehen die Freeganer auch als Protest gegen die Wegwerfgesellschaft

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gewissensbissen

klimakiller Abendessen. ein Steak verursacht 7,2 kilo kohlstoffdioxid. doch es geht auch anders. Von lena maria dahms und victoria knauf

na c h h a lt i g e i n k a u f e n Nachhaltige Lebensmittel sind vieles: regional, saisonal, zertifiziert und sparsam verpackt. Käufer können außerdem auf Bio-Siegel und Transfair-Siegel achten. Diese hohen Ideale sind im Supermarkt nicht immer kompromisslos umzusetzen. Der engagierte Konsument muss sich zwischen einem plastikverpackten Bio-Apfel aus Spanien und dem lokalen, aber konventiell angebauten Apfel aus Deutschland entscheiden. Auch bei der Wahl des Rezeptes ist Vorsicht geboten: Manchmal gibt es kaum Gemüse, das dem Saisonplan entspricht. Insbesondere im Winter erweist es sich als äußerst kompliziert, nachhaltige Produkte zu finden. Selbst im März ist die Auswahl an Obst und Gemüse aus der Saison gering. Eine Lösung sind Wochenmärkte. Dort findet man viele nachhaltige Produkte. Allein in Berlin gibt es 118 dieser Märkte.

Fotos: Evgeny Makarov

Übrigens: Bei den meisten Menschen scheint das Gewissen mit der Zunge verbunden zu sein. Denn fast jeder, der nachhaltig kocht, schwört darauf, dass das Essen besser schmeckt als sonst. Einen wissenschaftlichen Nachweis gibt es dafür nicht. Das Gewissen geht offensichtlich durch den Magen.

Nachhaltig und lecker: Victoria Knauf bereitet Burger vor.

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Omelette-Burger mit Pommes für vier Personen Zutaten: 1 kg festkochende Kartoffeln Margarine 6 Eier 125 ml Milch 1 große Karotte 4 Vollkornbrötchen 1 Kopfsalat 1 Zwiebel Salz und Pfeffer

3. Toaste die Vollkornbrötchen, bis sie knusprig braun sind und halbiere sie. Bestreiche beide Brötchenhälften dünn mit Magarine. Wasche den Kopfsalat und entferne die äußeren, eventuell dunklen Blätter. Wähle die besonders knackigen aus und belege damit die Brötchenhälften. Je nach Bedarf noch einmal nachsalzen. Schneide die Zwiebel und lege einige Ringe auf das Omelette. 4. Lege die andere Brötchenhälfte oben auf. Serviere den Burger mit den Pommes Frites auf einem Teller. Na dann: Guten Appetit!

jetzt geht‘s Los:

1. Schäle die Kartoffeln und schneide sie in Streifen. Verteile sie auf ein Blech, das du mit Backpapier ausgelegt hast. Heize den Ofen auf 200°C vor, würze die Kartoffeln mit Salz und bestreue sie mit Margarineflöckchen. Gib alles für eine Stunde in den Ofen. 2. Schlage die Eier mit Milch, Salz und Pfeffer auf. Um dem Omelette den besonderen Schliff zu verleihen, gib die geraspelte Karotte hinzu. Erhitze etwas Margarine in einer Pfanne und brate die Eiermischung beidseitig an.

Victoria Knauf und Lena Maria Dahms Victoria, 16, kommt aus Schwerin und kocht auch in ihrer Freizeit gerne für ihre Familie. Lena-Maria, 17, lernte Nachhaltigkeit von einer ganz neuen Seite kennen.


Foto: Evgeny Makarov

liefern Energie: Gazellen auf der freien Universität Berlin.

Den unis aufs dach steigen

Es sind ehrgeizige Ziele, die sich Studenten bundesweit gesetzt haben: Mit dem Projekt „unisolar“ sollen die Universitäten zu Öko-Zentren werden. Doch nicht immer funktioniert das reibungslos. Von Anna Munkler und Sarah Schneidermann

Roman Dashuber blinzelt zufrieden in die Sonne. Neben ihm reiht sich Solarzelle an Solarzelle. Um exakt 50 Grad sind sie geneigt und zeigen in den Himmel gen Süden. Durch Photovoltaik entsteht hier in Berlin genügend Strom für 25 Drei-Personen-Haushalte.

sagt Roman Dashuber. Auch, weil sich Großinvestoren dem Projekt anschlossen – von ihnen stammen rund 70 Prozent des Geldes. In Berlin gibt es nur eine handvoll Dächer, auf denen mehr Photovoltaik-Anlagen stehen als auf denen der Freien Universität.

Das Netzwerk „unisolar“ hat die Photovolatikmodule auf die Uni-Dächer montiert. Studenten der Freien Universität Berlin gründeten die Initiative auf eigene Faust, den Anstoß dazu gab eine Ringvorlesung. Auch Roman Dashuber hörte sich damals den „Einstieg in die nachhaltige Entwicklung“ an. Doch die Theorie reichte dem Psychologie-Studenten nicht. Zusammen mit Kommilitonen beschloss er, dass auch praktische Schritte nötig sind, um die Energiewende zu schaffen.

einziges problem:

nachhaltig geld verdienen

Seit Mai 2009 blinken die PhotovoltaikAnlagen nun auf den Dächern der Berliner Universität. Das Geld dafür kam größtenteils von den Studenten selbst. Denn die Konzeptidee von „unisolar“ sieht vor, dass sie sich schon mit einer Summe ab 250 Euro an dem Projekt beteiligen können. Alle anderen Umweltfreunde zahlen mindestens 500 Euro. Die Investition lockt mit einer grünen Rendite: Wer einzahlt, bekommt sein Geld über zwanzig Jahre in Raten zurückgezahlt – plus Zinsen. Mittlerweile haben die Berliner „unisolar“Initiatoren mehr als 100.000 Euro eingesammelt. Die Studenten ziehen deshalb eine positive Bilanz. „Die Anlage auf der Freien Universität wurde viel größer als eigentlich geplant“,

warum die Hochschulen so schlecht kooperieren. „Eigentlich wäre ein solches Projekt super für das Image der Universitäten“, sagt Dashuber. Außerdem würden sie nicht nur etwas gutes für die Umwelt tun, sondern auch Geld dabei verdienen. Denn für jeden Quadratmeter Dach, den sie an die Studenten vermieten, erhalten sie Pacht.

die dächer werden knapp optmistisch in die zukunft

Dabei ist die Idee von „unisolar“ nicht neu. Studenten aus Leipzig entwickelten bereits vor drei Jahren das Konzept. Dort entstand auch die erste Anlage. Karlsruhe und Kassel zogen bald nach, die Idee breitete sich aus: Mittlerweile existiert ein deutschlandweites „unisolar“-Netzwerk.

Auch wenn die Bedingungen gerade schwierig sind: Die Leute von „unisolar“Berlin wollen weitermachen. Denn noch gibt es geeignete Dächer auf der Freien Universität. So lange machen die Studenten weiter.

Doch die Studenten in Leipzig haben mittlerweile große Probleme mit ihrem Projekt: Ihnen gehen die Dachflächen aus. Einige sind für Photovoltaikanlagen ungeeignet, andere stehen unter Denkmalschutz und dürfen nicht bebaut werden. Aber auch die Unis selbst liebäugeln mit den letzten freien Dachflächen. Das neue sächsische Hochschulgesetz erlaubt ihnen, selbst Geld mit erneuerbaren Energien zu verdienen. Auch die Berliner „unisolar“-Aktivisten finden keine neuen Dächer mehr. Und wie in Leipzig, so kämpfen auch die Berliner Studenten mit den Vorgaben des Denkmalschutzes. Und selbst die Freie Universität hat nur noch geringes Interesse an der Nachhaltigkeitsinitiative. Die anderen Universitäten seien nicht mehr bereit, sich auf derartige Projekte einzulassen, sagt Dashuber. Er versteht nicht,

Sarah Schneidermann und Anna Munkler Anna, 18, kommt aus Kempten und schreibt für die „Allgäuer Zeitung“. Sarah, 17, aus dem Sauerland und arbeitet für die Westfalen Post.

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frauenquote am frühstückstisch

Bundestagsvizepräsidentin Gerda Hasselfeldt diskutiert mit ihren Kindern über aktuelle politische Fragen, oft auch kontrovers. Von der Frauenquote hält sie viel, vom Wahlrecht ab 16 wenig. Von Dennis draber und alexander seedorff Zur Pe r s o n Gerda Hasselfeldt, 59, ist Mitglied in der CSU und vertritt seit fast 20 Jahren den oberbayerischen Wahlkreis Fürstenfeldbruck-Dachau im Bundestag. Seit fünf Jahren arbeitet sie als Bundestagsvizepräsidentin. Seit der 16. Wahlperiode ist sie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, seit der 17. Wahlperiode zusätzlich Mitglied im Finanzausschuss. Frau Hasselfeldt, Sie sind Politikerin und Mutter zweier Kinder. Was ist anstrengender? „Die Kombination ist manchmal anstrengend. Ich muss meine Familie und den Beruf unter einen Hut bringen. Das war besonders in meinen ersten Jahren im Parlament eine große Herausforderung. Meine Tochter war gerade erst vier Jahre alt und wenn ich montags nach Berlin fuhr, hatte ich schon manchmal ein mulmiges Gefühl. Aber durch eine gute Organisation haben wir auch das gemeistert. Jetzt sind meine Kinder schon erwachsen.“ Kommt es manchmal zum Generationenkonflikt? „Klar. Gerade mit meinem Sohn fliegen auch heute noch manchmal die Fetzen. Natürlich nur auf politischer Ebene.“ Worüber streiten Sie? „Über die Frauenquote zum Beispiel. Ich bin inzwischen eine leidenschaftliche Verfechterin der Quote, mein Sohn findet sie unfair. Da kann es am Frühstückstisch auch mal emotional werden. Gerade bei generationsübergreifenden Themen.“ Zum Beispiel der riesige Schuldenberg, der gerade angehäuft wird? Den findet ihr Sohn doch sicherlich auch unverantwortbar. „Na klar! Ich finde aber auch, dass das eine wichtige Diskussion ist. Wir Älteren dürfen nicht immer nur auf unser eigenes Portemonnaie schauen, sondern müssen auch die junge Leute im Blick haben. Das gelingt leider nicht jedem.“ Sie sind auch Großmutter. Wären Sie enttäuscht, wenn Ihre Enkel später nicht zur Wahl gehen? „Ehrlich gesagt, ja. Die würde ich mir schon vorknöpfen und ihnen ins Gewissen reden. Auf jeden Fall möchte ich wissen, warum sie nicht wählen gehen. Ich halte unsere Demokratie nämlich für ein großes Geschenk.“

Jetzt sind also die Lehrer Schuld an der Politikverdrossenheit. Machen Sie es sich nicht sehr einfach? „So pauschal kann man das tatsächlich nicht sagen. Wir Politiker sind auch in der Pflicht. Wir müssen den Schülern zeigen, dass wir ganz normale Menschen sind, die sehr viel Verantwortung übernehmen. Das können wir nur dann schaffen, wenn wir den Jugendlichen einen Einblick in unsere Arbeit geben und damit eine Grundlage für ihr Vertrauen schaffen. Etwa, wenn uns Schulklassen besuchen.“ Der Alltag vieler Jugendlicher dreht sich aber nicht um Politik, sondern um Arbeitslosigkeit, Drogen und Zukunftsangst. Was tun Sie, um sich mit dieser Realität vertraut zu machen? „Ich diskutiere regelmäßig mit Jugendlichen aus meinem Wahlkreis über ihre Sorgen. Dabei merke ich, dass die Argumente der jungen Leute oft unterschätzt werden. Viele Politiker glauben zum Beispiel, dass sich der Horizont von Jugendlichen nur zwischen Internet und Schule erstreckt.“ Ist das vielleicht der Grund dafür, dass viele Erstwähler nicht zur Wahl gehen? „Wir haben die Jugendlichen nicht immer ernst genommen, und das hat sicherlich einige zu einer Verweigerungshaltung oder in Einzelfällen zu extremen Parteien getrieben. Man darf

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Foto: Evgeny Makarov

Viele junge Leute gehen trotzdem nicht zur Wahl. „Stimmt. Wir müssen den Jugendlichen deshalb die Scheu vor der Politik und der Wahl nehmen. Das muss schon in der Schule anfangen. Statt zum hundertsten Mal die Säulen der Verfassung zu besprechen, müssen die Lehrer lieber praxisorientiert arbeiten. Zum Beispiel mit Planspielen.“ gerda hasselfeldt: nimmt die Jugend ernst.

aber nicht vergessen, dass die Wahlbeteiligung bei den Erstwählern schon immer niedrig war. Trotzdem ist das natürlich ein Problem, mit dem wir Politiker uns auseinandersetzen müssen.“ Hat die Jugend vielleicht einfach keine Lust auf Politik? „So weit würde ich nicht gehen. Wir haben durchaus eine politisch interessierte Jugend. Zur Zeit versäumen wir es aber, den jungen Menschen zu zeigen, dass politisches Engagement nicht nur Verzicht an Freizeit bedeutet, sondern dass sich die Erfahrungen in politischen Institutionen im späteren Leben auszahlen.“ Sie hatten schon früh Lust auf Politik, mit 18 sind Sie Mitglied der CSU geworden. Was war ihr größter Erfolg in der Anfangsphase? „Ich habe mich dafür eingesetzt, dass das Wahlalter von damals 21 Jahren auf 18 Jahre herabgesetzt wird.“ Heute sind Sie eine Gegnerin des Wahlrechts ab 16. Wie passt das zusammen? „Ich bin für das Wahlrecht ab 16, aber nur auf kommunaler Ebene. Bei Landtagswahlen oder bei Bundestagswahlen muss das Wahlalter bei 18 Jahren bleiben. Bei einer Wahl trifft man

schließlich eine wichtige Entscheidung. Und ich glaube, dass man dafür - wie übrigens auch für die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit im Rechtsverkehr - mit 16 Jahren noch zu jung ist und die Dimension einer solchen Entscheidung nicht begreift.“ Sie verlangen also von Jugendlichen, dass sie sich zwar interessieren sollen, aber nicht mitentscheiden dürfen? „Die Entwicklung von Jugendlichen ist in dem Alter unterschiedlich weit fortgeschritten. Man kann nicht dem einen 16-Jähringen erlauben zu wählen, und dem anderen nicht. Die meisten der 18-jährigen sind übrigens auch gegen eine Herabsetzung des Wahlalters. Das ist zumindest mein Eindruck, den ich in vielen Gesprächen gewonnen habe.“ Dennis Draber und Alexander Seedorff Dennis, 19, aus Wedmark schreibt für die Hannoversche Allgemeine Zeitung. Alexander, 19, studiert Politik- und Kommunikationswissenschaften in Dresden.


Die cleveren vier Wände von Morgen

Die Nachhaltigkeit kann gleich morgen bei uns zu Hause einziehen. Ingenieure und Architekten haben die Konzepte längst in ihren Schubladen. Von Maleen dreschmann und david lucas Solarkollektoren Sonnenstrahlen kann man mit Kollektoren einfangen. Danach wird die Sonnenenergie in Wärme umgewandelt, die dann Wasser erhitzt. Dadurch gibt es im grünen Haus warmes Wasser zum Duschen, Spülen und Heizen.

Photovoltaikmodul Photovoltaikmodule sind auf die Sonne ausgerichtet. Sie bestehen aus Siliziumzellen, in denen eine elektrische Spannung auftritt, sobald Licht auf sie fällt. So kann Sonnenlicht in elektrischen Strom umgewandelt werden.

Wärmedämmung Durch Granulat, Faserwerkstoff oder festen Schaum in den Außenwänden ist es möglich, ein Haus weitestgehend zu isolieren. Dadurch dringt so gut wie keine Wärme nach außen, sodass kaum Energie verschwendet wird.

Grafik: Architekturbüro Frey

60,75 mm

Erdwärmekollektor

Wärmepumpe

Speicherwassererwärmer

Heizwasserpufferspeicher

Durch Kunststoffrohre fließt ein Mix aus Wasser und Glykol. Das Gemisch ist ein guter Wärmespeicher und nimmt die Wärme aus dem Boden auf. Die Rohre des Kollektors umschließen die eigentlichen Leitrohre so, dass ein Wärmeaustausch stattfinden kann.

Das vorgewärmte Wasser aus dem Erdwärmekollektor wird hier weiter erhitzt. Genutzt wird dafür die Energie, die als Reibungswärme beim mechanischen Arbeiten der Pumpe entsteht. Wenn jemand im Haus warmes Wasser braucht, fließt es dahin, der Rest wird im Speicher zwischengelagert.

Durch einen separaten Wärmeerzeuger im Behälter wird kaltes Wasser aus dem Haus zunächst gesammelt und anschließend erwärmt. Das Wasser, was nicht sofort ins Haus zurückgeleitet wird, bleibt bis zu seiner Nutzung im Behälter.

Hier, im Heizwasserpufferspeicher, wird die überschüssige Wärme aus der Heizung zwischengespeichert und bei Bedarf wieder genutzt. So kann die Heizung nicht überhitzen, und Energie wird gespart.

N a c hhaltig wohnen mit dem F ünf-F inger- Prinzip Die fünf Finger stehen für die fünf Grundsätze des nachhaltigen Wohnens: Ökologie, Ökonomie, Gesellschaft, Gestaltungswille und Anreiz. Darüber hinaus bilden sie auch die Basis für eine nachhaltige Stadtentwicklung. David Lucas und Maleen Dreschmann David, 18, studiert Medien- und Kommunikationsmanagement in Iserlohn. Maleen, 16, ist fasziniert vom „grünen Haus“.

Den Grundsatz der Ökologie setzt um, wer nachhaltige Rohstoffe verwendet und intelligente Energiesysteme wählt. Dadurch wird die Umwelt geschont und die Ausbeutung von Ressourcen verhindert. Dabei müssen diese ökologischen

Lösungen aber auch immer bezahlbar bleiben, also auch ökonomisch sein. Nur wenn die Mieten nachhaltiger Wohnprojekte am Ende auch erschwinglich sind, macht die Bauweise aus finanzieller Sicht Sinn. Eine nachhaltige Lebensweise lohnt sich aber erst dann dauerhaft, wenn sie auch den Menschen innerhalb seiner Gesellschaft berücksichtigt. Denn durch die Gemeinschaft entsteht der Lebensraum Stadt, der an die Bewohner angepasst werden soll. Die Menschen müssen sich mit ihrem Wohnort identifizieren

können. Damit all das nicht nur trockene Theorie bleibt, braucht es laut der Entwickler noch eine weitere wichtige Komponente: Gestaltungswille. Alle müssen an einem Strang ziehen. Und das geht nur, wenn Anreize, wie Subventionen, geschaffen werden. Das Freiburger Architektenbüro hat das Fünf-Finger-Prinzip entwickelt und wird es auch auf der EXPO 2010 in Shanghai einer breiten Öffentlichkeit präsentieren.

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Generation global

„Wo deine FüSSe stehen, ist der Mittelpunkt der Welt.“ Element of Crime

die welt zu gast bei mir

hostel war gestern. der backpacker 2.0 sucht sich heute seine schlafstätte im internet aus und verändert dabei die welt. Von Sven herrmann und ravenna sohst

Den Absender der E-Mail kennt Georgina Fakunmoju nicht. Trotzdem wundert sich die 30-Jährige nicht, als sie die Mail öffnet. „Hey, kann ich diese Nacht bei dir pennen?“, fragt der Fremde. Die meisten Leute würden so eine E-Mail sofort löschen. Georgina nicht. Sie zögert nicht lange mit ihrer Antwort: „Ja, klar“, schreibt sie. „Komm doch einfach vorbei“.

Massen-E-Mail an die Studenten in der städtischen Universität Reykjavik: Ob ihm jemand einen Schlafplatz anbieten würde, auch wenn er fremd sei? Es dauerte nicht lange, bis sich die Antworten in seinem Postfach stapelten. An jenem Abend konnte Casey Fenton zwischen 50 verschiedenen Sofas wählen. Ganz nebenbei war die Idee des Couchsurfings geboren.

Georgina überlasst fremden Menschen ihre Couch, für eine Nacht oder für länger. Sie ist eine sogenannte Couchsurferin. Überall auf der Welt leben Menschen wie sie, die Fremden eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit anbieten. Das nächste Bett ist immer nur einen Mausklick entfernt – egal, ob in Brasilien, in Budapest oder in Berlin.

völkerverständigung,

die idee hinter der couch

Mehr als 1,8 Millionen Couchsurfer gibt es weltweit, die meisten leben in Europa und Nordamerika. Sie tummeln sich auf Internetseiten wie etwa couchsurfing.org, dem größten Portal für Couchsurfer, und finden dort zueinander. Ein Geben und Nehmen, zu dem viel Vertrauen gehört. „Wir Couchsurfer gehen nicht vom Schlechten im Menschen aus“, sagt Georgina. Wenn jemand ihre Couch benutzen will, räumt sie nicht mal auf. Ihr Geld und ihre Kreditkarte liegen auch bei Besuch verstreut in der Wohnung. Der kreative Kopf hinter der CouchsurfingIdee heißt Casey Fenton. Vor elf Jahren reiste der US-Amerikaner durch Island und hatte keine Lust, die Abende alleine in einem anonymen Hotel zu verbringen. Also schrieb er eine

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die den geldbeutel schont

Georgina nutzt das Angebot seit zwei Jahren – und ist nach wie vor begeistert dabei. Sie schont so auf Reisen nicht nur ihren Geldbeutel, sondern taucht auch in die Kultur ihrer Gastgeber und in deren Leben ein, zumindest für eine kurze Zeit. Genau das ist die Philosophie hinter der Couch: „Wir wollen einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten“, schreiben die Organisatoren von couchsurfing. org. Damit wird das Reisen auch spannender. Schließlich kennen Bewohner ihre Städte in der Regel besser als die gängigen Reiseführer. Wo steigt am Abend die beste Party? Was muss man unbedingt gesehen haben? „So lernt man die Stadt von einer ganz anderen Seite kennen“, sagt Georgina. Immer mehr Menschen erkennen den Reiz, den das Couchsurfing bietet: Über 14.000 User registrieren sich jede Woche bei couchsurfing.org – Tendenz steigend. Vor allem junge Menschen zwischen 18 und 34 Jahren zieht das Netzwerk an. Aber auch die Betreiber der Seite profitieren, für sie hat sich das Couchsurfen als erträgliches Geschäftsmodell herausgestellt. Mehr als 128 Millionen US-Dollar ver-

dienten sie allein im Jahr 2008 mit ihrem Portal, hauptsächlich durch Spenden von Usern. jeder sollte auf die couch

Georgina schätzt am Couchsurfen besonders, dass sie viele neue und verschiedene Leute kennenlernt. Sie räumt allerdings ein: „Wer sich bereit erklärt, einen wildfremden Menschen bei sich aufzunehmen oder bei einem wildfremden Menschen zu übernachten, der braucht schon ein gewisses Grundvertrauen.“ Trotzdem ist sie sich sicher: „Jeder Mensch sollte mindestens einmal im Leben couchsurfen.“

couchsurfing

Georginas erste Couch ... ... stand in Mexico. Die Idee mit dem Couchsurfing kam nicht von mir, sondern von meinem Kumpel Nikki. Ohne große Pläne waren wir gemeinsam zu einem Trip nach Mexico-City aufgebrochen. Als wir ankamen, hatten wir kein Bett für die Nacht – wir hatten das einfach vergessen. Zum Glück ist Nikki Couchsurfer. Spontan starteten wir im Internet einen Aufruf. Die erste Antwort kam prompt. Ein gewisser Luis bot uns an, dass wir bei ihm unterkommen könnten. Als ich sein Foto auf seinem Profil sah, dachte ich spontan an einen hardcore-links-alternativen-Typen. Doch wir hatten ziemliches Glück: Statt einer EinZimmer-Wohnung, wie ich sie erwartet hatte, betraten wir ein stattliches Einfamilienhaus – mitten in Mexico-City. Luis hat ständig Besuch von Couchsurfen, für ihn ist das normal. So wurde es ziemlich eng im Haus. Außer uns beiden waren noch seine Eltern und drei andere Couchsurfer da: Ein verrückter 80-jähriger und zwei Amerikanerinnen, die auf der Durchreise nach Kuba waren.

Ravenna Sohst und Sven Herrmann Ravenna, 17, aus Berlin will statt auf Wellen lieber auf fremden Sofas surfen. Sven, 17, aus dem Schwabenländle schreibt für die Schülerzeitung „frisch Höhnig“.

Als ich am ersten Morgen im Schlafanzug in die Küche schlurfte, wusste ich gar nicht, wie ich mich verhalten sollte. Aber Luis fragte mich sofort: „Magst du etwas essen?“ Ich solle mir einfach nehmen, was ich bräuchte. Als sei Gastfreundschaft das Normalste der Welt. Aber bei uns Couchsurfern ist sie das auch.


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Foto: Evgeny Makarov

Als begeisterte Couchsurferin bereist Georgina die ganze Welt.


ÖKOTANTE VS. MARKTFETISCHIST Ist die Globalisierung nun ein Fluch oder ein Segen? Ein Turbokapitalist und eine Waldorfschülerin im rhetorischen Schlagabtausch. Von daniel braun und larissa holzki

Daniel: Die Globalisierung, Frau Holzki, die Globalisierung ermöglicht Ihnen und Ihren grünen Leidensgenossen nicht nur den morgendlichen Kaffee, sondern auch die abendliche Tafel Schokolade. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Larissa: Aber Herr Braun. Gegen Kakaound Kaffeebohnen aus fairem Handel ist doch gar nichts einzuwenden. Ich wette allerdings, dass Sie in ihrem Leben bereits hunderte von Ein-Euro-T-Shirts aus China bei kik gekauft haben und damit Kinderarbeit unterstützen. Da es Ihnen offensichtlich nicht möglich ist, über Ihren recycelbaren Papptellerrand hinaus zuschauen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass das Pro-Kopf-Einkommen in China in den letzten Jahren um bis zu 50 Prozent gestiegen ist – sogar die Kinder verdienen mehr als früher. Dafür waren, nicht zuletzt, auch meine T-Shirt-Käufe verantwortlich.

Gut, dass mich Ihre Engstirnigkeit nicht mehr schockieren kann, Herr Braun. Vielleicht haben Sie vergessen, dass die Kosten für ein lebenswertes Leben in China gleichzeitig um ein Vielfaches gestiegen sind. Es übersteigt augenscheinlich Ihren Horizont, dass sich Lebensqualität nicht am Pro-Kopf-Einkommen messen lässt. Im Gegensatz zu Ihnen, Mutter Theresa, interessiere ich mich nicht für ferne, abstrakte Probleme, sondern schaue auch vor die eigene Haustür, auf unsere Gesellschaft. Zum Beispiel die deutschen HIV-Infizierten. Nur weil die Pharmakonzerne auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, gibt es immer bessere Medikamente, die für immer mehr Lebensqualität sorgen. Die Probleme der dritten Welt sind Ihnen egal? Dass tausende Afrikaner sterben wie die Fliegen, weil die Medikamente durch das Monopol des Pharmakartells unbezahlbar werden, das erreicht ihr gefühlsloses Herz wohl kaum. Zu teure Medikamente? Sie sind also diejenige, die immer nur ans Geld denkt. Und die armen Menschen, die in einer Diktatur leben müssen, kümmern Sie offensichtlich nicht. Der armen Kubaner zum Beispiel, wurde lange durch das kommunistische Regime wurden daran gehindert, frei zu leben, zu handeln und ihre Meinung zu äußern. Doch die Globalisierung verändert sogar hier die Welt zum Besseren: Durch den Tourismus bekommt Kuba heute wenigstens ein kleines Stück vom Kuchen ab. Ich denke nur ans Geld? Sie Turbokapitalist liebäugeln doch mit neuen Absatzmärkten für Kuckucksuhren und Lederhosen.

Jetzt werden Sie aberwitzig, Herr Braun. Warum werden denn milliardenfach Bäume gefällt und Lebensraum von tausenden Tieren zerstört? Für ihren verdammten Weltmarkt. Die Zerstörung der Umwelt ist doch kein traditioneller Volkssport in Brasilien. Sie sind wohl auch gegen alles, was irgendwie von ihrem Öko-Hokuspokus abweicht. Sie Fortschrittsfeind! Wahrscheinlich sehen Sie im Internet auch nicht die revolutionäre Kraft, die die Menschen auf der gesamten Erde in ein globales Dorf ziehen lässt. Hören Sie doch auf zu träumen. Jugendliche vertrödeln ihre Zeit im Internet mit lustigen Videos und tauschen sich nicht über ukrainische Poeten aus. Wirkliche Kultur und Tradition gehen verloren, wenn die Jugendlichen sie nicht mehr im realen Leben zelebrieren. Im Internet werden sie amerikanisiert und vereinheitlicht. Gute Nacht, Kulturvielfalt.

Ach, was interessieren mich die paar Pesos der Kubaner. Ich habe eher ein Auge für die globalen Probleme, wie die Abholzung des Regenwaldes, die Sie, Frau Holzki, als bekennende Ökoterroristin, mit Sicherheit auch interessiert. Solche globalen Probleme können Ihre Wilden nämlich nicht alleine bewältigen, sondern nur eine starke internationale Gemeinschaft.

Fotos: Jonas Fischer

Larissa Holzki und Daniel Braun Larissa, 19, aus Ronnenberg weiß natürlich, dass Globalisierung auch Vorteile hat. Daniel, 17, ist Saarländer und schlägt nur in Artikeln zu.

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die nächste krise kommt bestimmt

krise hier, krise da – wir stehen am Rande eines medialen Overkills. keiner will mehr etwas von der Krise hören. Dabei ist jetzt die Zeit, die groSSen Krisen der zukunft zu verhindern. Von moritz borrmann und angela schuberth

Wasserkrise

finanzkrise

Erdölkrise

Schon 2030 werden die ersten Folgen der Wasserkrise in Deutschland spürbar: Wasser wird teuer werden, sodass wir weniger verbrauchen. Und wir müssen dort helfen, wo es um mehr als Geld geht. In Afrika, Asien und Südamerika konkurrieren die Menschen um die letzten Wasservorkommen. Der nächste Weltkrieg wird ein Wasserkrieg.

Kaum eine Krise ist so abstrakt und schwer zu fassen wie die Finanzkrise. Je komplexer der Handel auf dem Börsenparkett wird, desto schwieriger wird es in Zukunft werden, Wirtschaftskrisen und deren mögliche Folgen vorauszusagen. Darüber hinaus rechnen Krisenforscher damit, dass die Konjunkturzyklen in Zukunft kürzer werden. Alle drei Jahre Kurzarbeit könnte die Regel werden. Es kommen enorme Kosten auf die Gesellschaft zu. Im Laufe der letzten Finanzkrise lösten sich über 4.000.000.000.000 (4 Billionen) Dollar und hunderttausende Arbeitsplätze in Luft auf.

Noch 2004 erschien die Weltreserve des Erdöls riesig: 1.260.000.000 Barrel Öl. Aber wir werden wahrscheinlich noch erleben, wie der letzte Tropfen Erdöl gefördert wird. Schon 2020 könnte es soweit sein. Und das sagen nicht irgendwelche Hinterwäldler und Klimasekten, sondern die Internationale Energieagentur. Unsere Gesellschaft ist vom schwarzen Gold in hohem Maß abhängig: Erdöl steckt in Plastik, Erdöl steckt in Autos. Höchste Zeit, nach alternativen Energiequellen Ausschau zu halten. Eigentlich müsste jeder sofort aufs Fahrrad umsteigen.

Wahrnehmungskrise Auch wenn wir langsam genug von dem Thema gehört haben: Der Klimawandel kommt. Der Mensch ist schuld. Das müssen wir hier nicht mehr ausführen, wichtiger sind die Folgen, die die Experten errechnet haben: Die globale Durchschnittstemperatur steigt bis 2050 um ein Grad, der Meeresspiegel im nächsten Jahrhundert um etwa 60 Millimeter. Die Werte klingen nicht dramatisch, aber die Folgen sind ernst. 2050 wird es 200 Millionen Flüchtlinge geben, die ihre Heimat verlassen müssen, weil das Klima unerträglich wird.

Deutschland steht vor keiner fundamentalen Krise. Deswegen basteln wir uns unsere eigene. Man nehme die Busen-OP von, sagen wir, Verona Pooth, ein gehöriges Maß an Übertreibung („In diesem Alter!“) und rühre das Ganze in der Paniktrommel („Sie verdirbt die Jugend!“). Wir sind fixiert auf Katastrophen, die in Bild-Schlagzeilen passen. Die echten Probleme fallen hinten runter. Wer spricht schon über Deutschlands Straßenkinder oder alltägliche häusliche Gewalt? Stattdessen wird gerne auf hohem Niveau gejammert: „Die Benzinpreise! Die steigenden Wasserpreise!“ Menschen in anderen Ländern wären froh, wenn sie überhaupt noch Wasser hätten (siehe Wasserkrise, Erdölkrise, Klimakrise).

Foto: flickr.com/ Vitó, flickr.com/ jaxxon, flickr.com/tsuda, flickr.com/Antonio Martínez, flickr.com/Oblivious Dude

Klimakrise

Moritz Borrmann und Angela Schuberth Moritz, 19, hält nur noch die Schülerzeitung „Lucifer“ in der Schule. Angela, 17, schreibt für die Nürnberger Nachrichten sowie ihre Schülerzeitung.

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fr i s c h , f r u c h t i g , s e lb s t g e p r e s s t - mitmachen@politikorange.de

IMPRESSUM Diese Ausgabe von politikorange entstand in der Zeit vom 14. bis 20. März 2010 beim Jugendmedienworkshop im Deutschen Bundestag. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge spiegeln nicht zwingend die Meinung der Redaktion oder der Veranstalter wider. Herausgeber: Jugendpresse Deutschland e.V.

Als Veranstaltungszeitung, Magazin, Onlinedienst und Radioprogramm erreicht das Mediennetzwerk politikorange seine jungen Hörer und Leser. Krieg, Fortschritt, Kongresse, Partei- und Jugendmedientage – politikorange berichtet jung und frech zu Schwerpunkten und Veranstaltungen. Junge Autoren zeigen die große und die kleine Politik aus einer frischen, fruchtigen, anderen Perspektive.

Warum eigentlich politikorange?

politikorange – Das Multimedium

Wer macht politikorange?

politikorange wurde 2002 als Veranstaltungsmagazin ins Leben gerufen. Seit den Politiktagen gehören Kongresse, Festivals und Jugendmedienevents zum Print und OnlineProgramm. 2004 erschienen die ersten Themenmagazine: staeffi* und ortschritt*. Während der Jugendmedientage 2005 in Hamburg wurden erstmals Infos rund um die Veranstaltung live im Radio ausgestrahlt und eine 60-minütige Sendung produziert.

Junge Journalisten – sie recherchieren, berichten und kommentieren. Wer neugierig und engagiert in Richtung Journalismus gehen will, dem stehen hier alle Türen offen. Genauso willkommen sind begeisterte Knipser und kreative Köpfe fürs Layout. Den Rahmen für Organisation und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Ständig wechselnde Redaktionsteams sorgen dafür, dass politikorange immer frisch und fruchtig bleibt. Viele erfahrene Jungjournalisten der Jugendpresse stehen mit Rat und Tat zur Seite.

Wie komm’ ich da ran?

Foto: Deutscher Bundestag

Gedruckte Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen, über die Landesverbände der Jugendpresse Deutschland und als Beilagen in Tageszeitungen verteilt. Radiosendungen strahlen wir mit wechselnden Sendepartnern aus. Auf www.politikorange.de berichten wir live von Kongressen und Großveranstaltungen. Dort stehen bereits über 50 politikorange-Ausgaben und unsere Radiosendungen im Archiv zum Download bereit.

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In einer Gesellschaft, in der oft über das fehlende Engagement von Jugendlichen diskutiert wird, begeistern wir für eigenständiges Denken und Handeln. politikorange informiert über das Engagement anderer und motiviert zur Eigeninitiative. Und politikorange selbst ist Engagement – denn politikorange ist frisch, fruchtig und selbstgepresst.

Wer heiß aufs schreiben, fotografieren, mitschneiden ist, findet Infos zum Mitmachen und zu aktuellen Veranstaltungen unter www. politikorange.de oder schreibt einfach an mitmachen@politikorange.de. Die frischesten Mitmachmöglichkeiten landen dann direkt in Deinem Postfach.

Redaktion: politikorange – Netzwerk Demokratie offensive, c/o Jugendpresse Deutschland e.V., Wöhlertstraße 18, 10115 Berlin, www.jugendpresse. de Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Mandy Buschina (m.buschina@jugendpresse.de), Patrick Kremers (patrick.kremers@gmail.com) Redaktionsleitung: Bastian Brinkmann, Laura Daub, Esther Göbel Redaktion: Charlotte Adler, Katharina Bata, Marc Becker, Sara Jasmin Bhatti, Moritz Borrmann, Daniel Braun, Lisa Brüßler, Lena Maria Dahms, Dennis Draber, Maleen Dreschmann, Miriam Gräf, Philipp Gärtner, Fritz Habekuß, Sven Herrmann, Julia Herzke, Larissa Holzki, Ekaterina Karabasheva, Tim Kasper, Victoria Knauf, Martina Kollroß, Katherine Kügler, Judith Ley, David Lucas, Andrea Lösel, Anna Munkler, Claudia Neuhoff, Britta Olkiewicz, Jonas Rosenbrück, Tim Schluchter, Nico Schmolke, Jenny Schneider, Sarah Schneidermann, Konrad Schröpfer, Angela Schuberth, Hannah Schweitzer, Alexander Seedorf, Ravenna Sohst, Kristin Ullrich, Leon Wierer, Thembi Wolfram Bildredaktion: Evgeny Makarov, Jonas Fischer Layout: Mandy Jochmann (mandy@jmmv.de) Koordination: Christoph Herms (c.herms@jugendpresse.de), Jonas Fischer (j.fischer@jugendpresse.de) Druck: Märkische Verlags- und Druck-Gesellschaft Auflage: 12.000 Exemplare Ein besonderer Dank an: Reinhild Schornack und Claudia Zieger vom Deutschen Bundestag, Lothar Kopp, Bundeszentrale für politische Bildung, das Team der Jugendpresse Deutschland.


GOETHE auf tour

das goetheinstitut ist da, um deutsche kultur im ausland bekannt zu machen. vor allem durch musik. Von britta olkiewicz und hannah schweitzer

Eigentlich hätte Thomas Hessler, Sänger der Hamburger Band „Fotos“, an jenem Abend auf der Bühne stehen sollen. Aber es kam anders. Irgendwas am Essen in Usbekistan bekam ihm nicht: krasser Durchfall. Statt auf der Bühne verbrachte Hessler den Abend mit einem Tropf im Krankenhaus. Die Berührung mit fremden Kulturen ist eben manchmal kompliziert. Das gilt auch für Musiker.

Britta Olkiewicz und Hannah Schweitzer Britta, 19, kommt aus Bad Homburg und macht selbst gerne Musik. Hannah, 19, aus Bad Homburg wohnt in einem Schloss, ist aber keine Prinzessin.

Die „Fotos“ sind eine von vielen deutschen Bands, die vom Goethe-Institut um die Welt geschickt werden. Sie reisen ins Ausland, um dort ihre Musik zu präsentieren und andere Musiker kennen zu lernen. „Es geht um die Vermittlung eines aktuellen Deutschlandbilds im Ausland“, sagt Jörg Süßenbach, der den Bandaustausch fürs Goethe-Institut koordiniert.

seiner Band geben können. „Das war für uns eine ganz tolle Erfahrung, vor usbekischem Publikum zu spielen“, sagt Deniz, der Gittarist der „Fotos“. „Die Leute haben zwar kein Wort verstanden, aber trotzdem hatten sie Spass“. Einige kamen mit angemalten Gesichtern, viele waren zum ersten Mal auf einem Rockkonzert.

Schon seit mehr als 20 Jahren arbeitet das Institut mit Künstlern verschiedener Musikgenres zusammen. Sie geben im Ausland Konzerte, schreiben Songs und lesen ihre Texte. „So wollen wir die Freundschaft zu unseren Partnerländern vertiefen und einen kulturellen Austausch anstoßen“, erklärt Süßenbach. Im Unterschied zu kommerziellen Konzert-Touren sind die Veranstaltungen des Goethe-Instituts alle kostenlos.

Als das Goethe-Institut bei den „Fotos“ nachfragte, hat die Gruppe sofort zugesagt. Die Konzert-Touren mit dem Goethe-Institut kannten sie bis dahin nur aus Erzählungen befreundeter Musiker – und die waren durchweg begeistert.

Ähnlich erging es auch „Begbie“ aus Magdeburg. Sie wurden im Jahr 2008 vom Goethe-Institut nach Rumänien eingeladen. „Für uns war es eine Ehre, dass das Institut Thomas Hessler hat das Krankenhaus mit uns zusammenarbeiten wollte“, sagen die bald verlassen und doch noch ein Konzert mit jungen Musiker.

Die Bekanntheit einer Band sei bei der Auswahl der Musiker, die ins Ausland geschickt werden, eher zweitrangig, erklärt Süßenbach. „Im Popbereich interessieren uns vor allem Bands, die versuchen, eine eigene Position zu haben.“ Das Alter spiele dabei zwar eine Rolle, aber entscheidend sei „vor allem Persönlichkeit, Qualität, Kreativität und Eigenständigkeit der Band.“ Nachdenklich erzählt Christoph Schönefeldt von der Dankbarkeit der rumänischen Konzertbesucher, die er beobachtet hat. „Bei denen gibt es kaum Konzerte, schon gar nicht von ausländischen Bands“, sagt er. Aber auch er ist dankbar für die Erfahrungen, die er in Rumänien gesammelt hat. „Wir haben bei dieser Reise schließlich eine ganze Menge gelernt“, sagt er.

die perfekte welle

Die Deutsche Welle hat von der Globalisierung profitiert – aus denselben Gründen muss sie nun die Krise fürchten. Ein Tag in der Redaktion. Von Marc Becker Als die Agenturmeldung kommt, bricht Unruhe in der Redaktion aus: „Guttenberg will angeblich schon in diesem Jahr den Wehrdienst verkürzen.“ Wo andere nicht lange überlegen, ob das eine Topmeldung der nächsten Sendung sein wird, muss die Redaktion im Hauptstadtstudio der Deutschen Welle (DW) zunächst klären, ob sie überhaupt interessant ist. Die Zuschauer von DW-TV sind nämlich auf der ganzen Welt verteilt: Schätzungsweise zehn Millionen Menschen schauen täglich ein Programm, das auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Arabisch ausgestrahlt wird. Jens Thurau aus der Parlamentsredaktion bezweifelt, dass die Wehrdienst-Debatte im Ausland von Interesse ist. Aber die Redaktionsleitung sieht das anders. Solche Diskussionen sind bei der Deutschen Welle an der Tagesordnung. „Es ist grundsätzlich ein Problem, dass wir unsere Zuschauer nicht persönlich kennenlernen“, sagt Thurau. 1949 wurde die Deutsche Welle als Radiosender für im Ausland lebende Deutsche gegründet, seit mittlerweile 20 Jahren produziert der Sender auch ein TV-Programm. Im Zuge der Globalisierung gehören

heute nicht mehr nur Exilanten zur Zielgruppe, sondern auch Ausländer, die sich beruflich mit Deutschland beschäftigen oder Deutsch lernen wollen. Die Deutsche Welle wird staatlich finanziert, 270 Millionen Euro im Jahr stehen ihr zur Verfügung, der Etat wird vom Bundestag abgesegnet. Klar, dass in finanziell schwierigen Zeiten auch kritische Stimmen laut werden, die der Deutschen Welle gerne den Geldhahn abdrehen möchten. Ihr Argument: Schließlich können auch die anderen öffentlich-rechtlichen Sender heutzutage problemlos weltweit empfangen werden. Die Deutsche Welle weist die Kritik aber zurück, denn sie sieht ihre Aufgabe ganz anders: „Wir haben die besondere Aufgabe, Demokratie und Menschlichkeit in die Welt zu tragen“. Außerdem könne nur die Deutsche Welle die deutschen Nachrichten so aufbereiten, dass sie für das Ausland interessant sind. Bei dieser Zielgruppe könne der Redakteur das politische Hintergrundwissen nämlich nicht voraussetzen. DW-TV verzichtet deswegen auf tagespolitisches Gezänk und berichtet stattdessen ausführlich über die Hintergründe.

Thurau war lange Radiojournalist, jetzt ist er mit Leib und Seele Fernsehmacher. „Die Bilder bleiben im Kopf“, sagt er. Deswegen schickt er ein Kamerateam raus, das Guttenberg filmen soll. Glück für sie: Sie filmen den Verteidigungsminister, wie er etwas durchstreicht. So kann Thurau passend texten, dass der Minister beim Wehrdienst drei Monate streichen möchte – Text und Bild passen wie bestellt. Guter Fernsehjournalismus, sagt später sein Chef.

Marc Becker, Marc, 18, macht nächstes Jahr Abitur in Kassel und schreibt für seine Schülerzeitung.

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Foto: Nilz Boehme

Nicht nur auf Reisen: BEgBie aus Magedburg.


Der Stoff, aus dem Alpträume sind

Wenn eine Jeans im Laden hängt, hat sie eine Weltreise hinter sich. Eine Reise mit Kinderarbeit, Sweatshops und LuNgenkrebs. Von martina Kollroß und tim kasper

das feld Im September haben Kinder in Usbekistan zwar schulfrei, trotzdem müssen sie hart schuften. Sie ernten Baumwolle, den Grundstoff für jede Jeans. Offiziell hat keine Kinderhand die Baumwolle berührt, denn vor zwei Jahren hat die usbekische Regierung eine Vereinbarung gegen Kinderarbeit unterzeichnet. Trotzdem werden immer wieder Kinder auf die Felder geschickt, sagen Insider. Deutsche Unternehmen boykottieren deshalb die Baumwolle aus Usbekistan. Sie beziehen ihre Baumwolle lieber aus Pakistan oder Indien. Doch auch in diesen Ländern gibt es keine Garantie, dass die Baumwolle nicht von Kindern gepflückt wird.

der webstuhl Die gesäuberte Baumwolle kommt in einer Fabrik an: 8000 Arbeiter schwitzen in einem Raum ohne Fenster, ein paar Ventilatoren drehen sich über ihren Köpfen. Obwohl die Arbeiter nur Maschinen bedienen, sind sie gefährdet. Denn sie arbeiten ohne Mundschutz und atmen krebserregende Stoffe ein. Der „Weberhusten“ ist in Asien weit verbreitet. In ihren Webstühlen entsteht der Rohstoff für die späteren Jeans. Der muss aber noch indigoblau werden – mit Chemikalien, die in Deutschland kaum erlaubt wären.

der basar Klaus Schneider ist Einkäufer für einen Textilkonzern. Seine Aufgabe: Einen geeigneten Stoff für eine Jeans finden. Dazu gehört auch, dass er sich die Arbeitsbedingungen in den Firmen anschaut, bei denen er kauft. Seine Firma vergibt zum Beispiel keine Aufträge an Unternehmen, die Kinder arbeiten lassen. Wenn der Preis stimmt, kauft Schneider die tonnenschweren Denim-Rollen ein. Damit daraus eine Hose werden kann, werden sie in andere Länder transportiert, etwa in die Türkei, nach China oder Kambodscha.

die naht Die Jeans nimmt langsam Gestalt an. Arbeiter rollen den Stoff auf 50 Meter langen Tischen aus und schneiden mit einem elektrischen Messer die Jeans-Form aus. Mit einem Jahreslohn von umgerechnet 400 Euro kosten sie nicht mal ein Tausendstel einer Maschine, die die gleiche Arbeit machen könnte. Martina Kollroß und Tim Kasper

Foto: Jonas Fischer

Martina, 19, glaubt „made in“Etiketten jetzt nicht mehr. Tim Kasper, 17, ist Schüler und hat zum ersten Mal einen journalistischen Beitrag geschrieben.

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Per Hand werden die Teile zur Hose zusammengenäht. Anschließend verleihen ihr die Arbeiter mit Bürsten, Sandstrahlern oder Chemikalien die Waschung. Lungenkrebs ist die häufigste Todesursache dieser Arbeiter. Schließlich werden die fertigen Jeans gebügelt und verpackt.

der container Der Kran hievt einen Container vom Schiff. Mehr als 42 Millionen Tonnen Fracht aus Asien ist allein im Jahr 2009 in Hamburg angekommen. Ein großer Teil davon ist Kleidung. Die verkaufsfertige Jeans ist auch darunter. Bevor sie verkauft wird, landet sie zusammen mit Tausenden anderen Jeans in einem Lager. Von dort aus werden die Hosen in Läden innerhalb Europas verteilt. 29,90 Euro kostet die Jeans im Geschäft. 29,90 für eine Reise um die ganze Welt.


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