Eingebrannt OKtober 2011
Unabhängiges Magazin zuM Workshop „Vergessen im Internet“ HERAUSGEGEBEN von der Jugendpresse DEUTSCHLAND
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Foto: Raphael H端nerfauth
Worüber reden wir hier eigentlich?
Edi tor i a l Liebe Leserinnen und Leser,
Vielleicht müssen wir uns nicht über unser Wertsystem im Internet unterhalten, wenn wir nur „Farm Ville“ bei facebook spielen oder den Wetterbericht suchen. Allerdings ist das Internet auf dem Weg zum zentralen Werkzeug in unserem Leben. Deshalb müssen wir uns auf Werte einigen, die dort genauso gelten wie offline. Dann können wir entscheiden, wie wir das Netz nutzen wollen – damit wir nicht benutzt werden. Von Fritz HabekuSS
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ls Max Frisch Ende der 60-er Jahre fragte: „Möchten Sie das absolute Gedächtnis?“, hätten wir es uns leicht machen können. Wir hätten uns ausmalen können, wie schön es sein würde, nie mehr den Geburtstag der Freundin oder die Hausaufgaben in Schule oder Uni zu vergessen. Wir hätten Gänsehaut bekommen können bei dem Gedanken daran, dass dann vielleicht auch der beste Freund sich alles merken könnte, was wir ihm im Streit an den Kopf geworfen haben. Aber damals waren wir noch nicht geboren. Und selbst wenn: Wir hätten mit den Schultern zucken können und weiterblättern. Denn die Frage war nicht mehr als ein Gedankenspiel, das wir ein Gedankenspiel hätten sein lassen können. Vielleicht hätten wir versucht, uns die Frage zu merken, um sie bei passender Gelegenheit zu stellen. Wahrscheinlich hätten wir sie vergessen Frisch stellte die Frage in seinem Tagebuch, das war vor mehr als 30 Jahren. Heute ist Frisch tot, aber seine Frage bleibt. Denn heute haben wir das absolute Gedächtnis. Ich habe es gerade benutzt, um zu schauen, wann Frisch sein Buch veröffentlicht hat. Dann habe ich gecheckt, ob Frisch wirklich „Wollen Sie das absolute Gedächtnis“ gefragt hat. Oder erinnere ich mich falsch? Ja. Frisch hat höflicher formuliert, er fragte „Möchten Sie…“ Dieses absolute Gedächtnis erinnert sich aber nicht nur an Frischs genauen Wortlaut. Es erinnert sich auch an Beleidigungen, Fußballergebnisse in der Kreisliga von vor 10 Jahren oder die Zeit, die ich beim Waldlauf in der siebten Klasse geschafft habe. Frischs Frage brauchen wir heute gar nicht mehr beantworten. Nicht, weil sie ein Gedankenexperiment war. Sondern weil sie längst Realität geworden ist: Durch das Internet. Daraus ergibt sich eine neue Frage. „Wie gehen wir mit dem absoluten Gedächtnis um?“ Aber das fragen wir nicht. Wir sind höchstens besorgt darüber, was mit unseren facebook-Daten passiert. Aber selbst das interessiert, nebenbei gesagt, kaum jemanden wirklich. Wir brauchen eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte darüber, wohin uns das allmächtige Gedächtnis des Internets führen wird. Man hat das Gefühl, die Argumente, die heute darüber ausge-
tauscht werden, spiegeln einen Stand von vor zehn Jahren wieder. Damals konnte noch niemand damit rechnen, dass jede Information im Netz öffentlich ist und unwiederbringlich. Sichtbar, potentiell zumindest für jeden. Selbst wer heute eine weiße onlineWeste hat – über den sich also nichts im Netz finden lässt – kann sich sicher sein, dass es nicht so bleiben wird. Das gilt zumindest für die Generation unter 40. Denn immer mehr Kommunikation wandert ab ins Netz, Informationsbaustein kommt zu Informationsbaustein, DatenSchnipsel reiht sich an Datenschnipsel. Die Antworten, die wir heute auf die Frage haben, schreiben ‚Reputationsmanager’ und ‚Kommunikationsberater’ auf ihre Visitenkarten. Sie helfen, dass die Bausteine, die sowieso schon im Netz sind, vom Durchschnittsbesucher auch zu einem vorteilhaften Bild zusammengesetzt werden. Sie holen aus den Infos, die über ihre Kunden im Netz zu finden sind, das Beste heraus. Daran ist nichts auszusetzen. Auszusetzen ist jedoch, dass wir uns nicht fragen, ob wir das überhaupt wollen: Vor vollendete Tatsachen gestellt werden und im Zweifel nur noch Schadensbegrenzung betreiben zu können, lässt uns nur Raum zu reagieren, nicht selbst zu entscheiden. Es fehlt die Auseinandersetzung darüber, ob wir der Entwicklung des Internets weiter hinterherlaufen wollen. Niemand, außer ein paar sehr speziellen Zeitgenossen, will zurück in eine Zeit, in der man zum Telefonieren noch Kleingeld für die Telefonzelle bereithalten musste und drei Tage auf einen Brief wartete, um ein Lebenszeichen von einem Freund zu erhalten. Darum sollte sich die Debatte auch nicht drehen. Sondern darum, wie wir mit der neuen Situation umgehen. Auch wenn sich digitale Daten nicht an nationale Grenzen halten: ein internationales Internet-Recht wird es auf mittlere Sicht nicht geben, zu unterschiedlich sind nationale Rechtssysteme und Interessen. Der „digitale Radiergummi“ wird wohl ebenfalls noch eine Weile nicht mehr als eine schöne Metapher bleiben. Zu groß und unüberwindbar sind bislang die technischen und juristischen Fragestellungen. Hilft nur ein Ansetzen auf der untersten Ebene: Beim Nutzer. Er muss sich im Klaren sein, dass ein unüberlegter Blogeintrag potentiell für immer mit ihm
in Verbindungen gebracht werden kann, genau wie ein hitziger Kommentar unter einem Spiegel-Online-Text. Aber wissen wir das nicht längst? Hat sich nicht jeder facebook-Nutzer schon mal fragen lassen müssen: „Weißt du, was du tust?“ Natürlich wissen wir das, zumindest in den meisten Fällen. Aber oft interessiert es uns nicht. Wir hoffen auf den Schutz der anonymen Masse, fühlen uns wie ein Fisch im Schwarm. Genau das sind wir aber nicht, schnell sind aus der Masse an Information spezifische Daten herausgefiltert. Bewusst wird uns das aber erst, wenn es zu spät ist. Wenn wir befürchten müssen, dass sich jemand ein schlechtes Bild aus den Mosaiksteinen zusammensetzt, die er findet. (Was uns im Übrigen im Offline-Leben genauso droht.) Das Internet ist menschengemacht. So verhalten wir uns aber nicht. Wir könnten selbst bestimmen, wie wir das Netz nutzen. Das tun wir nicht, wir unterhalten uns darüber, wie das Netz uns benutzt und war wir dagegen tun könnten. Zuerst müssen wir wissen, wie es funktioniert. Das ist bislang nur einigen wenigen klar. Wer nur die Oberfläche von facebook und Google kennt, hat es schwer zu verstehen, wo die Fallstricke der Technik verborgen sind. Dann müssen wir uns über Regeln unterhalten: Warum sollten wir im Netz auf Grundrechte verzichten? Die Hoheit über die eigenen Daten zu behalten, sollte die Basis sein. Und auch im Internet sollte niemand das Recht haben zu gegen die Grundrechte andere zu verstoßen. Rassistische Beleidigungen, Rufmord oder die Aufforderung zu Straftaten haben im Netz genauso wenig zu suchen wie in einer Kneipe oder einer Zeitung. Steht das einem Recht auf Anonymität entgegen? Nein, denn das muss es auch geben – aber nicht auf Kosten andere Rechte.
warum schreibt man ein Heft über ‚Vergessen’? In unserer datensammelwütigen Gesellschaft scheint dieser Begriff unzeitgemäß, geradezu antiquiert. Wer will schon vergessen, wenn man alles speichern, bewahren und wieder abrufen kann? Vergessen wirkt in der modernen, schnellen und aufgeklärten Welt wie ein unnatürlicher Vorgang. Woher kommt dieser Drang, der Unsterblichkeit allen Wissens dermaßen entgegen zu eifern? Wollen wir uns auf diese Weise selbst unsterblich, unvergessen machen? Vier Tage lang haben wir uns in Berlin mit diesem Thema auseinander gesetzt, haben mit rauchenden Köpfen und vor heiß laufenden Laptops überlegt, diskutiert und recherchiert. Anlass war der Ideenwettbewerb des Bundesministeriums des Innern mit dem Titel „Vergessen im Internet“. Unser Ziel war es nicht, Antworten zu finden, sondern vor allem Fragen aufzuwerfen. Fragen, die eine Debatte darüber anstoßen sollen, welchen Wert wir dem Erinnern und Vergessen beimessen und welche Anforderungen wir an das Internet stellen. Dabei standen uns Hacker und Historiker, Journalisten und Soziologen, Juristen und Reputationsmanager unterstützend zur Seite. Eure Chefredaktion Anna Brüning und Fritz Habekuß
Inha lt
»Ausziehen« Was hemmlungslose User auf facebook öffentlich machen. Seite 04
»Nachdenken« Revolutioniert das Netz unsere Geschichstsschreibung? Seite 07
»Rauskriegen« 30 Minuten, zwei Gegner und ein Ziel. Das DatenDuell. Seite 12
»Zurücklehnen« Das Internet soll denken lernen. Aber wollen wir das? Seite 17 Fritz Habekuss 21 Jahre, Dortmund Wird sich an seine erste poltikorange-Ausgabe als Chefredakteur noch lange erinnern. Auch ohne Internet.
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Foto: Raphael H端nerfauth
„Mein Mathelehrer ist ein Arsch.“
Nicht jeder FacebookNutzer weiSS, wie er sein Profil gegen fremde Blicke Schützt – und was er lieber nicht schreiben sollte. Mit Hilfe von openbook.org hat Daniel Hohn öffentliche Profile von Menschen durchforstet. Von daniel hohn
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ehmet K.* ist angehender Stuckateur in einer großen Stadt Süddeutschlands. Wenn er gerade nicht seinem großen Hobby ‚Autos‘ nachgeht, besucht er ein Berufskolleg im Norden der Stadt. Vor zwei Wochen hatte er Ärger in der Schule und befand: „Scheiss Lehrerin die nutte ist voll streng.“ Woher ich das alles weiß? Ich kenne Mehmet K. nicht. Das muss ich auch nicht. Auch seine Lehrerin bräuchte nur seinen Namen bei Facebook eingeben und würde sein Profil zu sehen bekommen, denn er ist hier mit seinem richtigen Namen vertreten. Ob seiner Lehrerin solche Aussagen gefallen? Dank seines angegebenen Wohnorts, Arbeitgebers und seiner hochgeladener Fotos kann man ihn leicht zuordnen. Doch was macht Mehmet K. eigentlich in diesem Artikel, wie wurde er zum Gegenstand der Recherche? Dabei half die Plattform openbook.org – eine Seite, welche die öffentlichen Profile von Facebook nach eingegebenen Stichwörtern durchsucht. Will man brisante Beiträge finden, reichen bestimmte Schlagworte wie Beleidigungen oder „mein Chef“, um ein Ergebnis zu erzielen. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich mache“, antwortet Mehmet, als ich ihm darlege, welche Informationen und Brisanz sein öffentliches Profil beinhalten. „Das war einfach dumm von mir,
Beamtenbeleidigung, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung vor einem Gericht verantworten. Er kommt zu spät zum Gerichtstermin: „Bin schon 30 min zu spät zur verhandlung“, schreibt er – was er jedoch wenig bedauert: „Ich Feier das.“ Das gefällt nicht jedem: „Richter voll sauer. Jetzt muss ich warten.“ Diese Nachrichten hat David per Handy als Live-Berichterstattung an Facebook geschickt. Was sein Arbeitgeber, eine Stadtbehörde im Ruhrpott, dazu sagen würde, wenn er das zu lesen bekäme? Auch David konfrontiere ich mit dem, was er alles im Internet von sich preisgibt. „Ja was soll ich dazu sagen? Ich dachte, es können nur Freunde lesen“, antwortet er. Auf die Frage hin, wie er ab jetzt mit dem Thema umgehen wolle, antwortet
David: „Ich achte darauf, was ich schreibe.“ Doch auch Tage später ist sein Profil mit richtigem Namen weiterhin öffentlich sichtbar und auch die Beiträge sind noch da.
„Ich dachte, es können nur Freunde lesen.“ Die Suche geht weiter. David K.* ist ein besonderer Facebook-Nutzer: Er hat oftmals Probleme mit dem Gesetz und muss sich unter anderem aufgrund von
Die volle Bandbreite zweifelhafter Beiträge Auf der Reise durch openbook.org fallen einem viele Personen auf, die bedenkliche Nachrichten schreiben – ob über Chef, Schule oder ihre Straftaten. Nur drei von 16 haben mir geantwortet, als ich sie angeschrieben habe. Einige ändern prompt ihren Namen oder blockieren ihr Profil. Die meisten machen jedoch nichts.
dachte auch schon daran, nicht so viele Daten freizugeben und wollte es ändern. Doch die Tatsache, dass ich zum größten Teil per Handy im Internet und auch auf
Pascal S.:„Ab zur dreckigen Arbeit und mal der Chefin sagen was das für ein Sauhaufen ist :) und mir das Gerede anhören“ ihrem realen Namen öffentlich geschaltet waren: Jennifer M.*: „Mein Mathe lehrer is en Arsch…“ Dennis N.*: „Kein bock auf Arbeit Mann, mein Chef kann meine Latte kraueln!“ Dave T.*: „Bio ist so scheiße, ich
Alexey E.:„Scheiß Jobcenter checken garnichts was hier abgeht // Monatg Beratungsstelle Empfehlungsschreiben abholen // 27.11 ... Gericht, wahrscheinlich 1 Monat Knast // Zu tief gesunken...“
Maren P.:„Kostenlose Alternative sich verarschen zu lassen wenn man hilfe braucht weil man echt nichts mehr hat... Danke Herr Bruns. Sie sind ein Held. Bei der nächsten Gelegenheit überreiche ich Ihnen einen Orden sie hinrloser Penner!“ das kommt nicht mehr vor“, entschuldigt er sich beinahe. Einen Tag später hat er seine Beiträge sowie Wohnort und Arbeitgeber entfernt. Auch sein Name ist auf einmal ein anderer.
Und das, obwohl es manchmal bitter nötig wäre. Hier einige Beispiele von Profilinhabern, die mit Wohnort, Fotos, gegebenenfalls Schule oder Arbeitgeber und
Facebook bin, zögert es hinaus.“ Später erzählt er, dass der betroffene Lehrer sich auch gar nicht als so schlimm herausgestellt habe: „Doch erst nach einer Zeit kennt man einen Menschen und das war eine Vorverurteilung über ihn. Er ist eigentlich ein ganz netter Mensch und jemand, mit dem man sich nach der Schule gut unterhalten kann.“ Eine Erkenntnis, die für das Medium Internet zu spät kommt, denn weiterhin ist dieser Beitrag auf seinem Profil und über openbook auffindbar. Ob die Menschen es nicht besser wissen oder bewusst fahrlässig handeln: Jede unüberdachte Äußerung im öffentlichen Raum stellt eine Gefahr für das Bild dar, das man im Internet von sich aufbaut. Und damit ist nicht nur der Personalchef gemeint, sondern alle – denn einen Namen kurz in die Suchmaske von sozialen Netzwerken oder Suchmaschinen eingeben, kann jeder.
kotzen gleich, meine Lehrerin ist voll die Behinderung…..“ Marleen B.*: „JOBCENTER: Kostenlose Alternative sich verarschen zu lassen wenn man hilfe braucht weil man echt nichts mehr hat….Danke Herr B.* Sie sind ein Held. Bei der nächsten Gelegenheit überreiche ich Ihnen einen Orden * Namen von der Redaktion geändert sie hirnloser Penner!“ Die Liste könnte man endlos weiterführen. Mit Sandra S.* etwa: „Verfickter drecks oberbehinderter arschkack hässlicher fuckdummer Scheisstag!! ich hasse MONTAG. lehrer. und mathe erst!“
„Das war eine Vorverurteilung.“ Kevin L.* arbeitet an einem Kiosk im Rheinland – in seiner Arbeitszeit schreibt er regelmäßig Statusmeldungen mit Verweis auf seine Arbeitsstätte. Aber auch während der Schule hat er einiges zu berichten: „Omg mein Lehrer ist ein spasst“ schreibt er und nennt den Namen des Lehrers. Als ich ihn frage, wie es soweit kommen konnte, versucht er zu erklären: „Ich
Daniel Hohn 24 Jahre, Landau Daniel würde gern vergessen, was er alles auf der openbook-Recherche lesen musste.
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„Die dritte Generation ist anders“
Der Mensch vergisst – ganz automatisch – und das hat einen Sinn. Doch gilt das Gleiche für das kollektive Gedächtnis? Dürfen auch Gesellschaften vergessen? Wie wichtig sind Zeitzeugenbefragungen? Und wie viele Generationen braucht es, Schmerzhaftes aufzuarbeiten? Zwei Historiker und eine Publizistin im Gespräch. Von Anna Brüning
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rinnern bedeutet Verantwortung. Wir alle sind mit verantwortlich, die Erinnerungen und Erfahrungen früherer Generationen zu bewahren, daraus zu lernen und zu verhindern, dass sich Schlimmes aus der Vergangenheit wiederholt. Auch Uta Gerlant von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist überzeugt: „Wir als Gesellschaft können unsere Erfahrungen nur aus dem ziehen, was wir in der Vergangenheit erlebt haben - nicht aus der Zukunft.“ Daher
Helga Hirsch
Foto: Raphael Hünerfauth
müsse in Gesellschaften auch immer an vergangene Schreckenssysteme erinnert werden, um Zukünftige vermeiden und was dagegen setzen zu können. Damit sei aber nicht bloßes rituelles Gedenken gemeint, betont Gerlant. Gedenken müsse vielmehr an ein konkretes Wissen und eine gewisse Haltung gekoppelt sein und verschiedene Erfahrungen ins Gespräch bringen. „Erinnerung ist ja keine Eins-zueins-Abbildung zu dem, was geschehen ist, sondern eine Verarbeitung dessen“, erklärt Gerlant, „Erinnerung ist eine Formung, ein ständiger Prozess.“ Es habe aber auch nicht immer nur Vorteile. Im Nordirlandkonflikt, bei dem englischstämmige Protestanten gegen irischstämmige Katholiken gekämpft haben, sei beispielsweise jeder Opfer und jeder im Recht gewesen. Durch das ständige Wiederholen von Schuldzuweisungen sei der Konflikt eher festgefahren worden, sagt Uta Gerlant und fügt hinzu: „Vergessen ist jedoch nicht das Heilmittel, sondern, miteinander zu reden.“ Dem schließt sich auch Jan Holger Kirsch an. Der Historiker vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam erklärt: „Das Erinnern hat nicht allein den Zweck, zu erfahren, was passiert ist. Sondern auch, bestimmte Verknüpfungen
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zu verstehen.“ Es ginge also primär um die Frage, warum etwas wie passieren konnte. Dass durch das Erinnern aufgezeigt werden könne, wie etwas warum funktioniert habe, glaubt auch Helga Hirsch. Die freie Journalistin und Publizistin zweifelt jedoch: „Ob man davon aber etwas für die Gegenwart oder Zukunft ableiten kann, ist etwas anderes.“ Denn selten gebe es in der Geschichte die gleiche Ausgangssituation, nur sehr selten könne man Parallelen ziehen und Vergleiche anstellen. Die Migrationswelle der Deutschen ins damalige Habsburger Reich habe zum Beispiel unter ganz anderen Bedingungen statt gefunden, als die Migration der Türken heute in Deutschland. Jan Holger Kirsch misst in der Erinnerungsforschung auch den Medien eine entscheidende Rolle zu. Filme wie Schindlers Liste und Dokumentationen werden in den eigenen Narrativ mit eingebaut. Holocaustflüchtlinge in Amerika konnten durch sie erst ihr Erlebtes in einen größeren Kontext bringen, erläutert er. In Deutschland hingegen sei lange Zeit über die Verbrechen der Nazizeit geschwiegen worden. Das habe sich erst mit der Ausstrahlung der großen Gerichtsverfahren geändert, wo zu sehen war, dass Menschen unter ihren Erinnerungen geradezu zusammen gebrochen seien, so Kirsch. Nicht aber jede Art und Weise, Erinnerung durch Zeitzeugen zu speichern und zu bewahren sei unbedingt zu befürworten, findet der Historiker. Das Zeitzeugen-Projekt vom ZDF mit dem Titel „Das Gedächtnis der Nation“, sieht er beispiels-
Jan Holger Kirsch
Foto: Raphael Hünerfauth
weise kritisch. Da fahre ein Kamerateam mit dem Bus durch Deutschland und interviewe Menschen, die bedeutende Er-
uta gerlant
Foto: Raphael Hünerfauth
eignisse in der Deutschen Geschichte miterlebt haben. Es fange zwar eine gewisse Multiperspektivität ein, so Kirsch, „Aber was auffällt, ist die nationale Konnotation dabei, – also, dass es das Gedächtnis ‚unserer’ also ‚einer’ Nation sein soll.“ Aber Erinnerung passiere normalerweise nicht primär in einem nationalen Rahmen, so der Historiker, und höre nicht an den staatlichen Grenzen auf. Da stimmt auch Uta Gerlant zu. „Man muss es ja auch reflektieren und hinterfragen, nachfragen und deuten können“, ist sie überzeugt, „auch bei Zeitzeugenaussagen.“ Grundsätzlich seien Zeitzeugeninterviews zwar zu befürworten, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Im Internet kann man sich zum Beispiel auch unter zwangsarbeit-archiv.de Befragungen ansehen. Doch hier werde zusätzlich didaktisches Material angeboten, um mit den Interviews auch umgehen zu können. Helga Hirsch sieht das Bestreben von Historikern, die versuchen, alles in einem größeren Rahmen einzuordnen, hingegen kritisch. Sie selbst habe im Kosovo und Polen Zeitzeugenbefragungen durchgeführt und dabei gelernt, dass es immer sehr viele verschiedene, auch gegensätzliche Mosaiksteine gebe. Man müsse akzeptieren lernen, dass es in der Geschichte immer eine Vielzahl von Sichtweisen und Realitäten gebe. Bei ihrer Arbeit hat Helga Hirsch auch in Jugoslawien mit Frauen gesprochen, die während des Krieges vergewaltigt wurden. Die systematische Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe, die mit einem Genozid gleichzusetzen ist. Einmal, erinnert sie sich, habe sie mit einem Opfer über ihr Martyrium gesprochen. Die Frau habe sich plötzlich beim Erzählen – durch die bloße Erinnerung – übergeben müs-
sen. Eine Psychologin habe ihr daraufhin erklärt, dass sei Teil des Verarbeitungsprozesses. Es gebe Erinnerungen, die der Mensch nicht verkraften könne oder erst schwer lernen müsse, zu verkraften. Allerdings sehe jeder in seiner Erinnerung erst mal sich selbst, bedauert Helga Hirsch. Es sei schwer, von dem Weg wieder weg zu kommen und auch die schmerzhafte Erinnerung der Gegenseite zu akzeptieren. So gebe es in der Erinnerungsforschung etwas, das sich ‚Opfer-Konkurrenz’ oder ‚Konkurrenz des Leidens’ nennt. In Polen zum Beispiel haben sich die Opfer des NS-Regimes und Opfer des Stalinismus darum gestritten, wer mehr Gedenkfläche bekäme, erläutert Hirsch. Beide Seiten glaubten, ihr jeweiliges Leid sei größer gewesen als das der Gegenseite. Die, die auch in den Dialog tritt und darüber redet, sei meistens erst die zweite Generation, so Hirsch. Allerdings müsse man auch hier genau hinschauen. Die 68er haben ihrer Elterngeneration zwar heftige Vorwürfe gemacht. „Doch wenn man mal jemanden gefragt habe, ob er denn auch mit seinem eigenen Vater gestritten habe, haben fast alle immer ‚nein‘ gesagt“, erzählt Hirsch. Der Grund sei ein unglaublicher Grad der Beschämung gewesen. Die Eltern hätten dicht gemacht, und die Söhne und Töchter „verbal raufgehauen“. „Deswegen ist das mit der dritten Generation anders“, ist sich Hirsch sicher, „Weil sie ihre Großeltern nicht anklagen.“ Die dritte Generation sei oft diejenige, die wirklich verstehen möchte, ohne jemandem persönliche Schuldzuweisungen zu machen. Die Enkel können die Erinnerungen der Großeltern oft besser in den großen Zusammenhang einordnen, erklärt Hirsch, weil sie nicht mehr so stark mit den offenen Wunden beschäftigt seien.
Anna Brüning 24 Jahre, Berlin Anna vergisst oft, in den Briefkasten zu schauen, aber nie, ihre Emails zu checken.
Tweets aus judäa
Noch nie stand – Wikipedia und Co. sei Dank – einer so breiten Masse an Menschen die Möglichkeit zum Publizieren eigener Erlebnisse, Erfahrungen oder Meinungen offen. Doch wie wirkt sich dies auf die Geschichtsschreibung aus? Wird nun jeder mit einem Laptop auf dem SchoSS zum Zeitzeugen und Teil einer riesigen Enzyklopädie namens Internet? Von Julia Lorenz
Foto: Maja Kowalczyk / www.jugendfotos.de
Nieder mit den Relikten aus analogen Zeiten
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apier ist geduldig und vor allem recht schweigsam. In grauer, prä-digitaler Vorzeit vertraute man unter anderem aus diesem Grund seine Erinnerungen und Fotos dem Tagebuch oder Familienalbum an. Heute jedoch teilen bereits Dreizehnjährige ihre Gedanken und Gefühle via Blog mit aller Welt. Die Möglichkeit, überall und jederzeit eigenes Gedankengut zu publizieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen, ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Dass dies nicht immer so gewesen ist, offenbart ein kurzer Blick ins Geschichtsbuch: Nicht die Memoiren der attischen Hirtengattin prägen unser Bild des antiken Griechenlands, sondern Epikurs Ausführungen. Und wären die sozialen Netzwerke nicht ein Novum des 21. Jahrhunderts, hätten Tweets eines Durchschnittsbürgers aus Judäa wie „Unterwegs mit Jesus und Maria Magdalena! Wer kommt später noch mit auf einen Wein?“ Historikern und auch Historienthriller-Autoren wie Dan Brown vielleicht eine Menge Arbeit erspart.
Kollektives Gedächtnis statt Monopol der Intellektuellen? Diejenigen, die die Geschichte im wahrsten Sinne aufgeschrieben und bewertet haben, waren meistens die „großen Denker“, die Intellektuellen, Philosophen, Historiker oder später auch die „Zeitungsleute“, die Redakteure und Publizisten. Der Mensch neigt dazu, eher dem Urteil eines in seinem Fachbereich anerkannten Experten Glauben zu schenken als den
Ansichten des Durchschnittsbürgers oder Laien. In der Kommunikationswissenschaft bezeichnet man diese intellektuellen Autoritäten als „Meinungsführer“, denen ihre „Meinungsfolger“ aufgrund seines gesellschaftlichen Standes ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit beimessen. Sie haben großenteils das Zeitgeschehen dokumentiert, versucht den Zeitgeist und die Fragen, die die Generationen beschäftigten, einzufangen versucht und uns überliefert. Aus dieser Archivierung ziehen wir zu großen Teilen den aktuellen Wissenstand. Doch die Version des kleinen Mannes finden sich selten in den Chroniken der Geschichte.
Historischer Umbruch oder Hype? In der schönen neuen Netzwelt hingegen kann jeder Mensch mit Internetanschluss beispielsweise die weltweit größte Enzyklopädie „Wikipedia“ mitgestalten. Ein Hochschulabschluss oder Doktorgrad ist hier nicht vonnöten. Es scheint, als liege die Deutungshoheit des Geschehens nicht mehr nur in den Händen einiger Privilegierter. Findet durch die Webpräsenz eine Demokratisierung der Geschichtsschreibung statt? Ein weiterer Vorteil des Internets liegt in seiner Transparenz. Zudem können Aufzeichnungen, Dokumentationen oder Fotos aufgrund von ungewollter oder willkürlicher Zerstörung nicht mehr dem Vergessen anheimfallen wie beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek oder der gezielten Bücherverbrennung der Nazis im Jahre 1933.
Symptomatisch für diese neue Qualität der öffentlichen Meinungsäußerung und Erreichbarkeit von Wissen ist die Arabische Revolution, welche in den Medien oft als „Twitter-Revolution“ bezeichnet wurde: Da das Internet die Vernetzung sehr heterogener Teile der Bevölkerung erlaubt, wird den „sozialen Medien“ eine maßgebliche Rolle bei den Ereignissen in Nahost zugeschrieben.
Historiker sind keine Stenotypisten des Zeitgeschehens Das alles klingt zunächst nach einem Fortschritt. Viele Experten teilen diese Einschätzung jedoch nicht. Die neuen Kommunikationsformen seien nicht das Moment gewesen, das den revolutionären Willen der Menschen beflügelt habe, meint auch Autor und Journalist Malcolm Gladwell. In einem Interview von ‚politik-digital‘ ruft er in Erinnerung, dass schließlich auch die Französische Revolution im Jahre 1789 „offline“ auf die Beine gestellt worden sei. Dennoch ist Nutzung des World Wide Webs längst kein Garant für bedenkenlose Meinungsäußerung: So wie Hans und Sophie Scholl 1943 beim Verteilen ihrer Regime-kritischen Flugblätter erwischt wurden, sind 2009 im Iran zwei Webaktivisten gehängt worden, nachdem ihre Netzidentität aufgeflogen war. Auch gibt es immer noch zu viele repressive Regimes in dieser Welt, die keinen uneingeschränkten Zugriff auf die Webseiten im Internet zulassen. Noch immer gibt Länder, in denen die öffentliche Meinungsäu-
ßerung durch Zensur reguliert wird. Noch immer gibt es Gesellschaften, in denen aufgrund fehlender Bildung oder mangelnder technischer Möglichkeiten nur ein kleiner, privilegierter Prozentsatz den Tenor bestimmt. So ist es nicht nur die Reputation, die Historikerinnen und Historiker für uns unentbehrlich machen: Sie sind mehr als nur die Stenotypisten des Zeitgeschehens. Sie zeigen insbesondere mehrdimensionale Zusammenhänge auf, erklären, deuten Indikatoren und fügen aus den Mosaiken des Vergangenen Bilder und Funktionsweisen der menschlichen Gesellschaft zusammen. Überließe man dies der vernetzten Allgemeinheit, stieße man sicher in vielen Fällen auf interessante und multiperspektivische Ergebnisse, doch liefe eventuell Gefahr, nicht selten mit Schlussfolgerungen auf Stammtischniveau konfrontiert zu werden. Das Wissen allein befähigt noch nicht dazu, es auch systematisch einordnen und bewerten zu können, dazu brauchen wir auch weiterhin die Experten.
Julia Lorenz 20 Jahre, Berlin Julia vergaß während des Workshops hin und wieder das Schlafen.
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Ruhe im Internet-Frieden
Schon zu Lebzeiten am Online-Image nach dem Tod feilen ist dank digitaler Friedhöfe kein Problem. Sophie Wenkel hat sich innerhalb von 20 Minuten unsterblich gemacht – und wird es wohl bleiben. Von Sophie Wenkel
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is auf eine kleine Erkältung geht’s mir ziemlich gut, todkrank bin ich jedenfalls nicht. Darüber, wie ich nach meinem Leben dargestellt werden möchte, habe ich mir bislang keine Gedanken gemacht. Das ändert sich heute: Ich tippe „Digitaler Friedhof“ bei Google ein. Zahlreiche Seiten mit Onlineshop-ähnlichen Slogans springen mir entgegen. Die erste erinnert an Facebook – weiße Schrift auf blauem Balken. Ich suche weiter. „Legen Sie kostenlos in nur 4 Schritten eine Gedenkseite an. Sie können Gedenkkerzen anzünden und bis zu 10 Fotos teilen! Bei unserem Premiumaccount sind ihrer Trauer keine Grenzen gesetzt: endloser Inhalt, individuelles Design, Hintergrundmusik und vieles mehr. Nur 39€!“ Vielleicht später. Bei einem anderen Portal klicke ich auf „Kostenlos testen“. Skurril, irgendwie: die Unsterblichkeit auszuprobieren.
„Nummer fünf“. Als Friedhof wähle ich Greater London, City of Westminster, da wollte ich schon immer mal hin. Gut, dann bin ich wohl jetzt...unsterblich. Facebook und stayalive sind nichts anderes als eine Parabel auf unser reales Leben – im Todesfalle müssen wir sinnbildlich auch im Internet sterben. Der Wunsch nach Selbstbestimmung des Todes, den wir im wirklichen Leben nicht lenken können, die Angst vor dem Vergessenwerden oder die permanente Selbstdarstellung sind Triebfedern zur digitalen Ewigkeit.
Als Friedhofstourist im Netz unterwegs Auch wenn ich bislang niemanden gekannt habe – beim Durchklicken der Gedenkstätten stellt sich ein Gefühl von Betroffenheit ein. „Von Mama und Papa, 16.8.2011, 13.47 Uhr: Lieber Jan, heute vor vier Jahren warst du schon nicht mehr bei uns. Es tut immer noch so weh und wir vermissen dich sehr. Wir lieben dich, wo auch immer du jetzt bist. Ich hoffe es ist so schön dort, wie ich es dir bei unserem Abschied beschrieben habe“, tickert eine digitale Trauerkerze. Seltsam, wie Eltern ihre Wünsche an ihr Kind ins Jenseits schicken. Ich fühle mich schwermütig, beklommen. Wie ein Voyeur klicke ich mich durch fremde Leben und Tode. Eine Gratwanderung, ethisch korrekt oder einfach morbide? Ich habe genug. Verzweifelt suche ich den „Löschen“-Button für mein Profil. Der Kommerz mit dem Tod löst in mir Unbehaglichkeit aus. Aber kann ich mein virtuelles Licht auspusten? Der Knopf ist unauffindbar. Aber es wäre ja auch paradox, die Unendlichkeit zu beenden. Gut, schreibe ich halt eine E-Mail. War das jetzt Begründung genug, stayalive?
Eternity Package. Jetzt nur 499 Euro! Name, Geburtsdatum, Wohnort, E-Mail – bis jetzt wirkt alles noch wie eine Anmeldung für einen Newsletter. Während ich mein Profilbild in Form eines welken Blattes hochlade, ertappe ich mich bei der Frage, wie oft es wohl „geliked“ wird. Ist ja auch naheliegend, schließlich sind infrieden.de, stayalive.com oder trauer. de, die „Facebooks für Tote“. Da ist es eine logische Schlussfolgerung, dass man gedanklich oder ganz konkret den Facebook-Account verknüpft. Ständige Selbstdarstellung für alle, prä- und postmortal – Yippieh! Digitale Friedhöfe dienen zum Erstellen von Grabsteinen in Form eines Profils für verstorbene Mitmenschen oder sich selbst. Dort kann jeder per Mausklick Kerzen anzünden, Kondolenz bekunden oder ein Foto hochladen. Ein Stückchen Unsterblichkeit für Jeden, und das im Supersparpaket von nicht 99€, nein, auch nicht 59€ sondern für nur unfassbare 39€! Wenn ich mich jetzt anmelde, kriege ich außerdem drei Trauerkerzen und einen Gigabyte Speicherplatz obendrauf. Äh, Moment mal, will man mir jetzt digitale Unsterblichkeit oder figurformende Wäsche verkaufen?
Gedenkstein Nummer fünf und Kornblumen im Hintergrund Die Möglichkeit der Ewigkeit wirkt ebenso anziehend wie abstoßend. Für im-
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Trauern 2.0: Online-Friedhöfe
mer einen Platz haben, ob nun auf dem Friedhof in natura oder virtuell. Nicht vergessen werden. Wir träumen doch alle mal davon, dass unser Tod in der Tagesschau erwähnt wird. Dass unsere Namen in Geschichtsbücher geschrieben werden und man sich auf ewig an uns erinnert. Bloß einmal den Geschmack der Unvergänglichkeit auf der Zunge spüren. Durch das Web müssen wir noch nicht
Foto: Raphael Hünerfauth
einmal etwas Großes vollbracht haben. Das Internet vergisst keine Daten, wir dadurch also auch keine Mitmenschen. Mittlerweile bin ich auf stayalive.de bei „Denkmal gestalten“ angekommen. Begeistert stelle ich mit Hilfe des virtuellen Baukastens Hintergrund, Vordergrund und Gedenkstein zusammen: Sonnenuntergang, die ausgedehnte Blumenwiese mit den Kornblumen und Gedenkstein
Sophie Wenke 16 Jahre, Bad Doberan Sophie hätte fast vergessen, ihren Autorenkasten rechtzeitig einzuschicken.
Die freie Alternative
Freifunk-Netze sind SelbstmachNetze. Ein Internet, das anders als das bisherige World Wide Web dezentral organisiert ist und sich von den „groSSen Konzernen“ unabhängig machen will. In Dörfern und Städten gibt es immer mehr Freifunk-Gruppen und Zusammenkünfte. Die hier agierenden Communities sehen sich selbst als Teil einer globalen Bewegung für freie Infrastrukturen. Von Anna Brüning
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ie bringen ihre Router an Kirchtürmen, Hausdächern und Ampeln an, nutzen Masten oder Fensterbretter für ihre Access-Points. Die Mitglieder der Freifunk-Initiative engagieren sich für ein freies Internet und vernetzen sich untereinander per WLAN - innerhalb von Stadtteilen. Diese Funknetze werden nicht von kommerziellen Anbietern, sondern von Privatpersonen angeboten und genutzt. Sie wollen ein dezentrales Internet etablieren und somit sicherer zu machen. Sie wollen das Internet „demokratisieren“. „Die normale Internet-Infrastruktur ist sehr zentralistisch und undemokratisch“, kritisiert Jürgen Neumann, Initiator und Mitbegründer von freifunk.net sowie Co-Autor des Konzepts ‚Wireless Open Public Local Access Network Berlin’. Wenn Daten bisher über das Internet von A nach B versendet werden, laufen diese immer zuerst über bestimmte zentrale Infrastrukturen und Server. Wer Einsicht in diese Daten habe und was mit ihnen geschehe, könne nicht nachverfolgt werden, so Neumann. „Die Firmen wollen
doch nur mit den Daten der Nutzer Geld verdienen“, glaubt er, „Man merkt ja gar nicht, wie diese Daten analysiert werden. Ich halte es für gefährlich, wenn große Konzerne weltweit über alle möglichen Leute bescheid wissen, was sie tun oder kaufen.“ Am schlimmsten sei jedoch, so Neumann, dass den Nutzern die Selbstbestimmung entzogen werde. Um diese Zentralisierung des Internets zu umgehen, hat Freifunk ein Konzept entwickelt, bei dem Daten nicht über einen zentralen Punkt, sondern ‚peer-topeer’, also per Funk direkt von Endgerät zu Endgerät verschickt werden. Für den Fall, dass zwei Teilnehmer zu weit auseinander liegen und sich nicht über das WLAN miteinander vernetzen können, gibt es das ‚Picopeering’. Hierbei können sich die zwei Teilnehmer über das Gerät eines Dritten in der Mitte vernetzen. Auf diese Weise werden mehrere Wireless Access Points miteinander verbunden und bilden ein Intranet, das unter anderem auch über einen Internetprovider mit dem Internet verbunden werden kann. Diese Stadtteilweiten Intranets gibt
es bereits in vielen Städten und Dörfern – beispielsweise in Berlin-Kreuzberg. In einem solchen lokalen Intranet können die Nutzer ihre Daten kostenlos austauschen, telefonieren, Spiele spielen oder chatten, ohne dass eine Firma oder ein Staat die Daten einsehen kann, erklärt Jürgen Neumann. Auch Touristen, Nachbarn, lokale Geschäfte und Menschen mit Internetfähigen Handys können sich so jederzeit frei einloggen. Demzufolge braucht nicht mehr jedes Endgerät oder jeder Haushalt einen Internetkabelanschluss. Die Datensicherheit ist nicht unsicherer als zuvor, solange nur jedes Endgerät ein Verschlüsselungsprogramm verwendet, wie es auch beim Online-Banking üblich ist. In einem solchen ‚Meshnetz’ sei die Ausfallsicherheit des Internets auch viel geringer, erläutert Jürgen Neumann. Wenn mal ein Knotenpunkt ausfalle, könne das Internet nicht zusammen brechen, weil die anderen Endgeräte trotzdem noch miteinander vernetzt wären. Daher ist diese Form des Internets ebenso international eine echte Alternative – so
können sich zum Beispiel entlegende afrikanische Dörfer vernetzen. Auch in Katastrophengebieten ist das WLAN-basierte Internet viel krisensicherer. Eine weitere Besonderheit der Dezentralisierung ist, dass so auch Dienste angeboten werden können, die nur innerhalb eines bestimmten Bezirks zugänglich sind. Das Problem sei allerdings, so Neumann, dass die Programme, die bisher auf lokaler Ebene zur Verfügung stehen, noch nicht bei der Bedienbarkeit und Professionalität mit den zentralisierten Browsern mithalten können. Dafür brauche die Initiative routinierte, gute SoftwareEntwickler, die diese Programme für das Freifunknetz ehrenamtlich entwickeln. Programme wie zum Beispiel das dezentralisierte Soziale Netzwerk ‚Diaspora’, das eine Alternative zu Facebook oder Google+ bieten soll. Auch hier kann man sich ein Profil anlegen und kommunizieren. Doch sollen alle Informationen in der Hand der Nutzer bleiben, lokal auf ihren Rechnern gespeichert. Weitere Informationen unter www. freifunk.net
FruchtflEisch Was möchtest Du gern vergessen? „Verarsche“
„Griechenland“ Foto: Raphael Hünerfauth
„Facebook“
Daniela Lanz, 23 Jahre Kauffrau im Personalwesen aus Bern „Mein Facebook-Profil. Ich hab´s eigentlich gelöscht, aber ich weiSS, es geistert trotzdem noch irgendwo rum.“
Julia Hügel, 23 Jahre Gerichtssekretärin aus Bern „Einen Telefonstreich von meinen Freunden. Ich dachte sie wären vom Radio und hab ihnen was vorgesungen. Peinlich!“
Helmut Ellecoster, 66 Jahre pensionierter aus Südtirol „Die Griechenlandsache. Die waren lange Zeit etwas faul, sind jetzt verschuldet und bereiten Europa Probleme.“
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LÄNGST VERGESSEN
VIELLEICHT NICHT, ABER SEINE NUTZER SCHON. AUF DIESER SEITE WOLLEN WIR AN DEN EIN ODER ANDERE ERINNERN. VON FLORIAN HIRSCH & FRITZ HABEKUSS.
MODEM SchnatterSchnatterTutTut - und schon wieder nicht drin. Zu Zeiten als es noch kein DSL gab, war das Hineinkommen ins Internet ein Kampf zwischen Dir und Modem. Auch wenn wir uns einen Tee machen konnten, während eine Seite geladen wurde - das Modem war unser Begleiter bei den ersten Versuchen im Internet.
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P G M w s
ABSTURZ Ein Moment der Fassungslosigkeit: Stell dir vor, du musst eine Hausarbeit oder ein Referat vorbereiten und der Computer stürzt ab. Es ist Zeit, schreiend im Kreis zu laufen! Wie haben das denn früher alle hinbekommen? Und wo liegt eigentlich die Stadtbibliothek? Recherche mit Offline-Quellen erscheint uns heute geradezu antiquiert, die Jüngsten sind sich der Möglichkeit der Informationsbeschaffung durch Bücher kaum noch bewusst: „Eine Enzyklopädie? Ist das sowas wie Wikipedia?“
BUSCHFUNK
Nachdem die Twitter-M zum guten Ton gehörte über jeden getanen Sc Pennälers liebste Seite den „Buschfunk“ ein. N in weiteres Portal offe Kenntnis zu setzen, wa Schatzi der Beste ist. G Die Mehrheit wanderte verstummte nach und n
MILLENIUM-BUG
Wer erinnert sich noch an die Hysterie zum Millenium? Verschwörungstheoretiker wie befürchteten den Zusammenbruch aller Server, da diese der zeitlichen Umstellung auf Jahrtausend angeblich nicht gewachsen waren. Die „Stunde der Wahrheit“ kam, und s einmal mehr: Viel Lärm um nichts. Die Sektkorken knallten, die Computer gaben den G und die Menschheit schlitterte problemlos ins 21. Jahrhundert.
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Foto: pontchen/photocase.com
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DISKETTE
DAS INTERNET VERGISST EN MEILENSTEIN DER INTERNETÄRA
Sage und schreibe 3,4 MB passten auf eine handelsübliche Diskette. Nicht nur deswegen hat sie auf unserem Cover platzgefunden. 3,4 MB ist auch ungefähr die Größe, die eine MP3-Datei von ein paar Minuten einnimmt.
RÖHRENMONITOR
Proportial mit der Größe des Bildschirms war auch das Gewicht der klobigen Riesen. Wer mit seinem 23-Zoll Monitor von der Mama zur LAN-Party gefahren werden wollte, die Familie aber keinen Kombi hatte, musste sich das Monster eben aufs Dach schnallen.
K
Manie Einzug gehalten hatte und es e, die Welt via Facebook-Statusupdate chritt zu informieren, musste auch des e „SchülerVZ“ mitziehen und richtete Nun stand allen Internet-Exhibitionisten en, um ihre Mitmenschen darüber in as es zum Mittagessen gab und warum Geholfen hat es trotzdem nicht: e zu Facebook ab und der „Buschfunk“ nach.
Fachmänner fs neue schließlich zeigte sich Geist nicht auf
MYSPACE
PACMAN Hat nicht umsonst Kultstatus erreicht. Fressen und Gefressenwerden sind schließlich elementare Dinge.
Noch vor wenigen Jahren galt MySpace als „the next big thing“: Mehr oder minder talentierte junge Künstler nutzten das Portal zur Selbstvermarktung und erhofften sich davon die lang ersehnte mediale Aufmerksamkeit. Heute hingegen tendiert der Coolness-Faktor der Seite gegen Null, MySpace teilt sich seinen Platz auf dem Friedhof der unliebsamen Relikte aus den frühen 2000er Jahren mir Baggypants und Limp Bizkit.
MOORHUHN Bevor Internet-Rollenspiele in Höchstauflösung völlig neue virtuelle Räume erschufen und unschuldige, comiclesende Außenseiter zu „Nerds“ werden ließen, invadierten die „ Moorhühner“ Ende der Neunziger Jahre die Netzwelt und hatten dort wenig zu lachen. Ursprünglich als Werbespiel für die Whiskymarke „Johnny Walker“ entwickelt, avancierte die Hühnerjagd schnell zum Kult und entfaltete durch das denkbar einfache „Shoot ‘em up“-Prinzip ein hohes Suchtpotential.
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Das Daten-Duell: ich weiSS, wer du im Netz bist
Habt ihr euch schon mal selbst gegoogelt und euch gefragt, was sich alles über euch im Netz finden lässt? Stefanie Eisenreich und Ruth Herberg starten den Selbstversuch und probieren, so viel wie möglich über den anderen in der weiten Welt des Internets herauszufinden. Dafür haben sie genau dreiSSig Minuten Zeit. Einsichten in ein Protokoll. Von Stefanie Eisenreich und ruth Herberg
Foto: Raphael Hünerfauth
„Laptops raus, Google aufrufen und los geht´s: über wen ist im Internet mehr zu finden, über Ruth oder über Steffi?“
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ir beginnen unsere Suche ohne jedes Vorbereitung. Wir wissen nichts übereinander, außer unsere vollständigen Namen und wie wir aussehen. Den Rest versuchen wir nun allein über sämtliche uns bekannte Suchmaschinen herauszufinden, angefangen bei Google. Die Zeit läuft, los geht´s! Ruth: Du kommst aus Dresden! Hat dein Amazon-Konto mir verraten. Stefanie: Hmm, mir zeigt es hier erst mal eine Ruth Herberg an, die ein Profil bei Facebook hat, aber schon über 60 ist. Tja, ich glaube, das bist du nicht. Schade. Aber dafür hab ich was anderes: du arbeitest bei Chilly, einem Jugendmagazin, und der Saarbrücker Zeitung. Okay, das geht ja ziemlich fix … schau mal hier , ich bin gerade bei einem deutsch-russischen Jugendportal, „To4ka“, bei dem du Autorin bist. Ich weiß jetzt, dass du Romanistik in Dresden studierst und wie alt du bist. Also, ich geh jetzt mal davon aus, dass du das bist. Ja, das muss wohl ich sein. Ich hab‘ hier auch was Schönes gefunden. (lacht) Ein Foto bei Twitter, das eindeutig zweideutig ist. Du stehst doch nicht etwa auf Sado-Maso? Naja, ich glaube nicht, dass du das bist. (Lacht immer noch.) Da steht aber auch nur ‚Ruth‘. (Lacht ebenfalls) Tja, und ich hab mich gerade mal bei Facebook eingeloggt und dich gesucht; allerdings finde ich sechs Leute mit deinem Namen … obwohl, hey, das hier bist du! In fünf von den sechs Profilen sind Wohnorte angegeben, Dresden ist aber nicht dabei. Also muss dein Profil ja das sechste sein … und ja, das Foto passt. Nur leider sehe ich keinerlei Profilinformationen, Bilder oder Pinnwandeinträge … Mist! Sehr gut. Ich versuche auch gerade dein Profil zu finden. Da du ja aber nicht
unter deinem richtigen Namen angemeldet bist, finde ich dich nicht. Gut so. Aber ich hab‘ gerade deine Email-Adresse gefunden. Damit hast du bestimmt nicht gerechnet, oder? Ach echt? Krass, wie ist das denn möglich? Die hab ich eigentlich nirgends öffentlich angegeben. Keine Ahnung, die wird mir von der Suchmaschine angezeigt. Im Moment verläuft meine Suche ziemlich schleppend. Es gibt so viele Stefanie Eisenreichs, dass ich mir oft nicht sicher bin, ob die gefundenen Informationen nun zu dir gehören oder nicht. Ja, geht mir genauso. Es ist doch sehr mühsam. Keine der hier angezeigten Ruth Herbergs passt auf dich. Aha, ich hab’ einen weiteren Treffer gelandet. Und zwar das „UmunduFestival“ in Dresden. Ich weiß zwar noch nicht genau, was das ist, aber daran hast du wohl mal teilgenommen oder mitgearbeitet. Und jetzt rate mal, woher ich DAS weiß. Von Facebook! Und das, obwohl ich dein Profil nicht aufrufen kann. Ich muss ehrlich zugeben, das find ich jetzt ein bisschen beunruhigend… Ähm, ja, doch, das ist komisch. Sicher von einem Link, oder? Oder dem ‚Gefällt-mir-Button‘... Ja, genau. Ich weiß jetzt auch, was es ist: ein Festival, das über nachhaltigen Konsum aufklären will. Außerdem geht´s um fairen Handel, Klimaschutz und solche Sachen … interessant! Ich trag‘ jetzt immer mehr Mosaikstückchen zusammen. Du bist in diesem Jahr mit der Uni fertig geworden und ich kann auf der Seite der TU Dresden nachlesen, dass du deine Abschlussarbeit über Musik und Identität der Kreolen auf La Réunion geschrieben hast. Puh! Mir qualmt ganz schön der Kopf. Es ist gar nicht so einfach, etwas
über dich herauszufinden. Hatte ich mir leichter vorgestellt. Oh, warte hier. Ich stoße immer wieder auf dieselbe Internetseite. Was hast du denn damit zu tun? Ah hier, da bist du als Autorin genannt, unter anderem für einen ziemlich schlauen Aufsatz! Ich bin gerade noch auf ein Profil in einer Beachvolleyball-Community gestoßen … aber ob du das bist? Keine Ahnung. Ja (schmunzelt). Das ist schon Jahre her. Dass man mich da immer noch findet. Aber ich hab jetzt auf besagter Internetseite sehr viele Infos über dich entdeckt. Super! Da steht, dass du 19 bist, was du genau studierst und wo du wohnst. Die 30 Minuten sind gleich um und ich kenn‘ deine Heimatstadt noch nicht! Ha, ich glaub‘, ich hab deine gerade gefunden: Du kommst aus Beckingen? Was? Wie hast du das denn herausgefunden? Das hab‘ ich nirgendwo reingeschrieben! Ja, was Google da alles so ausspuckt! Unter anderem steht da auch, dass du im Sportverein aktiv warst. Ich nehme an, Leichtathletik, oder? Du hast mit 7 oder 8 Jahren mal bei einem Waldlauf mitgemacht. Wie süß! Ja das stimmt. Lustig, dass das da immer noch steht! Ich hab‘ dafür jetzt deine Heimatstadt gefunden – du kommst aus dem Vogtland. Na endlich! Da warst du wohl mit der Volleyball-Mannschaft ziemlich erfolgreich. Ah, und Theater hast du auch mal gespielt? Kann das sein? Ja, hey, das ist auch schon ewig her! Ich hab da eine Polizistin gespielt und die Nachrichtensprecherin. Okay, also ich fass‘ mal zusammen, was ich alles weiß: du bist 26 Jahre alt, wohnst in Dresden und kommst ursprünglich aus dem Vogtland. Du hast 2004 Abi gemacht, bist gerade mit dem
Studium fertig geworden, hast mal Volleyball und Theater gespielt und schreibst für To4ka. Ach, und nicht zu vergessen: Dein Facebook-Profil und deine EmailAdresse habe ich auch gefunden. Tja, und ich weiß, dass du 19 Jahre alt bist, in Mainz wohnst, ursprünglich aus dem Saarland kommst, dass du Politikwissenschaft studierst und für die Lokalzeitung und ein Jugendmagazin schreibst. Na das reicht ja fast, um einen kleinen Lebenslauf daraus zu machen. Aber ganz ehrlich: den Großteil der Sachen hab ich doch jetzt nur gefunden, weil du mir gegenüber sitzt. Ansonsten hätt‘ ich wahrscheinlich gar keine Verbindung zwischen dir und den Infos herstellen können. Es gibt ja auch nicht nur eine Ruth Herberg! Stimmt. Und so gesehen kamen ja auch keine großen Skandale heraus. Im Grunde sind das alles Informationen, die meinetwegen jeder wissen kann. Aber was wäre, wenn wir etwas rausgefunden hätten, was uns nicht gefällt? Stimmt. Aber das, was wir gefunden haben, ist okay. Also ich persönlich werd‘ nichts löschen, und mit meinen Daten weiterhin so umgehen, wie bisher: was zu persönlich ist, behalt‘ ich für mich, ansonsten kann das ruhig jeder wissen. Wie im „echten“ Leben eigentlich auch.
Stefanie Eisenreich & Ruth Herberg 26 und 19 Jahre Die beiden sind jetzt Profis im Stalken, mussten dafür aber mit viereckigen Augen nach Hause fahren.
FruchtflEisch Was möchtest Du gern vergessen? „Lehrjahre“
„Kein Verdrängen“ Foto: Raphael Hünerfauth
„Handyklau“
Miriam Röhl, 12 Jahre Schülerin aus Gommern „Wir wurden im Urlaub auf Mallorca ausgeraubt. Mein Handy, das ich vorher zum Geburtstag bekommen hatte, war weg. Ärgerlich!“
Bertholt Heist, 63 Jahre im Vorruhestand aus Freundstatt „Dinge von früher, die nicht gut waren. Meine Lehrzeit war zum Beispiel nicht schön. Wir haben immer Kloppe gekriegt.“
Helga Bender-Wolanski, 63 Jahre Lehrerin aus Kassel „Am liebsten nichts. Ich möchte von allem Erlebten nichts vergessen, denn das macht mich ja auch als Menschen aus.“
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Z ur p e r son Dr. Stephan Humer lehrt an der Universit채t der K체nste in Berlin und arbeitet derzeit an verschiedenen Projekten rund um Digitalit채t und Gesellschaft.
Foto: Raphael H체nerfauth
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» Wir sind das Internet« Identität im netz
Es gibt ein neues Forschungsfeld: die Internetsoziologie. Dr. Stephan Humer leistet in diesem Bereich Pionierarbeit und untersucht deshalb unter anderem die digitale Identität im Netz. Das Internet beeinflusse uns sozial, ist er überzeugt, sodass man zwischen On- und Offlinegesellschaft nicht mehr unterscheiden könne. von julia Biermeier
Herr Humer, wann dachten Sie zuletzt: Unglaublich, was das Internet alles kann! Das passiert nicht mehr häufig. So viele Überraschungen laufen mir nicht mehr über den Weg, doch die allgemeinen positiven Auswirkungen überraschen mich immer wieder. Wie Menschen tatsächlich von dieser Entwicklung profitieren und das Miteinander gestalten, finde ich spannend.
Was ist das Phänomenale am Internet? Es ist medienhistorisch gesehen etwas komplett Neues, das macht es so reizvoll. Etwas, das was es davor noch nicht gab. Es gibt viel Pionierarbeit zu tun, das ist sehr spannend. Ich staune daher jeden Tag, wie naiv man am Vortag war.
Was untersucht die Internetsoziologie genau? Es ist im Prinzip eine Analyse der Digitalisierung unserer Gesellschaft, also die Einflüsse, die das Handy, Google, oder andere Services auf uns haben. Man ist als einzelner User unter enormen Druck und benötigt vernünftige Möglichkeiten und Hilfestellungen. Meiner Meinung nach ist der Forschungsbedarf dafür in Deutschland sehr groß, denn wir gehen noch nicht mit genug Offenheit, Interdisziplinarität und Anerkennung auf dieses Thema zu. In anderen Ländern traut man sich mehr, auch auf die Gefahr hin, keine tragfähigen Ergebnisse zu erhalten.
Ist es so, dass Jeder das Internet nutzen will, aber keiner sich näher damit befasst? Wir haben die Möglichkeit, Bilder von A nach B zu schicken. Das Problem ist: es steckt viel mehr dahinter. Wenn man wüsste, dass nach A und B auch noch C, D und E kommen, würde man damit nicht so sorglos umgehen.
Glauben Sie, dass die Gesellschaft vom Internet verändert wird? Ja, definitiv. In so umfangreicher und vielfältiger Art und Weise, dass wir es kaum beschreiben können. Ich glaube, dass es ein wirklicher epochaler Wandel ist.
Auf welchem Stand ist die Internetsoziologie zur Zeit? Sie steht besser da, als in der Vergangenheit. Aber Medienwissenschaft oder Psychologie sind immer noch deut-
lich fitter in dieser Hinsicht. In der Soziologie tut sich meines Erachtens zu wenig.
Woran haben Sie zuletzt geforscht? An meinem größten Projekt, das Buch „Digitale Identitäten“. Ich wollte wissen, welchen Einfluss Digitalisierung auf persönliche und kollektive Identitäten hat. Was ich sehr interessant finde ist, in welchem Maße Digitalisierung die eigene Repräsentation beeinflusst und in wie vielen Bereichen wir schon abhängig von ihr sind. Vieles geschieht, ohne dass wir es merken. Wir stellen uns zum Beispiel nicht mehr die Frage, „Wann bin ich erreichbar“, sondern „Wann bin ich nicht erreichbar“.
Wie beschreiben Sie die „Digitale Identität“? Grundsätzlich lässt sie sich nicht mehr von der personalen Identität trennen. Wenn wir zum Beispiel generell sehr extrovertiert sind, dann machen wir das auch im Netz kenntlich. Vor zwanzig Jahren ging man als gelungener Mensch durch, wenn man ein vernünftiges Erscheinungsbild hatte - Kleidung macht bekanntlich Leute. Durch die Digitalisierung ist das komplexer geworden, da man jetzt auch ein ansprechendes Facebook-Profil braucht. Wenn das positiv aufgenommen wird, kann man riesige Vorteile haben, weil es ja noch nicht jeder macht. Aber die Professionalisierung der Repräsentanz wird zunehmen.
Welche Gesellschaft finden wir dann im Internet?
dungsfrage und hat weniger damit zu tun, ob man es von Kindesbeinen an gewohnt ist mit diesen Servern und Geräten umzugehen.
Kann das Internet vergessen? Vergessen ist schwierig für das Internet, denn wenn ich etwas online stelle, kann es nicht zurückholen, weil es ja beliebig kopier-, reproduzier- und verteilbar ist.
Würde es der Gesellschaft einen Gewinn bringen, einen digitalen Radiergummi einzusetzen? Das geht technisch gar nicht. Selbst wenn das peinliche Foto nach vier Jahren bei facebook gelöscht ist, haben es vielleicht noch alle auf ihrem Computer und stellen es danach einfach wieder rein. Wir müssen uns eher um Datensparsamkeit und die Frage nach der Bewertung kümmern.
Hilft es, aktiv im Internet unterwegs zu sein, damit mich die Menschen richtig kennen lernen, oder soll ich mich lieber ganz raushalten? Ich würde grundsätzlich zum Mitmachen raten, weil die Definition des Gefundenen beim Betrachter liegt. Ich kann es nicht verhindern, dass sich die Leute im Vorfeld schon ein Bild von mir machen. Lieber beeinflusse ich meine digitale Darstellung selbest durch positive Beitrage, als dass ich es einfach geschehen lasse.
Grundsätzliche Unterschiede zur analogen Welt nehmen ab. Wir sind das Internet und das Internet sind wir, weil verschiedene Dinge, die wir machen, uns insgesamt beeinflussen.
Offline/Online, das ist kein Unterschied mehr? Richtig. Wir gehen in eine Richtung, in der Digital und Analog so miteinander verwoben sind, dass es nur noch eine Gesellschaft gibt. Auch wenn wir etwas nicht aktiv machen, dann machen das andere.
Wachsen Kinder in einer anderen Generation, vielleicht der Kindheit 2.0 auf?
Julia Biermeier 19 Jahre, Deggendorf ist auf das Internet angewiesen. Der Bus geht nämlich nur einmal täglich.
Sie würden ohne Internet auf alle Fälle anders aufwachsen. Das heißt aber nicht, dass durch auch automatisch die Kompetenz größer ist. Es ist immer noch eine Bil-
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Keine Angst vorm Personalchef ?
Das Internet vergisst nicht, aber Menschen sind keine Maschinen und können Fehler begehen. Besteht die Gefahr, von digitalen Erinnerungen ausgebremst zu werden? Ist der „googlende Personalchef“ ein Mythos oder sollten wir schleunigst unseren Internetauftritt überarbeiten? Von Larissa Holaschke
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as Web 2.0 ist das Mitmach-Internet. eine Studie der Uni Erfurt zum Einfluss Es lebt durch Kommentare, soziale sozialer Netzwerke auf den BewerbungsNetzwerke, Links und vieles mehr. Wir und Rekrutierungsprozess hat veröffentlistellen Bilder in‘s Netz, hinterlassen Kom- cht, dass Googlen für Personalbüros kaum mentare in Foren und erstellen uns digi- eine Rolle spiele. Schon aus Zeitgründen tale Identitäten. Auf Facebook und Co. la- sei dies nicht möglich, denn eine ordentden wir Bilder hoch, die nicht immer für liche Suche bedarf einer guten Stunde. die Öffentlichkeit gedacht sind. Schnell Außerdem bedeute Googlen für manche mal können auch Bilder dabei sein, die Chefs ein Vertrauensbruch gegenüber den nicht von einem selbst, sondern seinen Mitarbeitern. Freuden hochgeladen wurden - mit dem Im Gegensatz dazu gibt eine StuBikini am Strand oder der Bierflasche im die des IT-Branchenverbands Bitkom jeMund. Leicht finden sich diese Bilder in doch an, dass mittlerweile jeder zweite den Suchmaschinen wieder. Löschen ist Personalverantwortliche seine Bewerber oftmals sinnlos. Schnell hat sich das Bild sehr wohl google. Außerdem stellte sie durch „Likes“ im Netzwerk verteilt, wur- fest, dass 96% der 14 und 29-Jährigen de von Datenbanken gespeichert oder auf in Deutschland in sozialen Netzwerken andere Rechner runtergeladen. Was ein- angemeldet sind und 94% diese auch mal online ist, bleibt es auch. Uns küm- aktiv nutzen. Fände es der Personalchef mert das solange nicht, bis vor einem da nicht merkwürdig, nichts über einen Bewerbungsgespräch stehen. Und mit jungen Bewerber im Netz zu finden? einem Mal fragen wir uns: Verändert sich „Partybilder würden mich nicht abhalten, nun die Chance auf den Job? jemanden einzustellen“, ist sich Reputati„Ich finde es nicht wirklich schlimm, onsmanager Bastian Koch von der Markewenn es von einem Mitarbeiter Partyfo- tingagentur Keksbox sicher. Für ihn sind, tos gibt“, meint Michael Groß, Leiter der neben dem Lebenslauf, ein sympathiPersonalmarketingabteilung bei Audi in scher Internetauftritt entscheidend, und einem Interview von jetzt.de, „Ich stelle Partybilder seien ein Indiz für gute Sozialschließlich den Menschen in seiner Ge- kompetenzen. Er geht sogar noch weiter samtheit ein.“ Er google jedenfalls seine und sagt: „Wenn ich mich zwischen zwei Bewerber nicht und hält die Angst vor Bewerbern entscheiden müsste, würde dem Personalchef für übertrieben. Auch ich eher den einstellen, der im Internet
auffindbar ist, als den, von dem man nichts findet.“ Jedoch käme es für Koch schon darauf an, wie man abgebildet sei. Bilder, auf denen man sich übergebe oder prügele, hielten auch ihn davon ab, Bewerber näher in Betracht zu ziehen.
Aus Fehlern lernen Unterschiedliche Meinungen – unterschiedliche Ansichten: Was bedeutet das also für uns junge Bewerber? Bastian Koch ist der Meinung: „Man darf Fehler machen, ob als Mensch oder als Unternehmen. Ausprobieren ist das Beste was man machen kann.“ Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass das Web 2.0 für uns alle neu war. Es gab keine Rollenvorbilder, an denen wir uns orientieren konnten. Im Umgang mit dem Internet sind Erfahrungen wichtig und diese müssen bekanntlich erst einmal gemacht werden. Man braucht also keine Angst zu haben, wenn man Daten über sich im Netz findet. Letztlich ist es nur ein Zeichen von Menschlichkeit. Langfristig sollte dennoch unsere Gesellschaft ein Umdenken lernen. Zwar bietet uns das Internet die Möglichkeit, mehr über einen anderen herauszufinden, dennoch ist es wichtig, die Privatsphäre des anderen zu wahren. Schnell, unbemerkt und ohne Risiko
kann man heute Menschen im Netz suchen, aber in der Offlinewelt würde man nicht so schnell den Nachbar oder Angestellten ausspionieren können. Zum einen ist es nicht so leicht und unbemerkt möglich und zum anderen ist die moralische Hürde höher. Wir sollten also lernen, mit den Informationen sensibel umzugehen, die wir im Internet über jemand anderes finden. Eben genauso wie wir erst den vernünftigen Umgang mit dem Web 2.0 erlernt haben. Das schließt ein Hinterfragen der eigenen Handlung und einen toleranteren Umgang mit persönlichen Informationen ein. Es scheint dennoch ratsam, sich vorzubereiten und einfach mal den eigenen Namen in eine Suchmaschine zu tippen, um nicht von unschönen Erinnerungen überrascht zu werden. Oder vielleicht auch schon mal daran gedacht, den Personalchef zu googlen?
Larissa Holaschke 21 Jahre, Heilbronn Larissa erhält wohl durch die politikorange einen Google-Treffer mehr.
FruchtflEisch Was möchtest Du gern vergessen? „Automatisch“
„Nichts“ Foto: Raphael Hünerfauth
„Egal“
Adam Adamiak, 24 Jahre Promoter aus Polen „Mir ist es egal, was die Leute im Netz von mir sehen. Ich möchte nichts vergessen, auch im richtigen Leben nicht.“
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Doreen Bühle, 23 Jahre Studentin aus Berlin „Klar, es gibt immer Enttäuschungen im Leben, aber das gehört dazu. Vieles vergisst man irgendwann automatisch.“
Günther Pawellek, 63 Jahre Rentner aus Stuttgart „Nichts. Vergangenes kann man eh nicht ändern. Ich gebe mein Bestes; wenn‘s am Ende nicht reicht, heiSSt das ja nicht, dass es falsch war.“
Die Evolution des Webs?
Das Internet lernt denken, es soll unser Leben einfacher machen – zumindest wenn es nach den Entwicklern geht. Doch welche Konsequenzen bringt das für unser Leben mit sich? Von Fanny Gruhl
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Goldene Ära oder Zeitalter der Daten-Monster? Während wir noch über das Semantische Web als Zukunftsvision reden, gehen die Pläne beim Internet-Riese Google bereits viel weiter: Bei der Technikausstellung IFA stellte Eric Schmidt, ehemaliger Chef 77% aller deutschen haushalte haben einen internetanschluss. von Google, im vergangenen Jahr seine Idee von Augmented Humanity, „erweiterter Menschlichkeit“, vor. In seiner Vor- Freiheit unseres Denkens. Und was das Für den Otto Normalverbraucher ist schützen. Der Staat steht vor der Aufgabe stellung soll künstliche Intelligenz bzw. ganze noch gefährlicher macht: Wahr- längst nicht mehr nachvollziehbar, wie solche Regeln und Gesetze und damit die Technik dem Menschen durch das Leben scheinlich werden wir es noch gut finden. das Internet funktioniert und wo Ge- Rahmenbedingungen für künftige Interhelfen und Aufgaben für ihn übernehmen. Bei unstrittigen Fragen nach Fakten fahren lauern. Der Nutzer muss sich da- netnutzung aufzustellen. Es muss sicher rüber im Klaren sein, dass Facebook und gestellt werden, dass Daten nicht miss„Sie brauchen sich nicht um Wahlmöglich- – wie eben der Hauptstadt von Australien keiten sorgen, wir finden für Sie heraus, – ist es durchaus eine Erleichterung, sie Google Unternehmen sind, deren Han- braucht werden können. Natürlich darf er was Sie als nächstes tun sollten, wofür einfach und schnell beantwortet zu be- delsware die Bündelung und Bereitstel- dabei nicht die Herrschaft über die Daten Sie sich interessieren.“ Basierend auf In- kommen. Aber es führt zu weit, wenn der lung von Daten ist. Einmal in der Hand bekommen. Wichtiger ist es, jedem Nutformationen des Nutzers will Google die Computer denkt und statt uns entschei- der Firmen, hat der Nutzer kaum noch zer das Recht einzuräumen, über die VerEinfluss, was mit ihnen geschieht. Davor wendung und Löschung von Daten selbst persönliche Suche gestalten. Nicht nur det? Dem Schritt vom autonomen zum Daten aus dem Web, sondern beispiels- fremdgesteuerten Wesen ist dann der muss er geschützt werden. zu entscheiden. Eigenverantwortung weise auch von E-Mails werden zusam- Weg geebnet. Die unwichtigen und wichund staatlichen Rahmenbedingungen mengefügt. gleichermaßen sind also zentral. Das ist tigen Entscheidungen des Lebens abhän- Lernen muss nicht nur das Eigene Entscheidungen zu fällen gig zu machen von Unternehmen, deren angesichts der evolutionären TechnikentInternet, sondern auch wird unnötig, Nachdenken auch. Smart- Interessen wir nicht kennen, erscheint au- der Mensch wicklung eine wichtige und drängende phone gezückt und schon finden sich Aufgabe. Lernen muss also nicht nur das ßerdem absurd – man muss es sich bloß So unheimlich manche Visionen klingen Internet, sondern auch der Mensch. die passenden Vorschläge. Was ziehe ich ins Bewusstsein rufen. und so groß die Angst vor Datenmissheute an? Was soll ich unternehmen? Wer brauch ist – im Jahre 2010 waren 77 Provon meinen Freunden ist in der Stadt? Werbung, Werbung, Werzent der Haushalte in Deutschland mit Diese Fragen sollen automatisch beant- bung einem Internetanschluss ausgestattet. Vor wortet werden. Fast wie eine Drohung Fanny Gruhl verkündet Schmidt: „Uns gehen niemals Die Unklarheit über die Interessen, die allem die Nutzung und Bedeutung von 21 Jahre, Berlin hinter diesen Innovationen und deren mobilem Internet steigt. Es führt kein die Ideen aus.“ Wenn es nach Schmidt geht, verges- Betreibern stecken, beunruhigt offen- Weg am World Wide Web vorbei, in ZuFanny hat endlich sen wir nichts mehr: „Wieso? Weil sich sichtlich viele: Eine Studie des statis- kunft noch weniger als heute. Die Vorteile herausgefunden wie sie ihre Privatsphäretischen Bundesamtes zeigt, dass 84 überwiegen für die User offensichtlich. der Computer erinnert.“ einstellungen ändern Nichts mehr vergessen, nie mehr Prozent der Privatpersonen starke und Angesichts dieser Entwicklung braucht es kann unentschlossen sein, klingt nicht schlecht. mittlere Bedenken vor Missbrauch ihrer nicht nur einen aufgeklärten Nutzer, sondern auch klare Regelungen, die diesen Aber zu welchem Preis? Zum Preis der Daten haben.
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Foto: lord jezzer / flickr.com
erade im Web 2.0 angekommen, steht das Netz vor der nächsten Evolutionsstufe, dem Semantischen Web. So lauten die Zukunftspläne der IT-Branche. Der Computer soll denken lernen, um dem Menschen zu helfen, und zwar aktiv statt passiv. Derzeit können Daten nur auf technischer Ebene miteinander vernetzt werden. Die Maschine versteht den Sinn von Zeichen und Worten nicht. Zukünftig sollen Informationen aufgrund ihres inhaltlichen Zusammenhangs verknüpft werden. Auf die Weise können Orte, Personen und Dinge miteinander in Beziehung gesetzt werden. Computer sind dann in der Lage Such-, Kommunikations- und Entscheidungsaufgaben zu übernehmen. Auf die Frage was beispielsweise die Hauptstadt Australiens ist, würde die Antwort „Canberra“ direkt erscheinen. Bisher können Suchmaschinen nur mithilfe von Schlagworten Links zu Seiten herstellen, auf denen man selbst noch nach der Antwort suchen muss.
Debat t e
Datenmonster oder Megarchiv
Wie der Mensch muss auch das Internet vergessen lernen – nur so kann Wichtiges von Unwichtigem unterschieden werden. Lernt das „World Wide Web“ dies nicht, wird die schiere Masse an Daten und Informationen uns irgendwann erdrücken, ist Cora Gebel überzeugt. Aber wer entscheidet darüber, was gelöscht werden soll, schlieSSlich gibt es im Netz keine übergeordneten Instanzen? Das digitale Gedächtnis ist vielmehr eine zivilisatorische Errungenschaft und hilft uns, die Geschichte zu bewahren, findet Stefanie Eisenreich. Eine Gegenüberstellung. Von Cora Gebel und Stefanie Eisenreich
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Der Mensch ist ein vergessliches Wesen. Er vergisst kontinuierlich, sein gesamtes Leben hindurch, mal langsamer, mal schneller, mal mehr, mal weniger. Und genau das ist auch sein gutes Recht! Wer sagt, dass man Erlebtes immer und immer wieder in seiner Erinnerung neu durchkauen muss? Was gewesen ist, liegt in der Vergangenheit, und da sollte es auch bleiben! In der digitalen Onlinewelt gilt dies jedoch bisher nicht. Dort wird nämlich nichts vergessen, selbst im Offlinezustand ist man anhand seiner preisgegebenen und für lange Zeiträume gespeicherten Daten stets omnipräsent. Gerade hier wäre Vergessen angesagt! Wem nützt denn die ewige Datenspeicherung? Man hört immer nur, wie sich die Leute empören, so lange im Internet aufgelistet zu werden. Wertvoll sind die Daten lediglich für die großen Konzerne, die dadurch geschickter ihre Werbung platzieren können. Davon werden lediglich die Nutzer genervt, die außerdem dagegen sind, so lange im Internet aufgelistet zu werden. Das Netz merkt sich alles, doch das menschliche Gedächtnis kann diese Leistung nicht vollbringen. Und das hat einen guten und wichtigen Grund: Vergessen ist nicht bloß ein mentaler Akt, bei dem Wissen spurlos verschwindet, es ist viel mehr eine Selektion zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Spurlos geht sowieso nichts an uns vorbei, ganz im Gegenteil: Erinnern und Vergessen sind Vorgänge, die von den Emotionen, Geschehnissen und der persönlichern Vergangenheit eines Menschen abhängen. Das Gehirn speichert nicht einfach jede Information, sondern wägt ab, wie sehr eine Erinnerung uns berührt hat und von welcher Bedeutung sie für uns ist. Dinge, die für uns belanglos sind, kann man von der menschlichen Festplatte aussortieren. Dazu kommt, dass Erinnerungen im Nachhinein oft umgewertet werden,
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CONTRA
Wer sagt, sodass sie nicht mehr vollständig dem dass das entsprechen, was wirklich passiert ist. Das ist ein natürlicher Schutzreflex des Internet vergessen muss, der irrt. Im GeGehirns, der nötig ist, wenn ein Mensch genteil. Das Internet speichert enorme Dazum Beispiel ein traumatisches Erlebnis nicht verkraften kann. Insofern ist Ver- tenmengen und bewahrt sie vor dem Vergessen keineswegs schlecht - sondern so- gessen – jederzeit und für jedermann! Es ist einfach zu handhaben, schnell und gar ein wichtiger Mechanismus, der die leicht abrufbar und vergisst – sagt man. menschliche Identität und Psyche gesund Gäbe es nun die Möglichkeit, Daten mit hält. Menschen mit dem hyperthymes- einem automatischen Haltbarkeitsdatum tischen Syndrom können zum Beispiel zu versehen oder für immer ganz zu lönicht vergessen. Betroffene erinnern sich schen, müssen wir uns die Frage stellen, an alles, können jeden Tag ihres vergan- wer darüber entscheiden soll, welche genen Lebens genauestens nachzeichnen. Daten und welches Wissen das Internet So auch die amerikanische Schriftstellerin „vergessen“ darf? Wem und was würde Jill Price. In einem Interview mit SPIEGEL diese Option Tür und Tore öffnen? Und ONLINE erzählte sie, das Vermögen, sich wo werden die Grenzen gezogen? Es gibt keine Instanz, die das Vergessen im Inan alles erinnern zu können, empfände ternet regulieren könnte. Denn das widersie als quälend..Ihre Erinnerungen seien spricht dem Prinzip des freien Netzes. nicht kontrollierbar, pausenlos sehe sie Natürlich geht es dabei auch um Szenen aus der Vergangenheit vor sich. Da möchte man dann doch lieber verges- unsere persönlichen Daten und deren sen können. Und genau das gilt auch für Sicherheit. Und natürlich schreien Dadas Internet - ohne die Fähigkeit zu Se- tenschützer auf, wenn sie hören, wie beilektieren und zu Verwerfen, gibt es früher spielsweise Facebook mit unseren Daten oder später einen unkontrollierten Über- umgeht. Aber mal ehrlich, interessiert fluss an Daten, Informationen und Erin- uns das wirklich? Denn trotz allem sind nerungen. Wozu kann das führen? Wird wir weiterhin in sozialen Netzwerken ein Internet mit Hypermnesie eines Tages angemeldet, googlen und skypen, laden ähnliche Probleme haben wie Jill Price? Filme aus dem Netz und kaufen bei AmaDamit es nicht dazu kommt, gibt es nur zon ein. Und natürlich bietet das Netz eine Lösung: Vergessen und Schwamm uns Möglichkeiten, die wir früher nicht hatten: Wir können unsere Daten variadrüber! bel verändern und uns demzufolge immer wieder neue Identitäten schaffen. Im Alltag ist für uns Menschen das Vergessen gut und nötig. Sonst wären wir nicht in der Lage, unnötige Informationen zu filtern. Vergessen aber darf kein VerCora Gebel drängen sein. Wer sich seiner selbst voll 19 Jahre, Niedernund ganz bewusst sein will, aus seinen hausen Fehlern lernen und sie kein zweites Mal begehen möchte, darf nicht einfach verKann mich jemand daran erinnern, nichts zu gessen. Dies trifft nicht nur auf jeden Einvergessen? Sonst vergesse zelnen von uns zu, sondern auch auf eine ich, zu erinnern. Gesellschaft im Allgemeinen. Geschichte prägt und formt Identität.
In Deutschland werden solche Gedanken meist mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Dokumente, Gedenkstätten oder Archive sollen dem Vergessen entgegenwirken. Denn Schreckenssysteme dürfen sich nicht wiederholen, auch wenn die Gegenbeispiele zahlreich sind. Gandhi sagte einst: „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“ Damit aber genau das nicht so bleibt, dürfen wir nicht vergessen und stehen in der Pflicht, unser gesammeltes Wissen zu speichern und für alle frei zugänglich zu machen. Schon seit Menschengedenken gibt es das Bedürfnis, Wissen zu bewahren und Erlebtes zu dokumentieren. Höhlenmalereien zeugen seit der Frühgeschichte davon, dann kamen Tonscherben, Papyrus oder Pergament dazu. Früher waren Bücher das ultimative Erinnerungswerkzeug. Heute ist es eben das Internet. Dabei waren Medien früher begrenzt und nicht editierbar. Einmal gedruckt, konnten sie nur schwer wieder verändert werden. Was eignet sich also besser, Geschichte und das damit verbundene enorme Wissen zu bewahren, als das Internet? Wir sollten es als eine Errungenschaft wertschätzen, aber gleichzeitig Verantwortung gegenüber unseren eigenen Informationen übernehmen. Dann können wir mit großen Datenmengen auch entspannter umgehen.
Stefanie Eisenreich 26 Jahre, Dresden Steffanie hat während des Workshops gelernt, dass Vergesslichkeit nichts Schlechtes sein muss.
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Impr essum Diese Ausgabe von politikorange entstand während des Medienworkshops „Vergessen im Internet“, der vom 18. bis 21. Oktober 2011 in Berlin stattfand. Herausgeber und Redaktion: politikorange – Netzwerk Demokratieoffensive, c/o Jugendpresse Deutschland e.V., Wöhlertstraße 18, 10115 Berlin, www.politikorange.de
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ls Veranstaltungszeitung, Magazin, Onlinedienst und Radioprogramm erreicht das Mediennetzwerk politikorange seine jungen Hörer und Leser. Krieg, Fortschritt, Kongresse, Partei- und Jugendmedientage – politikorange berichtet jung und frech zu Schwerpunkten und Veranstaltungen. Junge Autoren zeigen die große und die kleine Politik aus einer frischen, fruchtigen, anderen Perspektive.
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Warum eigentlich politikorange wurde 2002 als Veranstal- politikorange? tungszeitung ins Leben gerufen. Seit damals gehören Kongresse, Festivals und Jugendmedienevents zum Programm. 2004 erschienen die ersten Themenmagazine: staeffi* und ortschritt*. Während der Jugendmedientage 2005 in Hamburg wurden erstmals Infos rund um die Veranstaltung live im Radio ausgestrahlt und eine 60-minütige Sendung produziert.
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Foto: Raphael Hünerfauth
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Beiträge können bis 31. Januar 2012 eingereicht werden.
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