BEZIEHUNGSKRISE APRIL 2013
UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM WORKSHOP „EUROPA IN BERLIN“ VOM 04. BIS 07. APRIL 2013
Foto, Titelfoto: Nick Jaussi & Paul Wagner
\\ 2
EUROPAS GRENZENLOSE IDENTITÄT
FÜR DIE NEUE EUROPÄISCHE GENERATION VERSCHWINDEN GRENZEN IMMER MEHR. AUCH GESELLSCHAFTLICH WIRD DAMIT DER GRUNDSTEIN FÜR EIN GESAMTEUROPÄISCHES BEWUSSTSEIN GELEGT. VON SOPHIA ALT
EDI TOR I A L Liebe Leserinnen und Leser, neben der Euro-Krise leistet sich Europa eine Beziehungskrise. Genau das wollen wir mit den ersten Seiten verdeutlichen: Es kracht in der Kiste. Die Stimmung ist angespannt. Innige Liebe? Leider Fehlanzeige. Ob die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien oder die Zahlungsunfähigkeit Zyperns: Europa ist wenig attraktiv, besonders dem Staatenbund fehlt es an Visionen, an Mut und Entschlusskraft. An vier Tagen luden 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Europa zur Paartheraphie. Sie untersuchten die gemeinsame Vergangenheit sowie aktuelle Streitthemen und fahndeten nach Lösungen, wie Europa wieder „sexy“ werden könnte. Ein Universalrezept scheint gefunden: Unterschiedliche Interessenlagen müssen harmonisiert werden. Durch ein neues Bewusstsein kann eine gemeinsame Begeisterung für Europa entfacht werden. Fakt ist: Krisen gehören zu einer Partnerschaft dazu, ja sie sind völlig normal – und manchmal sogar wichtig. Eine Krise bedeutet noch lange nicht das Ende.
Viel Spaß mit der politikorange wünschen Anne Juliane Wirth Johanna Kleibl
AN DER BERLINER MAUER: FRÜHER ENDETE HIER DIE REISELUST, HEUTE IST SIE EIN BUNTES ZIEL JENER.
A
EUROPÄISCHES BEWUSSTSEIN STÄRKEN
uf Reisen sind alle gleich.“ Zu dieser Erkenntnis ist Katharina Borngässer während einer ihrer vielen Aufenthalte im Ausland gekommen. Die Ihre Liebe zum Reisen hat Katharina junge Frau trägt runde Brillengläser und aktiv in ihr Studium eingebunden. hat ihr blondes Haar zu einem Zopf zu- Der Master in European Politics ist sammengebunden, sie wirkt jünger als ein internationaler Studiengang, der 25. Bei einem Schüleraustausch in Ka- Auslandsaufenthalte vorsieht. Mögnada entdeckte sie das Reisen für sich. lich ist so ein Studiengang erst durch „Man nimmt aus jedem Land etwas mit, die vielfach kritisierte Bologna-Reverinnerlicht etwas. Kleinigkeiten, wie form geworden. „Viele Dinge in undas Grüßen des Busfahrers aus England serem Alltag haben wir Brüssel zu oder den Genuss am Essen aus Italien. verdanken und wissen es nicht. DinDaraus setzt sich meine europäische ge, die für junge Menschen einfach Identität zusammen.“ Seit diesem er- selbstverständlich sind, wie Frieden sten Austausch hat Katharina bereits und Toleranz – aber auch ein Ausin sechs verschiedenen Ländern gelebt. landssemester. Durch europapoliSie kann sich auch vorstellen, später tische Bildung in Schulen sollte man nicht nur in Deutschland, sondern in das Bewusstsein für die Wichtigkeit ganz Europa zu arbeiten – vereinheit- der EU stärken.“ lichten Abschlüsse und gelockerten Brita Müller hat dieses BewusstAufenthaltsbestimmungen sei Dank. sein: „Wir haben die längste FrieAuch Brita Müller wollte raus in densperiode unserer Zeit, Nahrung die Welt, reisen, Stewardess werden. im Überfluss, den Leuten geht es gut Doch die Träume der damals 20-Jäh- – das ist eine sehr große Errungenrigen stießen auf eine unüberwindbare schaft“, stellt sie fest. Ihre Enkelin Grenze: der Eiserne Vorhang. „Ich habe geht in ihrem Studium mit dem ERASdie Dimension, mit der die Mauer auf MUS-Programm nach Frankreich. unser Leben einwirkt, erst mal gar nicht „Für euch junge Menschen ist Europa erfassen können“, erzählt die heute gut, der Umgang mit verschiedenen 71-Jährige. „Erst als wir auf einmal un- Menschen formt den Charakter, baut sere Verwandten im Westen nicht mehr Vorurteile ab. Ich wäre sicherlich anbesuchen durften, wurde mir klar, dass ders geworden, hätte ich damals eure jetzt etwas anders ist.“ Möglichkeiten gehabt.“
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
EUROPA, DEINE MÖGLICHKEITEN Für ihre Vision von einem gemeinsamen Europa sitzt Katharina im Bundesvorstand der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), die sich für ein demokratisches und transparentes Europa einsetzen. „Europa ist ein einzigartiges, großes Projekt, das zeigt, was alles möglich ist – junge Menschen, die solidarisch miteinander umgehen, sich mit fremden Kulturen und Sprachen auseinandersetzen und weltweit vernetzt sind.“ Selbstverständlich kann es auch mal kompliziert werden, wenn 27 Staaten versuchen, ihre Meinung in Einklang zu bringen. „Trotzdem sollte man versuchen, an einem Strang zu ziehen und die eigenen, nationalen Interessen für das große Ganze in den Hintergrund stellen.“
Sophia Alt 18, Schotten
I NHA LT
»Reguliert« Blick ins Supermarktregal: Wie viel Europa steckt im Joghurt und in der Zigarettenwerbung? Seite 05
»Gespalten« Die AfD will den EuroAustritt. Protestpartei oder tragfähiger Gegenentwurf? Seite 08
»Zwielichtig« Ein Blick ins Strichermilieu: die Schattenseite der europäsichen Freizügigkeit. Seite 19
»Solidarisch« Europa diskutiert über Rettungsgelder für Griechenland. Doch was kommt bei den Menschen an? Seite 22
... hat gelernt, dass auf Reisen alle gleich sind.
3 //
M EIN UN G
WIR EUROPÄER
IM JAHR 1973 SPRACHEN DIE MITGLIEDSLÄNDER DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT ERSTMALS VON DER „EUROPÄISCHEN IDENTITÄT“. FÜHLEN WIR UNS HEUTZUTAGE EUROPÄISCH? ANNA JULIA SCHMIDT SUCHT ANTWORTEN.
KRITISCHER BLICK: SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND – WER FÜHLT SICH EUROPÄISCH IN DIESEM LAND?
J
ährlich wird in Deutschland am 3. Oktober der Geschichte gedacht, es wird der Einheit gemahnt und gefeiert. Etwas früher im Kalender, am 9. Mai, bleibt es ruhig. Niemand steht mit einem Sektglas auf der Straße, geht auf Kundgebungen und feiert sich, feiert Europa, feiert Frieden, Vielfalt und Freiheit. Nur die wenigsten Bürger kennen dieses besondere Datum – das des Europatages. Das ist natürlich wenig verwunderlich. Denn Europa hat ein „Marketingproblem“, wie es erst kürzlich Martin Schulz (SPD, Präsident des Europäischen Parlaments, in einem Interview nannte. Die Slogans „Ich bin ein Berliner“ oder „Du bist Deutschland“ prangen fett auf Werbeplakaten. Doch was macht eigentlich einen Europäer aus? Und wie fühlt sich das an?
DER DURCHSCHNITT Der typische Europäer ist 1,76 Meter groß, arbeitet 33 Stunden in der Woche, verdient 2.100 Euro im Monat und ist leicht übergewichtig, wie das Eurobarometer zeigt. Du erfüllst diese Merkmale? Dann herzlichen Glückwunsch zum Durchschnitt. Für die bulgarische Studentin Zlatina ist ein Europäer, jemand der „gern reist und seine Freiheit genießt“. Dem stimmt Nikoletta, angehende Anwältin aus Ungarn, zu. Ein Europäer sei nicht von der geografischen Lage seines Wohnortes abhängig: „Selbst wenn er weit entfernt lebt, aber den euro-
\\ 4
päischen Gewohnheiten folgt und die europäische Kultur pflegt, ist er immer noch ein Europäer“, ergänzt sie. Der dänischen Austauschschülerin Mille wird ihre europäische Identität immer wieder auf Auslandsreisen bewusst: „Ob als Deutsche oder Dänin: Sobald wir in die USA reisen, sind wir für die Amerikaner „die Europäer“. Bewohner anderer Kontinente nehmen uns stärker als Europäer wahr.“
ZUFRIEDENHEIT IM SINKFLUG Wesentlich komplizierter wird es, wenn man das Identifikationsgefühl in Worte fassen will. Eine allgemeine Definition könnte lauten, dass die Identität einer Gruppe die Summe der Merkmale ist, die sie von anderen unterscheidet. Grundlegend für eine europäische Identität ist ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa. Gegenwärtig steht für die Bürger Europas mehrheitlich ihre nationale, zum Teil auch ihre regionale, Identität im Vordergrund. So auch bei den Interviewten: Weder Nikoletta, noch Mille oder Zlatina fühlen sich als Europäer – denn dafür seien „die europäischen Länder zu unterschiedlich und handeln zu national.“ Dieser Kritikpunkt spiegelt sich auch bei der Zufriedenheit mit der Europäischen Union, einem Zusammenschluss aus immerhin 27 Staaten, wieder. So waren laut Eurobarometer in den 90er Jahren noch 70 Prozent aller Befragten mit Euro-
pa zufrieden. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen vieler Menschen darin, dass die Europapolitiker die Kirse noch lösen können.
ZU VIELE NAMEN OHNE GESICHT Die Gründe für das fehlende europäische Identifikationsgefühl sind nicht neu: ökonomische Profitgier, fehlende Kontrolle und hoch verschuldete Haushalte führen zu katastrophalen wirtschaft lichen Folgen. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen in die Europapolitiker immer mehr, die Krise zu lösen. Kaum einer kann mehr als drei Europa-Parlamentarier aufzählen. Die mediale Berichterstattung beschränkt sich meist plakativ auf Panikmeldungen. Der Euro droht zu scheitern. Die Politik scheint ratlos, ja überfordert. Zudem sind die nationalen Regierungen zu sehr darum bemüht, die eigene Verantwortung auf das „Ungeheuer Europa“ abzuwälzen. Hinzu kommen die ethnischen und kulturellen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern. Es fehlen identitätsstiftende Ressourcen. So existiert keine gemeinsame Sprache, die alle europäischen Bürger eint. Gleichzeitig befürchten 41 Prozent der Unionsbürger einen Verlust an nationaler Identität und Kultur im Zuge der Europäischen Integration, so die Zahlen des Eurobarometers.
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
EUROPA IST ÜBERALL Spanische Trauben, Auslandssemester und kulturelle Vielfalt: Europa ist hier, ist greifbar, begegnet uns alltäglich. Vielleicht ist Europa aber schon zu selbstverständlich, sodass wir die vielen Möglichkeiten gar nicht mehr wertschätzen können. Ein Umdenken kann aber nur erreicht werden, wenn die Medien auch die positiven Aspekte Europas aufzeigen. Aufklärung ist ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt auf den Weg zu einem „Wirsind-Europa-Gefühl“. Notwendig ist auch, dass die Demokratie Europas gestärkt wird. Bürger sollten über wichtige Entscheidungen abstimmen können. Und ganz wichtig: Europa braucht mehr Toleranz, denn Identität ist vielseitig. Sie lässt sich kaum auf einen Begriff reduzieren – so sind wir eben Hobby-Fußballspieler, Väter, Mütter, Künstler, Kinder, Briefmarkensammler, Partner, Deutsche, Berliner – und eben auch Europäer.
Anna Julia Schmidt 19, Nidda ... weiß nun, dass Europa ein Marketingproblem hat.
SUPERMARKT EUROPA
GEKRÜMMTE GURKEN UND ZIGARETTENWERBUNG: REGULIERT DIE EU WIRKLICH BIS AUF DEN KÜCHENTISCH? JOHANNES KELLER IST DER FRAGE NACHGEGANGEN UND HAT SICH IN EINEM BERLINER SUPERMARKT UMGESEHEN.
D
ie gläserne Eingangstür öffnet sich quietschend. Im Inneren des Supermarkts wirbt ein Pappaufsteller für Bier. Darauf abgebildet: Eine tätowierte Frau, die übertrieben lächelt. Daneben sind Cola-Flaschen zum Aktionspreis aufgetürmt. Hinter einer Wand aus knallbunten Smoothies befindet sich die Obst- und Gemüseauslage. Tomaten aus Italien, Brokkoli aus Spanien, Kiwis aus Griechenland und Blumenkohl aus Frankreich: Mir fällt auf, dass die meisten Früchte, Salate und
der Europäischen Gemeinschaft (EG) beispielsweise über die maximale Bleimenge, der im Joghurt enthalten sein darf. Er ist bei einem Gramm pro Kilogramm angesetzt. Auch ein Vervot von Metallpartikeln und Insektenteilen in Joghurts und anderen Lebensmitteln schreibt die Verordnung vor.
BEHÖRDE WARNT BEI LEBENS MITTELSKANDALEN
berühmten Gurken-Verordnung. „Dass die EU nur Gesetze zur Krümmung von Gurken verabschiedet hat, ist falsch“, weiß Julian Plottka, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik in Berlin. So hätten schon vorher in 15 EU-Staaten unterschiedliche Gesetze zur Gurkenkrümmung existiert, die dann in einer einheitlichen Verordnung zusammengefasst wurden. Denn fest steht: Gerade Gurken lassen sich leichter transportieren. Die Verordnung zur
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
KONTINENT IM KÜHLREGAL: UNSER WOCHENEINKAUF SCHMECKT EUROPÄISCH.
Nüsse nicht aus Deutschland kommen. Was hier in grünen Plastikkörben liegt und gelegentlich auf Druckstellen geprüft wird, hat trotz allem eine gemeinsame Herkunft: Europa. Das mag abstrakt und weit weg klingen, jedoch gehört Europa genauso zu unserem Alltag, wie die Auswahl zwischen Äpfeln, Zucchini und Physalis.
VIEL EUROPA IM JOGHURT Ich steuere die Kühltheke an und nehme einen Joghurt heraus. Neben Milch, Zucker, Aromastoffen und wenigen Erdbeeren enthält dieser kleine Becher viel Europa: Die Erdbeeren kommen aus Polen, die Rohbakterien aus Schleswig-Holstein und die Grundstoffe für die Verpackung stammen aus Österreich sowie Deutschland. Bis so ein simpler Fruchtjoghurt im Supermarkt-Regal landet, fahren Lastwagen durch zahlreiche europäische Länder, mitunter mehr als neuntausend Kilometer weit. Zudem bestimmen Verordnungen
den von der Europäischen Union geregelt, da diese in mehreren Ländern publiziert wird und damit unter das gesamteuropäische Interesse fällt. Das Rauchverbot in Deutschland wird dagegen national bestimmt. Der Verkäuferin ist das ziemlich egal, sie zieht die Kippenschachtel lieblos über das Band. Piep. „Macht vier Euro 90“, murmelt sie. Sie verdient etwa acht Euro die Stunde – das liegt knapp über dem tariflichem Mindestlohn; diesen legen wiederum die deutschen Tarifparteien fest.
Die Europäische Union stützt sich bei all ihren Entscheidungen zum Thema Lebensmittel auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) leistet Beratungsdienste bei der Formulierung von Rechtsvorschriften oder dann, wenn sich Entscheidungsträger mit einer Bedrohung der Nahrungsmittelsicherheit konfrontiert sehen. Ihr Schnellwarnsystem schützt Verbraucher vor Lebensmittelvergiftungen. Mit Hilfe des Systems lässt sich ebenfalls feststellen, ob Produkte verbotene Substanzen oder grenzwertüberschreitende Mengen gefährlicher Stoffe enthalten. Wird eine Bedrohung erkannt, wird in der gesamten Europäischen Union davor gewarnt.
Krümmung von Gurken ist dennoch wieder abgeschafft worden; Deutschland war damals einer der größten Gegensprecher dieser Verordnung. „Die Europäische Union hat Kompetenzen in fast allen Bereichen, in denen die Einzelstaaten diese abgeben“, erklärt Julian Plottka. In Bezug auf Kultur- und Sozialpolitik, Bildung und Sport in den Einzelstaaten hat die EU kein Mitspracherecht. Alleinige Zuständigkeit besitzt sie dagegen im Bereich von Handelspolitik, Zoll und Wettbewerb. Manchmal muss sich die EU auch die Zuständigkeit mit den Einzelstaaten teilen – das gilt beispielsweise für Binnenmarkt, Mindeststandards und Gesundheit.
VON GURKEN UND ZUSTÄNDIGKEITEN
VON ZIGARETTENWERBUNG UND MINDESTLOHN
Die Öffentlichkeit ist wenig über die EULebensmittelpolitik informiert, oftmals kursiert Halbwissen – so auch bei der
Wohl wenig gesund lebt der ältere Herr, der gerade nach Zigaretten verlangt. Die Richtlinien für Zigarettenwerbung wer-
Nun fährt auch der Erdbeerjoghurt auf dem Band zur Kassiererin. Lächerliche 34 Cent kostet der Becher Europa. Ich krame nach den passenden Münzen und bezahle. Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an Rentnern in beige-grauer Kleidung vorbei. Sie sitzen im Neonlicht an Tischchen in Granit-Optik, kauen Bratwurst und schweigen. Ob die wohl wissen, wie nah Europa auch in diesem Moment für sie ist?
Johannes Keller 20, Berlin ... iast überzeugt, dass in seinem Joghurt ziemlich viel Europapolitik steckt.
5 //
FREUNDSCHAFT MIT STRATEGIE
DIE RUSSISCHE FÖDERATION UND DIE EUROPÄISCHE UNION TEILEN SICH KONTINENT UND INTERESSEN. EIN ÜBER- UND AUSBLICK DIESER BESONDEREN BEZIEHUNG VON LEONARD KEHNSCHERPER
WIE VIEL NÄHE IST VERTRETBAR? AN DER MENSCHENRECHTSSITUATION IN RUSSLAND HAT MANCHER EUROPÄER ZU KNABBERN.
D
ie Bankenkrise in Zypern hat das „EIN DÜRFTIG GEREGELTER Verhältnis zwischen Russland und ZUSTAND“ der Europäischen Union (EU) einmal mehr verdeutlicht. Russland reagierte mit Das Partnerschafts- und Kooperationseiner Außenpolitik, die sich letztlich nicht abkommen (PKA) gilt als erste und zenfür die Rettungsmilliarden entscheiden trale vertragliche Regelung zwischen konnte. Dagegen wurde auf europäischer den Staaten. Das Abkommen zum poSeite selten so offen kommuniziert, dass litischen Dialog trat 1997 in Kraft, nach man nicht für „russisches Fluchtkapital“ zehn Jahren sollte es eigentlich auslauzahlen wolle. Kurzum: Die Gemüter sind fen. Stattdessen wird das PKA alle zwölf erhitzt. Monate verlängert. Peter W. Schulze findet: „Das ist ein dürftig geregelter Zustand.“ Beide Vertragspartner würDIPLOMATIE STATT den sich von Jahr zu Jahr durchhangeln, HERZLICHKEIT denn keine der beiden Seiten hätte ein Die Situation zwischen der jungen EU Interesse das Verhältnis zu kappen. Zu und dem reformierten Russland ist noch groß seien gemeinsame Interessen, denie ausgereift gewesen. Seit dem Zusam- ren Formulierung in vier sogenannten menbruch der Sowjetunion 1990 und „Common Spaces“ beschlossen wurde. dem Maastrichter Vertrag von 1992 steDiese vier gemeinsamen Räume, hen sich nicht mehr West- und Ostblock die im Jahr 2008 zum ersten Mal verim Machtkampf gegenüber; vielmehr handelt wurden, betreffen Wirtschaft, geht es jetzt um das Verhältnis zwi- Freiheit, Sicherheit und Bildung. Drei schen der Europäischen Union und der der insgesamt vier Freiräume würden Russischen Föderation. Beide pflegen sich unproblematisch gestalten – das seit nunmehr zwanzig Jahren diploma- meint zumindest Schulze. Lediglich tische Beziehungen. Aufmerksame Beob der Freiheits-Raum stelle aus russischer achter dieser Entwicklungen sind der Sicht ein großes Problem dar. Der PoliPolitikprofessor Peter W. Schulze und tikprofessor verweist auf die lang verder SPD-Politiker Gernot Erler. In ihrem handelte Visa-Erleichterung, deren Ratigemeinsamen Buch zur „Europäisierung fizierung nun bevorsteht. Russlands“ fassen sie die komplexen Be„Aus Sicht der EU wird eine Zuziehungen zwischen der EU und Russ- sammenarbeit bei internationalen Kriland zusammen. sen immer bedeutender“, ergänzt Erler.
\\ 6
Dies geschehe vor allem, weil sich die EU stärker im Kontext globaler Herausforderungen einschalten würde. Die Konfliktsituation in Syrien sei – angesichts der engen Beziehungen zwischen Moskau und Damaskus – von größter Bedeutung.
DER BRÜCKENKOPF ZUR EU Fragen zu Menschenrechten und zur Rechtsstaatlichkeit belasten das europäisch-russische Verhältnis. Die problematischen Verhandlungen um das Folgeabkommen des PKA würden sich auch deshalb so schwierig gestalten, weil Russland die Strukturen, Institutionen und Gesetzgebungsverfahren der EU nicht wirklich annehme und verstünde. In einem Wahlwerbespot von 2012 hatte Präsident Putin die Europäische Union sogar als Negativbeispiel für Demokratie angeführt. Deshalb hätte Moskau oft bilaterale Beziehungen bevorzugt. „Deutschland ist Russlands Brückenkopf zur EU. Auf dieser Beziehung liegt eindeutig Russ lands Priorität.“ Die vormals guten Beziehungen unter der Regierung Schröder seien durch einen Kurswechsel Moskaus beendet worden. Seitdem sei die Föderation ein unberechenbarer, bedrohlicher Faktor für die Staatengemeinschaft geworden: „Und diese Eskalation spüren wir heute“, so die Autoren.
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
ANNÄHERUNG ERWÜNSCHT In dieser angespannten außenpolitischen Situation kann nur spekuliert werden, wohin sich die Russische Föderation zukünftig bewegen wird. Schulze stellt in Aussicht, dass sich Russland von seinen Rohstoffexporten unabhängig machen, eine eigene Technologie hochziehen und Nischenmärk te besetzen müsse und werde. Für diese industriellen Prozesse könnten die Zulieferer aus Deutschland und Frankreich oder aber aus China und Südkorea kommen. Perspektivisch seien auch die aufstrebenden Schwellenländer der BRICS-Staaten, zu denen Russ land gehört, eine Bündnisoption. Ebenso wie Putins Eurasische Union – inklusive aller Ex-Sowjetstaaten –, die schon 2015 realisiert werden soll. Die beiden Buchautoren hingegen hoffen auf eine Annäherung Russlands an die EU-Staatengemeinschaft. Peter W. Schulze warnt: „Spielt Europa nicht mit, spielt Russland woanders.“
Leonard Kehnscherper 19, Berlin ... weiß nun, was „Modernisierungspartnerschaft“ bedeutet.
M EIN UN G
EIN UNSCHLAGBARES TEAM
AUS FEINDEN WURDEN FREUNDE. 50 JAHRE NACH DEM ELYSÉE-VERTRAG SIND DEUTSCHLAND UND FRANKREICH HEUTE DIE TREIBENDEN KRÄFTE DER EUROPÄISCHEN UNION. EIN KOMMENTAR VON ANITA SCHEDLER
I
ch beglückwünsche Sie, junge Deutsche zu sein, das heißt, Kinder eines großen Volkes“, sagte der französische Präsident Charles de Gaulle in seiner berühmten „Ansprache an die deutsche Jugend“ im Jahr 1962. Sein Mut verdient Respekt, denn so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war solch eine Aussage keinesfalls selbstverständlich. Jahrhundertelang standen sich Frankreich und Deutschland als erbitterte Gegner gegenüber. Doch die Staatsoberhäupter Charles de Gaulle und Konrad Adenauer legten den Grundstein für eine Annäherung beider Länder nach dem Krieg. Am 22. Januar 1963 unterzeichneten sie den Élysée-Vertrag, der die Aussöhnung besiegelte. 2013 feiert die deutsch-französische Ehe ihre Goldene Hochzeit. Fünfzig gemeinsame Jahre sind vergangen – höchste Zeit für eine Bestandsaufnahme.
VON EINIGKEIT UND DIFFERENZEN
Radio France, ARTE, ARD und Deutschlandradio wollten im Jahr 2012 von deutschen und französischen Bürgern wissen, ob sie denn ihr jeweiliges Nachbarland auch schätzen. Mehr als 80 Prozent der Deutschen antworteten, dass sie Frank reich sehr oder sogar leidenschaftlich mögen. Auf der anderen Seite des Rheins waren es exakt 73 Prozent. Auch in der Politik hat sich einiges getan. So beherrschte das „Traumpaar Merkozy“ einige Zeit die politische Bühne. Mit der Wahl des Sozialisten François Hollandes zum Präsidenten scheint die Beziehung zum konservativ regierten Deutschland etwas abgekühlt. Was will die EU sein? Frankreich findet nun andere Antworten als Deutschland. Man duzt sich und hat doch herzlich viele Differenzen.
det: „Die Vergangenheit zeigt: Mitunter ist es für die Beziehung sogar besser, wenn Staatsoberhäupter aus verschiedenen politischen Lagern kommen.“ Als Beispiel nennt er François Mitterrand und Helmut Kohl. Gemeinsam gedachten der sozialistische Präsident und der konservative Bundeskanzler auf einem Soldatenfriedhof den Opfern des Ersten Weltkriegs. In einem sehr emotionalen Moment hielten sie minutenlang die Hände – das Bild ging in die Geschichte ein. Ein noch besseres Symbol für die deutsch-französische Aussöhnung kann es kaum geben.
rückblicken mit dem Gefühl, er hat in der Tiefe etwas gemacht, was gar nicht mehr auszulöschen ist.“ Sich die Hände reichen, sich austauschen, erinnern und die Jugend motivieren – das sind die Schlagworte für eine fruchtbare deutsch-französische Zukunft.
ZURÜCKBLICKEN UND JUGEND MOTIVIEREN
Anita Schedler 22, Augsburg
Historiker meinen, dass es noch einmal 50 Jahre bräuchte, um beide Länder wirklich von den Schatten der Vergangenheit EIN HANDSCHLAG BLEIBT zu befreien. Der politische Aktivist StéEuropa-Journalist Thomas Becker sieht phane Hessel brachte es in einem seiner die Ursache hierfür nicht in der unter- vergangenen Interviews auf den Punkt: schiedlichen Parteizugehörigkeit begrün- „Wir müssen auf den Élysée-Vertrag zu-
… hat erfahren, dass Personen, die wie Stéphane Hessel Widerstand leisten, ein gemeinsames Europa gestalten können.
FRUCHTFLEISCH Europa auf dem Teller: Was ist dein Lieblings-Europa-Menü?
ALS VORSPEISE KNUSPRIGE, SPANISCHE TAPAS, GEFOLGT VON LECKEREM FINNISCHEN HERING. ALS NACHTISCH NEHME ICH BELGISCHE WAFFELN.
THOMAS G. BECKER, 38 JAHRE AUS ESSEN, DEUTSCHLAND DAS BELGISCHE NATIONALGERICHT MOULES ET FRITES, DAZU CHICORÉE. ALS NACHTISCH FRANZÖSISCHE KÄSEPLATTE UND EINEN ROTEN FITOU.
Foto: Markus Erdlenburch
KRISTINE MATILAINEN, 27 JAHRE AUS HELSINKI, FINNLAND
„INTERNATIONAL“
„WESTEUROPÄISCH“
Foto: Paul Wagner
Foto: Markus Erdlenburch
„BUNTGEMISCHT“
ANNALENA SCHULZ, 16 JAHRE AUS DRESDEN, DEUTSCHLAND GANZ INTERNATIONAL: ZUERST ITALIENISCHE ANTIPASTI, DANACH TYPISCHES GYROS MIT PSOMI-BROT. ALS DESSERT GIBT’S CRÈME BRÛLÉE.
7 //
M EIN UN G
ALTERNATIVE ZUM SCHWEIGEN
MIT EURO-KRITISCHEN STIMMEN GEHT DIE NEU GEGRÜNDETE PARTEI ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND BEI DER NÄCHSTEN BUNDESTAGSWAHL AN DEN START. RECHTER RAND, PROTESTPARTEI ODER EIN TRAGFÄHIGER GEGENENTWURF? EIN KOMMENTAR VON JAN KAMPMANN
ANGRIFF AUF DEN EURO: DIE ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND KRITISIERT DIE WÄHRUNGSUNION
D
ie Währung ist der Motor der Integra- sammelte die AfD nach eigenen Angaben wahlen erlangt hat. Das Parteiensystem in tion”, sagte Helmut Kohl (CDU) 1992 rund 6.600 Mitglieder. Ihr medienkom- Deutschland sei festgefahrener als in vielen – unterschrieb den Maastrichter Vertrag und patibler Frontmann, Wirtschaftsprofessor anderen EU-Staaten. Neue Parteien würhoffte auf seine Allzweckwaffe Euro. Bernd Lucke, tingelte schon vor dem ersten den aus historischen Gründen gleich auf Parallel dazu schlug die damalige EU- offiziellen Parteitag Mitte April erfolgreich Rechtsdrall und Populismus durchleuchtet, Parlamentarierin Ursula Braun-Moser die durch die wichtigsten Polit-Talks im Fernse- hätten kaum eine Chance. Die in GroßbriHände vor den Kopf. „Als Historiker hat er hen. Auch wenn das Parteiprogramm mehr tannien im Aufschwung befindliche „UK die ökonomische Dimension nicht begrif- als nur das Euro-Thema aufgreift, ist es Independence Party” (UKIP) und die franfen”, erinnert sich Braun-Moser an zähe noch sehr überschaubar. zösische Front National seien weitaus raDiskussionen mit dem Altkanzler darüber, Dem früh aufgekommenen Vorwurf dikaler als ihr deutsches Pendant. Keine ob zur Einigung Europas eine gemeinsame des Rechtspopulismus konnte man bis jetzt Vorbilder, aber Beispiele für die Möglichkeit Währung allein ausreichen würde. Es fehl- nicht den Garaus machen. Stefan Milkereit, eines politischen Senkrechtstarts. ten Durchgriffsrechte auf die Haushalte der Beisitzer im Bundesvorstand, twitterte beeinzelnen Länder, eine gemeinsame Wirt- reits im November: „Multi-Kulti-Gen führt PARALLELWÄHRUNG ALS schaftspolitik. Die damalige CDU-Politike- zu Mutationen und damit zu Krankheiten, KOMPROMISSVORSCHLAG? rin war kurz davor, eine eigene Partei mit die vorher bei Reinrassigkeit nicht vorhangenau diesem Ziel zu gründen. Aus Angst, den waren.” Ausländerfeindliche Kommen- Doch wie realistisch ist die Realisierung des einen Magneten für rechtsextreme Grup- tare auf der Facebook-Seite der AfD-Jugend großen Parteiziels? Ist die Rückkehr zu na pierungen zu schaffen, verwarf sie die Idee heizten die internen Grabenkämpfe an. tionalen Währungen nach all den Rettungsjedoch wieder. schirmen noch zu rechtfertigen? BraunÜber 20 Jahre später sorgt in Deutsch- „KEINE SPINNER“ Moser fordert zwar nicht die D-Mark zurück land eine Partei für Schlagzeilen, die sich – bringt dafür aber eine Parallelwährung ins Braun-Mosers Überlegungen von 1992 auf „Klar gab es auf dem Gründungsparteitag Spiel. Für Deutschland ist der Euro zu billig, die Fahnen geschrieben hat. Ihr Name: „Al- Leute mit T-Shirts, auf denen Hammer und für Länder wie Griechenland zu teuer – mit ternative für Deutschland” (AfD). Zentrale Sichel die Europa-Flagge bearbeiten”, sagt der Wiedereinführung beispielsweise der Forderung: Der Austritt aus dem Euro. Als Wirtschaftsjournalist Ferdinand Knauss, Drachme würde der Euro in Griechenland Unterstützerin im Boot: Ursula Braun-Mo- der die Aktivitäten der Partei seit Beginn parallel bestehen und sich die stärkere Wähser. verfolgt. In der Führungsriege säßen jedoch rung durchsetzen. „keine Spinner, die aus Eitelkeit eine Partei Das Drehen an der Währungsschraugründen“, sondern Professoren und Unter- be würde jedoch nicht nur das zwischenRECHTSEXTREME STIMMEN IN nehmer „von hohem Renommé“. Knauss läufige Scheitern des europäischen Projekts SOZIALEN NETZWERKEN argumentiert, dass Lucke und Co. gerade besiegeln, warnt Ramona Ader von den BerDie Euro-Skeptiker haben offenbar einen keine einfachen Lösungen suchten, wie liner Jungsozialisten. Auch in Deutschland Nerv getroffen: Einer Studie von Infratest beispielsweise der italienische Protest-Poli- könnte es aufgrund globalisierter Produktidimap zufolge beträgt das Wählerpotential tiker Beppe Grillo – der mit populistischen onsprozesse erhebliche Einbrüche auf dem der Partei 24 Prozent. In wenigen Wochen Parolen die Mehrheit bei den Parlaments- Arbeitsmarkt geben.
\\ 8
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
Die AfD scheint Klientelpolitik für eine gehobene Mittelschicht zu betreiben, die ihr Eigentum vor weiteren Rettungspaketen in Sicherheit bringen will. Nicht aber für die viel zitierten Wutbürger aus allen Schichten. Auch bleibt es unwahrscheinlich, dass unentschlossene Wähler der Alternative für Deutschland aus der Hand fressen. Im Bundestag wird sich über Europapolitik ohnehin konsequent ausgeschwiegen, weil das negativ besetzte Thema keine Stimmen einbringt, so Jungpolitikerin Ader. Insgesamt gehe es den Deutschen noch zu gut, die Konjuktur brummt – kein Nährboden für klassische Protestparteien. Doch etwas ganz entscheidendes hat die polarisierende Partei jetzt schon erreicht: Die AfD bricht zumindest Schweigen. Das bislang als alternativlos propagierte Thema Euro-Rettung wird in Frage gestellt – und damit eine überfällige Debatte angestoßen. Die auch Helmut Kohl bestens zu Gesicht gestanden hätte.
Jan Kampmann 25, Gießen ... hat gelernt, dass das Credo „Jeder Opa nach Europa“ in der EUPolitik ein gestriges ist.
EURO-SPALTUNG ALS SOLIDARISCHE HALTUNG?
ZWISCHEN STAATSSCHULDEN UND RETTUNGSSCHIRMEN GIBT ES EINEN GEWAGTEN LÖSUNGSVORSCHLAG: DIE TEILUNG DES EUROS IN EINE NORD– UND EINE SÜDWÄHRUNG. EIN BERICHT VON JULIA ZABLOTNY
W
ie wird die Zukunft der EU aus- Prof. Dr. Wilhelm Nölling, ehemaliges sehen? Höhere Transferzahlungen Mitglied des Zentralbankrates der Deutund weitere Pleite-Staaten strapazieren schen Bundesbank, unterstützt diese die Geldbeutel der Steuerzahler. Hans- Idee. Seiner Ansicht nach sollen die wirtOlaf Henkel, der ehemalige Präsident des schaftlich starken Nord-Staaten, die den Bundesverbands der Deutschen Industrie, „Anforderungen der Wettbewerbsstärken“ fordert in seinem provokativen Buch mit gerecht werden, den Euro retten. Die dem Titel „Rettet unser Geld!“ die Spal- schwächere Süd-Zone wiederum würde tung der Währung. Europa soll künftig sich ihrer eigenen Währung und wirtwirtschaftlich in einen Nord- und einen schaftlicher Souveränität widmen. Südteil gesplittet werden. Deutschland als stärkste Wirtschaftsmacht der Region PASSEN EUROPAS WIRTSCHAF würde die Nord-Zone, in der auch die Be- TEN ZUSAMMEN? nelux-Staaten und Skandinavien vertreten sind, anführen. In der Süd-Zone, mit dem Die Vizepräsidentin des Europäischen finanzschwächeren Süd-Euro übernähme Parlaments, Dr. Sylvia-Yvonne KaufFrankreich diese Rolle. Nach Henkel ist mann (Die Linke), versteht diese Logik das Ziel der Eurospaltung die Folgen der nicht. Die Währungsunion sei der Kern, Staatsschuldenkrise zu lindern. der die EU zusammenhalte. „Die Forderung ist ökonomisch und politisch falsch, DAUERBETTELEI IN DER TRANS weil die Währungsunion durch die Einführung des Nord-Süd-Euros auseinanFERUNION SOLL ENDEN derbrechen wird”, so Kaufmann. Dass
sich die Wirtschaften unterscheiden, sei nicht schlimm, weil die Voraussetzungen für die verschiedenen Ökonomien nicht gleich seien. Eine andere Meinung vertritt der Europa-Journalist Thomas Becker. Er findet Henkels Forderung ökonomisch schlüssig, weil der einheitliche Wert der Währung nicht die unterschiedlichen wirtschaftlichen Lagen der Länder berücksichtigt. Verdienst und Ausgaben sind von Land zu Land verschieden. „Wenn die Währung durch den Süd-Euro abgewertet werden würde, ergäbe sich eine Möglichkeit für die Südstaaten ihre Wirtschaft anzukurbeln”, so Becker. Aktuell könnten die Schulden beispielsweise von Griechenland nicht abbezahlt werden – mit dem Süd-Euros ginge das schon, glaubt er. „Der Süd-Euro wertet das Geld ab, sodass eine Rückzahlung der Schulden im Süd-Euro denkbar wäre”, mutmaßt der Journalist. Dennoch sei Henkels Idee „wie ein Harakiri“, also ein Schnitt ins eigene
Fleisch. Durch die damit verbundene Missachtung der europäischen Verträge würde sich die Union in ihrer Entwicklung selbst um Jahre zurückwerfen. Die Debatte zeigt: Wie die währungspolitischen Probleme gelöst werden können, bleibt kontrovers umstritten. Klar ist, dass die EU in einer Beziehungskrise steckt. Ihre Ursprünge gehen bis in die Euro-Einführung zurück. Wie in jeder Beziehung muss der Staatenbund aus der Vergangenheit lernen und für mehr Harmonie kämpfen.
Julia Zablotny 18, Salzkotten ... wird wie der Herr Bundespräsident Gauck niemals eine Wahl verpassen, niemals, nie.
SÜDWIND IM ARBEITSMARKT
DIE HOHE JUGENDARBEITSLOSIGKEIT IN SÜDEUROPA TREIBT VIELE BERUFSEINSTEIGER AN, IHR GLÜCK IN DEUTSCHLAND ZU SUCHEN, AUCH IN BERLIN. VON ZLATINA KOLCHAKOVA.
S
ie heißen Carlos, Alejandro oder Carmen, sind jung, dynamisch, oft überdurchschnittlich qualifiziert und gehören zu einer neuen Generation von Migranten in der Bundesrepublik. In Spanien wartet auf jeden zweiten von ihnen die Arbeitslosigkeit. Und so kommen sie mit der Erwartung nach Deutschland, endlich den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden. Eine von ihnen ist die studierte Lebensmitteltechnologin Clara Romo (27), die vor einem Jahr aus Madrid nach Berlin gezogen ist. Während insgesamt in Deutschland junge Fachkräfte gesucht werden, erweist sich die industriearme Hauptstadt noch als ein schwieriges Pflaster: „Ich habe mehr als 100 Bewerbungen in einem Jahr geschrieben, aber kein einziges Vorstellungsgespräch gehabt“ beklagt Clara. „Viele glauben, Deutschland wäre das Paradies, aber einfach ist die Situation hier sicher nicht.“
dern. In der kleinen bayerischen Stadt fühlte sie sich anfangs noch ziemlich einsam. Zwei Jahre danach sieht sich Clara in Berlin schon voll integriert, auch weil sie mittlerweile gut Deutsch spricht. „Ich möchte hier bleiben. Ich habe Freunde gefunden, mache Fortschritte mit der Sprache und fühle mich wohl“, sagt sie. Nach Spanien zurück will sie nicht, Jobs sucht sie deshalb mittlerweile in ganz Deutschland, auch wenn sie Berlin nur ungern verlassen möchte. „Ich habe damals eine Stelle in Madrid bekommen. Die Entlohnung betrug 2 Euro pro Stunde“, erinnert sich Clara. Dazu ein Gehalt von 500 Euro im Monat, geteilte Wohnung mit der Familie und keine fachgerechte Weiterbildung: „All das will ich nicht mehr“.
ABSPRUNG NACH DEUTSCHLAND
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ist die Zahl der abgewanderten Spanier von 2010 bis 2012 um 70 Prozent gestiegen. Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass 1,3 Prozent der sozialversiche-
Nach einem kurzen Praktikum in Freising bei München entschied sich Clara endgültig nach Deutschland auszuwan-
EINE NEUE GENERATION EINWANDERER
IN BERLIN AUF ARBEITSSUCHE: CLARA ROMO AUS MADRID
rungspflichtig Beschäftigten 2012 aus den Ländern Griechenland, Portugal, Spanien und Italien kamen. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich dieser Wert um 6,5 Prozent erhöht. Auch künftig ist zu erwarten, dass von den derzeit 7,5 Millionen arbeitslosen Jugendlichen in Südeuropa, den „Krisenkindern“, wie sie getauft wurden, viele nach Deutschland aufbrechen. Eine neue Generation von Einwanderern wächst heran.
Foto: Henrik Nürnberger
Zlatina Kolchakova 26, Sofia … weiß nun, dass die europäischen Institutionen in Brüssel das Babylon der Neuzeit sind.
9 //
756 PARLAMENTARIER – WER HAT HIER KEINE AHNUNG? IM EUROPÄISCHEN PARLAMENT SITZEN ÜBER 700 ABGEORDNETE, DIE UNS EUROPÄER VERTRETEN. VON DEN ENTSCHEIDUNGEN, DIE DIESE TREFFEN, HABEN JEDOCH VIELE BÜRGER KEINE AHNUNG. DABEI SIND DIE KOMMUNIKATIONSKANÄLE VIELFÄLTIG. VON FÁTIMA GONZÁLEZ-TORRES UND DIANA HÖHNE
BRÜSSEL
STRASBOURG
SITZ DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION
SITZ DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
Ausschusssitzungen
Am Wochenende
zu Ha use
Strasbourg-Woche Plenarsitzungen
IN EINER EUROPÄISCHEN BLASE – TROTZ WILLEN ZUM AUSTAUSCH
@
SkaKeller, gibt es noch ein paar Bilder von der Aktion?” – “@kevusch, Voilà. Konnte nur nicht gleichzeitig fotografieren und Aktion machen” – so offen gehen EuropaAbgeordnete mit ihrem Alltag im Parlament um. Die Grünen-Politikerin Ska Keller twittert regelmäßig, zum Beispiel von einer Protestaktion im EU-Parlament gegen die elektronische Vorratsdatenspeicherung. Die Aktion selber konnten die Bürger nicht live verfolgen, zumindest nicht im Fernsehen. Die Kurzmeldungen auf Twitter von den Parlamentariern, die in der Runde präsent waren, gaben aber ein ziemlich vollständiges Bild davon wieder. Generell sind die Organe der Europäischen Union viel transparenter gestaltet, als es den meisten Menschen bewusst ist. Genau das war nämlich ein zentrales Anliegen des Vertrags von Lissabon, der 2009 in Kraft trat: Die Europäische Union näher an den Bürger zu bringen. Mit dieser Absicht startete man Projekte wie den InternetTV-Sender EuroparlTV, der unter anderem Plenartagungen live in allen 23 Amtssprachen überträgt. Das EU-Parlament ist auch auf Facebook und Twitter präsent und verfügt über Informationsbüros in allen Mitgliedsländern. Mehr Transparenz bietet kein anderes Parlament der Welt, auch nicht der Bundestag. Trotzdem haben viele Europäer das Gefühl, das Europäische Parlament sei eine verschlossene Institution mit wenigen Machtbefugnissen.
\\ 10
KOMPETENZGEWINN DES EUPARLAMENTS Dabei wurde die Macht des Europäischen Parlaments mit dem Lissabonner Vertrag stark ausgeweitet. So ist es mit drei wesentlichen Aufgaben betraut: Gemeinsam mit dem Europäischen Rat, in dem alle Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zusammensitzen, erörtert und verabschiedet es Gesetze. Außerdem übt es eine ständige Kontrolle über alle anderen EU-Institutionen aus, insbesondere über die Kommission. Zuletzt bestimmt es Seite an Seite mit dem Rat den EU-Haushalt. Erst seit dem Lissabonner Vertrag muss dieser überhaupt zusätzlich vom Parlament verabschiedet werden. So hat das Parlament Anfang März sein Vetorecht eingesetzt und den vom Europäischen Rat vorgeschlagenen Finanzplan für 2014 bis 2020 abgelehnt. Hauptargumentation: Es seien nicht genug Mittel für Sozialpolitik eingeplant worden. Das Parlament hat sehr viel Macht und der Arbeitsalltag eines EU-Abgeordneten beinhaltet wenig Freizeit. Im Parlament teilen sich diese nicht nach ihrer Nationalität, sondern nach ihrer politischen Orientierung. So organisieren sich Abgeordnete ähnlicher politischer Meinung in Fraktionen, sodass es eigentlich keine festen Mehrheiten gibt. “Das erhöht natürlich die Einzelverantwortung der Parlamentarier”, bemerkt die ehemalige EPVizepräsidentin Sylvia-Yvonne Kaufmann. Der Sitz des Parlaments ist in Straßburg. Dort halten sich alle Abgeordneten jeden Monat eine Woche für die Plenar-
Grafik: Maximilian Gens (Quellen: bpb.de)
sitzung auf. Zwischen den Sitzungswo- die offiziellen Informationkanäle und die chen sind die Europa-Abgeordneten aber der Abgeordneten. Das Parlament erlangt nicht unbeschäftigt, im Gegenteil: Außer nach und nach mehr Einfluss und wird in Fraktionen finden sich die Parlamenta- – mit dem Druck der Europa-Parlamentarier – wohl immer mehr gewinnen: „Die rier auch in Ausschüssen zu bestimmten Themen zusammen, um diese möglichst Gesetzesinitiative, die bisher nur von der sachgerecht zu behandeln. Zwischen den Europäischen Kommission ausgeht, sollte Sitzungswochen tagen die Ausschüsse in auch dem Parlament zustehen. Genauso Brüssel, um mit der Kommission vor Ort läuft es ja auch im Bundestag.“, meint in Kontakt treten zu können. 756 Abge- Ska Keller. ordnete im Parlament machen es nicht Sie twittert reichlich weiter, erzählt von ihren Abenteuern im Parlament. 3302 Foleinfacher, Kompromisse zu finden und lowers hat Ska Keller, eine große Menge erhöhen die Arbeitsbelastung. Trotzdem mache der Job ihr Spaß, sagt Ska Keller. für einen EU-Abgeordneten. User kevusch, Vor allem schätze sie, dass sie aktiv an der die Protestaktion eifrig mitverfolgt, ist allerdings nicht zufällig auf ihrem Profil der Zukunft Europas mitwirken können. gelandet. Er gehört der Piratenpartei an und interessiert sich demnach aktiv für NACHHOLBEDARF BEI DER solche Angelegenheiten. Ein Blick auf Ska KOMMUNIUKATION Kellers restliche Tweets zeigt: Bisher hatBei der Kommunikation mit dem Bürger te sie keine Interaktion mit stinknormalen besteht allerdings noch Nachholbedarf. Bürgern. Denn vielen EU-Bürgern ist noch immer nicht bewusst, dass Plenarsitzungen live im Internet verfolgt werden können und es ihnen über die Europäische Bürgerinitative möglich ist, die Kommission konkret mit Aufgaben zu betrauen. Die Entscheidungen, die von EUAbgeordneten getroffen werden, beeinflussen direkt unseren Alltag. So sorgte Fátima González-Torres beispielsweise das Europäische Parla23, Madrid ment dafür, dass wir innerhalb der EU Diana Höhne relativ kostengünstig telefonieren kön21, Kiel nen. Die Kommunikation mit dem “normalen Bürger” scheitert jedoch oft, trotz ... wissen nun, dass auch Hausfrauen Europa-Abgeder verschiedenen Kanäle, die eingesetzt ordnete sein können. werden. Nur wer sich wirklich aktiv über Europa-Politik informieren will, stößt auf
STEINE WEGRÄUMEN
DIE JUNGE EUROPÄISCHE BEWEGUNG BERLIN BRANDENBURG E.V. IST EINE BUNTE PLATTFORM FÜR JUNGE MENSCHEN, DIE SICH EUROPAPOLITISCH ENGAGIEREN MÖCHTEN. UNSERE AUTORIN VANESSA LY HAT MITGLIEDER GETROFFEN.
J
eder vierte junge Europäer, der eine Arbeit sucht, findet keine. Das frustriert. Europa scheint perspektivlos, wenig attraktiv – nicht so für die Mitglieder der Jungen Europäischen Bewegung Berlin Brandenburg e.V. (JEB). Der gemeinnützige und überparteiliche Jugendverband gehört zum Netzwerk der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), der 30 000 Aktive aus mehr als 30 Ländern zählt. In der JEB machen sich politikinteressierte Menschen für Toleranz und Vielfalt in Europa stark. „Wir leben in einer Demokratie – wir müssen uns einmischen! Denn wenn wir etwas besser gestalten wollen, müssen wir auch etwas dafür tun“, sagt Felix Brannaschk, Vorsitzender der JEB. In Arbeitsgruppen, bei Projekten, Aktionen und Konferenzen würden Mitglieder des Jugendverbandes lernen, wie das komplizierte Europa funktioniert.
fen 200 junge Menschen in die Rolle von Europa-Abgeordneten. Gemeinsam formulieren sie Gesetzesvorschläge und lernen, wie Beschlüsse entstehen.“ Um Beschlüsse und Stellungnahmen durchzusetzen, verständigen sich die jungen Parlamentarier zuerst in den jeweiligen Ländergruppen. Lauter und emotionaler verläuft dann die Sitzung im Plenarsaal: „In der Schlussabstimmung über die Entschließungen finden heftige Debatten und heiße Diskussionen statt. In diesen zwei Tagen
fordert die Einmischung der Wirtschaft: merken die Teilnehmer schnell, wie schwer es mitunter sein kann – bei 27 un- „Unternehmen müssen mobiler werden, terschiedlichen Interessen – einen Kom- sich international besser vernetzen. Sie sollten Arbeitskräfte, die aus dem eupromiss zu finden“, ergänzt Sinko. ropäischen Ausland nach Deutschland kommen, besser fördern.“ Zudem müsse ZU VIELE STEINE IM WEG man ihnen bei der Wohnungssuche oder Das Planspiel im November 2012 thema- der Sprachaneignung helfen. Es könne tisierte die Zukunft des Euro, die EU-Au- nicht sein, dass Deutschland über Fachßenpolitik im Mittelmeerraum und Euro- kräftemangel klagt, während in Spanien päischen Datenschutz. In einer nächsten und Griechenland eine hohe JugendarSIMEP könnte es um die Bekämpfung beitslosigkeit von über 26 Prozent herrder hohen Jugendarbeitslosigkeit gehen sche. Der 22-Jährige kritisiert, dass vor – denn die bereite vielen jungen Euro- allem jungen Spaniern so viele Steine in päern große Sorgen. David Krappitz den Weg gelegt werden: „Da herrscht Nachholbedarf, ansonsten wird sich an der Situation nicht viel ändern!“
POLITIK PRAKTISCH ERLEBEN Vanessa Ly 19, Berlin
David Krappitz und Katja Sinko engagieren sich seit mehreren Jahren in der JEB. Die Studenten organisieren gemeinsam mit vielen Helfern die Simulation Europäisches Parlament (SIMEP). Das Planspiel findet zweimal jährlich im Reichstag sowie im Berliner Abgeordnetenhaus statt. Krappitz erklärt: „Für zwei Tage schlüp-
... hat gelernt, dass jeder Europa mitgestalten kann. Bild: Nick Jaussi & Paul Wagner
IN VIELFALT GEEINT?
IN VIELEN REGIONEN EUROPAS HABEN RECHTSEXTREME PARTEIEN ZULAUF. DOCH AUCH DER WILLE ZU INTEGRATION, AUSTAUSCH UND VERSTÄNDIGUNG IST IN DER EU ERFAHRBAR. EIN BERICHT VON BERNADETTE LUMBELA
F
remdenfeindlichkeit habe ich schon manchmal gespürt“, sagt Ali, der dieses Jahr aus Mali geflohen ist und auf eine bessere Zukunft in Berlin hofft. „Besonders bei der Suche nach Arbeit oder beim Kontakt mit Beamten. Es ist nicht einfach.“ Dass Alis Situation europaweit kein Einzelfall ist, zeigt die Studie „Die Abwertung der Anderen“ der FriedrichEbert-Stiftung (FES) aus dem Jahr 2011: In Italien stimmten ganze 62,5 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe, am niedrigsten lag die Zahl in Polen bei 27,2 Prozent. In Deutschland waren es 50 Prozent der Befragten.
RECHTSDRIFT IN EUROPA Die Ergebnisse der Europawahl 2009 zeigen, dass auch auf der politsichen Ebene rechte Tendenzen zunehmen. So erlangte
KULTURELLE VIELFALT STATT die rechtspopulistische Fraktion „Europa der Freiheit und der Demokratie“ 34 Sitze IDENTITÄTSVERLUST im EU-Parlament. Ein weiteres Beispiel ist Die FES-Studie thematisiert jedoch auch, die griechische Chrysi Avgi, die „Goldene Morgenröte“. Sie betreibt eine aggressive dass knapp 70 Prozent aller europäischen Politik gegen Einwanderer, ist europa- Befragten Zuwanderer als eine Bereicherung feindlich – und erfolgreich: Mit 18 Man- für die eigene Kultur sehen. Europa ist eine Union der kulturellen Vielfalt und um diedaten ist sie seit Mai 2012 im griechischen sen Reichtum zu schützen, wird viel getan: Parlament vertreten. Durch das europaweite Netzwerk „Schule Aktuell schwenkt auch Ungarns Politik nach rechts: „Ungarn verwandelt ohne Rassismus – Schule mit Courage“, bei sich unter der Regierung Viktor Orbáns in dem Schulen sich gegen Diskriminierung ein Rechtsregime“, schreibt Literaturno- einsetzen, sollen junge Menschen motiviert belpreisträgerin Elfriede Jelinek in einem werden, sich aktiv gegen Rassismus und offenen Brief an einen ungarischen Mi- Fremdenfeindlichkeit zu engagieren – im Schulalltag und darüber hinaus. Allein in nister. Besonders die größte europäische Minderheit, die Roma und Sinti, haben Deutschland tragen schon mehr als 1 000 unter Orbáns Politik zu leiden. Sie wer- Schulen diesen Titel. Wichtig sei auch, dass an der Komden oft durch Zwangsräumungen aus ihrem Zuhause vertrieben und müssen Dis- munikation innerhalb Europas gearbeikriminierungen am Arbeitsplatz erdulden, tet wird, finden die Gründer der Aktion wie Amnesty International im Mai 2011 „Hello Europe“. Ihr Ziel ist es, „Europa durch Momente zu verbinden” und zwar berichtete.
mittels Flatscreenbildschirmen, die auf öffentlichen Plätzen live Einblicke in verschiedene europäische Städte bieten. Das gelingt, indem sie die Aufnahmen von Kameras aus anderen Städten senden. Auch Ali, der zurzeit im RefugeeCamp am Oranienplatz wohnt, hat schon viel Offenheit und Solidarität von den Bewohnern Berlins erlebt: Freiwillige unterstützen die Menschen in ihrer vorübergehenden Bleibe mit Essen und Medizin.
Bernadette Lumbela 16, Ingelheim … hat erfahren, dass Toleranz nicht selbstverständlich ist.
11 //
„ICH BIN EIN EUROPÄER“
09: 00 UHR : BR A NDENBUR G
EINE BERLINER STADTFÜHRUNG FÜR ECHTE EUROPA-ENTHUSIASTEN – DER EUROPÄISCHE REISEPLAN FÜHRT UNS DURCH DIE GANZE STADT. WIR HABEN EINIGE WICHTIGE UND SPANNENDE BERLINER ORTE AUFGELISTET, AN DENEN JEDER EUROPA-FAN GEWESEN SEIN MUSS.
Foto: Basile Scache
7:30 UHR: HAUPT B AHN HO F
Foto: Henrik Nürnberger
AN G EK O M M EN IN B ERLIN : DER EURO PAPLAT Z Die Reise geht los! Als Teil des modernen Stadtquartiers, der so genannten „Europacity“, lenkt der Europaplatz das Auge auf den imposanten Berliner Hauptbahnhof. Zugleich wird hier auf die Bedeutung des Bahnhofs für die Weltoffenheit Berlins hingewiesen und eine Verbindung zu anderen Europaplätzen auf unserem Kontinent hergestellt. Derzeit gleicht der Platz noch einer riesigen Baustelle.
1 5 :0 0 UHR : BE R L IN DA HL E M
Foto: Sandra Steiß / SDM Berlin
E IN E E UR O PÄ IS CHE F UN DGR UB E Ein buntes Mosaik aus über 275 000 originalen Objekten ist das Museum europäischer Kulturen in Dahlem. Die Einzelstücke formen wie ein Mosaik gemeinsam ein prächtiges Bild der gesamteuropäischen Kulturgeschichte. Es mag kaum ein europäisches Thema geben, zu dem sich hier keine historischen Ausstellungsstücke finden lassen.
\\ 12
MI T EUR OPA SPR EC HEN
Zentraler geht es kau der europäischen Ko rekt am Brandenburg lohnt sich in jedem F sind persönliche Gesp arbeitern. Rettungss programme oder eu begehren: Hier kanns Europa los werden. Grundrechte gibt es zahl an anderen Infor in 3x2cm großen Büc garantiert in jede Tasc
G E R T OR
1 0 :3 0 UHR: A L E X AN DERPLAT Z
e / www.jugendfotos.de
E X P E RTEN
um: Die Vertretung ommission sitzt diger Tor. Ein Besuch Fall. Zu empfehlen präche mit den Mitschirm, Austauschuropäische Bürgerst du alle Fragen zu Die europäischen s neben einer Vielrmationsmaterialien üchern. Die passen che.
Foto: Henrik Nürnberger
F L A G G E Z EIG EN ! Nationalflaggen sind von gestern: Vergiss deine alte Deutschlandflagge von der WM und setz mit der Anschaffung einer europäischen Flagge ein Zeichen! Das Flaggenhaus am Alexanderplatz bietet die Möglichkeit, sich mit Europa wortwörtlich einzudecken. Einheit in Vielfalt heißt das Motto. Die blaue Flagge mit den zwölf gelben Sternen lässt sich auch hervorragend als Rock umbinden.
17:00 UHR B AHN HO F LICHT EN BER G
Foto: Henrik Nürnberger
N ÄCHS T ER HALT: EURO PA!
1 2 :0 0 UHR : E A S T S IDE GA L L E R Y
Deine Tour könnte jetzt enden, doch in nur 5 1/2 Stunden wartet schon die nächste europäische Hauptstadt auf dich: Mehrmals täglich verbindet der Eurocity Berlin-Warszawa-Express dich mit dem Herzen unseres Nachbarlandes. Und wen es in den richtig fernen Osten treibt, der kann sich am Zentralen Omnibusbahnhof am Westkreuz ein Busticket nach Moskau kaufen. Fahrzeit: Mehr als zwei Tage.
Foto: Ann-Christin Wehmeyer
DA S E N DE DE R E UR O PÄ IS C HE N S PA LTUN G Es gibt kaum eine Reliquie mit mehr Symbolwert für den europäischen Entwicklungsprozess wie die Berliner Mauer. Der Zusammenbruch des Ostblocks hat nicht nur Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt, sondern eine gesamteuropäische Union überhaupt erst möglich gemacht. Immer mehr osteuropäische Staaten haben sich Europa zugewandt und die europäische Idee weiterentwickelt, die Gemeinschaft hat sich vergrößert und ist vielfältiger geworden.
Markus Erdlenbruch 20, Stuttgart Jörg Spyro 26, Magdeburg ... wissen nun, wie wichtig es ist, Europa im Alltag zu thematisieren.
13 //
ZUGANG FÜR ALLE
IN EINER ALTERNDEN EUROPÄISCHEN GESELLSCHAFT HAT BARRIEREFREIHEIT EINEN MEHRWERT FÜR ALLE UND IST GRADMESSER FÜR DIE INNOVATIONSKRAFT DER EUROPÄISCHEN UNION. EIN ERFAHRUNGSBERICHT VON DENNIS KNOLL
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
SCHÖN ABER SCHWIERIG ZU ÜBERWINDEN: NICHT IMMER GEHT ES BARRIEREFREI DURCH EUROPA.
B
erlin ist vielfältig, bunt – und verändert sich rasant. Wirklich bewusst wurde mir das erst, als ich von meinem Erasmus-Studium in Murcia, einer Universitätsstadt im Südosten Spaniens, zurückkehrte. Manchmal ist die deutsche Hauptstadt aber auch ein hartes Pflaster – gerade für uns Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Es ist mitunter sehr stressig, wenn ich in meinem Rollstuhl die Stadt durchkreuze – und das obwohl Berlin im vergangenen Jahr den Access City Award gewann. Damit werden Städte mit über 50 000 Einwohnern geehrt und ausgezeichnet, die sich vorbildlich dafür einsetzen, Mobilitätsbarrieren im städtischen Raum abzubauen. Verliehen wird der Preis von der Europäischen Kommission. Viviane Reding (EVP), Vizepräsidentin der EU-Kommission, sagte bei der Preisverleihung in Brüssel: „Menschen mit Behinderungen sind im Alltag noch immer mit zu vielen Hindernissen konfrontiert, aber Städte wie Berlin zeigen vor, wie das Leben für alle leichter werden könnte.“
AUSGEZEICHNETE HAUPTSTADT Berlin wurde zurecht ausgezeichnet. So kann ich in den vielen barrierefreien Diskos das veränderte Bewusstsein der bunt gemischten Clubbesucher erleben. Dann bin ich Teil dieser feiernden Gemeinschaft – auch wenn ich im Rollstuhl eine Etage tiefer sitze. Erst wenn man einen Club ohne Barrieren einfach so oder
\\ 14
mit einfachen Hilfestellungen besuchen kann, dann gelingt Inklusion. Da ist es für ein paar Stunden auch egal, dass nicht alle Menschen die Bahn problemlos nutzen können. Und dennoch ist hierzulande nicht alles gut. Wenn man seine Heimat schon einmal verlassen und für längere Zeit in einem anderen europäischen Land gelebt hat, dann wundert man sich, wie schwer Deutschland die Anwendung und Verbesserung der Rechte von Menschen mit Behinderung fällt. Leider ist der Aktionsplan unserer Bundesregierung lange nicht so proaktiv und ermutigend wie sein Name glauben lässt. Behindertenverbände melden sich immer lauter zu Wort und kritisieren die mangelhafte Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Noch immer werden Behinderte von deutschen Behörden und Ämtern weit weniger menschlich behandelt – und das, obwohl man die gleiche Sprache spricht.
VERBESSERTER ZUGANG HAT NUTZEN Ob in Berlin, in Deutschland, Spanien oder anderswo: Inklusion ist ein häufig auftauchendes Wort. Für mich persönlich bedeutet es auch, dass man sich an die Bedürfnisse der Bewohner anpasst. Früher haben sich Menschen allzu oft anpassen müssen. Eine Stadt, deren Bahnhöfe trotz aller Fortschritte noch immer nicht komplett mit einem Aufzug ausgestattet sind, mindert die Lebensqualität ihrer Bürger – ganz egal ob die
mit Rollstuhl, Rollator, mit Stützen oder einem Kinderwagen unterwegs sind. Was für eine Stadt gilt, gilt gleichfalls für ein Land, einen ganzen Kontinent. Nach Angaben der Europäischen Kommission und dem European Disability Forum, einer unabhängigen Nichtregierungsorganisation, leben rund 80 Millionen Menschen mit leichter bis schwerer Behinderung in Europa. Die Überalterung unserer Gesellschaft hat zur Folge, dass die Zahl der Menschen mit eingeschränkter Mobilität wächst. Mit einem verbesserten Zugang ist daher ein erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Nutzen verbunden.
MIT STRATEGIE ZUM ZIEL Ein dynamisches und innovatives Europa darf folglich niemanden ausschließen. Die Europäische Union treibt den Bewusstseinswandel aktiv voran. EU-Kampagnen weisen verstärkt auf die Fähig- und Fertigkeiten behinderter Menschen hin. Die Strategie zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen der Europäischen Kommission ist lobenswert. Sie zielt darauf ab, diesen Menschen ihren Alltag zu erleichtern und es ihnen zu ermöglichen, ihre Rechte als Unionsbürger uneingeschränkt wahrzunehmen. Konkret geht es um den Zugang zu EU-Fördermitteln, bewusstseinsbildende Maßnahmen und die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, enger zusammenzuarbeiten, um die Eingliederung von Behinderten zu ermöglichen. Doch diese europäische Strategie muss
auch konsequent umgesetzt werden. Tatsache ist: Die Europäische Union hat mit dem Plan einen Prozess in Gang gesetzt, der Menschen mit Behinderungen neue Möglichkeiten eröffnen kann. Uneingeschränkt und gleichberechtigt können sie an der Gemeinschaft teilhaben. Im Jahr 2016 wird die EU dann über die Fortschritte zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen berichten. Die aktive Öffentlichkeit lässt nicht zu, dass gutgemeinte Strategiepapiere in den Bücherregalen verstauben. Sie müssen umgesetzt und mit Leben erfüllt werden.
EU – JETZT INKLUSIV GESTALTEN In was für einer EU wollen wir leben? Diese Frage muss sich eine vielfältige europäische Gesellschaft stellen. Ihre Gestaltung ist kein Projekt von Eliten, vielmehr benötigt sie eine breite Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. Gemeinsam sollten Europas Institutionen, Mitgliedstaaten und auch die Bürger ein barrierefreies Europa gestalten.
Dennis Knoll 31, Berlin ... weiß nun, dass er seine Fremdsprachen innerhalb der EU spontan anwenden kann. Ob in London oder Madrid.
WATSCHE AUS LUXEMBURG
BRIEFE VON ÄMTERN SIND UNBELIEBT – VOR ALLEM, WENN DER INHALT ÜBER DAS EIGENE LEBEN BESTIMMT. SOPHIE STEINFELD BERICHTET ÜBER DEN FALL DES SPANIERS MOHAMMED AZIZ, DER VOR DEM EUROPÄISCHEN GERICHTSHOF VERHANDELT WURDE. VON SOPHIE STEINFELD
S
panien im Januar 2011: Weil Mohammed Aziz die Rate von über 138.000 Euro nicht mehr zahlen kann, muss er seine kleine Wohnung räumen. Mit ihm sitzen zwei Kinder und die Ehefrau auf der Straße. Zudem soll Aziz die Gesamtschulden tilgen – unmachbar für den Arbeitslosen. Der Südländer nimmt sich einen Anwalt, dieser legt Einspruch
darüber wacht, dass die Verträge innerhalb der Europäischen Union ihre Rechtmäßigkeit besitzen. Zudem hat er einen großen Einfluss in der Rechtsprechung der nationalen Gerichte. Denn um eine einheitliche Anwendung des Rechts der Europäischen Union sicherzustellen und divergierende Auslegungen zu vermeiden, müssen nationale Gerichte sich an den
Phase legen alle beteiligten Parteien, also Mohammed Aziz und Spaniens Vertreter, dem für die Rechtssache zuständigen Richter eine schriftliche Erklärung vor. Der Richter erstellt daraufhin einen Bericht, in dem er diese Schriftsätze und die rechtlichen Grundlagen des Falls zusammenfasst. Die zweite Phase ist die öffentliche Anhörung. Bei dieser tragen die
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
NICHT NUR IN SPANIEN PROTESTIEREN BÜRGER GEGEN ZWANGSRÄUMUNGEN.
ein und fordert Revision. Er verweist auf missbräuchliche Klauseln, die man nicht in den Prozess habe einbringen können, weshalb dieser zu annulieren sei. Genau darum sei die Zwangsräumung nicht rechtens, argumentiert der Jurist. Verunsichert durch die Gesetzeslage wendet sich der leitende Richter des Verfahrens an eine höhere Instanz: den Gerichtshof der Europäischen Union.
WÄCHTER ÜBER VERTRÄGE Der Europäische Gerichtshof (EuGH), mit Sitz in Luxemburg, verkörpert die Judikative der Europäischen Union. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Das bedeutet zuerst einmal, dass er
EuGH wenden und ihn um eine Auslegung des Unionrechtes bitten, bevor sie ihr Urteil sprechen können.
ZWEI SCHRITTE ZUR KLAGE
EIN URTEIL FÜR VIELE Die Luxemburger Richter haben das spanische Verfahren zur Zwangsräumung von Wohnungen für illegal erklärt. Nach deren Entscheidung verstößt die spanische Gesetzgebung gegen den im EURecht verankerten Verbraucherschutz. Für alle Zwangsräumungen innerhalb des Wirkungsbereichs des Europäischen
Anwälte ihre Ausführungen den Richtern und dem Generalanwalt vor. Der Richterspruch ist dann verpflichtend und muss umgesetzt werden. Deshalb sind auch die nationalen Gerichte daran gebunden.
Der Europäische Gerichtshof kann grundsätzlich von einem Mitgliedsstaat, einem EIN HISTORISCHER FALL Organ der EU sowie von Bürgern angerufen werden. Jeder Europäer kann sich Mohammed Aziz und sein Anwalt hatten an diesen Gerichtshof wenden – doch beim Europäischen Gerichtshof Erfolg. nur die wenigsten tun dies dann tatsäch- Im Interview mit der Zeitung „El País“ lich. Mohammed Aziz wagte mit seinem sagte der hochzufriedene Verteidiger: Anwalt diesen bedeutenden Schritt.Jede „Ich hatte Aziz gesagt, dass sein Name für eingereichte Klage wird einem Richter ein Urteil in der europäischen Rechtsgeund einem Generalanwalt zugeteilt. Die schichte stehen wird und die Banken ihn Klagen werden in zwei Schritten bearbei- fürchten werden. Aber er hatte mich für tet: dem schriftlichen Verfahren und der verrückt erklärt.“ Fakt ist: Sie schrieben mündlichen Verhandlung. In der ersten europäische Rechtsgeschichte.
Gerichtshofes gilt nun das Urteil – sofern derselbe Sachverhalt wie im Fall Mohammed Aziz besteht.
Sophie Steinfeld 15, Ingelheim ... hat gelernt, dass der Europäische Gerichtshof einen wirklich großen Einfluss auf das Leben der Bürger hat.
15 //
Z UR P E R S ON
Z UR PERSON
Timo Lange ist Campaigner bei Lobbycontrol. Er vertritt seine Organisation in Berlin gegenüber Politik und Medien und setzt sich für eine transparentere und gerechtere Demokratie ein, in der auch schwächere Interessen eine Stimme haben.
Tina Löffelbein ist politische Referentin bei Greenpeace in Berlin. Nachdem sie Geschichte und internationales Recht studiert hat, ist sie seit mittlerweile zehn Jahren Umweltschützerin mit den Schwerpunkten Gentechnik und Klimapolitik.
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
\\ 16
»AUCH WIR SIND LOBBYISTEN – FÜR MEHR TRANSPARENZ IM LOBBYISMUS.« JENSEITS VON GUT UND BÖSE
BEIM GESETZESCHREIBEN WILL VIELES BEDACHT SEIN. DESHALB LASSEN SICH POLITIKER VON EXPERTEN BERATEN. TIMO LANGE VON LOBBYCONTROL UND TINA LÖFFELBEIN VON GREENPEACE PLAUDERN AUS DEM LOBBYISTEN-NÄHKÄSTCHEN.
WIE ERKENNE ICH EIGENTLICH EINEN LOB BYISTEN AUF DER STRASSE? Timo Lange: Es gibt diese Klischeevorstellung von Lobbyisten als Männern in dunklen Anzügen mit Aktenkoffer, möglicherweise auch mit wertvollen Gegenständen drin. Das ist ein Klischee, wird aber der Realität nicht gerecht. Lobbyisten kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, das sind Juristen, Volkswirte, Politologen und auch Journalisten [...]. Lobbyist ist in Deutschland ein eher abwertender Begriff und wird meistens mit Industrie und Wirtschaft in Verbindung gebracht. Wir bei Lobbycontrol unterscheiden nicht grundsätzlich zwischen den „guten Beratern“ und den „bösen Lobbyisten“. Auch wir sind Lobbyisten, für mehr Transparenz im Lobbyismus, für ausgewogenere Interessenvertretung. Tina Löffelbein: Wir unterscheiden da schon, weil wir für etwas sprechen, das sonst keine Stimme hat: die Umwelt. Wir bekommen keine Boni, wenn wir ein gutes „Beratungsgespräch“ führen. Wir machen das aus Überzeugung. Aber der Kontakt zu Politikern ist uns allen gemein.
BLEIBEN WIR BEIM THEMA UMWELT. AGRARSUBVENTIONEN SOLLEN DIE LAND WIRTSCHAFT IN DER EU STABIL HALTEN, WERDEN ABER VON VIELEN KRITISIERT. WARUM GIBT ES ÜBERHAUPT AGRAR SUBVENTIONEN? Tina Löffelbein: Da muss man in die Geschichte gucken. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Hunger und die Europäische Gemeinschaft musste der Landwirtschaft auf die Beine zu helfen und damit kam leider auch die Subventionsmaschine in Gang. Und es war das erste gemeinsame Politikfeld – die ganze Verzahnung, die wir heute haben, war damals noch nicht da.
MIT 55 MILLIARDEN EURO IST DER AGRARSEKTOR DAS GRÖSSTE ALLER EU-BUDGETS. GEMEINSAM BEZAHLT VON DEN EU-BÜRGERN. UND WAS HABEN WIR DAVON? Tina Löffelbein: Viel zu wenig. Zurzeit wird Massenproduktion subventioniert, das heißt niedrige Preise und wenig Qualität. Daher kommen die Fleischskandale. Außerdem werden die Umweltfolgekosten ignoriert. Landwirtschaft ist in der EU eine der größten
Ursachen für aussterbende Arten, für Emissionen und Treibhausgase, das wird alles nicht eingerechnet. Diejenigen, die von den Subventionen profitieren, müssten der Gemeinschaft etwas zurückgeben, aber das tun sie nicht.
DU HAST GERADE VON MASSEN PRODUKTION GESPROCHEN, MIR FÄLLT ALS ERSTES DIE MILCHWIRTSCHAFT EIN. VOR EIN PAAR JAHREN DEMONS TRIERTEN BAUERN, DA SIE DURCH NIEDRIGE PREISE VOM VERKAUF IHERER PRODUKTE NICHT MEHR LEBEN KÖNNEN. WAS LÄUFT DA SCHIEF? Tina Löffelbein: Das Problem ist, dass die Subventionen ungerecht verteilt sind. Die größten Bauernhöfe, die am stärksten industrialisierten, die kriegen das meiste Geld. Während gerade Familienbetriebe wenig bekommen. Die, die in den meisten Fällen umweltfreundlich arbeiten und hochwertige Produkte liefern. Aber darauf wird nicht geguckt, sondern nach der Hektaranzahl berechnet. Deswegen sind die meisten Betriebe an der Existenzgrenze.
DIE LEBENSMITTEL DER „GROSSEN“ SIND DURCH DIE SUBVENTIONEN SO BILLIG, DASS SIE NACH AFRIKA EXPORTIERT WERDEN UND DORT EINHEIMISCHE WAREN VERDRÄNGEN. WARUM WEHREN SICH DIE AFRIKANISCHEN LÄNDER NICHT DURCH IMPORTSPERREN?
ABER DANN DELEGIERT MAN JA DIE ARBEIT. Tina Löffelbein: Klar. Es gibt aber auch unzählige Unterschriftenaktionen oder Demos, damit die Behörden aufmerksam werden. Merken, was die Wähler interessiert. Als Gegengewicht zu den Seil schaften des deutschen Bauernverbandes, der sehr gut in die Behörden vernetzt ist. Timo Lange: Auch auf europäischer Ebene ist er das. Eine neue Möglichkeit ist übrigens die Europäische Bürgerinitiative. Da müssen sich die Institutionen mit von Bürgern angestoßenen Themen beschäftigen.
DAS EUROPAPARLAMENT HAT SCHON EIN LOBBYREGISTER, DER BUNDESTAG NICHT. DARAUF ARBEITET IHR HIN, RICH TIG? Timo Lange: Ein verpflichtendes Lobbyregister auf gesetzlicher Basis ist eine unserer zentralen Forderungen. Dennoch: das Register in Brüssel ist nicht verpflichtend, es ist anreizbasiert, wie es so schön heißt. Wenn man einen Hausausweis fürs Europaparlament haben möchte, muss man sich eintragen. Greenpeace hat, glaube ich, elf solche Ausweise. Aber in Brüssel kann man auch ohne diesen Ausweis hervorragend Lobbyarbeit leisten. Wichtige Akteure wie etwa die Deutsche Bank stehen nicht in diesem Register, haben nicht vor sich einzutragen. Die treffen sich eben bei anderen Veranstaltungen mit dem entsprechenden Parlamentarier oder Kommissions beamten.
Tina Löffelbein: Die afrikanischen Länder haben das ganz große Problem, dass sie sich da Knebelverträge eingehandelt haben. Welthandelsorganisation und EU haben einfach gesagt: Ihr müsst eure Märkte öffnen für unsere Waren, wir unsere aber nicht für eure. Das sind nicht zwei gleich starke Verhandlungspartner, da lässt die EU die Muskeln spielen. Diese Gefahren sind bei Vertragsschluss von vielen Staaten noch nicht gesehen worden. Da wird sich so schnell nichts ändern.
ZURÜCK NACH DEUTSCHLAND. WAS KANN ICH ALS BÜRGER TUN, FÜR EINE GERECHTERE LANDWIRTSCHAFT? Tina Löffelbein: Es gibt verschiedene Möglichkeiten aktiv zu werden. Man kann Organisationen unterstützen, auch finanziell, damit dort Experten arbeiten können [...].
Claudia Flach 22, Leipzig ... hat gemerkt, dass sie vielleicht mal Lobbyistin wird, weil sie in Europa wirklich etwas verändern will.
17 //
MITSPRACHE? JA, BITTE!
EINE MILLION UNTERSCHRIFTEN AUS MINDESTENS SIEBEN DER 27 MITGLIEDSSTAATEN INNERHALB EINES JAHRES BRAUCHT ES, UM AUF DER EUROPAPOLITISCHEN AGENDA DER EU-KOMMISSION ZU LANDEN. EIN BERICHT VON KATJA SINKO Million gültige Unterstützungsbe- Europäischen Bürgerinitiative gekämpft. kundungen in einem Viertel aller „Die Europäische Union kann sich darüber EU-Mitgliedsstaaten gesammelt freuen, dass ihre Bürger mehr Mitsprawerden. cherechte bekommen haben“ sagt KaufEin Jahr nach dem Inkrafttreten mann. Unionsbürger könnten Europa der EBI sind 14 Bürgerinitiativen nun über die Grenzen hinweg gestalten, registriert, darunter auch die die „Weltneuheit“ habe die Demokratie Initiative „Wasser ist ein Men- bereits gestärkt. schenrecht“. Sie konnte – innerhalb weniger Monate – über eine FEHLENDE BEKANNTHEIT Millionen Unterzeichner finden. Diese hohe Zahl führt aber noch Der Anfang ist gemacht. Ob sich das neue nicht zu einer Gesetzesänderung. Instrument bewährt, hängt von vielen Die Europäische Kommission be- Faktoren ab: Welche Themen gehen in hält nämlich weiterhin das allei- die Debatte ein? Haben sie Erfolg und wie nige Initiativrecht. Das bedeutet: reagiert die Europäische Kommission? Selbst wenn eine Initiative alle Derzeit mangelt es der Europäischen BürKriterien erfüllt, ist die Kommis- gerinitiative massiv an Bekanntheit. Das sion rechtlich nicht verpflichtet, sollte sich schnell ändern. das Bürgerbegehren tatsächlich in eine Gesetzesinitiative umzusetzen.
K
ompliziert, weit weg und zu abstrakt: Noch immer können sich viele Bürger nicht mit Europa identifizieren. Doch Rettung scheint in Sicht: Am 1. April 2012 startete die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die den Menschen mehr Mitbestimmung in der EU gewährt. Sie ist ein durch den Vertrag von Lissabon beschlossenes Instrument der direkten Demokratie in der Europäischen Union. Mündige Unionsbürger können nun die Agenda der Kommission mitbestimmen.
EINE MILLIONEN UNTERSCHRIFTEN Ob Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr oder öffentliche Gesundheit: Gegenstand einer Bürgerinitiative kann jeder Bereich sein, in dem die Europäische Kommission befugt ist, einen Rechtsakt vorzuschlagen. Damit sich die Kommission mit einem bestimmten Thema befasst, müssen in zwölf Monaten insgesamt eine
WELTNEUHEIT, DIE DEMOKRATIE STÄRKT
Karikatur: Johannes Keller
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, überzeugte Europäerin und ehemalige Vize-Präsidentin des Europäischen Parlaments, hat über zehn Jahre für die Einführung der
Katja Sinko 23, Rostock … hat erfahren, dass Populismus in der EU-Berichterstattung immer sehr einfach ist, es jedoch eine Kunst ist Europa runterzubrechen.
BINNENMARKT VERSUS WOHLFAHRTSSTAAT
WIE DAS SOZIALSTAATSDEFIZIT DER EU DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION ERSCHWERT – EINE BETRACHTUNG VON HENRIK NÜRNBERGER
D
ie Konstrukteure der Europäischen Gemeinschaft sind einem entscheidenden Irrglauben aufgesessen: Sie dachten, dass sich mit der wirtschaftlichen Union gleichfalls eine soziale einstellt. Mit dem Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit, das ein durchweg gesamteuropäisches Phänomen war, schien sich diese angenommene Kausalität zunächst zu bewahrheiten. Doch mehr als 50 Jahre nach dem Europäischen Gründungsvertrag kommt das wohlfahrtsstaatliche Defizit der EU an die erodierende Oberfläche des Staatenbundes.
MANGELNDE GESTALTUNGS KOMPETENZ Der Sozialstaat ist mehr als nur ein „Benefit“ moderner, wirtschaftlich entwickelter Gesellschaften. Er ist zur wesentlichen Legitimationsquelle der Demokratien geworden. Das Spardiktat in Südeuropa hat der
\\ 18
Gemeinschaft vor Augen geführt, wie fragil die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften sind und wie in Folge jene Demokratien einem nie gekannten Stresstest ausgesetzt werden. Die EU wird dabei nicht nur schnell zum Sündenbock dieser sozialen Eruption gemacht, sie wird – und dies ist neu – zunehmend auch zum Problemlöser sozialer Schieflagen erklärt. Doch kann sie nicht einmal annähernd auf diese hehren Ansprüche reagieren. Es fehlen ihr schlicht die „sozialen Instrumente“: Während die Europäisierung in fast allen politischen Bereichen voranschreitet, ist die Wohlfahrtspolitik weitgehend Kompetenz der Nationalstaaten geblieben. Die EU verfügt weder über eine nennenswerte Wohlfahrtsbürokratie, noch hat sie weitreichende Zugangsrechte, die Souveränität der Staaten hinsichtlich eines europäischen Sozialmodells aufzubrechen. Vor allem kann sie nicht als solidarischer „Umverteiler“ agieren.
Kein EU-Bürger besitzt Sozialleistungsansprüche gegenüber Brüssel. Derweil wird das zentrale Projekt der Binnenmarktintegration unangefochten vorangetrieben – vor allem zum Leidwesen umfangreicher, nationaler Wohlfahrtsregime.
HARMONISIERUNG DER WOHLFAHRT NICHT IN SICHT Der ökonomische Wettbewerbsdruck birgt dabei immer die Gefahr, dass die Sicherung bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und die Gesundheits- sowie Altersabsicherungen mit europaweit sehr unterschiedlichen Prägungen, einem „Sozialdumping“ ausgesetzt ist. Der Binnenmarkt untergräbt dabei schleichend starke Systeme und begünstigt rudimentäre Sozialstaaten. Eine Perspektive der Harmonisierung der historisch sehr verschieden entwickelten Wohlfahrtstypen der Länder scheint nicht einmal annähernd
auf der europapolitischen Agenda zu stehen. Tiefgreifende Kompetenzverlagerungen zu Gunsten eines europäischen Sozialmodells sind mehr denn je illusorisch. Und doch gilt es, mehr Licht in ein unter repräsentiertes Politikfeld zu bringen, was für das bisherige Wirtschaftsprojekt EU vielleicht das sein kann, was es für die europäischen Demokratien bereits ist: Ein Schlüssel zur Akzeptanz, der für Europa die Tür zur Integration weiter öffnen könnte.
Henrik Nürnberger 23, Berlin ...weiß nun, dass die Verordnung Nr. 1677/88/EWG, die die maximale Krümmung der Gurke regelt, leider nicht mehr in Kraft ist.
GEWERBE IM DUNKELN
DAS SCHNELLE GELD AM STRASSENRAND, DIE SCHATTENSEITE DER EUROPÄISCHEN FREIZÜGIGKEIT – JUNGE OSTEUROPÄER AUF DEM BERLINER STRASSENSTRICH. EIN EINBLICK VON JULIAN BEST
ER KENNT DAS MILIEU: ULI MENZES BAR „TABASCO“ IST TREFFPUNKT VON STRICHERN AUS GANZ EUROPA.
E
s ist Freitag, kurz nach 20 Uhr in Berlin. In einer verrauchten Bar stehen ein paar junge Männer, die sich auf Rumänisch unterhalten. Kurze Zeit später verlässt einer der Männer das Lokal mit einem älteren Herrn. Erku* zählt zu den ungefähr 1 000 jungen Strichern, die in Berlin ihren Körper verkaufen. „Mit elf haben mich meine Eltern von Rumänien nach Deutschland geschickt, mit zwölf flog ich aus dem Heim raus und musste mein eigenes Geld verdienen. Durch andere Jungs bin ich drauf gekommen, mich für Sex bezahlen zu lassen. Für ‘nen schnellen Fick bekomme ich zwischen 50 bis 70 Euro, je nach Freier.“
“ICH HABE OFT DINGE GETAN, DIE ICH NICHT TUN WOLLTE“ Erku berichtet über die gegenwärtige Situation in seinem Heimatland: Es gebe kein fließend Wasser oder Strom in den ländlichen Regionen, die Jugendarbeitslosigkeit sei hoch und die Schere zwischen Arm und Reich klaffe immer weiter auseinander. Viele Menschen sähen sich mit einer trostlosen Zukunftsperspektive konfrontiert. Die jungen Osteuropäer bekämen von ihrem Umfeld eingeflößt, dass in Deutschland alles besser sei und sie dort einer strahlenden Zukunft entgegen blickten. Doch die Realität sieht für Erku anders aus. Für das schnelle Geld geht er über jegliche Hemmschwelle: „Ich habe oft Dinge getan, die ich nicht tun wollte.“ Gerhard Schönborn ist Sozialarbeiter beim Verein „Neustart e.V.“, der sich um weibliche Prostituierte auf dem Straßen
strich rund um die Kurfürstenstraße kümmert. Er schätzt die Zahl der Prostituierten beider Geschlechter in Berlin auf insgesamt 8 000 bis 10 000, zwei Drittel davon stammten aus Osteuropa. Bis zu fünf Prozent machten ihre Arbeit wirklich freiwillig, die meisten würden durch ihr instabiles soziales Umfeld und eine schwierige ökonomische Lage in die Prostitution gedrängt. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens gibt es eine regelrechte Armutseinwanderung nach Deutschland. Laut dem Jahrbuch 2012 des Statistischen Bundesamts (Destatis) waren Bulgaren und Rumänen im Jahr 2011 nach den Polen die zweit- und drittgrößte Zuwanderer gruppe, allein im Jahr 2011 waren es rund 113 000. Zwar ist die maximale Aufenthaltsdauer für ungelernte Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien derzeit noch auf sechs Monate beschränkt, doch wer nicht die nötige Qualifikation mitbringt, kann durch Anmeldung einer Selbstständigkeit dauerhaft bleiben. Viele dieser Einwanderer leben auch in Deutschland in Armut und gehen einer inoffiziellen Beschäftigung nach – wie der Prostitution.
EINBLICK IN DIE SZENE Uli Menze kennt sich aus in der StricherFreier-Szene Berlins. Früher betreute er als Streetworker Stricherprojekte. 60 Prozent der „Jungs“, die sich in seiner Szenebar „Tabasco“ tummeln, kommen aus Osteuropa, größtenteils aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Die Jungs setzen sich an die Bar oder in eine Sitzecke und warten darauf, dass sie angesprochen
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
werden. Es sei nicht selten der Fall, dass Seltenheit im Milieu. „Die Drogen werden sie sich nicht einmal ein Getränk leisten offen vor den Augen aller vertickt“, berichkönnen. Wenn sie einen potentiellen Frei- tet auch Menze. er gefunden und mit diesem den Preis Schönborn beobachtet, dass es nur ausgehandelt haben, geht es weiter. Doch wenige Stricher wirklich aus dem Milieu wohin, weiß auch Menze nicht. „Hier heraus schaffen. Wer es schafft, wird denum die Ecke befinden sich genügend noch allgegenwärtig mit seiner VergangenParks, öffentliche Toiletten, Sexkabinen heit konfrontiert. Viele der Jungs werden in Video theken oder Sexshops. Manch- nie in der Lage sein, sich zu binden oder mal erwische ich sie sogar auf unserem Beziehungen einzugehen. Manche werden Damenklo.“ weiter sinken, verlieren ihren Willen, aus In der Regel sind die Stricher 18 bis dem Teufelskreis der Prostitution auszu25 Jahre alt. „Danach“ erzählt Oliver Wöt- brechen. „Sie fallen so tief, dass es für sie zel, Barkeeper in der Szenekneipe „Blue ein riesiger Schritt ist, sich ans staatliche Boys Bar“, „wird man aussortiert. Es sei Hilfssystem anzubinden. Oftmals haben denn, du hast 25 Zentimeter in der Hose, sie nicht einmal mehr die Kraft dazu, sich dann spielt es keine Rolle, ob du 20 oder eine Krankenkassenkarte zu besorgen. Zu 50 bist oder drei Nasen hast.“ Wötzel groß ist die Scheu vor der Offenbarung.“ schätzt, dass nur fünf Prozent der Stricher Erku erzählt, dass er neuen Mut gefasst wirklich homosexuell sind. Alle anderen hat und nun aus dem Milieu austreten überwinden sich, da sie das Geld dringend will: Er hat sich mit anderen rumänischen brauchen, zum Beispiel um Heroin oder Jungs zusammengetan und wohnt mit ihandere Drogen zu kaufen. Seit einigen Jah- nen in einer Sozialwohnung. ren wird vermehrt die extrem suchterzeugende Droge Crystal Meth aus Osteuropa * Erku heißt eigentlich anders. Er bat daeingeschmuggelt, die den Markt mit rela- rum, nur unter diesem Namen genannt zu tiv billigem Stoff überschwemmt. „Viele werden kommen schon total zugedröhnt ins Lokal, weil sie einfach nicht mehr anders können“, erläutert Wötzel.
GEFANGEN IM MILIEU Die unter 18-jährigen Stricher warten am Spielplatz neben der Bar auf ihre Freier, denn in jeder bekannten Szenebar finden regelmäßig sogenannte „Begehungen“ der Polizei statt. Drogenhandel und die Prostitution von Minderjährigen sind keine
Julian Best 19, Sigmaringen ... hat gelernt, dass Europa sogar aus dem Wasserhahn kommt.
19 //
POLITIK AM RANDE DES GRENZWERTIGEN
IM ZENTRUM KREUZBERGS HABEN FLÜCHTLINGE EIN CAMP ERRICHTET, VIELE BEWOHNER DER STADT AKZEPTIEREN UND UNTERSTÜTZEN SIE. SCHWIERIGER IST DIE SITUATION AN DEN AUSSENGRENZEN DER EU, AN DENEN HART GEGEN ILLEGALE EINWANDERUNG VORGEGANGEN WIRD. VON CHRISTIN FIGL
D
ie Situation ist nicht einfach: Die Kälte und ihre Gesundheit machen den Flüchtlingen im Protestcamp in Berlin-Kreuzberg zu schaffen. Es mangelt ihnen an allem. Marali kommt aus Mali und schläft wie sein Bruder nun schon seit einem halben Jahr in einem der windschiefen Zelte am Oranienplatz. Zur Theaterprobe kommt er etwas zu spät. Eine Welle der Protestbewegungen entstand 2012 in Deutschland. Mit Märschen, Camps und Hungerstreiks machen Flüchtlinge auf Missstände in der Asylpolitik aufmerksam und fordern einen Abschiebestopp und die Abschaffung der Residenzpflicht. Diese schränkt die Bewegungs freiheit Asylsuchender auf eine fest zugeteilte Region ein. In der gesamten EU wurden 2012 rund 332 000 Asylanträge gestellt, halb so viele wie im Jahr 1992, als es noch rund 670 000 waren. Laut der europäischen Kommission wurden letztes Jahr 73 Prozent der Erstanträge abgelehnt. Weit mehr Flüchtlinge als der reiche Westen beherbergen übrigens Staaten wie Pakistan, Iran und Syrien, in denen Flüchtlingsströme aus angrenzenden Krisengebieten Schutz suchen. Trotz der vergleichsweise niedrigen Flüchtlingszahlen in Deutschland schüren Fotos von überladenen Flüchtlingsbooten bei manchem Menschen hierzulande Angst vor einer Überflutung Europas Seit einem halben Jahr werden die Flüchtlinge nun schon mitten in Kreuzberg geduldet. Das Camp aus bunten Zelten ist vollkommen selbstorganisiert und partizipatorisch – offen für jeden, der helfen oder mitwirken will.
DER LANGE WEG NACH BERLIN – EIN THEATERPROJEKT So arbeitet auch Christel Gbaguidi am Oranienplatz täglich drei Stunden mit Flüchtlingen an einem Theaterprojekt. „Es ist nicht alles nur Politik. Es geht auch viel darum“, sagt er und deutet mit seiner Hand auf die Brust: Er meint den Menschen, mit all seinen Problemen und Gefühlen. Herr Gbaguidi begrüßt jeden einzelnen jungen Mann:„Ca va? Wie geht es dir?“ Jeder Flüchtling bringt seine eigene, teilweise unsagbar traumatische Lebensgeschichte mit. Genau diese Geschichten, die Flucht vor Gewalt und Not bis zur illegalen Einreise nach Europa, werden zum Inhalt des Theaterstücks. In Deutschland trifft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Entscheidung über Asylan-
\\ 20
DEN MUT NICHT VERLOREN: TÄGLICH LEITET CHRISTEL GBAGUIDI EIN THEATERPROJEKT MIT FLÜCHTLINGEN AN.
träge. Für ein dauerhaftes Bleiberecht muss ein Grund wie politische Verfolgung gegen eine Abschiebung sprechen. Die Unterbringung während des Verfahrens erfolgt in Asylheimen. Laut dem neusten Migrationsbericht des BAMF kommt Deutschlnad auf drei Asylbewerber pro 10 000 Einwohner und liegt damit im Europäischen Mittelfeld.
So grenzenlos Europa für uns EU-Bürger sein mag, es bedarf anscheinend eines immer besseren „Schutzes“ vor Menschen, die selbst Schutz suchen und denen keine Möglichkeit bleibt, legal nach Europa zu kommen.
SCHUTZ DER GRENZEN VOR MENSCHEN, DIE SCHUTZ SUCHEN
Die Staaten an den europäischen Außengrenzen müssen sich besonderen Herausforderungen stellen. Vor allem die Bedingungen in überfüllten Erstauffanglagern sind umstritten. Die Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 legt fest, dass der Erst einreisestaat für das Asylverfahren zuständig ist. Folglich sind Flüchtlinge an das Land gebunden, in dem sie zuerst den europäischen Boden betreten haben. Hierdurch wird eine gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Staaten schwierig und ein System der innereuropäischen Abschiebung belastet wenige Randstaaten mit sehr vielen Asylanträgen. Herr Gbaguidi ist davon überzeugt, dass man Probleme mit Kunst lösen kann. Ein zentraler Aspekt seiner Arbeit am Theaterprojekt sind Kommunikation und Menschlichkeit. Auch Frontex scheint sich nun künstlerisch zu engagieren. Die Grenzschutzagentur schreibt einen Foto
Kontinuierlich wachsen Mauern um Europa herum, vollkommen unsichtbar für uns entscheiden sie doch für andere über Leben und Tod. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex will mit Soldaten, Hubschraubern und Wärmekameras illegale Einwanderung and den europäischen Außengrenzen verhindern. Frontex organisiert auch Grenzpatrouillen und Sammelabschiebungen im Mittelmeerraum. Die Menschenrechtsorganisation Human Rigths Watch nennt Frontex nicht ohne Grund „The EU‘s Dirty Hands“ – die schmutzigen Hände Europas – in seiner gleichnamigen Publikaton über die Behandlung von Flüchtlingen an den Grenzen Griechenlands.
KEINE GESAMTEUROPÄISCHE LÖSUNG
Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
vwettbewerb mit dem Motto „Ties that bind: Bridging borders in modern Europe“ aus. Vielleicht wird Marali in einigen Jahren im Sommerurlaub selbst an Europas Grenzen „inspiration from the beauty of European landscapes“ sammeln. Besonders inspiriert wirkt er allerdings nicht, wenn er davon erzählt, wie er über die Grenze gekommen ist.
Christin Figl 20, Wien ... weiß jetzt, dass im Europaparlament wirklich über 90 deutsche Abgeordnete sitzen.
KREATIVE HERAUSFORDERUNG BRÜSSEL
27 LÄNDER UND 23 SPRACHEN TREFFEN IN BRÜSSEL AUFEINANDER. VIEL ARBEIT UND EINE HERAUSFORDERUNG DIES ZU VERMITTELN – ABER KORRESPONDENTEN SIND EINE SCHWINDENDE SPEZIES. VON NIKLAS GOLITSCHEK UND MAREIKE WITTE
S
pannende EU-Themen finden sich „auf der Straße oder am Boden des Bierglases im offenem Gespräch mit Akteuren der EU-Politik“, weiß Thomas Becker. Der TV-Journalist war drei Jahre lang für den WDR in Brüssel tätig, wo die Themen öfters auch mal theoretisch und trocken sein können. Deswegen sei es für Korrespondenten in Brüssel mühsam, ihre Beiträge in der Heimat redak tion durchzusetzen. „Journalisten müssen die EU personalisieren“, rät Becker. Das gehe am besten mit Beispielen aus dem Alltag. Die Kunst sei es, abstrakte Informationen anschaulich darzustellen. „Ich habe noch nie so kreativ, so wild, so frei gearbeitet wie in Brüssel“, sagt er und grinst. Gleichzeitig müsse man darauf achten, nicht dem Populismus zu verfallen. Diese Einschätzung teilt er mit Reinhard Hönighaus, der ebenfalls drei Jahre in Brüssel war – als Korrespondent für die Financial Times Deutschland: „Für die nationalen Parteien und Medien ist die EU häufig der Sündenbock bei Misserfolgen. Erfolge schreiben sich die Regierungen dagegen selbst zu.“
ZUSTAND DER PRESSEFREIHEIT IN EUROPA
mende Medienvielfalt seien verantwortlich dafür, dass Deutschland im europäischen Vergleich nur durchschnittlich abschneidet.
Neben den inhaltlichen Herausforderungen bei der EU-Berichterstattung sind manche Journalisten außerdem EINE BEDROHUNG DER schwierigen Arbeitsbedingungen in ih- VIERTEN MACHT ren Herkunftsländern ausgesetzt. Laut Reporter ohne Grenzen schneidet zwar „Der Abbau von Vollredaktionen und Zeitungssterben lassen sich in ganz Euein Großteil der europäischen Länder im internationalen Vergleich gut ab. „Aber ropa feststellen“, bemerkt Ulrike Gruska. die Unterschiede zwischen den EU- Auch Becker resümiert: „Der kritische Staaten beim Schutz der Pressefreiheit Journalismus in der EU nimmt ab“. Reinwerden größer“, beklagt Ulrike Gruska, hard Hönighaus sieht die Pressefreiheit Pressereferentin bei Reporter ohne Gren- vor allem durch Ressourcenprobleme zen in Berlin. In den südlichen und öst- bedroht: Die sinkende Korrespondentenlichen Staaten Europas seien oftmals die zahl in Brüssel gefährde die Vielfalt in der Berichterstattung. Nationale Medien wirtschaftlichen Bedingungen, mafiose Strukturen oder der Einfluss des Staates kauften Nachrichten zunehmend AgenGrund für das schlechte Zeugnis. „Die turen ab oder verließen sich auf Presrechtlichen Grundlagen in der EU rei- semitteilungen ohne weitere Recherche. chen aus, aber an der Umsetzung hapert Dieser „Copy-Paste-Journalismus“, wie es oftmals“, so Gruska. Nach der aktuel Gruska ihn nennt, sorge dafür, dass die len Rangliste der Pressefreiheit von Re- Trennung von Werbung und redaktioporter ohne Grenzen liegt Deutschland nellem Inhalt zunehmend aufweicht – es auf Rang 17. Der schlechte Zugang zu gebe weniger Blickwinkel, weniger KonBehördeninformationen und die abneh- trolle, mehr Fehler.
Freier Informationszugang, Medienvielfalt und unabhängiger Journalismus sind unverzichtbar für die Demokratie. Aufgabe der Journalisten in Brüssel ist es, europapolitische Themen für den Leser verständlich aufzubereiten und so das Bewusstsein für Europa zu stärken. Medien können so mitwirken, der EU ein Gesicht zu geben und Transparenz zu schaffen – für ein stärkeres Wir-Gefühl.
Niklas Golitschek 19, Dieburg Mareike Witte 24, Berlin … haben gelernt, dass Sigmar Gabriel mit der Energiesparlampe die Bundestagswahl gewinnen wollte.
FRUCHTFLEISCH Ein Dschungel an Visionen: Dein Wunsch für Europas Zukunft? „VIELFALT“
Fotos: Markus Erdlenburch
„FAIRNESS“
„VEREINT“
RAKESH SHERMA, 56 JAHRE AUS DELHI, INDIEN
RONNY SIMON, 45 JAHRE AUS BRANDENBURG, DEUTSCHLAND
CLAUDIA RÖSSGER, 36 JAHRE AUS BERLIN, DEUTSCHLAND
MEHR MENSCHLICHKEIT UND NACHHALTIGE WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG IN EUROPA. EUROPA SOLL DIE NEUEN INDUSTRIEMÄCHTE FAIRER BEHANDELN.
DIE EUROPÄISCHEN LÄNDER SOLLTEN ENGER ZUSAMMENRÜCKEN. DENNOCH MÜSSEN REGIONALE BESONDERHEITEN ERHALTEN BLEIBEN.
AM ENDE EINES FORTSCHRITTLICHEN INTEGRATIONSPROZESSES SOLLTEN MEINER MEINUNG NACH DIE VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA STEHEN.
21 //
FLÜGELLAHM
VERSUCHSKANINCHEN GRIECHENLAND: DIE MILLIARDEN DER EUROPÄISCHEN RETTUNGSSCHIRME WANDERN DIREKT IN DIE HÄNDE DER GRIECHISCHEN GLÄUBIGER. INVESTITIONEN BLEIBEN AUS. AUF WELCHEM WEG IST DIE EU UND WIE STEHT ES UM DIE SOLIDARITÄT? EIN AUSBLICK VON LISA BRÜSSLER
S
olidarität?“, Effie Papavasileiou lacht, „ich fühle hier keinerlei europäische Solidarität.“ Mit Anfang dreißig ist sie seit fünf Jahren arbeitslos. „Ich habe eine der besten Kosmetikschulen Athens besucht, mein Traum war immer mein eigener Salon, aber die Krise macht ihn unmöglich.“ In Trikala, einer Stadt in Zentralgriechenland, ist die Krise bitterer denn je. Ein Viertel der Bewohner ist auf Armenspeisungen angewiesen, Krankenversicherungen gibt es nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nicht mehr. Die junge Generation verlässt in Scharen das Land und faschistische Parteien bekommen verstärkt Zulauf. Effies Mann versucht sie und ihren fünf Jahre alten Sohn Alexis mit schlecht bezahlten Jobs in der Energiewirtschaft durchzubringen. Studiert hat er Agrarwissenschaft. Nun baut Effie im eigenen Garten saisonales Gemüse an und versucht es an Nachbarn zu verkaufen: „Damit können wir ein Drittel des Gehalts meines Mannes sparen und ich habe eine Aufgabe, die mich vor der Langeweile schützt.“ Wenn sie könnte, würde sie gehen, sagt sie und schaut traurig auf ihren kleinen Gemüsegarten. Sie wünscht sich, dass ihr Sohn einmal seine Träume verwirklichen kann und es nicht am Geld scheitert.
GROSS IST DIE VERWIRRUNG Was Effie fordert, ist gar nicht so sehr die finanzielle Solidarität der Euro-Staaten mit Griechenland, sondern viel mehr die gesellschaftliche. Verständnis für die Situation, die keiner derjenigen Griechen ver- in allen Regionen zu schaffen. Davon ursacht hat, der sie jetzt ertragen muss. sind wir Lichtjahre entfernt!“ Die Schere zwischen armen und reichen Ländern Einseitige Sparmaßnahmen, der Anstieg der Selbstmordrate um ein Drittel, Ar- klaffe so weit auseinander wie noch nie. Und genau das erleben wir derzeit: Eine beitslosenquoten in ungeahnter Höhe und ein negatives Wirtschaftswachstum Währungsunion ohne eine verbindliche bis 2015. Das ist die Bilanz der europä- Wirtschafts- und Sozialunion, die nicht funktioniert und funktionieren kann. ischen Hilfe. „Die aktuellen Programme sind nicht „Ein Konstrukt, das mehr als Währungszonur eine Katastrophe für Griechenland, ne und Binnenmarkt sein will, muss aber sie bedeuten auch eine Gefahr für Euro- auch gesellschaftlich verankert sein“, sagt pa“, meint der Finanzexperte und SPD- Michael Roth. Bundestagsabgeordnete Lothar Binding, „Immer wenn es den Menschen betrifft – WELCHES EUROPA WOLLEN jenseits des Geldes – ist Europa aus dem WIR? Blick geraten.“ Die Werte, die momentan in der In der EU sitzen wir in einem Boot. praktischen Politik Europas vorherrschen, Deutschland ist verwundbar wie kein sind reduziert auf Geld und das zerstört zweites Land. Michael Roth erklärt das Vertrauen in eine Werteunion. Binding ist folgendermaßen: „Unser Wohlstand hängt überzeugt: „Die Hilfen in Milliardenhöhe an den Exporten – über 60 Prozent in die dienen nur indirekt einem System, das EU und rund 40 Prozent in die Eurozone. die Gläubiger bedient und das den Men- Arbeitslose Griechen und Spanier kaufen eben keine teuren Produkte aus Deutschschen vor Ort nicht hilft.“ Michael Roth, europapolitischer land – das wird sich bemerkbar machen.“ Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Im Schatten der wirtschaftlichen drückt es so aus: „Die EU ist von Beginn Dauerkrise hat sich eine Vertrauenskrise an Solidaritätsunion. Ziel ist es, annä- breit gemacht. Für zu viele Menschen ist hernd gleichwertige Lebensverhältnisse Europa daher weniger Teil der Lösung, als
\\ 22
Karikatur: Johannes Keller
Teil des Problems. Vergessen sind über 60 Jahre Frieden in Europa und Vorteile wie grenzüberschreitendes Reisen, Studieren oder Leben. Immer wieder wird die Forderung laut, Griechenland kurzfristig aus dem Euro auszuschließen. „Das ist eine Maßnahme, die uns von der europäischen Idee entfernt und einen Dominoeffekt auslöst“, das ist Bindings feste Überzeugung. „Es ist in etwa so, wie wenn man einem Freund vorschlägt, die Freundschaft mal für drei Wochen auszusetzen und wenn es wieder besser läuft, die Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Das funktioniert nicht.“ Heute tangiert es uns wenig, wenn in Spanien die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent liegt oder jeder zweite junge Grieche arbeitslos ist. „Es muss uns aber tangieren, denn eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied“, so Binding. Die Grundidee Europas war und ist die eines menschenwürdigen Lebens für alle Europäer. Anders wird man auch kein Bekenntnis für Europa bekommen und die Union wird flügellahm bleiben. Effie Papavasileou und ihrer kleinen Familie helfen diese Überlegungen alle wenig. Untereinander versucht man so-
lidarisch zu sein: „In der Weihnachtszeit gab es Geschenkbasare in Trikala. Man hat mitgebracht, was man konnte und es dann getauscht, damit es für jeden eine Bescherung an Weihnachten geben konnte.“ Auch die Lotterie wurde in Trikala abgeschafft. Stattdessen gab es ein Los mit einem befristeten Arbeitsplatz als Lagerkraft in einem Supermarkt zu gewinnen. „Es war das Beste, was seit langem in Trikala passiert ist“, sagt Effie, „wenn es nicht die traurige Realität wäre, hätte ich fast darüber lachen können.“
Lisa Brüßler 21, Göttingen ... hat erfahren, dass es in Griechenland wieder Tauschhandel gibt – back to the roots.
F RISC H , F R U CH T I G, S E L BS TGE P R E S S T – M IT M ACHEN @PO LIT IK O RAN G E.DE
I MPR ESSUM Diese Ausgabe von politikorange entstand im Rahmen des Seminars „Europa in Berlin“, vom 04. bis 07. April 2013 in Berlin. Herausgeber: politikorange ℅ Jugendpresse Deutschland e.V. Alt-Moabit 89, 10559 Berlin www.politikorange.de Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Johanna Kleibl (johanna.kleibl@jpb.de) Anne Juliane Wirth (jule.wirth@jpb.de)
A
ls Veranstaltungszeitung, Magazin, Onlinedienst und Radioprogramm erreicht das Mediennetzwerk politikorange seine jungen Hörer und Leser. Krieg, Fortschritt, Kongresse, Partei- und Jugendmedientage – politikorange berichtet jung und frech zu Schwerpunkten und Veranstaltungen. Junge Autoren zeigen die große und die kleine Politik aus einer frischen, fruchtigen, anderen Perspektive.
POLITIKORANGE – DAS MULTIMEDIUM politikorange wurde 2002 als Veranstaltungszeitung ins Leben gerufen. Seit damals gehören Kongresse, Festivals und Jugendmedienevents zum Programm. 2004 erschienen die ersten Themenmagazine: staeffi* und ortschritt*. Während der Jugendmedientage 2005 in Hamburg wurden erstmals Infos rund um die Veranstaltung live im Radio ausgestrahlt und eine 60-minütige Sendung produziert.
WIE KOMM’ ICH DA RAN?
WER MACHT POLITIKORANGE?
Gedruckte Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen, über die Landesverbände der Jugendpresse Deutschland e.V. und als Beilagen in Tageszeitungen verteilt. In unserem Online-Archiv stehen bereits über 50 politikorange-Ausgaben und unsere Radiosendungen sowie Videobeiträge zum Download bereit. Dort können Ausgaben auch nachbestellt werden.
Junge Journalisten – sie recherchieren, berichten und kommentieren. Wer neugierig und engagiert in Richtung Journalismus gehen will, dem stehen hier alle Türen offen. Genauso willkommen sind begeisterte Knipser und kreative Köpfe fürs Layout. Den Rahmen für Organisation und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Ständig wechselnde Redaktionsteams sorgen dafür, dass politikorange immer frisch und fruchtig bleibt. Viele erfahrene Jungjournalisten der Jugendpresse stehen mit Rat und Tat zur Seite. Wer heiß aufs schreiben, fotografieren, mitschneiden ist, findet Infos zum Mitmachen und zu aktuellen Veranstaltungen im Internet oder schreibt einfach eine eMail. Die frischesten Mitmachmöglichkeiten landen dann direkt in Deinem Postfach.
WARUM EIGENTLICH POLITIKORANGE? In einer Gesellschaft, in der oft über das fehlende Engagement von Jugendlichen diskutiert wird, begeistern wir für eigenständiges Denken und Handeln. politikorange informiert über das Engagement anderer und motiviert zur Eigeninitiative. Und politikorange selbst ist Beteiligung – denn politikorange ist frisch, jung und selbstgemacht.
www.politikorange.de mitmachen@politikorange.de
Redaktion: Sophia Alt, Julian Best, Lisa Brüßler, Markus Erdlenbruch, Christin Figl, Claudia Flach, Niklas Golitschek Edler von Elbwart, Fátima González-Torres, Diana Höhne, Jan Kampmann, Leonard Kehnscherper, Johannes Keller, Dennis Knoll, Zlatina Kolchakova, Bernadette Lumbela, Vanessa Ly, Henrik Nürnberger, Anita Schedler, Anna Julia Schmidt, Katja Sinko, Jörg Spyro, Sophie Steinfeld, Mareike Witte, Julia Zablotny Bildredaktion: Nick Jaussi (nick.jaussi@jpb.de) Paul Wagner (p.l.wagner@hotmail.de) Layout: Maximilian Gens (max@maximiliangens.de) Betreuung: Juliane Jesse (j.jesse@jugendpresse.de) Druck: LR Medienverlag und Druckerei GmbH Straße der Jugend 54 03050 Cottbus Auflage: 2 000 Exemplare Ein besonderer Dank gilt Sarah Vespermann und Inge Voß von der Friedrich-Ebert-Stiftung, sowie der Deutschen Journalistinnenund Journalisten-Union der ver.di. Ein Projekt der Jungen Presse Berlin in Ko operation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung.
MACH MIT! L U S T A U F J OU R NA L I S MU S ? OB A L S A U TOR , L AY OU TE R , F OTO G R A F OD E R CH E F R E D A K TE U R – BE I P OL I TI K OR A NG E K A NNS T A U CH D U A K TI V W E R D E N!
> POLITIKORANGE.DE/MITMACHEN Foto: Nick Jaussi & Paul Wagner
23 //
ABGEKÜRZT: EUROPA GANZ KOMPAKT
EFFIZIENZ BEDEUTET AUCH SPRACHÖKONOMIE. DIESE KANN JEDOCH ZU EINEM ZIEMLICHEN WIRRWARR AN ABBREVIATUREN FÜHREN. EIN WEGWEISER DURCH DEN EUROPÄISCHEN ABKÜRZUNGSDSCHUNGEL. SIND ALLE KLARHEITEN BESEITIGT? Europäischer Entwicklungsfonds
Europäische Freihandelsgesellschaft
EEF SCIC
EFTA
EUROSTAT EFSF ECU
Gemeinsamer Dolmetscher- und Konferenzdienst der EU
SJ
Statistisches Amt der EU
Ausschuss für Landwirtschaft und landwirtschaftliche Entwicklung
Europäische Währungseinheit
AGRI
Juristischer Dienst der Europäischen Kommission Europäische Finanzstabilisierungsfazilität
GSVP KSZE
Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
WWU ER
Wirtschafts- und Währungsunion
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Atomgemeinschaft
EEA EWG
Europäischer Rat
Einheitliche Europäische Akte
OSHA Europäische Agentur für Sicherheit und
EURATOM
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
GASP
EP
EGV EDA EVG
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
Europäische Verteidigungsagentur
ESM
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
Europäisches Parlament
Europäische Verteidigungsgemeinschaft
Europäischer Stabilitätsmechanismus
EGKS ERH Europäischer Rechnungshof Verband der europäischen Kosmetiker COLIPA OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Europäischer Gerichtshof EUGH UCLAF Stelle zur Koordination der Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EU
Europäische Union
Haushaltsausschuss des EP
BUDG
TAXUD
Generaldirektion Steuern und Zollunion
EZB ECOFIN WEU
Westeuropäische Union
Europäische Zentralbank
Rat der Wirtschafts- und Finanzminister