politikorange Angekommen

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ANGEKOMMEN MAI 2015

UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM WORKSHOP „ANGEKOMMEN? - ZUR SITUATION GEFLÜCHTETER IN BERLIN“ VOM 23. BIS 26. APRIL.


Fotos: Alice Epp

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\\ TITEL


NEBENWIRKUNG DER GLOBALISIERUNG

EDI TOR I A L Liebe Leserinnen und Leser,

Grafik: Henrik Nürnberger

WELTWEIT GIBT ES DERZEIT SO VIELE FLÜCHTLINGE WIE SEIT DEM ZWEITEN WELTKRIEG NICHT MEHR. EUROPA IST DARAN NICHT UNSCHULDIG. VON JOHANN STEPHANOWITZ

ZENTRALASIEN AFGHANISTAN (4.400) BALKAN KOSOVO (25.400) ALBANIEN (11.100) SERBIEN (7.200) BOSNIEN U. HERZEGOWINA (1.700) MAZEDONIEN (2.500) AFRIKA ERITREA (1.800) SOMALIA (1.600)

VORDERASIEN SYRIEN (19.400) IRAK (4.600)

DIE ZEHN HAUPTHERKUNFTSLÄNDER VON ASYLBEWERBERN IN DEUTSCHLAND MITTE 2015 (IN KLAMMERN DIE GERUNDETEN, ABSOLUTEN ZAHLEN DER ASYLANTRÄGE). ANTRÄGE AUS DEN HIER NICHT AUFGEFÜHRTEN HERKUNFTSSTAATEN MACHEN ZUSAMMEN GROB EIN DRITTEL VON ALLEN AUS. BEACHTLICH IST DIE HOHE ZAHL VON INNEREUROPÄISCH GEFLÜCHTETEN AUS DEM BALKAN (QUELLE: STATISTA.COM).

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n den vergangenen fünf Jahren haben so viele Menschen ihre Heimat verlassen, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Über 46 Millionen waren es laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) allein zwischen Januar und Juni 2014. Damit werden die Ganzjahreszahlen von 2013 deutlich übertroffen werden. Der Großteil aller Geflüchteten sind Binnenvertriebene, die innerhalb ihres Herkunftslandes flüchten, also nicht unter die Definition der Genfer Konvention fallen. Nur ein Bruchteil nimmt die oft gefährliche Reise nach Europa auf sich – und kommt auch tatsächlich dort an.

STAATLICHE REPRESSION, VERFOLGUNG, KRIEG Ein Viertel aller Vertriebenen, 12,2 Millionen, sind Flüchtlinge im Sinne der 1951 beschlossenen Genfer Konvention – haben also ihr Herkunftsland aus Furcht vor Krieg und Verfolgung verlassen. Zum Vergleich: Das ist so, als ob fast die gesamte Bevölkerung Bayerns auf der Flucht wäre. „Der Grund dafür, dass Menschen fliehen, ist, dass ihr Heimatstaat sie nicht mehr schützen kann oder will“, berichtet Martin Rentsch, Pressereferent des UNHCR in Berlin. Gerade die zunehmende Anzahl von Bürgerkriegen führt zu großen Migrationswellen. Laut den Halbjahreszahlen des UNHCR kommt ein Großteil der Geflüchteten aus den bekannten Konfliktregionen wie Somalia, dem Südsudan und Syrien. Aber auch vor den Toren der EU gibt es mit der Ukraine eine Konfliktregion mit vielen Binnenflüchtlingen. Eine äußerst schwierige Situation für die internationale Staatengemeinschaft

ist dabei der Bürgerkrieg in Syrien, der sich mit dem Vormarsch des sogenannten Islamischen Staates (IS) weiter verschärft hat. Seit Beginn des Konflikts 2011 haben rund vier Millionen Menschen das Land verlassen. Viele gehen in die Nachbarländer wie den Libanon, Jordanien und die Türkei. Insbesondere für den Libanon ist die Migration eine Herausforderung: Das Land hat 1,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, obwohl es selber nur rund 5,8 Millionen Einwohner hat. Dadurch hat es, laut einer Schätzung der Weltbank, mit einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent und einer Erhöhung der Auslandsschulden um 2,6 Milliarden USDollar zu kämpfen.

LANDRAUB, KLIMAWANDEL, AGRARISCHE ÜBERNUTZUNG Doch nicht nur kriegerische Auseinandersetzungen, sondern auch der Klimawandel und Land Grabbing, die illegitime Aneignung von Land, lassen neue Migrationsbewegungen entstehen. Beispiel Äthiopien: Das Land ist eines der am stärksten von Dürre betroffenen Länder der Erde. Durch den Klimawandel wird sich die Temperatur dort voraussichtlichbis 2060 um etwa 3,1 Grad erhöhen – und das in einem Land, in dem die Bevölkerung hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht lebt. Doch statt das Problem anzugehen, verkauft die Regierung riesige Ackerflächen an europäische und asiatische Investoren, die dort Rosen oder Ölpalmen für die Herstellung von Biodiesel anbauen. Die Argumentation des 2012 verstorbenen Premierministers Meles

Zenawi, dass durch die Verpachtung von Landflächen zehntausende neue Arbeitsplätze entstehen und ausländische Devisen die Wirtschaft ankurbeln würden, ist fragwürdig, denn in Wahrheit bringt der hauptsächliche Export der Agrargüter weiten Teilen der Bevölkerung nichts.

DAS FLUCHTPROBLEM IST HAUSGEMACHT Damit wir unseren Lieben ein paar Rosen kaufen können und beim Autofahren ein gutes Gewissen gegenüber der Umwelt haben, verlieren die Einwohner Äthiopiens ihre Lebensgrundlage und leiden Hunger. In anderen Ländern Afrikas ist die Situation ähnlich. Die Menschen in in den westlichen Staaten führen ein Leben zu Lasten der anderen Länder. Das Fluchtproblem ist hausgemacht. Viele Geflüchtete kommen nach Europa, weil unser luxuriöser Lebensstil und Ressourcenverbrauch die Lebensbedingungen in ihren Heimatländern verschlechtern. Nur, wenn Europa über den Tellerrand blickt und seine derzeitige Außen- und Entwicklungspolitik überdenkt, werden Fluchtursachen beseitigt werden können.

Johann Stephanowitz 16, Berlin

jeden Tag hören wir in den Nachrichten, dass Menschen sterben, weil sie vor Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen. Wir sehen müde Menschen in Kameras blicken und Tote an der Meeresoberfläche schwimmen. Hierzulande sehen wir einerseits Menschen, die über kriminelle und faule Ausländer sprechen, wir sehen Bilder von ausgebrannten Häusern, in denen Geflüchtete leben sollten, hören Menschen die sagen, sie seien besorgte Bürger. Auf der anderen Seite sehen wir Menschen, die sich dem entgegenstellen, die helfen und Geflüchtete willkommen heißen. In dieser politikorange wollen wir wissen, wie es den Menschen geht, die überItaliens Küste bis nach Berlin gekommen sind. Einer von ihnen ist der junge Mann auf unserer Titelseite, den wir in einer Erstaufnahmeeinrichtung – einer Traglufthalle in Berlin-Moabit – getroffen haben. Während unserer Recherche haben wir viele Geflüchtete kennengelernt und ihre Geschichten gehört. Und eins haben sie alle gemeinsam: Sie wollen in Sicherheit leben und arbeiten, damit es ihnen und ihren Familien gut geht. Wir haben erfahren, auf welche Hindernisse sie stoßen: Arbeitsverbote, ewige Wartezeiten bei Ämtern und Anfeindungen auf der Straße. Deshalb sind wir auch dorthin gegangen, wo Menschen demonstrieren, aus Angst vor denen, die kommen, weil sie nirgendwo anders in Frieden leben können. Aber vor allem haben wir Menschen kennengelernt, die in ihrer Freizeit helfen, um den Geflüchteten ein neues Zuhause zu geben. Wir sind nah ran gekommen an die Menschen, die im Fernsehen immer so weit weg zu sein scheinen. Und wir haben ihre Geschichten aufgeschrieben, damit sie gehört werden, entgegen den Angstund Krawallmachern unseres Landes. Viele Erkenntnisse beim Lesen wünschen Johanna, Hannes, Vanessa und Henrik

I NHA LT

»Abgetaucht« Ben verschafft illegal im Land Lebenden eine Bleibe – und macht sich damit strafbar. Seite 5

»Ungelöst« Fast täglich sterben Menschen an der EU-Außengrenze. Dabei ist eine andere Politik möglich. Seite 14

»Entrechtet« Minderjährigen Flüchtlingen steht ein besonderer Schutz zu. Doch dieser wird oft verwehrt. Seite 21

… weiß nun, dass Hilfe für Flüchtlinge schon beim eigenen Konsumverhalten anfängt.

URSACHENFORSCHUNG //

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Foto: Alice Epp

AUFBRUCH INS UNGEWISSE: OB IM PREUSSEN DES 17. JAHRHUNDERTS, IM ZWEITEN WELTKRIEG ODER ZU DDR-ZEITEN – FLUCHTBEWEGUNGEN SIND TEIL DER DEUTSCHEN GESCHICHTE.

KEINE NEUE HERAUSFORDERUNG

IST DEUTSCHLAND ERST EIN EINWANDERUNGSLAND, SEIT RITA SÜSSMUTH ES 2001 SO BEZEICHNETE? EIN BLICK IN DIE GESCHICHTE ZEIGT, DASS GROSSE FLUCHTBEWEGUNGEN DEUTSCHLAND STETS FORDERTEN, ABER VOR ALLEM DAUERHAFT POSITIV GEPRÄGT HABEN. VON HANNO FLECKENSTEIN

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ir werden aus Mitleid bewogen, ihnen eine sichere und freie Zuflucht in unseren Landen anzubieten.“ Mit diesem Satz gewährte der Kurfürst von Brandenburg-Preußen, Friedrich Wilhelm, 1685 den in Frankreich religiös verfolgten Hugenotten Asyl. Es folgte eine beispiellose Einwanderung nach Berlin und ins Umland: 20.000 zumeist arme Einwanderer siedelten sich im nach dem Dreißigjährigen Krieg entvölkerten Kurfürstentum an. Die Einwohnerzahl stieg schlagartig um ein Drittel an.

ANSCHLÄGE GEGEN HUGENOTTISCHE WOHNUNGEN Die Preußen standen den Migranten anfangs feindselig gegenüber. Aufgrund ihrer großen Zahl war die Kirche mit der Versorgung überfordert. Zudem hatte Friedrich Wilhelm den Hugenotten zahlreiche Privilegien garantiert, etwa eine kostenlose Zunftmitgliedschaft und die finanzielle Unterstützung von Unternehmern. Um die hohen Kosten zu decken, befahl er eine Zwangsabgabe. Neid kam auf in der ansässigen Bevölkerung, der in Brandanschläge und Übergriffe auf hugenottische Siedlungen mündete. Allmählich entwickelte sich die Integration der Franzosen zum Erfolg: Ihr handwerklicher Fleiß wurde weithin bewundert. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts heirateten drei Viertel der Hugenotten in preußische Familien ein.

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Bald formten sie eine intellektuelle Elite: Zwischenzeitlich waren 30 Prozent der Stellen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften von „Réfugiés“ besetzt, die darüber hinaus großen Anteil an der Verbreitung der Ideale der Aufklärung im Fürstentum hatten. Spätestens 1885, als Bismarck die Hugenotten als „die besten Deutschen“ lobte, wurde klar, dass die fürstlich oktroyierte Willkommenspolitik trotz anfänglicher Fremdheit mit der Zeit Früchte trug. Ist also staatlicher Wille Voraussetzung für die Teilhabe von Einwanderern in der Gesellschaft?

AUS NOT UND LEID ENTSTAND NUTZEN FÜR ALLE Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs 14 Millionen Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten im zerstörten Deutschland ankamen, wurde erneut die Unterbringung von oben herab, diesmal vom Alliierten Kontrollrat, betrieben. Über Quoten – ähnlich dem heutigen Königsteiner Schlüssel – wurden die Geflüchteten in den Westzonen verteilt. In einigen Regionen wuchs die Bevölkerung um 60 Prozent. Dort erwartete die oft traumatisierten und verarmten Vertriebenen nur ein improvisiertes Heim. Beispielsweise wurden in einem Gasthaus in Furth ein „etwa 100 Quadratmeter großer Saal mit etwa 100 Personen belegt und lediglich mit Stroh aufgeschüttet“, wie Jutta Hauser,

\\ URSACHENFORSCHUNG

Tochter der Wirte berichtet. Nach einiger Zeit im Aufnahmelager quartierte die Verwaltung die Vertriebenen meist bei Anwohnern ein. Auch hier bot sich einiges an Zündstoff: Konfessionen und Traditionen prallten aufeinander, der Mangel an Allem machte das Teilen von Lebensmitteln und Wohnraum schwierig. Auf dem Land fehlte Arbeit, überdies wurden bei der Einstellung Einheimische bevorzugt. Wegen des Dialekts der Geflüchteten bezeichneten Einheimische sie abwertend als „Polacken“. Die Not zwang die Vertriebenen, sich bei geringen Löhnen weit unter ihren Qualifikationen zu verdingen. Das aber war existenziell für den Wiederaufbau in Deutschland. Als mit der Währungsreform die Wirtschaft zu wachsen begann, siedelten viele Geflüchtete in Industriestandorte wie Wolfsburg um. Allmählich konnten sie ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten. Früh organisierten sie sich in Verbänden und nahmen am politischen Leben der jungen Bundesrepublik teil. Bei der zweiten Bundestagswahl 1953 war der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Teil der Koalition Adenauers. Dass diese Partei schon bei der nächsten Wahl keine Rolle mehr spielte, zeigt, dass die Integration der Vertriebenen gelang. Die meisten politisch Aktiven dieser Gruppe traten den etablierten Parteien, hauptsächlich der CDU, bei. Deutschland hat in seiner Geschichte mehrmals eine große Zahl an Geflüch-

teten aufgenommen. Stets haben diese einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft geleistet, ohne dass sie mit dem Anspruch der Nützlichkeit ausgewählt worden waren.

EINWANDERUNG ALS FORTSCHRITT Zwar standen die Hugenotten durch ihren reformierten Glauben der preußischen Elite nahe und die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs waren deutsche Staatsangehörige, doch braucht es heute noch kulturelle Nähe, um Geflüchtete willkommen zu heißen? Auslandsaufenthalte zur „Erweiterung des eigenen Horizonts“ sind gern gesehen in jedem Lebenslauf. Warum spricht man bei hohen Einwanderungszahlen dann von „Grenzen der Belastbarkeit“? Es erfordert Mut, Geflüchtete ohne Vorbehalte aufzunehmen. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedenfalls, dass sich dieser Mut auszahlen kann.

Hanno Fleckenstein 19, Berlin ... war überrascht von den vielen Parallelen in der deutschen Einwanderungsgeschichte.


WG ZUM UNTERTAUCHEN GESUCHT

MOUSSA* DARF NICHT HIER SEIN, ABER AUCH ER BRAUCHT EIN BETT. DESWEGEN VERSCHAFFT BEN* ILLEGALISIERTEN GEFLÜCHTETEN EIN ZIMMER ZUM SCHLAFEN. EINE REPORTAGE ÜBER DIE ETWAS ANDERE WG-SUCHE. VON NICO SCHMOLKE

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oussa will nicht so recht über sich sprechen. Geschichten seien genug erzählt worden, nun müsse sich endlich das Asylrecht ändern. Niemand auf dem Amt habe ihm zugehört, als er seinen Asylantrag stellte. 2013 war das. Sein Gesuch wurde abgelehnt, die Abschiebung stand an. Polizisten waren schon vor der Tür, da rannte er weg. Er ist nicht freiwillig hier, betont er. Zurück kann er auch nicht. Erst floh er vor den Dschihadisten nach Libyen, dann vor dem Chaos nach Europa. Und nun ist er auf der Flucht vor den deutschen Behörden. Ohne Papiere, rechtlos, illegal. Er darf hier nicht sein. Und ist es doch – seit knapp zwei Jahren. Wenn er eine Polizeisirene hört, springt er auf. Entwarnung, nach kurzem Durchatmen kann das Gespräch weitergehen.

bewusst sind, kann es losgehen. „Illegalisierte leben 24/7 mit der Angst. Die Anbieter von Soli-Zimmern genauso.“ Jeder Schritt muss nun überdacht werden: Was sage ich den Nachbarn? Was hat die Paketbotin gerade mitbekommen? Was ist mit der nächsten WG-Party? Und dann dieser Paragraph 96. Die Verschaffung einer Unterkunft für Illegalisierte ist strafbar, auch wenn es bislang nur selten strafrechtlich verfolgt wird. Die beständige Unsicherheit bleibt für Ben, denn er bringt nicht nur selbst Geflüchtete unter, sondern vermittelt viele weitere an andere Wohngemeinschaften.

ENDLICH DAZUGEHÖREN Ziel ist nicht nur die reine Unterbringung, sondern auch eine bestmögliche Integration. Soweit möglich, sollen die Geflüchteten am WG-Leben teilhaben, gerade wenn sie das Haus ansonsten kaum verlassen können. Ben findet es absurd, dass der Staat die Integration der Zugewanderten fordert, diese aber gleichzeitig in abgelegene Sammelunterkünfte steckt. Die Alternative, die private Unterbringung, schafft er also selbst. Genauso nimmt Moussa sein Recht selbst in die Hand und geht ein hohes Risiko ein. Moussa ist nur kurzzeitig in WGs. Er wechselt häufig den Wohnort, zur Sicherheit, und nur selten funktioniert ein längeres Zusammenleben in einer so ungleichen Gemeinschaft. Dann fährt er zu Freunden in deren Sammelunterkünfte, schläft in einer Kirche oder sucht sich eine Nische in einem Club. Moussa sitzt im Park und sieht, wie die Leute fröhlich den Sommer begrüßen. Er ist cool gekleidet, ein fröhlicher junger Mann, der gerne dazugehören würde. „Aber schau, das sind nur Weiße. Hier ist kein Platz für uns.“ Er muss unsichtbar bleiben. Vorerst für immer.

BENS SOLI-ZIMMER Ben dagegen darf hier sein. Er ist Deutscher und lebt in einer Wohngemeinschaft. Er kann sich Essen kaufen, zum Arzt gehen, Bahn fahren ohne ständiges Umschauen. Anders als Moussa. Wäre da nicht Paragraph 96 des Aufenthaltsgesetzes: Beihilfe oder Anstiftung zum illegalen Aufenthalt sind strafbar. Und wäre da nicht ein sich illegal im Land Aufhaltender in seiner Wohnung. Es fing an mit der Wut auf die deutsche und europäische Abschottungspolitik. Der reiche Westen liefere Waffen und betreibe eine kolonialistische Wirtschaftspolitik, was weltweit Menschen zur Flucht zwinge, um dann mit repressiven Gesetzen das Asylrecht aufzuheben, meint Ben. Deswegen hilft er Geflüchteten mit sogenannten Soli-Zimmern, Unterschlupf zu finden. Wohngemeinschaften bieten kostenlos ein Zimmer an, in dem Geflüchtete für längere Zeit abtauchen können.

BLEIBEN TROTZ DUBLIN

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert. Foto: Alice Epp

Diese Soli-Zimmer nutzen Leute wie Moussa, die ohne Hoffnung und Ziel auf eine bessere Zukunft warten und ein Obdach brauchen. Auch Asylsuchende, die auf einen Entscheid warten und bis dahin geduldet sind, kommen hier unter. Legal. Und dann Geflüchtete, die von der „Dublin-Verordnung“ betroffen sind. Demnach ist derjenige EU-Staat für das Asylverfahren zuständig, den der Geflüchtete zuerst betreten hat. In vielen Fällen kommen Menschen über das Mittelmeer nach Italien, reisen dann aber weiter nach Frankreich, Schweden oder Deutschland. Sie hoffen auf bessere Lebensbedingungen als in Italien. Wenn es die deutschen Behörden nun nach sechs Monaten nicht schaffen, die Rückführung nach Italien zu organisieren, geht

UNRUHIGER SCHLAF: ILLEGAL IN PRIVATWOHNUNG UNTERGETAUCHT (SYMBOLBILD).

das Verfahren auf Deutschland über. Wer abtaucht und sich der Abschiebung entzieht, muss sogar 18 Monate warten, bis Deutschland zuständig wird. 18 Monate unsichtbar bleiben. So hart es klingt, für manche ist das tatsächlich eine Chance. Das kann klappen, sagt Ben. Muss es aber nicht. „Die Unterbringung von Illegalisierten ist ein krasser Ausnahmezu-

stand, für alle. Auf dem Weg zum Supermarkt könnte jederzeit die Abschiebung drohen. Und dann ist dein Mitbewohner weg.“ Das Matching erfolgt ganz individuell. Geflüchtete und WGs melden sich über Bekannte und Initiativen bei Ben, er vergleicht Sprachkenntnisse, dann gibt es Kennenlerntreffen. Wenn die Chemie stimmt und sich alle ihrer Verantwortung

Nico Schmolke 23, Berlin ... ist froh, in der Schule Französisch gelernt zu haben. Zum Glück konnte Katharina aus dem Workshop helfen.

AUSGRENZUNG //

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Foto: Tim Lüddemann

BEI FLUCHTGEFAHR AUF DER FLUCHT: VORLETZTE STATION ABSCHIEBEKNAST.

EINSPERREN ALS VERWALTUNGSAKT

WENN EIN ASYLGESUCH ABGELEHNT WIRD, DROHT GEFLÜCHTETEN DIE ABSCHIEBEHAFT. IN LETZTER ZEIT WERDEN VIEL WENIGER GEFLÜCHTETE INHAFTIERT – GRUND ZUR FREUDE IST DAS ABER NICHT. VON JAKOB OXENIUS

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er Pater fasst sich bei seiner Predigt er den Behörden Verfahrensfehler nachbewusst kurz. Es werden nur zwei weisen kann. bis drei Verse aus jedem Lied gesungen. Gebetet wird in vier Sprachen: Deutsch, DROHT EINE MASSIVE AUSWEIEnglisch, Arabisch und Russisch. Hier TUNG DER ABSCHIEBEHAFT? findet kein gewöhnlicher Gottesdienst statt, denn das ist kein gewöhnlicher Ort, Kornelia Frisch, die evangelische Pfarresondern das Abschiebegefängnis in Kö- rin, die den Gottesdienst im Abschiebegepenick. fängnis Köpenick mitorganisiert, erklärt: Die Seelsorger haben sich viel Mühe „Früher war es viel voller und die Leute gegeben, den schmucklosen Raum, in sind länger geblieben. Da hatte man noch dem der Gottesdienst stattfindet, gemüt- richtig eine Beziehung zu den Menschen lich zu machen: Über den Linoleumbo- aufgebaut.“ Dass sich heute weniger den wurde blauer Teppich gelegt; ein Asylsuchende als zuvor in Abschiebehaft Tisch fungiert als Altar, auf dem zwei befinden, hängt mit zwei Urteilen zuVasen mit Tulpen stehen; an der Wand sammen, die der Europäische Gerichtshängt ein großes Tuch mit religiösen Mo- hof (EuGH) und der Bundesgerichtshof tiven, das ein äthiopischer Künstler ge- (BGH) im Juli 2014 fällten. Durch das staltet hat. Obwohl der Gottesdienst von Urteil des BGH ist es nun in vielen Fällen einer evangelischen Pfarrerin und einem verboten, eine Person in Abschiebehaft katholischen Pater organisiert wird, sind zu nehmen. Und der EuGH entschied alle Zufluchtsuchenden, gleich welchen wenige Tage zuvor, dass Asylbewerber Glaubens, willkommen. Es sind Men- nicht in gewöhnlichen Gefängnissen unschen, deren Abschiebung unmittelbar tergebracht werden dürfen. Denn jene, bevorsteht. die sich der Abschiebung entziehen, sind keine Straftäter, sondern widersetzen sich lediglich einem Verwaltungsakt. HAFT IST NICHT GLEICH HAFT Die beiden Urteile haben dazu geführt, Nach deutschem Recht kann ein Asylsu- dass viele Personen aus der Abschiebechender eingesperrt werden, wenn ihm haft entlassen wurden. Bundesländer, die eine „Entziehungsabsicht“ unterstellt über keine gesonderten Haftanstalten für werden kann. Ihm wird dann vorgewor- Flüchtlinge verfügen, müssen sie in andefen, dass er nicht ausreichend bei seiner re Bundesländer bringen. Deshalb kommt Abschiebung mit den Behörden koope- die Mehrheit der inhaftierten Asylsuchenriert – etwa, weil er zum Zeitpunkt des den in Köpenick aus Nordrhein-Westfalen. Abschiebetermins nicht zuhause anzu- Weil Asylsuchende selbst für ihre Haft treffen war. Ist jemand erst einmal in Ab- verantwortlich gemacht werden, müssen schiebehaft, kommt er oft nur frei, wenn sie die Kosten für ihre Abschiebung und

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\\ AUSGRENZUNG

die Haftkosten selbst zahlen. Der Tagessatz liegt bei rund 70 Euro. Ein neuer Gesetzentwurf aus dem Innenministerium soll die gesetzliche Regelung in der Abschiebehaft demnächst grundlegend ändern. Pro Asyl vermutet, dass es durch das Gesetz zu einer massiven Ausweitung der Abschiebehaft kommen könnte. Der Entwurf sieht vor, dass alle Asylsuchenden inhaftiert werden können, bei denen „Fluchtgefahr“ besteht. „Fluchtgefahr“ ist allerdings so weit gefasst, dass sie auf fast jeden Asylsuchenden zutreffen kann. So besteht bereits Fluchtgefahr, wenn eine Person einen Asylantrag in einem anderen EULand gestellt, dieses aber verlassen hat, bevor über den Antrag entschieden wurde. Auch Personen, die für ihre Einreise nach Europa einen Schlepper bezahlt haben, kann pauschal Fluchtgefahr unterstellt werden.

stiger ist, die Geflüchteten zu inhaftieren. Dort sind die Strukturen der Flüchtlingsinitiativen jedoch weniger stark ausgeprägt. Und das Abschiebegefängnis in Brandenburg gilt schon jetzt als überlastet. Die Unterstützer der Geflüchteten vermuten auch, dass es noch schwieriger wird, die Öffentlichkeit auf das Schicksal der Inhaftierten aufmerksam zu machen, sobald die Abschiebehäftlinge erstmal abgelegen untergebracht werden. Der Kampf für eine Ende der Abschiebehaft könnte noch dauern. Trotz der hoffnungslosen Lage, in der sich die inhaftierten Asylsuchenden befinden, die an diesem Nachmittag beim Gottesdienst im Abschiebegefängnis Köpenick zusammengefunden haben, bemühen sich die Seelsorger, die Stimmung zu heben. Eines der Lieder, das an dem Nachmittag angestimmt wird, ist „We shall overcome“, eine der Hymnen der US-Bürgerrechtsbewegung.

EIN BITTERSÜSSER TRIUMPH Wie lange das Abschiebegefängnis in Berlin noch offen bleibt, ist ungewiss. Der Betrieb kostet knapp elf Millionen Euro pro Jahr – und das für bloß durchschnittlich 30 Personen pro Monat im Jahr 2014. Das hat jüngst sogar zu einer Rüge des Landesrechnungshofs geführt. Vieles deutet daher darauf hin, dass Berlin und Brandenburg bald bei der Abschiebehaft kooperieren werden. Asylsuchende, die von Behörden in Berlin inhaftiert werden, könnten dann nach Brandenburg gebracht werden, weil es dort deutlich gün-

Jakob Oxenius 25, Berlin ... hat zum ersten und hoffentlich zum letzten Mal ein Abschiebegefängnis von innen gesehen.


ARBEITSERLAUBNIS? VON WEGEN!

GEFLÜCHTETE IN DEUTSCHLAND WOLLEN VOR ALLEM EINES: IN FRIEDEN LEBEN UND ARBEITEN. ABER DER STAAT MACHT ES IHNEN SCHWER. VON KATHARINA MENKE

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ls Shahin vor zwei Jahren nach seiner Flucht aus dem Iran in Berlin ankam, war er zuversichtlich. Mit einem Studienabschluss im Bereich Umwelttechnik und Arbeitserfahrung in der Tasche würde er leicht einen Job finden, dachte er. Dann lernte der heute 27-Jährige die ernüchternde Realität kennen. „Es ist überhaupt nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte“, sagt Shahin heute. Denn sein Abschluss wurde nicht anerkannt, er erhielt lediglich eine Erlaubnis, sich ausbilden zu lassen und fand trotz vieler Bewerbungen keinen Ausbildungsplatz. Auch ein Stipendium für Deutschunterricht und eine Weiterbildung zum Kaufmann verschafften ihm keinen Job. So wie Shahin geht es vielen Geflüchteten in Deutschland. Sie wollen sich integrieren, ausbilden lassen und arbeiten, aber der Staat macht es ihnen schwer.

VON THEORETISCHER ERLAUBNIS ZU FAKTISCHEM VERBOT

MOTIVATION ALS BESONDERE STÄRKE Susanne Dorn kennt diese Probleme. Sie arbeitet bei dem Projekt „Integration durch Ausbildung“ der Arbeitsgemeinschaft selbstständige Migranten e.V. (ASM) in Hamburg mit, die Ausbildungsplätze an junge, oft unbegleitete Geflüchtete vermittelt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Ausbildungen im kaufmännischen und Handelsbereich. Aber der großen Nachfrage von Seiten der Geflüchteten steht nur ein kleines Angebot von Firmen gegenüber, sagt Dorn. Deshalb sucht die ASM aktiv nach Partnern. Die in diesem Rahmen akquirierten Unternehmen seien hauptsächlich von Migranten und Flüchtlingen gegründet

Foto: Alice Epp

Der Grund ist vor allem die komplizierte Rechtslage: Nach dem deutschen Asylrecht haben Geflüchtete in den ersten drei Monaten des Aufenthalts ein Arbeitsverbot. Danach haben anerkannte und geduldete Flüchtlinge nur einen nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Das bedeutet, dass sie nur Jobs annehmen dürfen, für die kein deutscher oder europäischer Bewerber in Frage kommt. So werde aus einer theoretischen Arbeitserlaubnis ein faktisches Arbeitsverbot, sagt Flüchtlingsanwältin Berenice Böhlo. Erst nach 15 Monaten steht Geflüchteten jeder Beruf offen – aber nur, wenn die Ausländerbehörde das erlaubt. Das schreckt viele Betriebe davon ab, Geflüchtete auszubilden und einzustellen. Was, wenn der eingestellte Geflüchtete nach kurzer Zeit abgeschoben wird? Und auch die mit den Rechtsauflagen verbundene Bürokratie hält Firmen davon ab, Geflüchtete einzustellen. TROTZ FACHKRÄFTEMANGEL: AUSLÄNDISCHE ABSCHLÜSSE WERDEN OFT NICHT ANERKANNT.

worden, die sich selbst in die Lage der jungen Geflüchteten hineinversetzen könnten. So sei zum Beispiel die Note der Berufsschulzeugnisse nicht in dem Maße von Bedeutung wie bei vergleichbaren Betrieben außerhalb des Netzwerks. Denn die Geflüchteten haben oft große Probleme aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten. Doch dafür hätten die jungen Auszubildenden eine besondere Stärke – ihre große Motivation. „Man sollte sich mehr um die Neuzuwanderer kümmern“, meint Susanne Dorn. „Denn erst durch ihre Ausbildung kommen Geflüchtete in Kontakt mit der Gesellschaft und können sich integrieren.“ Außerdem machten

die Unternehmen sehr gute Erfahrungen mit ihren jungen Auszubildenden und in Zeiten von Fachkräftemangel seien genau solche Arbeitskräfte besonders wichtig. Auch von Vertretern der Wirtschaft wird immer wieder dazu aufgerufen, Geflüchteten schneller Arbeitsplätze zu vermitteln. Gefordert wird vor allem, eine Beschäftigungsaufnahme ohne Vorrangprüfung spätestens ab dem sechsten Monat in Deutschland zu erlauben. Doch entsprechende Gesetzesvorschläge gibt es bisher noch nicht. Somit kann Shahin in Zukunft nur auf eine Verbesserung der komplizierten Rechtslage hoffen und weiterhin viele

Bewerbungen verschicken – vielleicht erkennt ein Unternehmen ja bald sein Potential.

Katharina Menke 17, Berlin … fordert eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis für Geflüchtete.

AUSGRENZUNG //

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DIFFUSE ANGST VOR DEM UNBEKANNTEN

NEUE FLÜCHTLINGSUNTERKÜNFTE WECKEN IN VIELEN FÄLLEN UNSICHERHEIT, ÄNGSTE UND ABLEHNUNG IN DER NACHBARSCHAFT. DABEI GEHT ES VIELEN OFT NUR DARUM, GEHÖR FÜR EIGENE BEFINDLICHKEITEN ZU FINDEN. VON LAURIN BERRESHEIM

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Container stehen im ruhigen Grünen von Buch, einem Stadtteil am nördlichen Rand Berlins. Kinder spielen auf einem Spielplatz, Rentner spazieren mit Rollator und Hund an dem Flüchtlingsheim vorbei. Etwa 480 Menschen sollen demnächst hier wohnen, rund 45 sind bereits eingezogen. Es ist das zweite von insgesamt sechs Containerdörfern für Geflüchtete in Berlin. Auf den ersten Blick scheint es hier friedlich. Doch der Schein trügt. „Wir haben die Schnauze voll“, sagt eine Frau, Mitte fünfzig, die mit einer Einkaufstüte am Heim vorbeigeht. „Nichts gegen Kriegsflüchtlinge, aber die Wirtschaftsflüchtlinge – die haben mehr als wir: Smartphones, Tablets, Nike-Turnschuhe – das hat noch nicht einmal ein Deutscher, der jeden Tag hart arbeiten geht.“

VERUNSICHERTE BÜRGER Gerüchte kursieren in der Gegend. Das Flüchtlingsheim bringe mehr Kriminalität und senke die Immobilienpreise. Schulen, Busse und Krankenhäuser seien überfüllt. Auch mangelnde Sauberkeit und zu viel Lärm wird von Anwohnern kritisiert. „Viele sind sicher nicht geimpft und bringen Krankheiten aus ihren Heimatländern mit. Wir wissen es doch nicht“, äußert sich ein älterer Mann besorgt. Viele Anwohner sind verunsichert und fühlen

sich von der Politik übergangen. „Im Vorfeld wurden wir nicht informiert und später vor vollendete Tatsachen gestellt“, beschwert sich eine junge Mutter. „Sobald die Anwohner protestieren, heißt es aber, wir seien rechtsextrem – nur, weil wir besorgt sind.”

KOMMUNIKATION MIT ANWOHNERN VERSÄUMT Berlin-Buch ist nur ein Beispiel. Auch in Köpenick protestierten Menschen Ende 2014 gegen den Bau eines Containerdorfs. Fast wöchentlich gingen sie auf die Straße – Familien mit Kindern, ältere Ehepaare, auch einige Neonazis. Die Bewegung wurde schnell als rechtsextrem eingestuft. „Mit Eröffnung der Unterkunft sind die Proteste wieder abgeebbt“, sagt Oliver Igel, Bezirksbürgermeister von TreptowKöpenick und verweist dabei auch auf andere Stadtteile Berlins. „In der Regel ist es Angst vor dem Unbekannten. Sobald die Flüchtlinge da sind, merken die Anwohner, dass ihre Vorurteile unbegründet sind.“ Ingolf Pabst, Mitorganisator der Initiative „Nein zum Containerdorf am Standort Allende II“, hält dagegen und kritisiert, dass die Bürger nicht angehört wurden. „Genau diese Gleichgültigkeit der Politiker ist das Problem“, sagt er, der seit 54 Jahren in Köpenick lebt und als

Fahrschullehrer arbeitet. „Wir werden als Rechte abgetan und dadurch nicht mehr ernst genommen.“ Dabei lehne er nicht generell die Aufnahme von Flüchtlingen ab, sondern sei lediglich gegen den Standort. Für ihn sind die abnehmenden Proteste weniger Ausdruck von widerlegten Vorurteilen, als von Resignation vor der Politik.

DIALOG AUFNEHMEN Die Bürger in Köpenick und in Buch verbindet eine gemeinsame Sichtweise: Zum einen ist da das Gefühl der Bedrohung – die Furcht vor Gewalt, möglichem Diebstahl und dem Verlust der eigenen gesellschaftlichen Position. Zum anderen ist da die Machtlosigkeit und das Gefühl, nicht am Geschehen beteiligt zu sein und nicht gehört zu werden. Es ist das Gefühl der Ohnmacht, der Bestimmung „von oben“. Was die Bürger unzufrieden macht, ist der Verdacht der ungleichen Behandlung und die scheinbare Ungerechtigkeit. Die gegenwärtigen Proteste sind dabei kein neues Phänomen. Sie fußen auf tief verankerten Vorurteilen und Ressentiments, die durch mangelhafte Aufklärung Raum bekommen. Ein neu gebautes Containerdorf fördert diese zu Tage. Zwar stehen viele hinter der Aufnahme von Flüchtlingen, engagieren sich ehrenamtlich, unterstützen bei der Versorgung und

Begleitung von Asylsuchenden vor Ort. Doch gibt es eben auch eine große Masse, die Asylbewerbern tendenziell ablehnend gegenüber steht. Einer Umfrage von infratest dimap im Auftrag des ARD-Magazins „Kontraste“ zufolge, liegt der Anteil von Personen, die Aslybewerberheime in ihrer Nachbarschaft tendenziell als Problem identifizieren, bei 35 Prozent. Damit diese Gruppe in ihrer Haltung keinen offenen Hass entwickelt, sind Politik und Verwaltung gefordert, frühzeitig den Dialog zu suchen. Durch eine verbesserte Informationspraxis kann Vorurteilen in der Bevölkerung entgegengewirkt werden. Dafür muss es Kanäle für die Aus- und Mitsprache geben. Denn mit verhärteten Fronten ist keiner Seite geholfen.

Laurin Berresheim 23, Berlin … ist bewusst geworden, wie schwierig es ist, einen konstruktievn Dialog zu führen.

FRUCHTFLEISCH Wann hast du dich das letzte Mal willkommen gefühlt?

ALICE WAMSER, 18 JAHRE MATHEMATIK-STUDENTIN ALS ICH NACH MEINEM AUSLANDSAUFENTHALT IN ISRAEL NACH HAUSE GEKOMMEN BIN.

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\\ AUSGRENZUNG

»SEKTEMPFANG«

TIMO SCHLÜTER, 17 JAHRE SCHÜLER ALS MEINE OMA MICH MIT EINEM GLAS SEKT EMPFANGEN HAT.

»NIE«

AMIRA, 27 JAHRE KÜNSTLERIN NOCH NIE, DENN ICH KOMME AUS MARZAHN.

Foto: Tim Lüddemann

»ZUHAUSE«


Foto: Tim Lüddemann

DI E 1990ER UND HEUTE Kati Becker vom Register zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle in Berlin über Gewalt gegen Geflüchtete und Unterschiede zu den 1990ern: „Mit der Eröffnung der vielen neuen Unterkünfte und den lokal geführten sehr schwierigen und rassistisch aufgeladenen Debatten, ergeben sich für potenzielle Täter*innen viel mehr Möglichkeiten, um Flüchtlinge anzugreifen. (...) Die Täter*innen sind Menschen, die weder Teil der rechten Szene sind, noch Anschluss dorthin haben. Die Angriffe finden dann häufig sehr spontan in der Nachbarschaft (...) statt.“ „Heute ist es nicht mehr möglich, dass sich Anwohner*innen Beifall klatschend neben Neonazis stellen, die Polizei dabei zusieht, wie Molotowcocktails geworfen werden und über Tage nicht eingegriffen wird. (...) Aber Brandanschläge wie in Mölln oder Solingen sind jederzeit möglich. (...) Die politischen Rahmenbedingungen sind andere, aber für einen Brandanschlag braucht es leider nicht viel, außer eine*n überzeugte*n Täter*in.“ DIE ANGST IST GROSS: POLIZEI ALS REGELMÄSSIGER BESCHÜTZER DES CONTAINERDORFS FÜR FLÜCHTLINGE IN BERLIN-BUCH.

RUFE DES HASSES

IN DEN VERGANGENEN ZWEI JAHREN HABEN GEWALTVORFÄLLE GEGEN GEFLÜCHTETE STETIG ZUGENOMMEN. RACHEL BOSSMEYER WAR BEI DER ERÖFFNUNG DER CONTAINERUNTERKUNFT IN BERLIN-BUCH VOR ORT. SIE HAT SICH EINEN EINDRUCK DAVON GEMACHT, WIE DIE ZEITGLEICH STATTFINDENDEN NEONAZI-PROTESTE AUF DIE GEFLÜCHTETEN WIRKEN.

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achmänner rennen über das Gelände, um den Zaun an der Rückseite abzusichern. Männer warten, um im Notfall zu helfen. Der Spielplatz ist verwaist, die Eltern haben ihre Kinder in die Häuser geschickt, damit sie nicht mitbekommen, was draußen vor sich geht. Sprechchöre von der 300 Meter entfernten Kundgebung der NPD sind zu hören: „Ausländer raus“ und „Buch bleibt deutsch“. Einige der Stimmen kommen direkt von der Rückseite des Zauns, der das Gelände begrenzt.

BERLIN-BUCH: EINE NEUE RECHTE HOCHBURG Die Containerunterkunft in Buch, in der bis zu 480 Asylbewerber*innen Unterschlupf finden können, wurde am 23. April 2015 eröffnet. 150 sind bisher eingezogen. Berlin-Buch hat sich in den letzten Jahren zu einer Hochburg rechter Gewalt entwickelt. Bereits 2000 wurde der arbeitslose Dieter Eich von Neonazis ermordet. Seitdem haben es die wenigen dort ansässigen Rechtsextremen geschafft, sich mit Neonazis aus Pankow und dem Barnim zu vernetzen. Derzeit gilt Buch als rechter Rückzugsraum beispielsweise für die Organisator*innen von Demonstrationen. Schon vor dem Einzug der Geflüchteten hatte es immer wieder

Anschläge auf die Unterkunft und das Wachpersonal gegeben. Für den Einzug einer zweiten Gruppe von Geflüchteten kündigte die NPD eine Kundgebung für den frühen Abend nahe der Containerunterkunft an. Eine Stunde später rennen Kinder statt Wachleute über das Gelände. Ein Wirrwarr aus Stimmen und Kinderlachen füllt das Gelände mit Leben und verdeutlicht, was auch Sozialarbeiter Marc Butzbach sagt: „Die meisten Geflüchteten sind sehr froh, hier zu sein.“ Mit Zweibettzimmern von 15 Quadratmetern haben es viele komfortabler als in Ersteinrichtungen wie beispielsweise den Traglufthallen oder Turnhallen. Für Familien gibt es mehrere Zimmer mit Verbindungstür. Auch Familie Jumaa aus Syrien ist am Donnerstag in die Unterkunft in Buch gezogen. Raed, Hoda und ihre zwei Kinder leben seit vier Monaten in Berlin und wurden nun von einer Ersteinrichtung nach Buch verlegt. Ihnen hat es in ihrer alten Unterkunft besser gefallen. Sie wissen nicht, warum sie umziehen mussten und nicht dort bleiben konnten, wo ihre Kinder bereits zur Schule gegangen sind, Freunde fanden und wo sie sich sicher und geborgen fühlten. In Buch bereiten die Menschen ihnen Angst. Sie trauen sich nicht, das Gelände abends zum Einkaufen zu verlassen und Vater Raed ist

besorgt, dass seinen Kindern auf dem Schulweg etwas zustoßen könnte. Ein Freund, der ebenfalls nach Buch ziehen musste, pflichtet ihm bei. „Vor Gewalt und Krieg sind wir in Syrien geflohen, um nun in Sicherheit leben zu können. Wenn ich diese Rufe hören, erinnern sie mich an das, wovor ich geflohen bin.“ Geflohen nach Deutschland. In die vermeintliche Sicherheit.

POLIZEIAUFGEBOT IST TRAURIG ABER NOTWENDIG Auch wenn die Nazi-Demo mit circa 50 Teilnehmenden recht klein ist, gibt es ein umfassendes Schutzkonzept von Polizei und Sicherheitskräften. Ohne die Sympathie des Wachdienstschichtleiters Caner K. wäre das Betreten des Geländes nicht möglich gewesen. Ein paar Stunden zuvor kreiste noch ein Hubschrauber über dem Gelände, um den Einzug der Geflüchteten zu überwachen. Juliane Willuhn, Leiterin der Einrichtung, sagt, dass es zwar traurig sei, dass der Einzug überhaupt polizeilich geschützt werden müsse. Sie findet die Anwesenheit der Polizei allerdings wahnsinnig wichtig und fühlt sich so gut geschützt. Trotzdem verursachen die Rufe der Neonazis bei vielen Geflüchteten Angst. Viele sind über das polizeiliche Sicherheitskonzept nicht informiert

worden und haben auch im Vorfeld schon Negatives über Buch gehört. Am späten Abend kommt es dann erneut zu Beschimpfungen und rassistischen Aussprüchen durch Neonazis, die sich in einer kleinen Gruppe wieder dem Gelände nähern. Schon nach 20 Minuten scheint ihr Durchhaltevermögen gebrochen und ihre Stimmen verstummen. Raed sagt, in gewisser Weise könnte er verstehen, warum es diese Ausschreitungen gibt. „Die können nicht verstehen, warum wir hier sind und wie wir denken und wir können sie nicht verstehen.“ Er wünscht sich, mit ihnen in den Dialog treten zu können, um sich kennenzulernen und die Chance zu bekommen, einander zu verstehen. Klar, die Nazis werden wiederkommen, aber die Trittbrettfahrer*innen und Mitläufer*innen könnten vielleicht sensibilisiert und umgestimmt werden.

Rachel Boßmeyer 19, Berlin … ist beschämt darüber, wie gastfreundlich die Geflüchteten zu ihr waren.

AUSGRENZUNG //

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ZWANZIGTAUSEND VON ZEHN MILLIONEN

Foto: UNHCR / R. Brunnert

20.000 SYRISCHE FLÜCHTLINGE NIMMT DEUTSCHLAND INNERHALB DES HUMANITÄREN AUFNAHMEPROGRAMMS AUF. EIN ANFANG, WENN AUCH NUR EIN TROPFEN AUF DEN HEISSEN STEIN. DABEI KÖNNTE DEUTSCHLANDS POLITIK VORBILD FÜR EIN GESAMTEUROPÄISCHES AUFNAHMEPROGRAMM SEIN. VON JULIAN JESTADT

BEGRÜSST VON OFFIZIELLEN STELLEN: DIE ERSTEN KONTIGENTFLÜCHTLINGE ERREICHEN DEUTSCHLAND IM SEPTEMBER 2013.

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ie hatten Glück. Sie bekommen in Deutschland Schutz. Sie dürfen hier in Frieden leben – ohne in ein schrottreifes Boot steigen zu müssen, ohne ihr Leben auf einer langen Flucht riskieren und ohne in Deutschland ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Als der syrische Bürgerkrieg immer schlimmer wurde, immer mehr Menschen starben oder aus ihrem Land flohen und Zuflucht in den Nachbarstaaten suchten, beschloss in den Jahren 2013 und 2014 Deutschlands Innenministerkonferenz, 20.000 syrische Flüchtlinge in einem humanitären Aufnahmeprogramm aufzunehmen. Nur 20.000 – von inzwischen zehn Millionen Menschen auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg. Die „Auserwählten“ bekommen ein Visum und können legal einreisen. 18.000 Visa wurden bereits erteilt, etwa 15.000 Menschen sind schon da. Aus Aufnahmeanordnungen setzte die Bundesregierung insgesamt drei Kriterien für eine Teilnahme am Programm fest. Kontingentflüchtlinge müssen besonders hochqualifiziert oder schutzbedürftig sein. Ebenso gute Chancen haben die, die Verwandte in Deutschland nachweisen können. Angehörige in Deutschland konnten bei den zuständigen Ausländerbehörden ihr Interesse an der Aufnahme ihrer syrischen Verwandten bekunden. Wer schließlich vom UNHCR ausgewählt wurde, reist per Charterflug ein. Die erste Station ist dann das nieder-

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sächsische Erstaufnahmelager Friedland. Dort bleiben die syrischen Flüchtlinge für zwei Wochen und nehmen an Integrationskursen teil. Anschließend werden sie auf die Bundesländer verteilt. Wer Angehörige in Deutschland hat, reist selbstständig ein – und meldet sich häufig erst mit Verzögerung bei den Ausländerbehörden. Deshalb seien keine eindeutigen Angaben zu den bereits eingereisten Personen möglich, heißt es aus dem Bundesinnenministerium.

ZWEI JAHRE GEWISSHEIT Der Aufenthalt der syrischen Flüchtlinge ist auf zwei Jahre befristet. Während dieser Zeit haben sie vollen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen. Ihre Bewegungsfreiheit ist nur solange eingeschränkt, wie sie Sozialhilfe beziehen. Nach zwei Jahren wird die Situation im Heimatland erneut geprüft. Bei Fortbestehen der für die Aufnahme relevanten Tatsachen wird der Titel um weitere zwei Jahre verlängert. Bei finanzieller Unabhängigkeit besteht frühestens nach fünfjährigem Aufenthalt eine Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht. „Besser wäre aus unserer Sicht ein klares Bekenntnis zur Aufnahme, verbunden mit einem unbefristeten Aufenthaltsrecht gewesen. Dies schon allein, um den ohnehin stark belasteten Menschen Sicherheit zu geben“, kritisiert Andrea Kothen von Pro

Asyl. Das meint man im Bundesinnenmi- man immer wieder zu verstehen gegeben, nisterium besser zu wissen: „Es handelt dass das Aufnahmeprogramm in Deutschsich mehrheitlich nicht um Personen, die land als Teil eines europäischen verstanihre Heimat dauerhaft verlassen wollen.“ den war. „Bislang sind aber keine bemerTatsächlich leben die meisten der kenswerten Signale von europäischen vier Millionen Flüchtlinge in den Nach- Mitgliedsstaaten gekommen.“ Das bestäbarländern Syriens. Vor allem der Liba- tigt auch das Innenministerium: Gäbe es non ist völlig überlastet. Hinzu kommen eine gesamteuropäische Aufnahmeaktion, sechs Millionen Menschen, die innerhalb sei Deutschland bereit, das Kontingent zu Syriens auf der Flucht sind. „In ganz erhöhen. Doch sieht es derzeit nicht so Europa wurden rund 40.000 syrischen aus, als würden viele europäische MitFlüchtlingen Aufnahmeplätze angebo- gliedsstaaten freiwillig weitere Flüchtten.“ Das sei ein Armutszeugnis in Anbe- linge aufnehmen. Großbritannien, Polen, tracht der hohen Zahlen, heißt es in einer Ungarn und viele andere Staaten wehren kürzlich veröffentlichten Pressemeldung sich vehement gegen ein Quotensystem von Pro Asyl. Während viele Organisa- für die Verteilung von Asylbewerbern. tionen die wenigen Aufnahmeplätze kri- Und Europa selbst will – anstatt legale tisieren, geht es dem UNHCR um „ein Zuwanderungsmöglichkeiten zu schaffen Zeichen der Solidarität und um Ent-la- – Schlepper bekämpfen. Bleibt diese Tenstungseffekte“. Natürlich würde man sich denz, werden sich viele syrische Flüchtwesentlich mehr wünschen, sagt Norbert linge weiterhin in schrottreife Boote setTrosien vom UNHCR. „In einer solchen zen, während die ersten Aufenthaltstitel Flüchtlingskrise ist selbstverständlich die der 20.000 auserwählten Flüchtlinge beganze internationale Gemeinschaft gefor- reits verlängert werden. dert.“ Doch die findet keine gemeinsame Antwort.

KEIN GESAMTEUROPÄISCHES PROGRAMM IN SICHT

Julian Jestadt 19, Berlin

Ein weiteres Programm wird es deshalb vorläufig wohl nicht aufgesetzt. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es politische Widerstände“, sagt Trosien. Trotz mehrerer Appelle an die Bundesregierung habe

… glaubt an die große Revolution!


DEB AT T E

GRENZEN AUF – SOFORT?

MENSCHEN FLIEHEN AUS ANGST UM IHR LEBEN – UND VIELE VON IHNEN VERLIEREN ES AUF DEM WEG NACH EUROPA. DENN DIE GRENZE IST ZU. SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN, ODER? VON ULRIKE GERSTEN UND HANNES SCHRADER

PRO

Das Boot ist voll! – Eine Floskel, die noch immer unter Leuten kursiert, die sich weigern, Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen. Aber wer sitzt im Boot Europa? Menschen, die Angst haben, dass ihnen der Wohlstand abhanden kommt. Menschen, die fürchten, dass sie entlassen werden, weil auch Geflüchtete nach Arbeit suchen. Also Schotten dicht? Nein. Wir müssen die Grenzen öffnen. Sonst sind wir dafür verantwortlich, dass weiterhin Menschen vor unseren Augen umkommen. Menschen ertrinken im Mittelmeer, erfrieren in Grenzflüssen und ersticken, versteckt in LKWs. Nur, weil sie nach Europa wollen. Sie sind unsere Opfer – die Opfer unserer Angst. Wir versuchen, mit Rettungsprogrammen abzufangen, was wir selbst verschuldet haben. Menschen sterben, weil wir unsere Grenzen geschlossen halten und weil wir die Konflikte befeuern, die Menschen zur Flucht und in den Tod treiben. Wir haben in der Kolonialzeit die Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent mit dem Lineal gezogen. Wir haben Gebiete zu Staaten gemacht, deren Einwohner sich weder zusammengehörig fühlten noch den Wunsch hegten, sich überhaupt in ein Staatsgebilde nach westlichem Vorbild zu quetschen. Wir heizen den Klimawandel an, weil wir so gern mit unseren Geländewagen über breite Autobahnen fahren. So dürren wir am anderen Ende der Welt die Felder aus und verstärken den Kampf um Wasser. Auch die EU steuert ihr Möglichstes bei. Seit Jahren pumpt sie Geld in die eigene Landwirtschaft. Doch was hier willkommen ist, zerstört anderswo ganze Wirtschaftszweige. Die afrikanische Baumwollproduktion könnte auch international auf den Märkten bestehen. Doch mit den Subventionen, die europäische Produkte verbilligen, können afrikanische Anbieter nicht mithalten. Und wir exportieren fleißig unser Milchpulver und machen dort der Frischmilch Konkurrenz. Unser Wohlstand weist anderen Menschen die Armut zu.

sich anerkannt fühlen, zurechtfinden, arbeiten. Doch wer in Deutschland Asyl sucht oder geduldet ist, darf in den ersten drei Monaten keinen Finger auf dem Arbeitsmarkt rühren. Danach kann man sich ganz hinten in der Schlange anstellen. Geradezu gönnerhaft. Denn einen Arbeitsplatz bekommt nur, wer niemanden mit deutscher oder einer anderen EUStaatsbürgerschaft vor sich hat. Wer annimmt, dass Geflüchtete die Kriminalität im Gepäck haben, liegt falsch. Wer über steigende Verbrechensraten fantasiert und gleichzeitig fordert, Geflüchtete vom Arbeitsmarkt auszuschließen, redet wirr. Denn wenn Geflüchtete Verbrechen begehen, dann aus dem gleichen Grund, wie andere Menschen auch: weil sie resigniert haben, nicht wissen, was sie tun sollen. Sie sind von Behörden an Orte gefesselt worden, die sie selbst nicht gewählt haben und werden zudem zur Untätigkeit gezwungen – zur NichtArbeit. Wir brauchen uns also nicht zu beschweren, wenn Schattenarbeit die Sozialsysteme belastet, weil keine Abgaben in unsere Töpfe fließen.

LASST UNS JETZT DIE GRENZEN ÖFFNEN! Anstatt Chancen zu sehen, hat Europa sich eingeigelt. Seine Stacheln reichen bis in die konfliktgebeutelten Länder. Wir schulen Behörden vor Ort, um „illegale Ambitionen“ zu erkennen und statt Verantwortung zu übernehmen, riegeln wir militärisch unsere Grenzen ab. Weil wir die legalen Wege versperren, treiben wir die Geflüchteten auf das offene Meer und in die Illegalität. All das wäre nicht nötig, wenn die Menschen legal einreisen könnten. Sie werden an unseren Grenzen angespült, die geschlossen sind, weil wir es so wollen. Wir müssen sie wieder öffnen. Es wird Zeit, dass wir die militärische Abschottung beenden und allen Geflüchteten die legale und sichere Einreise ermöglichen – mit Flugzeugen und tauglichen Schiffen. Über offene Grenzen.

CHANCEN – AUCH FÜR UNS Doch auch die Zukunft der deutschen Wirtschaft bereitet Anlass, sich zu sorgen. Die Bevölkerung wird immer älter und der Wirtschaft fehlt es an Fachkräften. Wir brauchen motivierte Arbeitskräfte, um unseren Lebensstandard zu halten. Deshalb sollten wir Geflüchtete dankbar empfangen, sie arbeiten oder eine Ausbildung anfangen lassen. Ihnen eine Chance geben. Arbeit gibt es genug. Geflüchtete suchen nach einem würdevollen Leben. Sie möchten ihr eigenes Geld verdienen,

Ulrike Gersten 21, Berlin … hat gelernt, dass Grenzen im Kopf beginnen. Sie versucht, an ihren eigenen zu arbeiten.

CONTRA

Grenzen auf, und schon ist das Flüchtlingsproblem gelöst? Schön wär’s. Denn Europa ist heute schon überfordert von all den Menschen, die an seine Türen klopfen und bei uns Schlange stehen. Wer aus seiner Heimat flieht, hat oft nicht mehr bei sich als die Sachen, die er am Körper trägt. Er braucht Sprachunterricht, ein Dach über dem Kopf und ein warmes Abendessen. Egal, ob er am Ende bleiben darf, auf diese Dinge hat er ein Recht. Und es ist gut und richtig, sie bereitzustellen. Aber das wird immer schwerer. Deshalb werden Eilverfahren eingerichtet, um Menschen schneller wieder abschieben zu können, eilig Unterkünfte gebaut für jene, die erstmal bleiben und private Initiativen gegründet, um dem Andrang gerecht zu werden. Wenn sich nun die Grenzen öffnen, werden sich noch mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen – und noch länger auf eine Entscheidung warten müssen, um am Ende doch wieder abgeschoben zu werden. Denn die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union insgesamt muss sich zunächst grundlegend ändern. Die uralten Sprüche vom „vollen Boot“ waren früher schon Quatsch und sind es noch immer. Deutschland ist ein reiches Land in einem der reichsten Staatenbünde der Welt. Wir haben genug Platz und Potenzial, um all die Menschen aufzunehmen, die bei uns ankommen. Unsere alternde und schrumpfende Gesellschaft braucht sie, damit sie bei uns lernen und arbeiten. Und die Werte, zu denen wir uns so gern bekennen, wie Menschenwürde und Nächstenliebe, verpflichten uns, zu helfen. Schon deshalb muss sich etwas ändern.

INNERE REFORMEN UND SOLIDARITÄT VORAUSSETZEN Es wird Zeit, dass die Länder Europas klar machen, wer wie viele Geflüchtete aufnehmen kann – und das dann auch tun. Bisher werden die Länder des Südens mit dem Problem alleingelassen, sie sind überfordert von all den Menschen, die an ihren Küsten ankommen. Das kann so nicht weitergehen. Außerdem muss Schluss sein mit der Diskriminierung Geflüchteter auf dem Arbeitsmarkt. Bisher gilt für sie ein Arbeitsverbot von drei Monaten. Das treibt die Menschen in die Illegalität und befeuert den gern zitierten Mythos des kriminellen Ausländers. Kein Mensch verlässt sein Zuhause unter Lebensgefahr, um kriminell zu werden. Wer in der eigenen Heimat bedroht und verfolgt wird, sei es we-

gen seiner Religionszugehörigkeit, politischer Haltung oder Sexualität, sehnt sich nach einem Ort, wo er friedlich arbeiten und leben kann – und nicht nach einer „sozialen Hängematte“. Aber wer verhindert, dass Menschen ihr Geld legal verdienen können, der treibt sie in die Schwarzarbeit. Außerdem müssen Geflüchtete schneller erfahren, ob sie bleiben dürfen. Als Geduldeter lässt sich kein Leben, keine Familie planen. Wer nicht weiß, ob er in drei Monaten noch zur Arbeit kommen kann, findet keinen Ausbildungsplatz. Und es muss Schluss sein damit, Menschen nach jahrelanger Duldung abzuschieben, die kein anderes Leben kennen als das in Deutschland.

ZUERST DENEN HELFEN, DIE SCHON DA SIND Aber einfach die Grenzen zu öffnen, löst keines dieser Probleme. Nur weil man legal einreisen kann, ändert das nichts an den Chancen, auch bleiben zu dürfen. Wer sagt, es sollen alle kommen dürfen, muss auch verantworten, dass viele den Weg umsonst machen – und wer mehr Menschen aufnehmen möchte, muss auch dafür sorgen können, dass sie Deutsch lernen, ihre Abschlüsse anerkannt bekommen und ihre Familie nachholen dürfen. Das ist die Aufgabe, vor der wir heute schon stehen. Wir müssen sie in den Griff kriegen, bevor wir entscheiden können, ob es leichter sein soll, nach Europa einzureisen. Jeden Tag leiden Menschen auf der ganzen Welt. Millionen sind auf der Flucht aus Angst, getötet zu werden, weil niemand sie beschützt. Niemand möchte entscheiden müssen, wer genug leidet, um in Europa zu leben. Jeder wünscht sich ein sicheres und friedliches Leben und wir müssen daran arbeiten, es den Menschen zu ermöglichen, die sich zu uns auf den Weg machen. Für sie müssen wir eine Lösung finden, um die Not zu lindern und um den Werten gerecht zu werden, mit denen wir so gern hausieren gehen. Aber das schaffen wir nicht, indem wir sagen: Versuch dein Glück, aber rechne damit, dass wir dich irgendwann wieder abschieben.

Hannes Schrader 24, Berlin … hat die Schnauze voll von Klischees über Geflüchtete.

DEBATTE // 11 //


DER WEG ZUR ANERKENNUNG ZUFLUCHT DEUTSCHLAND FRIEDERIKE

SELBST JENE, DIE AM ENDE EIN DAUERHAFTES AUFENTHALTSRECHT IN DER BUNDESREPUBLIK BEKOMMEN, DURCHLAUFEN ZUVOR EINE ODYSSEE. DER WUNSCH AUF EIN LEBEN IN FREIHEIT UND SICHERHEIT ERFÜLLT SICH FÜR DIE MEISTEN NIE. VON HENRIK NÜRNBERGER

KRIEG Südsudan, Mali, Zentralafrikanische Republik, Somalia, Ukraine, Syrien, Irak, Afghanistan: Diese Länder bilden die Liste der Staaten, in denen große bewaffnete Konflikte toben oder anhaltend Millionen von Menschen in die Flucht treiben. Nahezu die Hälfte aller Syrer, etwa zehn Millionen, sind nach Schätzungen aktuell auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg. Die meisten befinden sich noch innerhalb des Landes. Kriege sind als Fluchtgrund anerkannt.

REPRESSION Wesentlich unüberschaubarer sind Menschenrechtsverletzungen, die in vielen Ländern der Welt zum düsteren Alltag gehören. Beispiel Eritrea: In dem ostafrikanischen Land sehen sich religiöse Minderheiten und Andersdenkende massiver Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Mord ausgesetzt. Auch nach außen schottet sich der diktatorisch geführte Staat ab. Viele Geflüchtete hoffen auf ein Leben in Freiheit und Demokratie. Für andere ist die Flucht der einzige Ausweg, staatlicher Willkür zu entkommen. Dagegen ist in vielen Ländern gerade die Abwesenheit „staatlicher Gewalt“ ursächlich für die unsichere Menschenrechtslage und Konflikte.

LEG ALE EIN WAN DERUNG Wer legal nach Europa einreisen und bleiben möchte, benötigt ein Visum. Innerhalb des Schengen-Raums gibt es kaum Beschränkungen. Für Staatsangehörige aus den Vereinigten Staaten, Japan, Brasilien und elf weiteren Staaten kann auch nach Einreise ein Visum beantragt werden. Einreisewillige aus anderen Staaten müssen schon vor Einreise ein entsprechendes vorweisen. Ohne weiteres ist ein Visum jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen zu bekommen. Visa-Vergabe in Drittstaaten Durch das humanitäre Aufnahmeprogramm Deutschlands zusammen mit dem UNHCR werden schrittweise Visa für etwa 20.000 Syrer nach bestimmten Kriterien vergeben. Vergleichbare, legalisierte Einreiseverfahren gibt es bis dato kaum.

ARMUT Ernteausfälle durch den Klimawandel, Umweltkatastrophen, Degeneration von Land, knappe oder verwehrte Zugänge zu Ressourcen und Abhängigkeiten – Armut kennt viele Ursachen. Und Schuldige, nicht zuletzt in Europa. Als Fluchtgrund ist Armut jedoch nicht anerkannt.

ANKUNFT UND ERSTAUFNAHME An der EU-Außengrenze kommt es besonders in Bulgarien immer wieder zu dokumentierten Fällen der unrechtmäßigen Zurückdrängung oder gar Inhaftierungen von Geflüchteten. Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland sind für die meisten der vor allem illegal Eingereisten nur ein Zwischenstopp auf dem Weg in die nördlichen EU-Staaten.

I L L E G AL E EIN WA N DE R UN G Laut Bundespolizei reisten 2014 fast 60.000 Menschen unerlaubt, also ohne Visum, in die Bundesrepublik ein. Der sichere Flug bleibt oft verwehrt Über den Flugweg muss am Abflughafen die Visa-Schranke genommen werden. Kaum Bekannt: Eine EU-Richtlinie von 2001 schreibt vor, dass Airlines, die am Check-in das fehlende Visum ignorieren, im Falle der Abschiebung die Rückflugkosten für Geflüchtete übernehmen müssen. De facto werden die Fluggesellschaften damit einerseits erpresst und andererseits mit einer Entscheidungsgewalt über das Asyl betraut, die primär eine staatliche ist.

IN DEUTSCHLAND In Deutschland angekommen, können Schutzsuchende in jeder Behörde einen Asylantrag stellen. 2014 waren dies laut Bundesministerium des Innern insgesamt etwa 203.000 Erst- und Folgeanträge, so viel wie in keinem anderen EU-Land. Nach der Antragstellung werden Geflüchtete den Erstaufnahmelagern zugeteilt. Dies können feste Unterkünfte und Wohnungen sein. Um die hohen Zahlen von Asylbewerbern aufnehmen zu können, sahen sich die Kommunen jedoch jüngst gezwungen, provisorische Herbergen wie Turnhallen, Container-Dörfer oder Traglufthallen bereitzustellen. Um Lasten auf die Bundesländer zu verteilen, werden Asylbewerber gemäß dem „Königsteiner Schlüssel“ oft nach etwa drei Monaten in Erstaufnahmelager in andere Regionen überführt. Unbeachtet bleiben dabei oft lokale Familienbeziehungen oder bereits bestehende soziale Infrastrukturen. Für die Zeit der Erstaufnahme erhalten die Schutzsuchenden zunächst eine Aufenthaltsgestattung solange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist. Vor Ort werden sie registriert und bereits zu Fluchtgründen befragt. Ebenso erfolgt eine ärztliche Untersuchung.

Gefährlicher Weg über die EU-Grenze Für viele bleibt deshalb nur der lebensgefährliche Weg über die streng bewachte EU-Außengrenze, etwa über den Bosporus nach Griechenland und Bulgarien oder die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta an der nordafrikanischen Mittelmeerküste. Unüberwindbar scheinen die Grenzanlagen – und so begaben sich nach Zahlen von Frontex allein 2014 über 218.000 Menschen auf die Fluchtrouten übers Mittelmeer.

TOD Bootsflüchtlinge bezahlen für die Überfahrt nach Europa horrende Summen an Schlepper. Allzu oft bezahlen sie auch mit ihrem Leben. Allein bis Mai 2015 sind laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration 1750 Menschen im Mittelmeer ertrunken, 30-mal mehr als im Vorjahreszeitraum.


AUFENTHALTSRECHT Gänzlich oder zumindest für einen längeren Zeitraum bleiben dürfen Menschen, auf die der GrundgesetzArtikel 16a zutrifft. Laut Pro Asyl sind das lediglich 2 Prozent der Fälle. Rund 12 Prozent beziehen sich auf das Aufenthaltsgesetz, wonach ein Abschiebestopp immer dann verhängt wird, wenn das Leben oder die Freiheit eines Schutzsuchenden im Herkunftsland aufgrund der „Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung bedroht ist“ (AufenthG). Gute

RÜ CKFÜHRUNG GEM. DUBL I N I I

Sollte der Geflüchtete bereits in einem anderen Land Asyl beantragt haben, bereits einen Aufenthaltstitel dort besitzen, dort registriert sein oder es – insbesondere bei Minderjährigen – schützenswerte Familienbeziehungen geben, kann nach dem Dublin-IIVerfahren eine Rückführung in dieses Land erfolgen. Dies ist meist der Staat, in dem der Geflüchtete erstmals den Boden der EU betreten hat.

ABSC H I E B U N G Bei der Abschiebung verbringen Vollzugskräfte der Bundespolizei die Betroffenen mittels Zwangsmaßnahme – unter Umständen auch unter Anwendung von Gewalt – in Linienflüge zurück in die Drittstaaten. Zum Teil werden auch Charterflüge eingesetzt. Bei unkooperativem Verhalten oder Gefahren durch betroffene Personen, kann per Gesetz auch die Abschiebehaft bis zum Vollzug der Abschiebung angeordnet werden. 2014 erfolgten laut Bundesregierung 8557 Abschiebungen. In dieser Zahl enthalten sind auch die Rückführungen nach dem Dublin-II-Verfahren.

Chancen auf ein Bleiberecht haben folglich Gruppen aus den Ländern, in denen die Lage aufgrund von Kriegen oder stark autoritären Regimen besonders gravierend ist. So werden Geflüchtete aus Syrien und dem Irak in 9 von 10 Fällen anerkannt, bei Geflüchteten aus Eritrea liegt der Wert immerhin bei etwa 6 von 10 Fällen (Asylstatistik der Bundesregierung im Januar 2015). Das Aufenthaltsrecht gilt für drei Jahre. Dann wird erneut über eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis verhandelt.

EN T S CHEIDUN G S VERFAHREN

AB LEHNUNG

Oft sind schon Monate in der Erstaufnahmeunterkunft vergangen, bis das eigentliche Asylverfahren beginnt. Die durchschnittliche Dauer eines solchen Verfahrens liegt bei sieben Monaten. Da die Chance der Anerkennung bei Asylsuchenden aus dem Balkan besonders gering ist, wurden hier beschleunigte Verfahren entwickelt, die die Ämter entlasten sollen. Für die anderen Flüchtlingsgruppen kann das Verfahren deshalb noch länger andauern. Im Falle von Geduldeten kann unter besonderen Umständen und bei Härtefällen ein Asylfolgeverfahren eingeleitet werden.

Laut Pro Asyl werden etwa 40 Prozent der Asylanträge abgelehnt. Betroffene müssen die Bundesrepublik verlassen. 33.000 Ausreisepflichtige sind im April 2015 noch in Deutschland.

Die Anhörung Monate können nach der Ankunft verstreichen, bis es erstmalig zu einer umfassenden Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kommt. Dabei muss der Geflüchtete alle Gründe für den gestellten Asylantrag mündlich vortragen. Die getätigten Aussagen sind für die mögliche Anerkennung von zentraler Bedeutung. Der Geflüchtete muss sein Befinden, die Familienbeziehungen sowie die Fluchtgründe und -geschichte wahrheitsgemäß und detailliert darstellen. Unwahrheitsgemäße Aussagen können ihm später zur Last gelegt werden. Diese entstehen allerdings nicht selten aufgrund der Aufregung der Aslysuchenden bei der Interviewsituation oder aufgrund von Übersetzungsfehlern durch behördliche Dolmetscher. Hinzu kommt, dass viele Geflüchte traumatische oder demütigende Erfahrungen, wie zum Beispiel sexuellen Missbrauch, in ihrem Herkunftsland gemacht haben, über die sie nur schwer reden können. Der Verein Pro Asyl kritisiert, dass oft keine neutrale Anhörungssituation geschaffen wird. Einige Wochen nach der Anhörungen erfolgt ein Bescheid zum Ausgang des Verfahrens, gegen den auch gerichtlich vorgegangen werden kann.

DULDUNG Sollte nach Ablehnung eine Reiseunfähigkeit festgestellt werden, kein Pass für eine Rückkehr vorliegen oder die Situation im Herkunftsland eine Rückreise nicht zulassen, erhalten die Betroffenen eine Duldung, die eine Aussetzung der Abschiebung für eine bestimmte Zeit darstellt. Die Duldung erlischt, wird die Abschiebung nach Auffassung der Behörden möglich. Eine Duldung kann oft Jahre bestehen. Nur in seltenen Fällen wird ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt. Derzeit leben laut Pro Asyl 86.000 Menschen in Duldung. Diese kommen zumeist aus Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, dem Irak und der Türkei. Kaum Rechte, kaum Teilhabe Nur nach Ermessensentscheidung der Verwaltung dürfen Geduldete einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Folgenreich ist dies für die weitere Lebensgestaltung, etwa für die Suche nach Unterkünften. Neben den Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz können oft keine anderen Sozialleistungen bezogen werden. Der Zugang zu Bildungstätten ist erschwert. Zwar wurde die bis dato bestehende Residenzpflicht mittlerweile weitgehend aufgehoben. Doch insgesamt leben Geduldete häufig in prekären Verhältnissen und im sozialen Abseits.

Foto: Antje Grebing (www.jugendfotos.de, CC-Lizenz)/ Montage: Henrik Nürnberger


AUS DEM RUDER

Foto: Alice Epp

DIE GRENZE EUROPAS IST DIE TÖDLICHSTE DER WELT: IM APRIL ERTRANKEN WIEDER FAST 1000 FLÜCHTLINGE IM MITTELMEER. NUN SEHEN AUCH POLITIKERINNEN HANDLUNGSBEDARF. ABER TAUGEN IHRE LÖSUNGSANSÄTZE ETWAS? VON WIEBKE SCHWINGER UND PAULA LOCHTE

STILLER PROTEST VOR DER VERTRETUNG DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION IN DEUTSCHLAND: WAS FOLGT AUS TRAUER UND EMPÖRUNG ÜBER DAS MASSENGRAB IM MITTELMEER?

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ast 900 Menschen ertranken in der Nacht vom 18. auf den 19. April im Mittelmeer. Sie waren auf dem Weg nach Europa. Jetzt sieht auch die Europäische Union (EU) Handlungsbedarf. Wenige Tage nach der Katastrophe trafen sich die europäischen Staats- und RegierungschefInnen in Brüssel zum Krisengespräch und beschlossen einen Zehn-Punkte-Plan mit Sofortmaßnahmen: Die gemeinsame Seenotrettung soll ausgeweitet, Schlepperbanden bekämpft und die Kooperation mit Transitländern vertieft werden.

KEIN EUROPÄISCHES RETTUNGSPROGRAMM Menschenrechtsorganisationen hatten schon lange gefordert, die Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer wieder zu intensivieren. Nun lenkt die Politik ein. „Seenotrettung ist das Erste und Wichtigste, was beginnen muss“, betonte etwa Bundesinnenminister Thomas de Maizière kurz vor dem Gipfel im Bundestag. Es gibt bisher kein eigenständiges europäisches Programm, um die Menschen zu retten, die oft auf überfüllten Booten nach Europa kommen. Das italienische Rettungsprogramm Mare Nostrum hatte von Oktober 2013 an über 150.000 Menschen das Leben gerettet. Aber weil Italien die Kosten von rund neun Millionen Euro im Monat nicht allein aufbringen wollte, wurde es nach nur einem Jahr im November 2014 wieder eingestellt. Auf Mare Nostrum folgten Triton und Poseidon, beides Operationen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Budget und Einsatzradius waren allerdings deutlich kleiner. Das soll sich nun ändern. Auf dem EU-Flüchtlingsgipfel verständigten sich die Staats- und Regierungschefs da-

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rauf, die Mittel der beiden Projekte von So könne das Sterben auf dem Meer nicht drei auf mindestens neun Millionen Euro beendet werden. „Legale Zugangswege monatlich zu verdreifachen und das Ein- nach Europa graben Schleppern und satzgebiet auszuweiten. Über die Größe Schleusern das Wasser ab“, betont Glöde. des Einsatzgebietes – bisher 30 Seemeilen Denn da es bisher keine Visa für Geflüchvor der italienischen Küste – gibt es aller- tete gibt, sind diese darauf angewiesen, dings noch keine Einigung. „irregulär“ über die Grenzen zu gelangen, „Das deutsche Bundesinnenministeri- um in der EU einen Asylantrag stellen zu um (BMI) möchte, dass Frontex sowohl können. Menschen als auch Grenzen schützt“, Auch Martin Rentsch von UNHCR besagt Johannes Dimroth, Pressesprecher tont, dass die legalen Einreisewege nach des Ministeriums. Es habe sich gezeigt, Europa ausgeweitet werden müssten, um dass Seenotrettung, die nicht mit der das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Bekämpfung von Schleusern kombiniert Dafür brauche es nicht unbedingt ein werde, diese dazu ermutige, „noch ris- völlig neues Asylrecht: Neben Resettlekantere Manöver zu machen, die Flücht- ment-Programmen, bei denen die Staaten linge auf noch seeuntüchtigere Boote zu freiwillig ein bestimmtes Kontingent von ferchen und sie damit einer noch größe- Flüchtlingen aufnehmen, müssten auch ren Lebensgefahr auszusetzen.” Men- bestehende Möglichkeiten wie humanischenrechtsorganisationen sehen das an- täre Visa, Arbeitsvisa, Studentenvisa oder ders. Die Ausweitung der Seenotrettung Familienzusammenführungen stärker sei zwar ein Schritt in die richtige Rich- ausgeschöpft werden. tung, sagt Martin Rentsch, Pressereferent des UN-Hochkommissars für Flücht- DRITTSTAATEN-KOOPERATION linge (UNHCR). Aber: „Es darf nicht FÜHRT AN LÖSUNG VORBEI um Grenzschutz gehen, sondern darum, Menschenleben zu retten. Deswegen for- Für wenig praktikabel hält der UNHCR dern wir eine robuste, staatlich geführte die Pläne der EU-Staaten, künftig auch Such- und Rettungsmission.“ Unklar ist die Transitstaaten, insbesondere in Nordauch weiterhin, wie sich die Aufgabe der afrika, wieder stärker in die FlüchtlingsSeenotrettung mit Frontex’ Auftrag zur politik einzubeziehen: „Denn die VereinGrenzkontrolle vereinbaren lässt. barungen, die die EU mit diesen Ländern trifft, müssen internationalen Standards und dem Recht genügen und dürfen SCHLEPPERN DAS kein Ersatz für einzelne Asylverfahren WASSER ABGRABEN in der EU sein“, sagt Rentsch. Diese BeAuch Harald Glöde von der Menschen- dingungen seien in Ländern wie Ägypten rechtsorganisation Borderline Europe und Libyen nicht erfüllt. sieht die Initiative der EU kritisch. Das Keine Einigung erzielten die Staatsnun anvisierte EU-Programm ziele wei- oberhäupter im Streit um die Verteilung terhin darauf ab, Europa vor Flüchtlingen der Geflüchteten in der EU. Die Mittelabzuschotten. Das zeige besonders das meerländer fordern hier schon lange militärische Vorgehen gegen Schleuser. eine größere Unterstützung. Nach dem

geltenden Dublin-II-Abkommen ist in der EU der Staat für einen Asylsuchenden verantwortlich, in dem er zuerst europäischen Boden betritt. BMI-Pressesprecher Dimroth betont, dass es bei dieser Regelung vorerst bleiben soll. Wenn sich alle EU-Mitgliedsstaaten an geltendes EURecht hielten, sei schon viel gewonnen. Deutschland sei jedoch unter Umständen bereit, einen Teil der in den Mittelmeeranrainerländern ankommenden Geflüchteten bei sich aufzunehmen. Allerdings nur, sofern weitere EU-Mitgliedsstaaten mitzögen und ausschließlich auf freiwilliger Basis. Im Juni wollen die Staats- und Regierungschefs zu einem neuen Flüchtlingsgipfel zusammenkommen. Ob dann drängende Aufgaben wie die Reform des Dublin-II-Abkommens endlich in Angriff genommen werden, ist fraglich. Bereits nach dem Bootsunglück vor Lampedusa 2013, bei dem 369 Menschen starben, versprachen Politiker in ganz Europa, bei der Flüchtlingspolitik nachzubessern. Es sollte nie wieder eine derartige Katastrophe an den Grenzen Europas geben, hieß es damals. Jetzt müssen den Worten endlich Taten folgen.

Wiebke Schwinger 27, Berlin Paula Lochte 21, Berlin ... würden den ZehnPunkte-Plan am liebsten umschreiben.


CHANCENLOS

ALS ETHNISCHE MINDERHEIT ERFAHREN ROMA EUROPAWEIT DISKRIMIERUNG UND UNTERDRÜCKUNG. AUCH IN DEUTSCHLAND WIRD IHNEN FAST NIE EIN DAUERHAFTER SCHUTZRAUM GEBOTEN. VON FRIEDERIKE STRIETZEL

F

amilie Vesellji lebt seit eineinhalb Jahren in Deutschland. Im Flüchtlingsheim wohnen sie zu fünft in zwei Zimmern. Immerhin etwas mehr als in ihrer Heimat, wo sie nur ein Zimmer hatten – ohne Dusche. Wie viele Roma, lebten sie in ihrer Heimat Serbien – einem Land, in dem Korruption und Armut den Alltag beherrschen – am absoluten Existenzminimum. Der Familienvater der Veselljis hatte keine Chance auf eine Schulausbildung. Bei seiner Arbeit als Straßenkehrer wie auch im Privatleben hat er Diskriminierung aufgrund seiner ethnischen Herkunft erfahren. „Wenn ich mit einem nicht-romanischen Kollegen zusammenarbeiten musste, musste ich immer die andere Straßenseite kehren. Ein Serbe hat mir damit gedroht, dem Arbeitgeber zu erzählen, dass ich mich nicht ordnungsgemäß verhalten hätte“, berichtet er. Als Folge hätte ihm die Kündigung gedroht. Auch im Alltag sei er immer wieder benachteiligt worden. Beim Arzt beispielsweise müssten sie länger als andere Serben warten. Diskriminierung gegenüber Roma findet auch mit Gewaltanwendung statt. Gerade in der Nacht müsse man auf der Straße damit rechnen. Vor diesem Hintergrund und nachdem dem Vater unbegründet gekündigt wurde, beschloss die Familie, nach Deutschland zu ziehen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunftsperspektive. Björn Treu, Mitarbeiter eines Jugendhilfeverbandes für Roma, kennt die Problematik. „Die Roma sind in ihren Herkunftsländern nahezu vogelfrei. Gibt es

Baupläne in Romasiedlungen, müssen sie ihre Häuser innerhalb kurzer Zeit verlassen, doch sie erhalten keine Ersatzwohnung. Oft werden ihnen Versicherungen und Sozialhilfeleistungen verwehrt – und das sind nur einige von zahlreichen Beispielen.“ Dieser institutionellen Diskriminierung sind Roma auch in den anderen Westbalkanstaaten, wie Mazedonien und Bosnien-Herzegowina, ausgesetzt. Ein Bericht des UNHCR bestätigt diesen Befund: Der Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung ist für sie nur schwer möglich. In Serbien haben etwa 30 Prozent der Roma keinen direkten Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Kindersterblichkeit ist um ein Drittel höher als bei Nicht-Roma. Nur ein Viertel von ihnen beendet die Grundschule. Viele Roma versuchen dieser ausweglosen Situation zu entkommen, indem sie wie Vesellji im Westen Europas Zuflucht suchen.

KEIN BLEIBERECHT IN DEUTSCHLAND In Deutschland wird die Berechtigung auf Asyl durch das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt. Laut Handbuch des UN-Flüchtlingswerks von 1979 gilt das Asylrecht unter anderem für Menschen, die als Mitglied einer Bevölkerungsgruppe so massiv diskriminiert werden, dass sie keine Möglichkeit haben, eigenständig ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wann dies zutrifft, ist jedoch Auslegungssache. In Deutschland

erhalten nach Zahlen des Bundesamtes für Migration nur marginale 0,3 Prozent der Menschen aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien eine Form der Bleibeberechtigung. Im Gegensatz dazu haben Belgien und die Schweiz 2013 in der ersten Halbjahr mit einer Quote von etwa 10 Prozent deutlich mehr Geflüchteten dieser Länder eine Aufenthaltsmöglichkeit gewährt.

»SICHERER HERKUNFTSSTAAT« Seit Oktober 2014 gelten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten. Fälle aus diesen Ländern haben eine höhere Priorität und werden schneller bearbeitet. Eine individuelle Prüfung findet aber trotzdem statt. Laut Dr. Manfred Schmidt, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, würde das Verfahren durch diese Einstufung aber nur geringfügig verkürzt werden können. Durch die Klassifizierung ihres Landes als „sicherer Herkunftsstaat“ sollen sich die potentiellen Einwanderer schon im vorhinein keine Chance auf Asyl erhoffen und dadurch abgeschreckt werden. Dr. Karin Waringo, Politologin und Mitglied der Organisation Chachipe kritisiert die Praxis des Bundesamtes. Ihrer Auffassung nach erfolgt die Mehrzahl der Anträge sehr wohl aus asylrelevanten Gründen. Sie sieht die Situation der Roma in Südosteuropa als so diskriminierend an, dass sie rechtlich nach der UN-Flüchtlingskonvention häufig asylberechtigt sein müssten. Stattdessen

sind Asylbewerber aus diesen Ländern fast ausnahmslos gezwungen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Die Abschiebung droht auch Familie Vesellji. Sie müssen zurückkehren in ein Land, in dem sie keine Chancen haben. Auf dem Arbeitsmarkt besteht kaum Hoffnung für sie. Da sie Asyl im Ausland gesucht haben, werden ihnen in Serbien obendrein die Sozialleistungen gestrichen. Eine Befragung zu ihren Asylgründen und eine Geldstrafe für Scheinasylanträge kann auf sie zukommen. Danach wird ein Stempel in ihrem Pass auf diesen Versuch hinweisen. Dies gibt den serbischen Grenzbeamten das Recht, sie an ihrer Ausreise zu hindern. Denkt Vater Vesellji an die Zukunft, ist er ratlos: „Auf die Abschiebung nach Serbien schaue ich mit großer Sorge. Ich sehe keine Zukunftschancen für meine Familie. Die Sozialleistungen werden gestrichen. Als Roma Arbeit zu finden, ist schwer. Ich werde nicht einmal die Schulbücher meiner Kinder bezahlen können.“

Friederike Strietzel 23, Dresden ... findet es sehr wichtig, dass Einwanderer als vollwertige Menschen in unserer Gesellschaft angesehen werden.

BERATUNG FÜR NEUANKÖMMLINGE

DER VEREIN IRANISCHER FLÜCHTLINGE HILFT GEFLÜCHTETEN BEIM START INS NEUE LEBEN. KANN DIE INITIATIVE DABEI GENÜGEND HILFE LEISTEN? VON ÁGNES MOLNÁR

H

amid Nowzari, der Leiter des Vereins iranischer Flüchtlinge, erzählt von Friseurinnen im Iran, die in der Öffentlichkeit die Haare von Männern nicht schneiden dürfen und von Schneiderinnen, die ihren Beruf nur beschränkt ausüben dürfen. Unfreiheit und Restriktion im Alltag – und das ist nur eines der Beispiele, warum immer mehr Iraner*innen und Afghan*innen ihre Heimat verlassen. Zusätzlich sind viele von religiöser und politischer Verfolgung betroffen. „Die Zensur und Hinrichtungen im Iran haben ebenfalls zugenommen.“, berichtet Nowzari. Terroristische Anschläge durch bewaffnete Gruppierungen erschwerten das Leben im Iran zunehmend. Wer aus dem Iran flüchtet, kommt im Idealfall zu Nowzari. Neben einem kultu-

rellen Programm bietet er im Verein Beratungen, Weiterbildungsmöglichkeiten und gemeinsame Behördengänge an.

WOHNUNGSSUCHE BLEIBT GRÖSSTES PROBLEM

Flüchtlinge berät insbesondere Frauen und bietet ihnen spezielle Kurse an, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind. Junge Menschen, die einen Schulabschluss mitbringen und noch nicht weit über 30 sind, haben gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, so Nowzari. Menschen in einem höheren Lebensalter haben es dagegen schwerer. Das heißt aber nicht, dass es unmöglich für sie wäre, ins Berufsleben in Deutschland einzusteigen, so Nowzari.

Was dem Verein allerdings schwerfällt, ist die Unterkunftssuche, da es auf dem Berliner Immobilienmarkt ein Unterangebot an Mietwohnungen gibt und Geflüchtete oft finanziell abhängig vom Jobcenter sind. „Wir können bei der Suche nach einer Wohnung nur indirekt helfen, zum GUT AUSGEBILDET Beispiel, wenn wir Übersetzungen für die Hausverwaltung erstellen“, sagt Hamid „Frauen in Pflegeberufen haben besonders Nowzari. Im letzten Jahr fanden 1.800 gute Voraussetzung, um der Arbeitslosigpersönliche und rund 3.000 telefonische keit zu entgehen. Sie werden schnell in Beratungen statt. Der Verein iranischer ihren Berufen eingesetzt.“ Die Hälfte der

Iraner bringen sogar einen akademischen Abschluss mit. Im Vergleich dazu haben nur 20 Prozent der Deutschen einen universitären Bildungsabschluss.

Ágnes Molnár 23, Cottbus …berichtet in Zukunft mehr über die Situation von Geflüchteten.

GRUPPEN //

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ZUR P E R S O N Bruno Watara, 51, Bewegungsarbeiter, setzt sich für die Rechte Geflüchteter ein. 1993 musste er als Mitglied der Oppositionsbewegung aus dem Togo fliehen und kam 1997 nach Deutschland. Nachdem er seinen Asylantrag gestellt hatte, lebte er sieben Jahre lang in einem Flüchtlingsheim in Mecklenburg-Vorpommern und begann dort seinen Aktivismus. Inzwischen lebt er in Berlin und engagiert sich für zahlreiche Organisationen, darunter das Bündnis gegen Lager, der Flüchtlingsrat Brandenburg und die Interventionistische Linke.

Foto: Johanna Kleibl

\\ 16 \\ INTERVIEW


»NICHT FLÜCHTLINGE, SONDERN FLUCHTURSACHEN BEKÄMPFEN« BEWEGUNGSARBEITER

FÜR DEN EHEMALIGEN ASYLBEWERBER BRUNO WATARA WAR SEIN „HEIM“ EIN LAGER. EIN GESPRÄCH ÜBER SEINEN EINSATZ FÜR GEFLÜCHTETE IN DEUTSCHLAND UND SEINE FORDERUNGEN AN DIE EUROPÄISCHE POLITIK. VON JOHANNA KLEIBL

DU ENGAGIERST DICH SEIT VIELEN JAHREN FÜR GEFLÜCHTETE IN DEUTSCHLAND. MIT WELCHEN THEMEN BESCHÄFTIGST DU DICH GERADE? Ich arbeite gerade für die Kampagne „Asylrechtsverschärfung stoppen“. Demnächst wird es eine Demo geben, die ich anmelden werde. Ich bin Pate an einer Schule in Steglitz im Rahmen des Programms „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Ich habe im Laufe der Zeit schon mit vielen verschiedenen Organisationen zusammengearbeitet, darunter Karawane, kein mensch ist illegal, Plattform, Flüchtlingsinitiative Brandenburg, The VOICE Refugee Forum und NoLager.

WELCHE ERFAHRUNGEN HAST DU SELBST NACH DEINER ANKUNFT IN DEUTSCHLAND GEMACHT? Ich bin 1997 am Flughafen Hamburg angekommen. Alles war groß, ich konnte kein Deutsch. Dort habe ich drei Afrikaner getroffen. Die haben mir den Weg nach Horst gezeigt, wo die Erstaufnahme ist, ich habe dort Asyl beantragt. Dann wurde ich in ein Heim in den Landkreis Parchim geschickt. Das Heim war mitten im Wald, eine alte Kaserne mit Bunker. Es gab einen Schulbus nach Parchim; wenn keine Schule war, mussten wir acht Kilometer laufen, um einkaufen zu gehen. Die meisten hatten keine Möglichkeit, Deutsch zu lernen und wir durften nicht arbeiten. Ich nenne das nicht Heim. Mein Heim war ein Lager.

WIE HAST DU DORT BEGONNEN, DICH FÜR DIE INTERESSEN GEFLÜCHTETER EINZUSETZEN? Zuerst habe ich mein Lager gefilmt und das Video an Amnesty International geschickt. Die konnten aber nicht helfen. 2001 hat uns das NoLager Network Bremen besucht, danach haben wir uns im Heim organisiert und jeden Sonntag in einer Gruppe getroffen. Auch außerhalb des Lagers sind wir auf Treffen gegangen, um Kontakt zu anderen Leuten zu bekommen. 2005 haben wir die “NoLager Tour” durch Mecklenburg-Vorpommern organisiert. Dann haben wir einen offenen Brief an verschiedene Behörden geschrieben, weil unser Heim nicht gut war. Es gab eine Auseinandersetzung mit der Heimleitung, schließlich haben wir erreicht, dass wir umziehen können und einen neuen Heimleiter bekommen. 2006 habe ich dann meine Aufenthaltserlaubnis bekommen und bin nach Berlin gegangen. Aber ich habe mich wie

ein Verräter gefühlt. Deshalb engagiere ich mich weiterhin für Flüchtlinge.

DIE THEMEN FLUCHT UND ASYL SIND DERZEIT SEHR PRÄSENT IN DEN MEDIEN. WIE HAT SICH DIE ÖFFENTLICHE WAHRNEHMUNG DEINES AKTIVISMUS IM LAUFE DER ZEIT VERÄNDERT? 2000 haben wir in Berlin unsere erste Demo gemacht, doch es ist nicht darüber berichtet worden. Über unsere Tour 2005 haben keine Zeitungen geschrieben. Aber als die Leute 2012 von Würzburg nach Berlin marschiert sind, gab es zum ersten Mal öffentliches Interesse. Die Menschen haben endlich mitgekriegt, wie es Flüchtlingen in Deutschland geht. Durch den Marsch und das Camp auf dem Oranienplatz wurde die Situation der Flüchtlinge sichtbar.

WAS SIND DIE GRÖSSTEN HERAUSFORDERUNGEN FÜR GEFLÜCHTETE IN DEUTSCHLAND? Vielen Leuten, die lange in den Lagern waren, geht es sehr schlecht. Sie haben keinen Kontakt mehr zu ihren Familien in ihren Heimatländern. Warum? Stell dir vor, sie bekommen einen Anruf, dass ihr Vater gestorben, ihre Mutter krank ist. Aber sie können sie nicht unterstützen, weil sie nicht arbeiten dürfen. Sie wollen ihren Verwandten nicht sagen, dass sie selbst Probleme haben und ihnen nicht helfen können. Viele brechen dann den Kontakt ab. Ich war in Mali, im Senegal, im Togo, habe Familien getroffen, deren Kinder hier in Europa sind. Viele wissen nicht, ob ihre Kinder noch leben oder auf der Reise gestorben sind. Das ist sehr schwierig für sie.

WIE LÄSST SICH MIGRATION GERECHTER GESTALTEN? Durch einen fairen Handel mit Afrika. Handel zwischen Afrika und Europa ohne Bewegungsfreiheit für die Menschen kann nicht fair sein. Es gibt ja nicht nur die Grenzen um Europa, Europa hat auch Afrika mit Grenzen aufgeteilt. Und die Leute wissen, wie lukrativ Grenzen sind. Wenn heute Menschen vom Süden in den Norden kommen, denken alle, dass sie nach Europa wollen. Ohne Schmiergeld geht es an vielen Stellen nicht weiter. Die Generation meiner Mutter konnte noch leichter reisen, jetzt ist es auch in Afrika schwieriger geworden. Viele Afrikaner, die nach Europa kommen, wollen wieder zu-

rück, wenn sie die Möglichkeit haben, doch manche können es nicht. Es gibt ein Sprichwort, das ich in Mali gelernt habe: Am Tag, an dem jemand flieht, bereitet er schon seine Rückkehr vor.

WELCHE KONKRETEN POLITISCHEN FORDERUNGEN HAST DU AN DIE EUROPÄISCHE POLITIK? Ich sage Europa: Ihr sollt nicht die Flüchtlinge, sondern Fluchtursachen bekämpfen. Hier sind vier Punkte wichtig: Erstens sollen europäische Unternehmen aufhören, Afrikas Küsten zu überfischen. Zweitens soll Europa aufhören, seine Überproduktion nach Afrika zu schicken. Ein Bauer in Afrika hält seine Hühner für drei, vier Jahre, er kann sie nicht so billig verkaufen wie die Hühner aus Europa, die nach wenigen Monaten groß sind. Drittens: Landgrabbing. Konzerne und korrupte Regierungen sorgen dafür, dass Land für den Anbau von Blumen oder Baumwolle genutzt wird. Essen die Leute vor Ort Blumen? Nein, sie essen keine Blumen, aber sie nutzen Pestizide und viel Wasser, um Blumen für den Export anzubauen. Viertens werden in Deutschland Waffen produziert.

WELCHEN RAT HAST DU AN GEFLÜCHTETE UND IHRE UNTERSTÜTZER*INNEN IN EUROPA? Wir müssen uns treffen und über Politik diskutieren. Viele Leute kennen ihr Recht nicht. Um für dein Recht zu kämpfen, musst du informiert sein. Wir brauchen Selbstvertrauen und Selbstorganisation. Und wer den Leuten wirklich helfen will, soll ihnen helfen, ihren Familien in Afrika zu helfen. Da gibt es auch ein Sprichwort: Lehre jemanden, Fisch zu fangen, statt ihm immer wieder Fisch zu geben.

Johanna Kleibl 24, Berlin ... wünscht sich bei der öffentlichen Diskussion über Einwanderung eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Gründen, die Menschen zur Flucht zwingen.

INTERVIEW // 17 //


WO SIND DIE STIMMEN DER FRAUEN?

DAS BILD VON GEFLÜCHTETEN IN DEN MEDIEN IST MÄNNLICH. GEFLÜCHTETE FRAUEN WOLLEN DAS ÄNDERN UND AUCH AUF IHRE SITUATION AUFMERKSAM MACHEN. LINN JENSCHOVAR HAT AKTIVISTINNEN UND BETROFFENE DAZU BEFRAGT.

N

ur ein Drittel der Asylsuchenden meinschaftsbädern und Sprachbarrieren, in Europa sind Frauen. Diese macht es für sie noch vielfach schwieTatsache erscheint paradox, da riger, die traumatischen Erfahrungen zu gerade sie den meisten Formen von Ver- verarbeiten. folgung ausgeliefert sind. Denn neben politischer, religiöser und ethnischer MEHR FREIHEITSRECHTE Verfolgung zwingen Frauen auch ge- GEFORDERT schlechtsspezifische Gründe zur Flucht: Sexualisierte Gewalt, Genitalverstüm- Hinzu kommt, dass Frauen gesellschaftmelung, Zwangsprostitution und -heirat. lich stark isoliert sind. Die von geflüchLaut Schätzungen des UNHCR sind 75 teten Frauen gegründete Organisation Prozent aller Menschen auf der Flucht „Women in Exile“ fordert die „AbschafFrauen und Kinder. Jedoch erreichen die fung aller Lager“. Frauen sollten frei entwenigsten von ihnen europäische Länder, scheiden können, ob sie in einer eigenen sondern fliehen vielmehr innerhalb ihres Wohnung leben möchten. Außerdem würHerkunftslandes oder in benachbarte den mehr Sprachkurse, Kinderbetreuung, Staaten. Sowohl während der Flucht als Zugang zu Bildung und medizinischer auch in den Massenunterkünften sind Versorgung sowie eine uneingeschränkte Frauen zusätzlichen Problemen ausge- Bewegungsfreiheit ihre Situation verbessetzt. Die Flucht gestaltet sich für sie sern. schwieriger, weil sie oft über geringere Deemah Tesare ist 23 Jahre alt und vor finanzielle Mittel verfügen, mit diskrimi- einem Jahr mit ihrer Familie aus Syrien nierenden Rollenbildern konfrontiert sind, geflohen. „Besonders schwierig für mich Belästigungen befürchten müssen und war die fehlende Privatsphäre und die in vielen Fällen nicht allein, sondern in überfüllten Gemeinschaftsbäder in den Begleitung ihrer Kinder den gefährlichen Unterkünften“, berichtet sie über ihren Weg antreten. Alltag nach der Ankunft in Deutschland. Sofern ihnen die Flucht gelingt, be- Deemah ist froh, dass sie mittlerweile mit lasten sie die Lebensbedingungen in der zwei Geschwistern in einer eigenen WohUnterbringung auf mehrfache Weise. nung lebt. Ihre Deutschkenntnisse sind Dass sie auf engstem Raum leben, ohne sehr gut und sie wartet darauf, dass ihr in Privatsphäre, mit unhygienischen Ge- Syrien angefangenes Studium auch hier

anerkannt wird und sie es endlich fortsetzen kann. „Ohne den Krieg wäre ich jetzt schon Zahnärztin“, sagt Deemah. Dass die Stimmen geflüchteter Frauen nicht gehört werden, ist laut „International Women Space“ ein strukturelles Problem. Die politische Gruppe kritisiert, dass die Refugees-Bewegung männlich dominiert sei, obwohl die weiblichen Geflüchteten im Alltag die meiste Ausgrenzung, Erniedrigung und Ausbeutung erlebten. Besorgniserregend sei, dass Frauen, die diese Gewalterfahrungen gemacht haben, trotzdem kein Asyl bekämen. Das männlich konnotierte Bild von Geflüchteten trage dazu bei, dass frauenspezifische Fluchtgründe und die Situation von Frauen im Asylverfahren aus dem Blickfeld geraten.

GEMEINSAM STARKMACHEN

möglichen. So kam ihre Gründung auch zustande. In der von Geflüchteten besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in BerlinKreuzberg richteten sie einen Schutzraum nur für Frauen unabhängig von ihrer Nationalität ein. Unter dem Motto „Women unite!“ erheben sie nun ihre Stimmen und tragen ihre Forderungen gemeinsam in die Öffentlichkeit, damit die Asylpolitik nicht weiter blind für die besonderen Bedürfnisse geflüchteter Frauen und ihre prekären Lebensbedingungen in europäischen Lagern und Unterkünften ist. Eine feministische Perspektive auf die Situation von Geflüchteten ist deshalb so wichtig, weil Frauen auf der Flucht und hier in Europa nicht nur gegen Rassismus, sondern auch gegen Sexismus kämpfen müssen. Es gilt, sich mit ihnen zu solidarisieren und das männlich geprägte Bild von Geflüchteten zu überdenken.

Umso wichtiger sei es, dass sich die betroffenen Frauen vernetzen und organisieren, um die Gesellschaft mit ihren Anliegen zu konfrontieren. Genau das machen die Aktivistinnen von „International Women Space“ auf der jährlich stattfindenden Frauenflüchtlingskonferenz. Dabei geht es ihnen vor allem darum, sich Raum in der Öffentlichkeit anzueignen und einen solidarischen Austausch zu er-

Linn Jenschovar 21, Berlin … weiß jetzt, dass Privilegierung auf der einen Seite auch immer Benachteiligung auf der anderen Seite bedeutet.

FRUCHTFLEISCH Was denkst du über Deutschland?

HUSSIN, 42 JAHRE SYRIEN DEUTSCHLAND GEFÄLLT MIR SEHR GUT, WEIL ES UNS BESSERE MEDIZINISCHE VERSORGUNG, FRIEDEN UND SICHERHEIT BIETET. MEINE TOCHTER IST KRANK, DESWEGEN SIND WIR VOR ALLEM AUF DIE MEDIZINISCHE HILFE ANGEWIESEN.

\\ 18 \\ GRUPPEN

»QUALITÄT«

ANTHONIA, 30 JAHRE NIGERIA ICH FINDE ES HIER VIEL BESSER ALS IN ITALIEN. DEUTSCHLAND IST WOHLORGANISIERT UND DESHALB LAUFEN DIE FORMALIEN SCHNELLER AB. DIE ALLGEMEINE LEBENSQUALITÄT IST HIER HÖHER.

»UNGEWOHNT«

FITSUME, 24 JAHRE ERITREA WAS ICH BISHER VON DEUTSCHLAND GESEHEN HABE, FINDE ICH WIRKLICH TOLL. DIE LEUTE SIND HIER AUCH SEHR NETT ZU UNS. NUR DAS KLIMA IST UNGEWOHNT, ABER DARAN WERDEN WIR UNS SCHNELL GEWÖHNEN.

Fotos: Alice Epp

»SICHERHEIT«


BERLIN IM APRIL 2015: JUNGE DEMONSTRANTEN GEHEN FÜR DIE RECHTE IHRER GEFLÜCHTETEN MITSCHÜLER AUF DIE STRASSE.

Foto: Tim Lüddemann

SAG MIR, WIE ALT BIST DU EIGENTLICH?

SOLTAN KOMMT MIT 16 JAHREN NACH DEUTSCHLAND. DIE BEHÖRDEN BEFINDEN, ER SEI 18. DADURCH ÄNDERT SICH EINE GANZE MENGE. SELIN GÖK UND ELLA CEVIK BERICHTEN DARÜBER, WIE EIN MINDERJÄHRIGER GEFLÜCHTETER OHNE BEGLEITUNG UM SEINE RECHTE KÄMPFEN MUSS.

S

oltan lernt für sein Abitur. Bis dahin war es ein weiter Weg. Auch viel Glück war nötig. Allein ist er aus Afghanistan über Griechenland nach Berlin geflohen. Hier wollte er sich eine sichere Zukunft aufbauen. Doch in Berlin angekommen, wurde er von der Polizei festgenommen. 27 Tage verbrachte er im Gefängnis. Und das, obwohl es sich bei Soltan um einen 16-jährigen Jungen handelte. Dabei gelten unter anderem nach dem Jugendhilfegesetz für Minderjährige besondere Schutzrechte.

nicht zu begründen“, sagt Tschingis Sülejmanow vom Verein „Jugendliche ohne Grenzen“. Stattdessen wurden beim sogenannten „Clearingverfahren“ noch dazu umfangreiche und teure Skelettuntersuchungen an Soltan durchgeführt, um sein Alter möglichst genau zu ermitteln. Tatsächlich ergab der – eigentlich überflüssige und zum Teil erniedrigende – Test, dass Soltan 16 Jahre alt ist. Doch auch dieses Ergebnis reichte den Behörden nicht: Sie stuften sein Alter kurzerhand zwei Jahre höher ein. Somit galt Soltan als 18-jähriger Geflüchteter und fiel so nicht mehr unter das Jugendhilfegesetz, UM RECHTE, SCHUTZ UND das für ihn eigentlich gelten müsste. CHANCEN BERAUBT „Selbst Geburtstage werden oft willkürlich In Deutschland besteht ein Anspruch vergeben“, so Sülejmanow. Nach seiner auf Inobhutnahme durch das Jugendamt. Einschätzung ist Soltan kein Einzelfall. Er Außerdem haben sie das Recht auf einen vermutet Kalkül auf Seiten der Behörden, persönlichen Vormund und die Unterbrin- die mit falschen Einstufung höhere Aufgung in Einrichtungen der Jugendhilfe. wendungen für Minderjährige umgingen. Auch für Geflüchtete gilt die Schulpflicht, der Zugang zur Schule oder Ausbildung FRAGWÜRDIGE AKRIBIE darf ihnen nicht verwehrt werden. All diese Rechte und Chancen bekam Soltan Laut Zahlen des UNHCR sind die Hälfte nicht. „Dass bei Soltan selbst bei Vorlage aller Flüchtlinge weltweit Kinder. Für sie der Geburtsurkunde das Alter nicht an- gilt durch die UN-Kinderrechtskonventierkannt wurde, ist mit dem bloßen Miss- on ein besonderer Schutz. Tschingis Sületrauen gegenüber falschen Altersangaben jmanow, der selbst aus Aserbaidschan

geflüchtet ist, berichtet, dass viele Kinder alleine und ohne Familie kommen. „Viele von ihnen sind schwer traumatisiert und brauchen Hilfe“. Hilfe, die ihnen durch die Amtshürde der Nichtanerkennung des Alters verwehrt wird. Nach Recherchen des ZDF-Politmagazins „Frontal 21“ wird gar bei der Hälfte aller jungen Geflüchteten ohne elterliche Begleitung ein ärztliches Verfahren zur Altersfeststellung angewendet. Ein enormer Aufwand, der sich dennoch zu rentieren scheint – auf dem Rücken der Betroffenen.

VEREIN UNTERSTÜTZT IM KAMPF UM EIGENE RECHTE Dass die jungen Menschen trotz dieser Schikanen Anschluss finden, dafür setzt sich die Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“ ein. „Wir wollen, dass Betroffene über ihr eigenes Schicksal bestimmen können“, sagt Sülejmanow. Dafür organisiert der ehrenamtliche Verein verschiedene Workshops für Geflüchtete, unterstützt mit einer Hausaufgabenbetreuung, Sprachkursen und bietet Freizeitprojekte an. Auch Soltan hilft er bei seiner Prüfungsvorbereitung. „Durch

die Unterstützung des Vereins bin ich selbstbewusster geworden und weiß jetzt, dass ich um meine Rechte kämpfen muss“, sagt Soltan heute. Jetzt kämpft er dafür, dass sein richtiges Alter anerkannt wird. Offiziell ist er mittlerweile 23 Jahre alt. Sein richtiges Alter ist jedoch 21. Die deutschen Behörden weigern sich noch immer, sein Alter zu ändern und weisen darauf hin, dass er zu afghanischen Botschaft gehen soll. Soltan hofft auf ein gutes Ergebnis. Momentan hat er eine Aufenthaltsgenehmigung für zwei Jahre bekommen. Während dieser Zeit will er sein Abitur ablegen. Eine Chance, die ihm nicht verwehrt bleiben soll.

Ella Cevik 16, Berlin Selin Gök 15, Berlin … wollen sich in Zukunft viel aktiver für Geflüchtete einsetzen.

GRUPPEN // 19 //


WIE BRUDER UND SCHWESTER

MAREIKE UND JONAS HABEN NICHT NUR EINEN NEUEN MITBEWOHNER FÜR IHRE WOHNUNG IN BERLIN-WEDDING GEFUNDEN, SONDERN AUCH EINEN GUTEN FREUND: BAKARY, GEFLÜCHTET AUS MALI. DAVON INSPIRIERT, GRÜNDETE DIE WOHNGEMEINSCHAFT DIE ONLINE-PLATTFORM FLÜCHTLINGEWILLKOMMEN.DE. VON SAAD MALIK

B

akary und Mareike schauen sich an und lachen herzlich, während sie ihn kumpelhaft am Arm berührt. Sein strahlendes Gesicht fällt auf, und mit seinen kurzen Haaren und gepflegten Teilbart wirkt Bakary adrett. Auch seine dunkle, gerade geschnittene Jeans und sein dezent bedruckter grauer Pulli stärken diesen Eindruck. Dann blitzen eine bunte Halskette und sein Armschmuck hervor. Bakary war Schmuckmacher im Senegal, bevor er über Mali nach Italien flüchtete. Zunächst hatte er Arbeit dort. Als er jedoch länger arbeitssuchend war, entschied er sich für den Umzug nach Berlin. Mareike hingegen hat keine Fluchterfahrung. Auf den ersten Blick erinnert sie unweigerlich an die cool aussehenden Studierenden vor der Grimm-Bibliothek in Mitte: Ihre legere Kleidung wird ergänzt durch eine auffallend breite Halskette, einen Jutebeutel und durch ihre langen Haare. Und tatsächlich: Mareike erzählt von einem Überraschungsmoment vor eben dieser Bibliothek, den sie mit Bakary vor Kurzem hatte.

riert, selber eigene Zimmer für Geflohene vermitteln wollen.

GEMEINSAME REALITÄT, GLEICHES LEBENSUMFELD Bakary erzählt vom Alltag in der Wohngemeinschaft. Sie kochen und essen gemeinsam und manchmal geben sie eben auch Interviews. Bakarys Mitbewohner Mareike und Jonas sind nun ein Teil seiner Familie: „Jetzt habe ich einen Bruder und eine Schwester.“ Sein Vater hat ihm beigebracht, stets auf seine Mitmenschen acht zu geben. Er habe sich schon in Italien ehrenamtlich beim Roten Kreuz engagiert, gehe auch hier in Berlin zum Roten Kreuz, um mitzuarbeiten und mache gerade einen Vorbereitungskurs für den Beruf des Altenpflegers. „I like to help people“, sagt er mit einem überzeugenden Lächeln. Mareike andererseits erzählt von einem Perspektivwechsel für sich und ihre soziale Umwelt: “Durch Bakary sind Familie und Freunde in das sonst so ferne und abstrakte Flüchtlingsthema direkt eingebunden. Ich selbst habe durch ihn das Ausmaß von Härte und Schwierigkeiten von einem Leben in Deutschland kennengelernt”. Bei dem Mittagessen mit den beiden Freunden fallen mehr Gemeinsamkeiten auf als Unterschiede. Beide strahlen eine Ruhe zu einem beunruhigenden Thema aus, die beeindruckt. Mareike hört Bakary stets aufmerksam zu und ergänzt erst, wenn es für die Beantwortung von Fragen nötig ist. Denn es geht um seine Geschichte. Es ist schön zu sehen, wie vertraut sie wirken und wie harmonisch sie gemeinsam erzählen. Ihre Freundschaft ist Inspiration für Deutschland, gemeinsam und zusammen zu leben, ein und dieselbe Gesellschaft zu sein.

GLEICHES LEBENSUMFELD, GETRENNTE REALITÄT

Saad Malik 27, Frankfurt/Main Fotos: Alice Epp

Vor dem Universitätsgebäude habe Mareike ihrem Mitbewohner den Ort zeigen wollen, an dem sie ihre Masterarbeit im Studiengang Kultur und Religion geschrieben hat. Bakary habe das Gebäude aber schon gekannt. „Hier habe ich schon mal geschlafen, denn es ist warm in der Bibliothek“, erzählt Mareike seine Worte nach. Sie sei baff gewesen. Sie ging in die Bibliothek, um an ihrem Bildungsweg zu arbeiten – er, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Ohne hiervon zu wissen, waren Mareike und ihr Mitbewohner Jonas von der deutschen Asylpolitik verärgert, denn sie trennt oft grundlos die Geflohenen von den Nichtgeflohenen. Inspiriert von dem Erfolg ihrer privaten Initiative, Bakarys Zimmer durch ihre sozialen Netzwerke finanziert zu haben, entschieden sie sich mit einer Sozialarbeiterin die Zimmervermittlung fluechtlinge-willkommen.de zu gründen. Auf dieser können private Plätze in Wohngemeinschaften unkompliziert annonciert werden. Mittlerweile haben sie 25 Wohngemeinschaften in Deutschland an Geflüchtete vermittelt, sechs waren es in Österreich. Dabei erhielten sie ganze 600 Anmeldungen für die freien Zimmer. Darüber hinaus gibt es sogar viele Anfragen aus dem Ausland – von Privatpersonen, die, durch dieses Projekt inspi-

\\ 20 \\ BEGEGNUNGEN

MEHR ALS EINE MITBEWOHNERIN: BAKARY HAT IN MAREIKE EINE SCHWESTER GEFUNDEN.

... freut sich über diese Erfolgsgeschichte und hofft, bald sein eigenes soziales Projekt auf die Beine stellen zu können.


BITTE, BLEIB!

Foto: Tim Lüddemann

ÜBER DIE SCHWIERIGKEIT, EINE BEZIEHUNG ZU FÜHREN, IN DER EIN PARTNER KEIN DAUERHAFTES BLEIBERECHT IN DEUTSCHLAND HAT. VON JIL-MADELAINE BLUME UND SEBASTIAN STACHORRA

I NTER VI EW Angelika Kallwass, 67, hat seit Jahrzehnten Paare auf der Couch. Wir wollten von der Psychotherapeutin wissen, was passiert, wenn in einer Beziehung die Macht ungleich verteilt ist. politikorange: Frau Kallwass, eine romantische Liebesbeziehung in einem Machtgefälle – geht das?

EIGENTLICH UNZERTRENNLICH: WENN DIE ABSCHIEBUNG EINE PARTNERSCHAFT BEDROHT.

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anchmal habe ich schon das Gefühl, dass ich meine Probleme nicht wirklich bei ihm lassen kann. Weil seine Probleme einfach eine Million Mal so groß sind.“ Luisa ist 21 und liebt Tijan. Tijan ist 27 und liebt Luisa. Eigentlich eine unspektakuläre Geschichte. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden ist aber: Luisa kann darüber entscheiden, ob Tijan sich hier ein Leben aufbauen kann oder nicht. Denn Tijan ist aus Westafrika nach Deutschland geflohen, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung wird er vermutlich nicht bekommen. Aber Luisa ist Deutsche und könnte seine Aufenthaltsgenehmigung werden – indem sie ihn heiratet. „Ohne diese Problematik hätte ich über diesen Schritt nicht nachgedacht“, meint Luisa. Sie überlegt, eine Ehe mit Tijan einzugehen, damit er hier bleiben kann. Rechtsanwalt Rolf Stahmann ist Experte für Asylrecht und erklärt, dass die Familie im Grundgesetz besonders geschützt ist. Daher darf, wer mit jemandem mit deutschem Pass verheiratet ist, in Deutschland bleiben. Die Ausländerbehörde darf prüfen, ob tatsächlich eine „eheliche Lebensgemeinschaft“ geführt wird. Die Ehepartner werden dazu an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit befragt. Mögliche Fragen sind: Wie war die Hochzeit? Haben Sie über einen Kinderwunsch gesprochen? Wenn die Protokolle zu sehr voneinander abweichen, kann die Ausländerbehörde ein Verfahren in Gang setzen, in dessen Folge gegebenenfalls die

Aufenthaltsgenehmigung entzogen und Strafen verhängt werden können.

HEIRATEN ODER VERLASSEN Als Tijan mal wieder bei der Ausländerbehörde war, um seine Duldung für sechs Monate zu verlängern, hatte Luisa schlaflose Nächte. Wird er wiederkommen? Oder wird sein Ersuchen abgelehnt und er in den nächsten Flieger gesetzt? „Nach neun Monaten hatte ich das Gefühl, ich steh jetzt an ‘ner Kreuzung. Entweder ich heirate den jetzt oder ich verlasse ihn. Das Gefühl, dass er hier in so einer Ungewissheit lebt, das ging einfach gar nicht mehr. Und dann hab ich mich fürs Heiraten entschieden.“ Aber heiraten – puh. Wozu sie sich niemals aus freien Stücken entschieden hätte, war plötzlich das zentrale Thema. Genauso wie Beratungen bei einer Anwältin und Diskussionen mit Tijan. Es gibt romantischere Gesprächsthemen als Heiratsverträge – und auch schönere Gesprächsthemen zwischen Töchtern und Eltern. „Mein Vater war schon am Anfang skeptisch, als meine Mutter sich noch einfach nur gefreut hat, dass ich verliebt war. Als das Heiratsthema aufkam, waren aber beide sehr besorgt und haben im Internet irgendwelche schrecklichen jemenitischen Heiratsverträge aufgetan, bei denen die Frau nicht mehr ohne Erlaubnis des Mannes aus dem Haus darf.“ Für Tijan ist wichtig, Luisa muslimisch zu heiraten, damit ihre Beziehung halal ist.

Ohne diese Hochzeit ist das Leben, das Luisa und Tijan seit 18 Monaten führen, für ihn Sünde. Luisa denkt darüber nach, aber sie zögert. Zu intransparent ist, was genau die muslimische Hochzeit für sie bedeuten würde. Und was passiert, wenn sie gemeinsam in Länder reisen möchten, in denen die Scharia gilt, besonders, wenn Kinder ins Spiel kommen. Tijan ist in Berlin, Luisa in Köln. Eine Fernbeziehung ist schon schwierig genug. Aber Luisa bleibt optimistisch: „Tijan hat eine unglaubliche Lebensfreude. Ich freue mich schon darauf, wenn ich am Wochenende einfach in seinen Armen liegen kann und auf den Pärchenkram. Ohne die Sorgen im Hinterkopf.“ Vielleicht lässt sich nur so mit der Ungewissheit leben. Von einer Duldung bis zur nächsten. Solange, bis das Standesamt, der deutsche Staat und der Imam ihren Segen gegeben haben.

Jil-Madelaine Blume 25, Köln Sebastian Stachorra 21, Münster ... gehen im Herbst auf „Willkommenskultour“ durch Deutschland!

Kallwass: Es gibt ja zunächst ganz verschiedene Arten von Gefällen in einer Beziehung – soziales Gefälle, Bildungsgefälle, Altersgefälle. All diese Ungleichheiten kann ein Paar aber meistern, wenn sich verschiedene Eigenschaften aufwiegen. Aber es ist ganz wichtig, dass der Unterlegene seine Gefühle wie Neid, Wut und Ohnmacht mit dem Anderen teilt. politikorange: Überfordert es ihre junge Beziehung, wenn Luisa über Tijans Zukunft entscheiden kann? Kallwass: Das Machtverhältnis endet ja, wenn er die Aufenthaltsgenehmigung erhält. Sie macht ihm also ein Geschenk und dann ist sie frei von dieser Verantwortung. Aber natürlich kann auch das zum Problem werden: wenn sich eine Beziehung in bestimmten Machtverhältnissen eingespielt hat – und die sich dann ändern. politikorange: Sollte Luisa einer muslimischen Heirat gegen ihre Überzeugung Tijan zuliebe zustimmen? Kallwass: Sie sollte sich fragen: Warum komme ich ihm damit entgegen? Wie lange trägt die Entscheidung? Hier liegt auf lange Sicht Konfliktpotenzial. Interessant ist auch, warum es ihm wichtig ist, sie muslimisch zu heiraten. Wenn sie eigentlich gar nicht heiraten möchte, kann es sein, dass er hier aus seiner niedrigeren Machtposition heraus auch einmal mehr Kontrolle und Wissen haben möchte und deswegen das Machtgefälle umdreht.

BEGEGNUNGEN // 21 //


G LO S S IERT

SPRACHFLUT

Foto: Henrik Nürnberger

SPRACHE SCHAFFT REALITÄTEN UND ANDERSHERUM. UNSERE AUTORINNEN HABEN DIE WORTWAHL DER MEDIENBERICHTERSTATTUNG ÜBER FLUCHT DESHALB EINMAL UNTER DIE LUPE GENOMMEN. VON PAULA LOCHTE UND RACHEL BOSSMEYER

Liebe Leserinnen und Leser, Vorsicht: Gerade erreicht uns eine erschütternde Nachricht des Katastrophenschutzes: Eine riesige Flüchtlingswelle droht Europa zu überrollen! Alarmstufe Rot: Dieser Zustrom von Wassermassen, äh wir meinen natürlich: dieser Flüchtlingsstrom, ist bedrohlich und zerstörerisch. Unsere Hochkultur droht zu verfallen und im Chaos zu versinken. Schamlose fünf Prozent der Geflüchteten weltweit beantragen Asyl in den reichen Ländern der Nordhalbkugel! Nicht zu bewältigende Wassermassen – das sind doch keine Individuen! Auch die Regierung sagt, es müsse schnell gehandelt werden. Jede Hilfe werde gebraucht, um die Flüchtlingsflut einzudämmen. Also bauen Sie Dämme! Setzen Sie sich in ein Boot, bevor es voll ist! Auch in Noahs Arche war der Platz knapp! Und wir wissen doch alle, dass der deutsche Schäferhund Vortritt vor dem kenianischen Spitzmaulnashorn haben sollte. Frontex, ihr Freund und Helfer, rät: Errichten Sie himmelhohe Zäune und Burggräben gegen den Ansturm von „Asylanten“. Die kriegerische Bedrohung durch den Flüchtlingsansturm macht harte Gegenmaßnahmen nötig. An vorderster

Front stehen die äußeren EU-Staaten. Sie sind der Vorposten gegen die Immigration und kämpfen tapfer weiter. Doch auch wir können anfangen, Mauern zu errichten. Zuallererst in unseren Köpfen. Und nun für unsere internationale Leserschaft: „Attention please“, Vorsicht vor den „migration flows“, dem „fluxo de imigrantes“, der „avalancha de inmigrantes“, that‘s Spanish for „Flüchtlingslawine“. Also die Skier anziehen und schnell weg vom Berg! Wenn Sie stürzen, hilft nur der Kampf gegen die Lawine, wehren Sie sich gegen das Hinuntergezogenwerden! Noch ein letzter Tipp: Wir sitzen doch alle im selben Boot! Obwohl, Moment, komischerweise ist unseres nicht untergangen.

\\ 22 \\ SCHLUSSBEMERKUNG

Paula Lochte 21, Berlin Rachel Boßmeyer 19, Berlin ... sind gespannt auf das nächste Unwort. Wie wäre es mit „Flüchtlingsorkan“?

VO M AS YLAN T EN Z UM G EFLÜC HTETEN Der Begriff Asylant erfährt durch den Suffix „-ant“ eine herabsetzende Konnotation. Anfangs noch neutral verstanden, wurde er in der Asyldebatte der 1990er Jahre stigmatisiert und abwertend verwendet. Als „Asylant“ wird somit jemand verstanden, der aus zweifelhaften Gründen Asyl in einem Land sucht. Heute wird der Begriff häufig in der rechten Szene benutzt. Das Wort Flüchtling ist durch seine grammatikalische Struktur tendenziell abwertend, wenn auch selten so gemeint. Es reduziert Menschen nur auf das Erlebnis der Flucht. Besonders als zusammengesetztes Wort bekommt der Begriff oft eine negative Bedeutung. Als „Wirtschaftsflüchtlinge“ werden Menschen bezeichnet, bei denen die Fluchtgründe ungerechtfertigt scheinen. Der Begriff beinhaltet den Vorwurf einer unberechtigten Beanspruchung von Asyl und sozialstaatlichen Leistungen. Deshalb wird der Begriff zumeist von Populisten verwendet, die zwischen scheinbar „guten“ und „schlechten“ Geflüchteten unterscheiden wollen. Auch Ausdrücke wie „Ar-

mutsmigration“ und „Armutszuwanderer“ unterstellen rein wirtschaftliche Fluchtgründe. Geflüchtete ist aus linguistischer Sicht wertneutral, bezieht sich aber lediglich auf die Fluchterfahrung. Dieser Begriff wird auch für Menschen verwendet, die keinen offiziellen Flüchtlingsstatus haben. Als Illegale werden Menschen bezeichnet, die ohne Genehmigung einreisen oder sich ohne Genehmigung in einem Land aufhalten. Da der juristische Begriff stark mit Kriminalität verbunden wird, wird oft auch von illegalisierten oder irrregulären Geflüchteten gesprochen. Die englische Bezeichnung Refugee leitet sich vom Wort „refuge“ ab, was Zuflucht und Schutzort bedeutet. Die Endung „-ee“ wird meist verwendet, wenn eine Person nicht aktiv handelt, sondern etwas mit ihr geschieht. Bei Refugee steht nicht die Flucht, sondern die Suche nach Schutz im Vordergrund. Eine deutsche Alternative zum Begriff wäre zum Beispiel Schutzsuchende.


F RISC H , F R U CH T I G, S E L BS TGE P R E S S T – M IT M ACHEN @PO LIT IK O RAN G E.DE

I MPR ESSUM Diese politikorange-Ausgabe entstand beim Workshop „Angekommen? Zur Situation Geflüchteter in Berlin“ der Jungen Presse Berlin in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 23. bis 26. April 2015 in Berlin.

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rintmagazine, Blog und Videos: politikorange erreicht sein Publikum über viele Kanäle und steht neuen Wegen offen gegenüber. Junge, kreative Köpfe berichten in wechselnden Redaktionsteams aus einer frischen Perspektive. Ob aktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft oder die kritische Begleitung von Veranstaltungen – politikorange ist mittendrin.

POLITIKORANGE – DAS MULTIMEDIUM Politikorange wurde 2002 als Veranstaltungszeitung ins Leben gerufen. Rund 130 Ausgaben wurden seither produziert. Seit Anfang an gehören Kongresse, Festivals, Parteitage und Events zum Programm. 2004 kamen Themenhefte hinzu, die aktuelle Fragen aus einer jugendlichen Sichtweise betrachten. 2009 nahm politikorange Video und Blog ins Portfolio auf und präsentiert spannende

Beiträge unter den Labels politikorange TV und blog.politikorange.de.

WIE KOMM’ ICH DA RAN? Welchen Blick haben Jugendliche auf Politik und gesellschaftliche Veränderungen? politikorange bietet jungen Menschen zwischen 16 und 26 Jahren eine Plattform für Meinungsaustausch und den Ausbau eigener Fähigkeiten. Engagement und Begeisterung sind die Grundpfeiler für journalistisch anspruchsvolle Ergebnisse aus jugendlicher Perspektive. Frei nach dem Motto: frisch, fruchtig, selbstgepresst.

WARUM EIGENTLICH POLITIKORANGE? In einer Gesellschaft, in der oft über das fehlende Engagement von Jugendlichen diskutiert wird, begeistern wir für eigenständiges Denken und Handeln. politikorange informiert über das Engagement

anderer und motiviert zur Eigeninitiative. Und politikorange selbst ist Beteiligung – denn politikorange ist frisch, jung und selbstgemacht.

WER MACHT POLITIKORANGE? Junge Journalisten – sie recherchieren, berichten und kommentieren. Wer neugierig und engagiert in Richtung Journalismus gehen will, ist bei politikorange an der richtigen Adresse. Genauso willkommen sind begeisterte Fotografen, Videoredakteure und kreative Köpfe fürs Layout. politikorange funktioniert als Lehrredaktion: Die Teilnahme ist kostenlos und wird für jede Ausgabe neu ausgeschrieben – der Einstieg ist damit ganz einfach. Den Rahmen für Organisation und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Du willst dabei sein? Infos zum Mitmachen gibt es unter politikorange.de, in unserem Newsletter und via Facebook und Twitter. mitmachen@politikorange.de

Herausgeber und Redaktion: politikorange Junge Presse Berlin e.V. c/o Jugendbüro Mitte Scharnhorststraße 28/29 10115 Berlin www.jpb.de Chefredaktion (V.i.S.d.P.) und Leitung: Johanna Kleibl (johanna.kleibl@jpb.de) Hannes Schrader (hannes.schrader@jpb.de) Vanessa Ly (vanessa.ly@jpb.de) Redaktion: Ágnes Molnár, Daniel Rick, Ella Cevik, Fanny Lüskow, Friederike Strietzel, Hannes Schrader, Hanno Fleckenstein, Henrik Nürnberger, Jakob Oxenius, Jil-Madelaine Blume, Johann Stephanowitz, Johanna Kleibl, Julian Jestadt, Katharina Menke, Laurin Berresheim, Linn Jenschovar, Nico Schmolke, Paula Lochte, Rachel Boßmeyer, Saad Malik, Sebastian Stachorra, Selin Gök, Ulrike Gersten, Vanessa Ly, Wiebke Schwinger Bildredaktion: Tim Lüddemann (tim-lueddemann.de) Alice Epp (vividsilence.de) Layout: Henrik Nürnberger (henrik.nuernberger@jpb.de) Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH Am Wasserwerk 11 10365 Berlin Auflage: 4.000 Exemplare Ein besonderer Dank gilt Inge Voß und Florian Dähne von der Friedrich-EbertStiftung. Weiterhin danken wir allen InterviewpartnerInnen für ihre Offenheit und Vertrauen. Eine Kooperation der Jungen Presse Berlin e.V. mit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Foto: Alice Epp

MACH MIT! ÜBER UNS // 23 //


VON NICO SCHMOLKE

»WIR KÖNNEN DOCH NICHT DIE GANZE WELT AUFNEHMEN!« ALLEIN AUS SYRIEN SIND SEIT 2011 FAST 4 MILLIONEN MENSCHEN GEFLOHEN, MEHRHEITLICH IN DIE NACHBARLÄNDER. DEUTSCHLAND HAT SEIT 2011 ETWAS MEHR ALS 100.000 SYRER AUFGENOMMEN. DAS SIND GERADE MAL 2,5 PROZENT ALLER AUS SYRIEN GEFLOHENER. UND AUCH BEZOGEN AUF ALLE WELTWEIT GEFLÜCHTETEN NIMMT DEUTSCHLAND NUR EINEN KLEINEN BRUCHTEIL AUF. ALLEIN IM JAHR 2013 WURDEN 10,7 MILLIONEN MENSCHEN AUS IHRER HEIMAT VERTRIEBEN. IM SELBEN JAHR HABEN 109.600 GEFLÜCHTETE IN DEUTSCHLAND EINEN ANTRAG AUF ASYL GESTELLT. UMGERECHNET SIND DAS EIN PROZENT DER GEFLÜCHTETEN WELTWEIT. Quelle: Syrer: https://www.tagesschau.de/ausland/syrische-fluechtlinge; UNHCR Global Trends 2013

»EIN GROSSTEIL SIND DOCH NUR ARMUTSFLÜCHTLINGE!« WER IM SCHLAUCH- ODER HOLZBOOT NACH EUROPA KOMMT, RISKIERT SEIN LEBEN. NIEMAND SETZT EINFACH SO DAS EIGENE LEBEN, SEINEN BESITZ UND SEINE FAMILIE AUFS SPIEL, NUR UM IN DEUTSCHLAND DANN SOZIALLEISTUNGEN ZU BEZIEHEN. ASYL IST FÜR VIELE DIE EINZIGE PERSPEKTIVE, UM ZU ÜBERLEBEN. TROTZ EINER RESTRIKTIVEN ASYLGESETZGEBUNG WERDEN IN DEUTSCHLAND ETWA 50 PROZENT ALLER INHALTLICH GEPRÜFTEN ASYLGESUCHE POSITIV BESCHIEDEN. ASYLSUCHENDE AUS SERBIEN UND MAZEDONIEN WERDEN FAST IMMER ZURÜCKGESCHICKT, OBWOHL VIELE VON IHNEN ROMA SIND UND SIE IN DER HEIMAT UNTER RASSISMUS, GEWALT UND BITTERER ARMUT LEIDEN. WEM WOLLEN WIR ES WIRKLICH ÜBEL NEHMEN, SICH IM REICHEN DEUTSCHLAND EIN LEBEN OHNE UNTERDRÜCKUNG ODER ARMUT ZU ERHOFFEN? Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe März 2015

»HIER GIBT ES GENUG ARME! UNSER SOZIALSYSTEM IST ÜBERLASTET!« DER HUMANITÄRE FLÜCHTLINGSSCHUTZ UND DAS GRUNDRECHT AUF ASYL SIND VERBINDLICH. WER DAS IN FRAGE STELLT, STELLT UNSER GRUNDGESETZ UND DEN RECHTSSTAAT IN FRAGE. MENSCHENRECHTE KOSTEN GELD. WER WILL, DASS GEFLÜCHTETE MEHR GELD IN UNSERE KASSEN BRINGEN, SOLLTE DIE GESETZGEBUNG ÄNDERN: EIN BESSERER ZUGANG ZU DEUTSCHKURSEN UND AUSBILDUNGSANGEBOTEN, DIE AUFHEBUNG VON ARBEITSVERBOTEN UND DIE ANERKENNUNG VON ABSCHLÜSSEN HELFEN DER GESAMTEN GESELLSCHAFT, UM WIRTSCHAFTLICH VON DER ZUWANDERUNG ZU PROFITIEREN.


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