ZUHAUSE JULi 2015
Unabh채ngiges Magazin zUM JUgendforUM stadtentwicklUng des bUndesMinisteriUMs f체r UMwelt, natUrschUtz, baU Und reaktosicherheit
fotos: ludwig schuster
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Neues aus dem coNtaiNer
Edi tor iA L Liebe Leser*innen,
aN eiNem LaNgeN WocheNeNde tüfteLt das JugeNdforum stadteNtWickLuNg aN frischeN ideeN zum thema WohNeN. ihre VorschLäge LieferN der BuNdespoLitik aNreguNgeN. Von henrik nürnberger
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icht nur die Debatte ist hitzig. Auch der Baucontainer, in dem die jungen Enthusiast*innen dicht gedrängt sitzen und lebhaft miteinander diskutieren, heizt sich mit den letzten Sonnenstrahlen des Abends noch einmal auf. Der improvisiert anmutende Ort ist nicht zufällig gewählt: Die Umgebung in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Mauerstreifens bildet eine der prominentesten Baustellen Berlins. Wo früher zum Teil noch Niemandland war, ist mit der Wiedervereinigung etwas entstanden, um das nicht selten verbittert gestritten wird: Eine exklusive Lage und zugleich tausend Ideen, wie man sie nutzen könnte – zum Beispiel für neue Wohnungen, die derzeit in Berlin gefragt sind. Genau um dieses Thema geht es den Teilnehmer*innen diesmal beim 7. Jugendforum Stadtentwicklung. Im stickigen Container entwickeln sie gemeinsam handfeste Vorschläge für die Wohnungspolitik. Doch warum?
JUngE dEnkfAbrik inSpiriErt diE bUndESpoLitik Angefangen hat alles im Jahr 2011, als der damalige Staatssekretär im Bundesbauministerium, Rainer Bomba, junge Menschen erstmalig zu einem Jugendforum eingeladen hatte. Ziel des Forums ist es bis heute, Jugendliche an der Stadtentwicklungsforschung des Bundes zu beteiligen. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) will die jungen Themen so besser identifizieren und die Ergebnisse in aktuellen Projekten umsetzen. Dabei treten die Teilnehmer*innen des Jugendforums als Experten*innen auf. Erfahrungen und erste Ideen bringen
wie wollen wir wohnen? Diese Frage stand im Mittelpunkt beim 7. Jugendforum Stadtentwicklung, in dessen Rahmen auch diese politikorange entstanden ist. Die Antwort kann persönlich ausfallen: Allein in einer schicken Wohnung in urbanem Umfeld, mit der Familie draußen im Grünen, im großen Selbstversorger-Hausprojekt mit vielen unterschiedlichen Menschen. Entwürfe des häuslichen Umfelds bieten Raum für Selbstverwirklichung und kreative Experimente. Die Frage birgt aber auch eine politische Dimension. Denn in Zeiten eines angespannten Wohnungsmarktes ist bezahlbarer Wohnraum keine Selbstverständlichkeit. Es wird gerungen zwischen der Gier nach Betongold und sozialen Interessen. Mieter*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen fordern das Recht auf Stadt ein und suchen nach zukunftsträchtigen Entwürfen urbanen Zusammenlebens. Unsere Redaktion hat an einem langen Wochenende in Berlin Geschichten rund ums Wohnen aufgespürt und sich mit deren politischen Reichweite auseinandergesetzt. Das Ergebnis haltet ihr in den Händen: Eine politikorange mit Artikeln über utopische Ideen, städtische Kämpfe und ermutigende Beispiele, wie Wohnen in unseren Städten gestaltet werden kann. Viel Spaß beim Lesen wünschen Johanna Kleibl, Janina-Christin Fischer, Henrik Nürnberger und Constanze Fertig
mindmAp: Wo WoLLEN Wir WoHNEN? DiE ENtWürfE siND ViELfäLtiG.
sie aus ihren lokalen Initativen, Projekten oder Jugendbeiräten mit ein, in denen sie sich für Themen der Stadtentwicklung engagieren. So auch Abdullah Budik, der seit den ersten Stunden des Forums dabei ist: „Das Besondere ist, dass wir uns an einem Wochenende so intensiv mit den Themen auseinandersetzen, dass am Ende großartige Projektideen entstehen.“ Anke Brummer-Kohler und Thomas Hartmann, Abteilungsleiter beim BMUB, haben schließlich das Vergnügen, die kreativen und mitunter innovativen Vorschläge zum Thema Wohnen in einer Präsentation kennenzulernen. Diese reichen von besonderen Online-Portalen für Zwischennutzungskonzepte, einem Brachflächenkataster bis zu genossenschaftlichen Modellen, die sozial gerechtes Wohnen ermöglichen sollen. „Wir werden prüfen und uns bemühen, die Ideen in die Arbeitsgruppentreffen einzubeziehen“, so das Versprechen von Ministerialrat Thomas Hartmann. Gemeint ist die Arbeitsgruppe des „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“, bei dem der Bund, die Länder und Kommunen sowie Verbände unter der Leitung der Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) eine gemeinsame Strategie formulieren. Anregungen aus dem Forum sollen 2016 in einem Bericht der Arbeitsgruppe einfließen, versichert Hartmann. Ein Anliegen der Teilnehmer*innen betraf das Jugendforum selbst: Es soll mindestens in der aktuellen Form weiter-
bestehen und gern noch für viele weitere junge Menschen aus Deutschland geöffnet werden. Wie genau das Forum weiterentwickelt werden könnte, blieb indes aber noch offen.
JUgEndbEirAt im bUnd? Erneut keimte auch die Idee auf, einen Jugendbeirat auf Bundesebene zu etablieren, um sich „langfristig und stärker mit den für Jugendliche relevanten Stadtentwicklungsthemen zu befassen“, sagt Adalina Agejew, die in einem ebensolchen Beirat in Baden-Württemberg positive Erfahrungen gemacht hat. Doch die Vorbehalte und offenen Fragen, etwa hinsichtlich der demokratischen Legitimation, sind groß. Der erste Jugendbeirat auf Bundesebene bleibt auch künftig wohl nur eine Idee – oder ein Thema für das nächste Zusammentreffen? Im Dezember ist schon das achte Jugendforum geplant.
in HA Lt
»neubau« Aufruhr in der Nachbarschaft: Ein Gemüseladen soll der Gentrifizierung zum opfer fallen. Seite 4
»Lebenswelt« Ein abgeschiedenes Häuschen im Grünen oder doch lieber mittendrin im Zentrum? Seite 7
»Häuserkampf« Lebenswerte Wohnquartiere statt kalte Hochhäuser, fordet Aktivist Carsten Joost. Seite 12 und 13
»Wohnideen« Neue Eigentumsmodelle und mehr Partizipation: Die Vorschläge des Jugendforums. Seite 14
Henrik Nürnberger 25, Berlin ...träumt davon, mal in einer ländlichen Hauskommune mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammenzuleben.
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bESorgt Um iHr ZUHAUSE: MArtiNA KuHAuPt VoN DEr NACHbArsCHAftsiNitiAtiVE „biZiM KiEZ“.
Wir siNd gemüseLadeN!
Nach fast drei JahrzehNteN Wurde der mietVertrag des oBst- uNd gemüseLadeN „Bizim BakkaL“ iN kreuzBerg geküNdigt. schoN BaLd soLLeN dort LuxusWohNuNgeN uNd Neue geWerBefLächeN eNtsteheN. die aNWohNer*iNNeN kämpfeN für deN erhaLt des LadeNs - uNd für die VieLfaLt iN ihrem kiez. Von loUisa ziMMer
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as Geschäft “Bizim Bakkal”, seit 28 Jahren eine Institution für Obst und Gemüse in der Kreuzberger Wrangelstraße, soll Luxusapartments und neuen Gewerbeflächen weichen. Verantwortlich für die geplante Sanierung ist die Gekko Real Estate GmbH, eine Immobilienfirma mit Sitz in Offenbach. Im Internet wirbt sie für Immobilien in aufstrebenden Vierteln. Den aktuellen Mieter*innen sei eine Abfindung in fünfstelliger Höhe angeboten worden, berichtet die Anwohnerin Martina Kuhaupt, die sich in der Nachbarschaftsinitiative „Bizim Kiez“ für den Erhalt des Ladens engagiert.
HiEr Wird gEntrifiZiErt Der Wrangelkiez ist ein dicht besiedeltes Gebiet in Kreuzberg zwischen dem Schlesischen Tor, der Spree und dem Görlitzer Park. Er ist ein lebendiger, multikultureller Kiez in der Mitte Berlins, der für seine Vielfalt und seine Ausgehmöglichkeiten geschätzt wird. In der namensgebenden Wrangelstraße befinden sich unweit der Filiale einer amerikanischen Fast-FoodKette zahlreiche türkische Cafés, Imbisse und eben der Gemüseladen „Bizim Bakkal.“ In der Gegend greift der sogenannte Milieuschutz. Mit diesem will das Bezirksamt die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung erhalten und die Auswirkungen der Gentrifizierung abmildern.
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Doch Milieuschutz schließt Sanierungen, Mietpreissteigerungen und Neuvermietungen keineswegs aus. Aus Wohnungsfenstern hängen Plakate mit den Slogans “Bizim bleibt” und “Wir sind Gemüseladen.” Auf Autos, Stühlen und Fahrrädern kleben Sticker und ein Banner mit der Aufschrift „Je suis Bizim“ spannt sich über die Straße. Passanten jeden Alters bleiben vor den Gemüsekisten stehen, der Besitzer Ahmed Çalıkan beobachtet auf dem Gehweg vor seinem Laden das Geschehen. Am Ladenfenster hängen Artikel über die Nachbarschaftsinitiative „Bizim Kiez“ und ein Plakat mit der Aufschrift „Gentrification is taking place here“. Auch die benachbarten Läden drücken mit Plakaten und Stickern ihre Solidarität aus. Solidarität ist das wichtigste Stichwort für die Nachbarschaftsinitiative „Bizim Kiez“. Seit Anfang Juni organisieren die Anwohner*innen jeden Mittwoch ein Straßenpicknick und eine Versammlung. „Beim ersten Treffen waren es 50, beim zweiten 170 und beim letzten 600 Teilnehmer“, sagt Martina. Durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit soll laut Martina Druck auf Politik und Vermieter*innen ausgeübt werden, denn juristisch ist gegen die Kündigung nichts einzuwenden. Der Gewerbemietvertrag lässt eine beidseitige Kündigung zu, im Falle von „Bizim Bakkal“ wurde diese dem Mieter fristgerecht zugestellt.
Das bedeutet, dass der Laden bis spätestens Ende September geräumt werden muss. Allerdings zeigen sich bereits erste Erfolge der Nachbarschaftsinitiative: Das Bezirksamt schickte dem Eigentümer einen Brief mit der Bitte, dass er die Kündigung überdenken solle. Auch die Gekko Real Estate GmbH reagierte auf die Proteste und löschte das Inserat für die Gewerbefläche aus dem Internet. Die Nachbarschaftsinitiative um Martina bewertet dies nicht als Rückzug. Der Vermieter sorge sich um den Ruf seines Projektes, denn wenn potenzielle Käufer*innen im Internet von den Protesten um die Wrangelstraße 77 erführen, könne dies abschreckend wirken und somit der Wert der Immobilie sinken, vermutet Martina.
gröSSEr, LAUtEr, bUntEr Die Organisator*innen planen, dass die Proteste in den nächsten Wochen größer und konkreter werden sollen: Derzeit protestieren die Anwohner*innen mit Versammlungen vor dem Gemüseladen, schon bald sollen Demonstrationszüge folgen. „Es gibt viele Anwohner, denen es reicht und die angefangen haben, sich zu engagieren. Bis jetzt haben wir in dieser kurzen Zeit über 3000 Unterschriften für den Erhalt des Gemüseladens gesammelt“, erklärt Martina die Motivation der Nachbar*innen. Derzeit bereiten sie eine
Online-Petition vor, um noch mehr Menschen zu erreichen. Sich gegen Gentrifizierung einzusetzen, bedeutet nicht, sich grundsätzlich jeder Veränderung im Kiez zu verwehren. Das Streben nach Fortschritt lehnt sie nicht prinzipiell ab. „Ich habe grundsätzlich nichts gegen Veränderung. Ich wünsche mir, dass es hier vielfältig bleibt und nicht nur für Touristen und für Luxusliebende attraktiv ist. Sondern dass es auch für die Leute, die hier leben, lebenswert bleibt“, sagt Martina. Dann verschwindet sie in das türkische Café Inci, wo sich die Bürger*innen der Bizim-Initiative treffen, um die nächste Versammlung zu planen. Kurz vor Redaktionsschluss wird bekannt, dass der Vermieter die Kündigung zurückzieht. „Bzim Bakkal“ darf bleiben.
Louisa Zimmer 21, Wernigerode ... hat bei ihrer Recherche die Falafel im Wrangelkiez zu schätzen gelernt.
Nicht iN meiNem VorgarteN
fotos: diana Parson
die stadt WaNdeLt sich. VeräNderuNgeN siNd uNaufhaLtBar. doch eiNzeLNe BauVorhaBeN köNNeN am WiLLeN eNgagierter Bürger*iNNeN scheiterN. diana Parsons hat sich BeispieLe aus BerLiN aNgeseheN.
AUS pArk mAcH WoHnrAUm? DAGEGEN rEGt siCH WiDErstAND.
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rüne Gärten, ruhige Straßen, eine Mischung kleiner und großer Häuser – Lichterfelde-West im Süden Berlins wirkt wie ein malerisches Dorf in der Großstadt. Dass hier ein Einkaufszentrum stehen könnte, ist schwer vorstellbar. Doch 1998 hatte der Investor Trigon bereits große Pläne für den Bau eines Einkaufszentrums inklusive mehrerer Supermärkte. „Das hätte für viel fremden Straßenverkehr im Ortsteil gesorgt“, erklärt Friedrich Zuther, Mitbegründer der Bürgerinitiative zum Einkaufszentrum Curtiusstraße (BECU). Außerdem hätten kleine, schon lange bestehende Geschäfte durch die neue Konkurrenz möglicherweise nicht überlebt. Als die Pläne bekannt wurden, begannen Anwohner*innen, für ihren Kiez zu kämpfen und gründeten die BECU.
initiAtivE gEgEn dEn WAndEL Die Bürger*innen tauschten sich bei regelmäßigen Treffen aus und sammelten Unterschriften gegen den Bau des Einkaufszentrums. Ihr Vorschlag, statt der Gewerbefläche Einfamilienhäuser zu bauen, fand im Bauamt kein Gehör, doch ein Widerspruch gegen die vom Bezirksamt erteilte Baugenehmigung führte zum Erfolg: Das Verwaltungsgericht Berlin verfügte einen Baustopp wegen unzumut-
baren Verkehrslärms. Damit war der Fall Curtiusstraße längst noch nicht entschieden: 2009 setzte sich ein neuer Investor für die gewerbliche Nutzung der Grundstücke ein. Die BECU wurde nochmals aktiv und sammelte wieder Unterschriften. Mitglieder besuchten die Bezirksverordnetenversammlung und zuständige Ausschüsse, versuchten, Lokalpolitiker*innen von ihrem Anliegen zu überzeugen. Das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf legte 2014 schließlich einen Bebauungsplan vor, der die Grundstücke als allgemeines Wohngebiet ausweist. Die Ansiedlung von neuem Einzelhandel schließt dieser aus, da das Gebiet schon ausreichend versorgt und die Erschaffung eines neuen Ortsteilzentrums nicht wünschenswert sei. Stattdessen werden voraussichtlich Wohnungen und ein Seniorenpflegeheim gebaut. „Dieser Kampf hat viel Durchhaltevermögen gefordert“, sagt Zuther. Doch neben dem neuen Bebauungsplan habe die Bürgerinitiative einen weiteren Erfolg erzielt: Bewohner*innen des gesamten Ortsteils haben einander kennengelernt. Auch Jugendliche beteiligten sich am Kampf für ihren Kiez, Schüler*innen des Goethe-Gymnasiums setzten sich in Arbeitsgruppen mit dem Thema auseinander und halfen beim Verteilen von Flug-
blättern. Das gemeinsame Ziel, die Stadt mitzugestalten, habe die Gemeinschaft gestärkt.
viELE kämpfE in bErLin Die Auseinandersetzung um das Einkaufszentrum in der Curtiusstraße ist nur ein Beispiel bürgerlichen Widerstands gegen Entwicklungsabsichten öffentlicher oder privater Akteure in Berlin. So kämpfen derzeit verschiedene Bürgerinitiativen unter dem Dach der MauerparkAllianz gegen den Bau von Luxuswohnungen im Norden des Mauerparks, da Anwohner*innen Mitpreissteigerungen und eine Verschlechterung des Stadtklimas fürchten. Mut machen kann ihnen das Ergebnis der Auseinandersetzung um das Tempelhofer Feld. 2014 wurden die Nachnutzungspläne des Senats für das Gelände des ehemaligen Flughafen Tempelhof mit einem Volksentscheid zerschmettert. Die große Freifläche, die seit der Stilllegung des Flughafens als Park genutzt wird, sollte teilweise mit Wohnund Gewerbebauten und einer neuen Landesbibliothek gebaut werden. Die Bürgerinitiative „100% Tempelhofer Feld“ sammelte im Rahmen eines Volksbegehrens über 28.000 gültige Unterschriften.
Im Mai 2014 konnten Berliner*innen bei einem Volksentscheid zwischen zwei Gesetztesentwürfen zur weiteren Gestaltung des Tempelhofer Feldes abstimmen. Auf dem Wege der direkten Demokratie setzte sich eine Mehrheit gegen die Pläne des Senats und für den Gesetztesentwurf der Bürgerinitiative durch. Friedrich Zuther von der BECU hat einen Rat für alle, die ihr Wohnumfeld mitgestalten wollen: „Man sollte viel Mut zusammennehmen, wenn man für etwas kämpft, das einem am Herzen liegt. Das ist das, was jeder Bürger letztendlich braucht, um in seiner Stadt etwas zu bewirken und sich in seinem Kiez wohlzufühlen: Mut und Beharrlichkeit – auch wenn es unangenehm wird.“
Diana Parsons 17, Berlin ...wusste nicht, dass es so viele Bürgerinitiativen gibt, die sich für ihren Kiez einsetzen.
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ist »die pLatte« out?
der pLatteNBau ist für VieLe eiNe ästhetische todsüNde. es regNet immer Wieder kritik auf das fLache dach dieser graueN, ödeN häuser. die aBLehNuNg ist da, doch Neue ideeN iN der architektur köNNteN die aBNeiguNg VerriNgerN. Von Ágnes MolnÁr
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ärkisches Viertel in Berlin: Es ragen riesige Häuser in den Himmel. Wenn man an ihrem Fuße steht und nach oben blickt, verliert man die intuitive Maßeinschätzung aus dem Alltag. Unzählige Fenster nebeneinander erzeugen Muster wie ausgemalte Quadrate auf kariertem Papier. Die penible geometrische Anordnung der Riesen spiegelt einen neurotischen Ordnungszwang wieder. Das Märkische Viertel ist das Paradebeispiel einer Trabantensiedlung, wie es sie überall auf der Welt zu finden gibt.
HEUtE ökonomiScH StAtt SoZiAL „Viele Plattenbausiedlungen entstanden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als durch zerstörte Häuser eine gewaltige Wohnungsknappheit bestand.“, sagt Prof. Dr. Hans Friesen, Leiter des Lehrstuhls für Kulturphilosophie an der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus. Die Idee, die sich aus dieser Not ergab, war eine soziale: Viele Menschen brauchten wieder ein Dach über dem Kopf - und das möglichst schnell. Die Gebäudeteile, die in Fabriken schon größtenteils als Betonplatten vorgefertigt wurden, eigneten sich dazu am besten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der soziale Gedanke immer mehr abgelegt und durch einen ökonomischen ersetzt: Immer mehr Tra-
bantenstädte in Plattenbauweise wurden aus dem Boden gestampft, weil ihre niedrigen Baukosten besonders attraktiv für Immobilienbesitzer*innen waren. Die Bauweise ist eine sehr schlichte und vernachlässigt die traditionelle Ornamentierung von Häusern, was heute vielen Ästhetiker*innen Kopfschmerzen bereitet. Die Ansprüche der jetzigen Bewohner*innen sind mit denen der Nachkriegszeit nicht mehr zu vergleichen. Es wird nach individuellen und räumlich großzügigen Gebäuden verlangt. Vor allem die junge Generation fühlt sich zum tristen Bau nicht hingezogen, da er wenig Platz bietet und im Sommer häufig zu warm ist. Die oft engen Räume wirken dem Wohlbefinden entgegen.
EinE HiStoriScHE viSion Bei einem Kongress namens „Charta von Athen“ trugen Architekt*innen unter dem Motto „Die funktionelle Stadt“ Anfang der 1930er Jahre ihre Erkenntnisse zusammen und diskutierten über eine neue Siedlungsentwicklung. Die Idee war, das Wohnen als funktionellen Aspekt des Lebens zu sehen und ästhetische Grundsätze zu vernachlässigen. „Man versuchte damals, Funktionen wie Wohnen, Einkaufen und Arbeiten voneinander zu trennen, was zu einer Fehlentwicklung geführt hat“, erzählt
Hans Friesen. „In einem funktionsfähigen Stadtviertel müssen diese Aspekte in einer Mischform auftreten.“ Der Schweizer Architekt Le Corbusier war einer der führenden Köpfe der Charta von Athen. Er wollte Wohngebiete mit einer hohen Wohnungsdichte etablieren und entwarf den „Unité d’Habitation“, was so viel heißt wie „Wohneinheit“. „Ein Haus ist eine Maschine zum Wohnen“, schrieb er 1921 in einer französische Fachzeitschrift.
diE nEUE pLAttE Es geht aber auch anders: In Neubrandenburg wurde 2008 ein Neubau aus Beton zwischen zwei WSB-70-Plattenbauten gesetzt. Das vom Architekten Peter Grundmann entworfene Haus erstreckt sich auf zwei Etagen und bietet Wohnraum auf 95 Quadratmetern. Es wurde für den guten Preis von 102.000 Euro realisiert. Neue Wohnungen in der Innenstadt von Neubrandenburg mit einer vergleichbaren Größe liegen in der Regel preislich bei 200.000 Euro. Die Räume sind luftig und frei gestaltet und werden von schalldichten Gardinen getrennt, die eine flexible Raumeinteilung ermöglichen. Durch das Füllen der Lücke wurde freier Platz genutzt und kein Boden bebaut. Von außen ist die gläserne Front mit bunten Elementen gestaltet. Das Besondere ist, dass das neue Gebäude in seiner Bauweise der
Platte gleicht, aber trotzdem einen extremen stilistischen Unterschied aufweist. Damit zeigt der Architekt Peter Grundmann, dass die betonierte Plattenbauweise mit den sich entwickelnden Bedürfnissen der Bewohner*innen mithalten kann. „Für das heutige Bauen müssen ökonomische und ökologische Kriterien berücksichtigt werden. Dazu sollte noch der soziale Gedanke kombiniert werden.“, schlägt Hans Friesen vor. Wenn Architekt*innen die neuen Erwartungen der Gesellschaft berücksichtigen und in den Plattenbau Ästhetik einfließen lassen, weckt dies das Interesse der heutigen Generation. „Die Platte“ kann also ziemlich „in“ sein, wenn sie richtig umgesetzt wird.
Ágnes Molnár 23, Cottbus ...kommt ursprünglich aus Ungarn, deswegen ist ihr der sozialistische Wohnungsbau bestens bekannt.
frUcHtfLEiScH Wo willst du wohnen?
fotos: henrik nürnberger (links/mitte)/ privat
»viELfäLtig«
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mAdinA AtAyA, 20 JAHrE StUdiErt StAdtpLAnUng „iCH MöCHtE soWoHL uNtEr GLEiCHGEsiNNtEN WoHNEN, ALs AuCH Mit EiNEr buNtEN MisCHuNG VoN MENsCHEN: rEiCHE, ArME, sCHöNE, HässLiCHE.“
»nAtUrgEprägt«
AnkE brUmmEr-koHLEr, 56 JAHrE AbtEiLUngSLEitErin im bUndESminiStEriUm für bAU „iCH MöCHtE GErN iM GrüNEN WoHNEN, EtWA AM WAssEr oDEr bErGE iN DEr NäHE HAbEN. sEHr NAturGEPräGt ALso.“
»friEdricHSHAin«
pAtrick von kriEnkE, 30 JAHrE gEScHäftSfüHrEr „trAbAnt bErLin“ „iN friEDriCHsHAiN! DA biN iCH AufGEWACHsEN. DAMALs NoCH EiN sCHäbiGEs ArbEitErViErtEL, ist HiEr HEutE JEDE NACHt AusNAHMEZustAND. trotZDEM bLEibt Es MEiNE HEiMAt!“
fotos: henrik nürnberger/ leonie a. (www.jugendfotos.de)
dEb At tE
raus aufs LaNd?
die urBaNisieruNg ist uNgeBrocheN. BesoNders für JuNge Leute Liegt der zuzug iN die grosseN BaLLuNgszeNtreN Noch immer im treNd. doch auch für eiN LeBeN auf dem LaNd giBt es üBerzeugeNde argumeNte, oder? eiNe deBatte. Von constanze fertig Und Ágnes MolnÁr
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Hinter unserem Haus wuchsen Erdbeeren und vom Schlafzimmer aus konnte ich bis zum Horizont sehen. Seit ich in der Großstadt lebe, kann ich verstehen, warum meine Eltern damals in der Kleinstadt geblieben sind. Ein großes Haus im Grünen: Wir Kinder hatten Platz zum Toben, für Volleyballfelder und selbstgebaute Klettergerüste war genügend Platz. Große Zimmer, durchflutet von Tageslicht. Wir hatten Platz für gemütliche Gemeinschaft und für Familienfeste; und wir konnten uns, wenn nötig, gegenseitig aus dem Weg gehen. Im Sommer war die Terrasse unser Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer: Ich habe im Schatten Hausaufgaben gemacht, während meine Mutter im Garten Salat und Tomaten fürs Abendessen pflückte. Obst und Gemüse haben wir immer selbst angebaut – und gerne auch mit Nachbarn und Verwandten geteilt. Mein Großvater hatte Bienenstöcke im Garten, meine Großmutter hat Marmelade und Ketchup selbst gekocht. Das war gesünder, frischer, vielfältiger. Aber vor allem hat es unendlich viel besser geschmeckt als alles, was Supermärkte je bieten könnten. Überhaupt habe ich die gute Nachbarschaft auf dem Land sehr genossen. Meine beste Freundin wohnte zwei Häuser weiter, wir konnten über die Gartenzäune hinweg miteinander sprechen. Wir spielten mit dem Hund der Nachbar*innen, grüßten uns auf der Straße, verbrachten die Silvesternacht alle gemeinsam beim Feuerwerk. Meine Großeltern, Tanten, Onkel, alle lebten auf dem selben Fleck Deutschlands. Während des Urlaubs musste sich niemand Sorgen ums Blumengießen machen. Wir waren einfach
füreinander da. Auch die kurzen Entfernungen habe ich sehr zu schätzen gelernt: der Supermarkt, die Schule, Ärzte und Arbeitsplatz. Von einem Ende des Ortes zum anderen dauert es mit dem Fahrrad nur 20 Minuten. Obwohl jeder Haushalt mindestens ein Auto hatte, gab es selten viel Verkehr. Staus in der Innenstadt – kein Thema bei uns. Trotzdem war das Auto leider bitter nötig, denn der öffentliche Nahverkehr war – Schulbusse ausgenommen – praktisch nicht existent. Wer aus dem Ort raus musste, war ohne Auto aufgeschmissen. Mobilität war die größte Erleichterung, die ich mir von der Großstadt erhoffte. Nach vier Jahren in überfüllten, stickigen U-Bahnen bin ich mir nicht mehr sicher, was nun das größere Übel ist. Immer öfter ertappe ich mich in der Stadt beim Blick aus dem Fenster – und auf die Hauswand gegenüber. Ich fühle mich eingeengt von all den Häusern der anonymen Menschenmassen. Ich sehne mich nach mehr räumlicher und menschlicher Nähe. Noch bin ich an die Stadt, an die Universität und den Arbeitsplatz gebunden. Aber sobald sich die Möglichkeit bietet, flüchte ich aufs Land. Irgendwohin, wo es in der Küche nach selbstgemachter Erdbeermarmelade duftet.
Constanze Fertig 21, Berlin ...ist vor vier Jahren aus Franken nach Berlin gezogen – und für den Moment glücklich am Stadtrand gelandet.
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Aus den Lokalen drängt Licht auf die Straße und malt ein Muster auf den Boden. Der Späti ist offen, eine größere Gruppe wartet davor: Der Kiez lebt. Meine Heimatstadt ist Berlin. Einheimische bin ich nicht, aber jetzt bin ich Berlinerin aus reiner Begeisterung. Ich könnte mir nicht vorstellen, ohne die Möglichkeiten zu leben, die eine Stadt wie diese bietet. Vor allem die beruflichen Chancen für mich sind besser als auf dem Land. Die geballte Ladung Zivilisation von ganztägigen Öffnungszeiten bis freiem W-LAN. Die Verkehrsanbindungen sind perfekt und das Auto eher überflüssig. Will ich Fahrrad fahren, mach ich es einfach. Fußgänger laufen mit zügigem Schritt; sie ziehen mich mit, dies ist was mich auch antreibt. Die Vielfältigkeit der Kultur und Chancen sind unbezahlbar. Spezielle Besorgungen sind in Metropolen überhaupt kein Problem und so soll es auch sein. Die Bewohner schätzen die riesige Auswahl an Dienstleistungen und im Einzelhandel. Denn eine vielfältige Gesellschaft erzeugt Nachfrage, wodurch Angebote geschaffen werden. Spezielle, kleine, ausgefallene Läden und Clubs bieten allen Lebensstilen eine Anlaufstelle. Das führt dazu, dass sich jede*r austoben kann in seiner/ ihrer Andersartigkeit. Egal wie man drauf ist, ist es immer möglich, Gleichgesinnte zu finden. Oft ergeben sich solche Bekanntschaften ganz unerwartet. Genauso ist es mit Projekten: Zufällig erfährt man etwas, was einem zu dem Zeitpunkt zugute kommt. So habe ich in der in der U7 zwischen Spandau und Rudow zum Journalismus gefunden, weil ich eine interessante Anzeige im
Fahrgastfernsehen „Berliner Fenster“ erblickt habe. An jeder Ecke scheint ein Mülleimer zu warten, um mir meine täglichen Konsumreste abzunehmen. Ich könnte mir nicht vorstellen, ein ruhiges Landleben zu führen. Die Natur wirkt entspannend, aber mehr als Urlaub in einem ländlichen Gebiet ist für mich nicht drin. Auf einem großzügigen Balkon lässt sich immer gut eine Auszeit zu nehmen. Dort pflanze ich diverse Gemüsesorten an, sowie Kräuter, die meinem Essen einen frischen Kick geben. Nur weil ich in der Stadt wohne, muss ich mich nicht aus der Mikrowelle ernähren. Ein Lieferservice würde zur Not auch noch gehen. Die Entscheidung, wie man leben will, kann einem keine*r abnehmen. Ob sauber, dreckig, laut oder leise; entscheidend ist die eigene Präferenz. Dadurch kommen und gehen die Leute, aber es bleibt das urbane Feeling, in dem wir uns baden. Ich will alles haben, ich kann alles haben. In der Stadt.
Ágnes Molnár 23, Cottbus ...kommt aus Berlin, studiert aber in Cottbus. Die kleine Stadt gefällt ihr gut, doch ein Heimatgefühl stellt sich nur in der Hauptstdt ein.
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mitteLseite
fffff fffffffffffff fffffffffffffffff ffffffffffffffffffffffff fffffffffffffffffffffffffffff ffffffffff fffffffffffffffffffffffffffffff. Von friederike strietzel
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der JuNgeN meNsche
VoN 18 Bis 24 Jahr
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hoteL mam Von henrik n체rnberger
Jede f체Nfte JuN
frau LeBt mit 25 im eLterNhaus
Bei JuNgeN m채NNerN ist es Noch Jeder dritte.
Zahlen: Statistisches Bundesamt/ www.wg-leben.com
Bei studiereNdeN ist die
die VerBreitetste WohNform, gefoLgt
Vom eLterNhaus, der eigeNeN WohNuNg, dem zusammeNLeBeN mit dem/ der partNer*iN uNd dem WohNheim.
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20 JahreN zieheN die meisteN um, WeiL sie iN dieser zeit iN der regeL das eLterNhaus VerLasseN. die zahL der
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20 aB, daNach fiNdeN mehr uNd mehr ihreN dauerhafteN LeBeNsmitteLpuNkt.
fotos: henrik n端rnberger
WohNgemeiNschaft
meiN Neuer mitBeWohNer
i ntEr viEW
der JuNge syrer rami LeBt seit kurzem iN eiNer WohNgemeiNschaft mit eiNem BerLiNer paar. ann-kathrin leclere hat ihN iN seiNem NeueN zuhause Besucht.
dAS onLinE-portAL „fLücHtLingE WiLLkommEn“ vErmittELt privAtE WgUntErkünftE für fLücHtLingE. Ein intErviEW mit dEr initiAtorin mArEikE gEiLing. Wie ist die Idee zu ‚Flüchtlinge-Willkommen‘ entstanden? Das war zunächst ein relativ praktischer Grund. Der Mitgründer des Projekts Jonas und ich haben uns schon länger mit der Flüchtlingsthematik beschäftigt. Als ich einige Monate nach Kairo gegangen bin, ist in unserer WG mein Zimmer freigeworden. Wir haben uns vergangenen September dazu entschieden, einen Flüchtling bei uns wohnen zu lassen. Das hat gut geklappt. Kurze Zeit später haben wir mit einigen Freunden eine Plattform gegründet, auf welcher Wohngemeinschaften freie Plätze anbieten können. Wie wird das Projekt angenommen?
nEUES ZUHAUSE: rAMi ZusAMMEN Mit ALEssANDrA uND AMsHu.
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chon die Begrüßungsumarmung fällt herzlich aus, Rami grinst verschmitzt. Ein langer Flur führt vom Eingang in die Küche, es riecht nach Essen und Geborgenheit. Um einen großen Holztisch herum machen es sich Rami und seine Mitbewohner*innen Alessandra und Amshu bequem. Rami ist im September 2014 mit einem befristeten Arbeitsvisum von Syrien in die Schweiz gekommen und arbeitete dort zunächst für die International Telecommunications Unit (ITU) der Vereinten Nationen (UN). Anschließend beantragte er ein Studentenvisum für Deutschland und zog im April nach Berlin, wo er ein Fernstudium absolviert. Als Flüchtling sieht er sich nicht, doch zurück in sein Heimatland kann er im Moment auch nicht. Deshalb wohnt er jetzt hier, beim Paar Alessandra und Amshu in einer ansehnlichen Wohnung im grünen Stadtteil Lichterfelde. Die kleine Familie hat Rami über die Yoga-Gruppe Ananda Marga kennengelernt und sich spontan entschieden, den jungen Mann bei sich aufzunehmen. “Ich habe in einer Email geschrieben, dass ich gerne für alle kochen werde”, erzählt Rami. “Da war die Entscheidung schon getroffen”, sagt Alessandra. Alle lachen. Ursprünglich wollten sie das Zimmer ihres wenige Wochen zuvor ausgezogenen Sohnes vermieten um einen Beitrag zur Miete zu erhalten, gleichzeitig haben sie aber auch Gesellschaft gesucht. Für viele Menschen ist es nicht alltäglich, Fremde bei sich aufzunehmen, die kein
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Deutsch sprechen. “Meine Frau ist Italienerin, da haben wir ja schon Vorerfahrung mit internationalen Gästen”, erklärt Amshu scherzhaft. Wieder wird gelacht. “Eigentlich ist das Haus nie leer. Wir sind nicht ‘typisch deutsch‘ und haben auch keine Berührungsängste mit fremden Kulturen”. Alessandra und Amshu freuen sich über den Gast in ihrem Haus.
nEUAnfAng in bErLin Die Familie tut viel, damit es Rami in Deutschland gut geht. Er muss für seine Unterkunft nichts zahlen und die Familie unternimmt viel zusammen mit ihm und anderen Freunden. Außerdem gehen sie immer noch gemeinsam zu den Yoga-Kursen. Trotzdem steht er vor einer Reihe von Problemen. Zum einen ist da natürlich die Sprachbarriere, die es ihm erschwert, einen qualifizierten Job zu finden oder sich weiterzubilden. Geld verdient Rami vorerst, indem er einem alten Mann im Haushalt hilft. Auch die kulturellen Unterschiede bekommt Rami zu spüren. Viele Deutsche begegneten ihm mit Vorurteilen. “Das größte Problem habe ich damit, wie die Leute hier auf Menschen schauen, die aus einem konfliktbelasteten Land kommen. Ich habe das Gefühl, dass wir im sozialen Leben nicht akzeptiert werden. Das macht es mir schwer, in die Gesellschaft hineinzufinden”, sagt Rami. Trotz dieser Herausforderungen fühlt sich Rami grundsätzlich in Berlin wohl.
foto: ludwig schuster
Er wirkt aufgewühlt, wenn er von den Bedrohungen in Syrien und der Lage in seiner Heimatstadt As Suwayda erzählt. Sein Blick geht fahrig durch den Raum, seine Arme sind verschränkt. Bedrücktes Schweigen, doch bald lockert sich die Stimmung wieder. Als ein junger Mensch aus einem Krisengebiet braucht Rami vor allem emotionale Unterstützung und Kontakt zu anderen Menschen. Deshalb ist die Wohnsituation für ihn hilfreich. Hier lernt er die deutsche Kultur kennen und mit der neuen Situation umzugehen. Die Familie bietet ihm ein Umfeld, in dem er über seine Erfahrungen im Krieg und seine Ängste reden kann. „Wir haben jeden Tag Spaß zusammen, selbst wenn ich mir Sorgen um die Menschen in meinem Land mache“, sagt Rami. Auch Alessandra und Amshu lernen viel, über Rami und seine Kultur und dass ihre Weltoffenheit sich auszahlt. Denn obwohl sie in dieser Situation ein wenig Geld gut gebrauchen könnten, sind sie froh über Ramis Gesellschaft.
Drei Tage, nachdem wir online gegangen sind, hatten wir über 1000 Likes bei Facebook und die ersten Interviewanfragen.Nach einer Woche hatten wir schon 80 Anmeldungen von Wohngemeinschaften, die Platz anbieten wollten. Das hat seitdem auch nicht mehr nachgelassen. Das Projekt hat sich also schnell zu einem Selbstläufer entwickelt. Der Rückhalt in der Bevölkerung ist da, in einem viel größeren Maße als wir je erwartet hätten. Das Engagement in der Bevölkerung ist also da. Woran liegt es, dass trotzdem verhältnismäßig wenige wirklich in eine WG einziehen? Das hat mehrere Gründe. Viele der tausend WGs, die sich mittlerweile angemeldet haben, springen wieder ab. Manchmal sogar, wenn sie schon jemanden kennengelernt haben. Zusätzlich ist jeder Fall anders, da sich die Gesetze von Kommune zu Kommune unterscheiden. Wir müssen zudem differenzieren zwischen mArEikE gEiLing geduldeten und anerkannten Flüchtlingen. Wir arbeiten auch mit den Asylstellen vor Ort zusammen. Dennoch: Wir arbeiten wir mehr oder weniger ehrenamtlich und können den großen Arbeitsaufwand kaum noch bewältigen. Und es dauert lange, bis ein Flüchtling wirklich einziehen kann. Wie soll es weitergehen?
Ann-Kathrin Leclere 18, Kassel ...wünscht sich, dass noch mehr Geflüchtete in Wohngemeinschaften unterkommen.
Ich würde mir in Zukunft eine größere offizielle Anerkennung wünschen. Wir werden von offiziellen Stellen, wie z.B. Sozialämtern angeschrieben und um Hilfe bei der Unterkunftssuche gebeten. Die Vernetzung mit den Beratungsstellen findet also schon teilweise statt. Wir setzen da an, wo der Staat versagt oder zeigen zumindest eine Alternative auf.
der charme der umNutzuNg
der BerLiNer ortsteiL marzahN ist Vor aLLem BekaNNt für seiNe pLatteNBauteN uNd soziaLeN proBLeme. die umgestaLtuNg eiNes aLteN geWerBegeLäNdes zum kuLturstaNdort zeigt eiNe aNdere seite des raNdBezirks. Von Johanna kleibl
A
uch ich hatte Vorurteile gegenüber Marzahn: Nur Platten und Beton, und dann erlebt man das – unglaublich!“ Ramses Uithoof hat gerade seine neue Werkstatt bezogen, noch ist alles dunkel und staubig, sein Kleinbus parkt mitten im Raum. Eine Woche zuvor ist der Eventausstatter über eine Immobilienseite auf die Alte Börse Marzahn aufmerksam geworden, nur wenige Tage später war der Mietvertrag unterzeichnet. Den Abend verbringt Uithoof in der lokalen Braustube, um seine Nachbar*innen am neuen Kultur- und Gewerbestandort kennenzulernen.
rUHigEr, kULtUrELLEr ort dEr viELfALt Weniger als zwei Jahre nach ihrer Eröffnung ist die Alte Börse ein kulturelles Zentrum in Marzahn. Unter den Mieter*innen der Gewerberäume sind viele Kreative und Kulturschaffende. Eine kleine Brauerei produziert Marzahns erstes lokales Bier, im Club „Czar Hagestolz“ finden Partys und Filmvorführungen statt. Die Realität dieses Ortes passt nicht zum Klischee Marzahns, das viele Menschen aus anderen Bezirken vor allem mit tristen Plattenbausiedlungen und Fremdenfeindlichkeit verbinden. „Die Alte Börse Marzahn soll ein ruhiger, kultureller Ort der Vielfalt sein“, sagt Peter Kenzelmann, Initiator
und Geschäftsführer des Projekts. „Ein Ort, wo Künstler tätig sind, wo aber auch eine Businessveranstaltung stattfinden kann, ein Ort, an dem unterschiedliche Nutzungen sich gegenseitig befruchten“. Auf dem Areal der Alten Börse wurde Anfang des 20. Jahrhunderts Vieh gehandelt, zu DDR-Zeiten nutzte es die Nationale Volksarmee (NVA) als Gefängnis und zum Proben von Militärparaden. Kenzelmann entdeckte das seit Mitte der 1990er Jahre brachliegende Grundstück zufällig beim Fahrradfahren, erkannte dessen Potenzial und kaufte es 2013 dem damaligen Besitzer ab. Das Gelände ist weitläufig und grün, neben frisch sanierten Backsteinbauten stehen Metallskulpturen einer ortsansässigen Künstlerin und Gebäude, denen man den langen Leerstand noch ansieht. Das Ensemble erinnert ein bisschen an die ehemals ungenutzten und von Künstlern angeeigneten Räume in Kreuzberg und Friedrichshain, die einst viele Kreative nach Berlin lockten.
dEr cHArmE dEr EntWickLUng „Im Zentrum Berlins gibt es keine unfertigen Orte mehr, dort ist alles am Reißbrett vorgezeichnet. Die Alte Börse Marzahn hingegen ist vom Charme der Entwicklung geprägt”, sagt Kenzelmann. Die Rahmenbedingungen seien jedoch grund-
sätzlich anders als in besetzten und von Künstlern umgenutzten Räumen in anderen Stadtteilen. Die Alte Börse Marzahn muss sich wirtschaftlich selbst tragen können, Kenzelmann wird keine öffentlichen Zuschüsse beantragen. Stattdessen will er seine Veranstaltungsräume so herrichten, dass sie mit einem guten Seminarhotel konkurrieren können – und mit dem erwirtschafteten Geld nicht-zielgerichtete Kunst direkt nebenan fördern.
„bEEindrUckt vom mArZAHn JEnSEitS dEr kLiScHEES“ Das Konzept der Alten Börse Marzahn scheint aufzugehen. Die Einwohner*innen Marzahns treffen sich abends in der Braustube auf ein Bier, Menschen aus anderen Stadtteilen und von weiter her kommen für konkrete Veranstaltungen wie die Partys im Czar Hagestolz oder das Bierfestival. Die Entwicklungen an Berlins Immobilienmarkt deuten darauf hin, dass Projekte wie die Alte Börse auch jenseits der Innenstadt gute Chancen haben. Die steigenden Mieten im Zentrum haben dort Wohnungen und Gewerberäume für viele Kreative unerschwinglich gemacht. Peter Kenzelmann hofft, dass die Alte Börse dazu beiträgt, Vorurteile gegen Marzahn abzubauen. Indem er mit kulturellen Veranstaltungen auch Menschen aus anderen Bezirken anlockt, betreibt er indi-
rekt Öffentlichkeitsarbeit für den Ortsteil. Etwa die Hälfte der Teilnehmer*innen der regelmäßig stattfindenden Bierbraukurse seien zum Beispiel vorher noch nie in Marzahn gewesen. Viele sind beeindruckt vom Marzahn jenseits der Klischees. „Ich war völlig überrascht über diesen Ort“, berichtet auch Ramses Uithoof. Die Alte Börse sei ein weiterer Beweis dafür, dass Vorurteile schlecht sind. Uithoof hat verschiedene Werkstätten besichtigt, doch nur hier stimmten die Rahmenbedingungen für ihn. „Wenn man manchmal mehrere Wochen lang fast jeden Tag zehn bis sechzehn Stunden arbeitet, ist es wichtig, dass das Umfeld schön ist und es rundherum eine richtige Social Community gibt.“ Er kann sich gut vorstellen, mit seinen neuen Nachbar*innen vor Ort gemeinsame Projekte zu gestalten.
Johanna Kleibl 25, Berlin ...hat viele eigene Ideen für die Gestaltung urbaner Brachflächen.
frUcHtfLEiScH Auf dem Jugendforum Stadtentwicklung nachgefragt: mit wem willst du wohnen?
JAnoS, 13 JAHrE, EngAgiErtEr ScHüLEr, bErLin „Mit MEiNEr fAMiLiE oDEr Mit frEuNDEN – HAuPtsACHE Es MACHt sPAss uND DAs ZusAMMENLEbEN fuNKtioNiErt“
»niEmAndEn«
AbdULLAH, 25 JAHrE, JUgEndforUm-UrgEStEin, StUttgArt „iCH biN ZWAr EiN AbsoLutEr fAMiLiEN- uND GEsELLsCHAftsMENsCH, AbEr WoHNEN tuE iCH DoCH LiEbEr ALLEiNE“
»ALLEn«
kLArA, 21 JAHrE, „dEmokrAtiEbAHnHof“ AnkLAm „Mit ViELEN VErsCHiEDENEN MENsCHEN, DiE ViELE VErsCHiEDENE DiNGE MACHEN uND ViELE VErsCHiEDENE HiNtErGrüNDE HAbEN“
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alle fotos: henrik nürnberger
»fAmiLiE«
ZU r pE rS o n Carsten Joost (50) studierte Architektur in Frankfurt am Main und wirkt seit 1997 an alternativen Stadtentwicklungs-Projekten mit. 2006 gründete Joost gemeinsam mit anderen Aktivist*innen den Initiativkreis „Mediaspree versenken!“, der sich gegen die Neubau-Pläne des Investor*innenvereins „Mediaspree“ an beiden Spreeufern in Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Alt-Treptow einsetzt. 2012 verließ er den Initiativkreis aufgrund interner Auseinandersetzungen. Seit demselben Jahr ist Joost Bürgerdeputierter im Berliner Stadtentwicklungs-Ausschuss. Derzeit engagiert er sich unter anderem in den Anwohner*inneninitiativen „Ideenwerkstatt Freudenberg-Areal“, „Ideenaufruf Zukunft Ostkreuz“ und „Erhalt des RAW-Kulturensembles“.
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»Wir SoLLtEn mEHr UrbAnE ZEntrEn ScHAffEn« aLterNatiVpLaN
der architekt carsteN Joost eNtWirft aLterNatiVe pLäNe für BerLiNer fLächeN uNd WohNgeBiete. eiN gespräch üBer „mediaspree“, eiNe igNoraNte poLitik uNd das, Was eiNe stadt LeBeNsWert macht. Von leonard kehnscherPer
SEit WAnn EngAgiErSt dU dicH für Und gEgEn bAUvorHAbEn in bErLin? 1997 bin ich nach Berlin gezogen und habe mich schnell in Projekten engagiert. Zum Beispiel hatte ich eine Architektur-Werkstatt im Kunsthaus Tacheles zur Zukunft des Geländes. Ich habe auch einen Plan zur Neugestaltung des Schlossplatzes entworfen und damit Öffentlichkeitsarbeit zur Rettung des ehemaligen „Palast der Republik“ gemacht.
EinE brEitE öffEntLicHkEit iSt AUf dicH ALS AktivES mitgLiEd dEr initiAtivE „mEdiASprEE vErSEnkEn!“ AUfmErkSAm gEWordEn. WogEgEn HAbt iHr EUcH gEnAU EngAgiErt? „Mediaspree“ war ein Verein von Investoren, der die Flächen am Spreeufer in Friedrichshain und Kreuzberg neu bebauen wollte. Vorgesehen waren und sind immer noch viele hohe Gebäude und die dichte Bebauung des Spreeufers. Wir haben uns für mehr Freiflächen am Wasser und gegen die Verbauung der Ufer eingesetzt – und für Kultur statt Kommerz natürlich.
gAb ES für dEinEn protESt EinEn bEStimmtEn AUSLöSEr? Als die „O2 World“ entstand, habe ich gemerkt: „Jetzt geht es los mit Mediaspree.“ Das ist eine Veranstaltungshalle in Verbindung mit einem Hochhaus-Quartier und leuchtenden Werbetafeln im öffentlichen Raum. Aus den bunten Planungsbildern wurde Realität.
dArAUfHin HAt SicH AUcH „mEdiASprEE vErSEnkEn!“ gEgründEt? Ja, genau. Es fanden große Demonstrationen statt. Diese Initiative hat dann auch einen Bürgerentscheid herbeigeführt. 2008 stimmten 87 Prozent, 30.000 Wähler gegen die Projekte von „Mediaspree“.
dEr bürgErEntScHEid iSt JEtZt AcHt JAHrE ALt. WiE SiEHSt dU diE SitUAtion dES SprEEUfErS HEUtE? Der Stadtrat und die Mehrheitsfraktionen haben aus dem Bürgerentscheid kaum Konsequenzen gezogen. Das alte Konzept, die Spreeufer bis auf einen „Wanderweg“ zu verbauen, gilt weiterhin.
beeindruckt. Dadurch, dass die Macher der „Bar 25“ mit einem neuen Projekt ans Spreeufer zurückgekehrt sind, konnte der Bau eines riesigen Bürokomplexes verhindert werden. Und der neue Standort des YAAM verhindert eine weitere Bausünde am Wasser. Es gab einige Erfolge, aber sonst wird hier weiter fleißig gebaut und Fläche für Fläche an Investoren verkauft.
HAt dAS AUcH ZU frUSt bEi „mEdiASprEE vErSEnkEn!“ gEfüHrt? Der Bezirk und Senat haben uns keinen Erfolg gegönnt. Im eigens eingerichteten Sonderausschuss Spreeraum wurde nur über das geredet, was nicht geht und Lösungsvorschläge unsererseits nicht weiterverfolgt. Das nervt auf Dauer.
AUcH dU mUSStESt „mEdiASprEE vErSEnkEn!“ vErLASSEn – WESHALb? Mir wurde zu Unrecht die Veruntreuung von Geldern vorgeworfen. Das war eine üble Rufmord-Kampagne, in der Konsequenz für eine Neuausrichtung der Initiativarbeit. Schlimm. Unsere Projekte wie zum Beispiel der Ideenaufruf Kreuzberger Ufer waren damit gestorben und die Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklungen ebenfalls.
SEit 2012 SitZt dU ALS bürgErdEpUtiErtEr dEr pirAtEn-pArtEi im StAdtEntWickLUngSAUSScHUSS. WiE gEfäLLt dir diE ArbEit dort? Die Arbeit ist spannend, sinnvoll und eine Katastrophe zugleich. Der zuständige Stadtrat Panhoff erscheint oft überfordert und schadet dem Bezirk mit seinen investorenfreundlichen Entscheidungen.
einem Quadratkilometer. Das ist ein europäischer Spitzenwert! Und ständig kommen Neubauten und Dachaufstockungen dazu. Eigentlich müssten neue Schulen und Parks entstehen, wenn die Stadt wächst. Dafür fehlen aber mittlerweile die Grundstücke.
WELcHE bErLinEr fLäcHEn Und gEbiEtE SiEHSt dU in ZUkUnft bEdroHt? Ich halte es zum Beispiel für einen großen Fehler, das Freudenberg-Areal in Friedrichshain mit 700 Wohnungen vollzubauen. Für all die Familien können nicht genug Kita- und Grundschulplätze geschaffen werden und die Grünflächen sind bereits jetzt völlig übernutzt. Bedroht ist hier auch das RAW-Gelände.
WAS HAt diESEr nEUE EigEntümEr vor? Der neue Eigentümer möchte natürlich bauen – und das hoch. Ich denke, dass der Charakter des Geländes mit den Werkstattgebäuden erhalten bleiben sollte. Es könnte eine Kulturpromenade sein – ein Ort zum Flanieren und Luftholen. Bereits jetzt gibt es eine vielfältige Nutzung des Geländes, nicht nur für Partys.
WAS mAcHt für dicH EinE idEALE StAdt AUS? In Berlin gibt es ja einige tolle Ecken. Interessanterweise sind das meist die Altbau-Quartiere. So sollte man wieder bauen. Mit dem Anspruch eine Wohn- und keine reine Schlafstätte zu schaffen. Es sollten mehr urbane Zentren geschaffen werden. Dann wäre es auch in Außenbezirken lebenswerter. Und es fahren nicht alle in die Simon-Dach-Straße, wenn sie mal ein Bier trinken wollen.
inWiEfErn? kAnnSt dU Ein bEiSpiEL nEnnEn? Beispiel ehemaliges Gelände des „YAAM“. Der grüne Stadtrat hat hier ein Hochhaus-Monstrum direkt am Spreeufer befürwortet und genehmigt. Und das, obwohl es einen Beschluss des Bezirksparlamentes dagegen gibt. Grundsätzlich finde ich es unmöglich, dass der Bezirk den Investoren diese unglaublichen Baudichten zugesteht.
gAb ES AUcH ErfoLgE?
pAriS, London, mAdrid – AndErE EUropäiScHE StädtE Sind docH viEL dicHtEr bESiEdELt ALS bErLin. iSt dAS probLEm in bErLin WirkLicH So groSS?
Der Entscheid hat die Entwicklung aufgehalten, die Stadtdebatte befördert und die Politik und Baubranche
Auch in Teilen Berlins ist die Bevölkerungsdichte enorm. In Friedrichshain-Ost leben 23.000 Menschen auf
Leonard Kehnscherper 22, Berlin ...kann und möchte sich ein Spreeufer als unzugängliches Privatgrundstück nicht vorstellen.
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»koNzept Vor preis!«
fotos: henrik nürnberger/ ludwig schuster
zum aBschLuss des JugeNdforums stadteNtWickLuNg präseNtiereN die teiLNehmeNdeN ihre ideeN zum thema WohNeN. im mitteLpuNkt steheN Neue eigeNtumsmodeLLe, WohNutopieN uNd mehr partizipatioN – uNd die forderuNg, Nach dem BesteN koNzept statt der höchsteN reNdite zu sucheN. Von constanze fertig
AnkE brUmmEr-koHLEr (LinkS), AbtEiLUngSLEitErin für StAdtEntWickLUng, WoHnEn Und öffEntLicHES bAUrEcHt im bmUb, ZEigt SicH bEEindrUckt von dEn idEEn.
D
er Verkauf kommunalen Wohnraums muss gestoppt, genossenschaftliche Strukturen und staatlicher Wohnungsbau gestärkt werden – das fordert eine Arbeitsgruppe des Jugendforums Stadtentwicklung, die sich mit der Schaffung von sozialem Wohnraum beschäftigte. Ihr Vorschlag: Private Baugruppen, die sich derzeit vor allem aus finanzstarken Investoren zusammensetzen, könnten über ein innovatives „Mietkauf“-Modell allen Bürger*innen zum Glück verhelfen. Bei der Vergabe von Bauflächen seien zunächst kommunale Quoten für sozialen Wohnungsbau unerlässlich. „Uns war wichtig, dass Bauflächen nach Konzept vergeben werden und nicht nach dem Höchstpreis“, sagt Svenja vom „PlatzProjekt“ in Hannover. „So kann etwas Nachhaltiges entstehen.“
EigEntUm für ALLE Finanzielle Anreize für sozialen Wohnungsbau könnten zum Beispiel durch einen regionalen Sanierungs- und Aufbaufonds geschaffen werden. „Gerade zur Niedrigzinszeit ist das eine optimale Möglichkeit, in etwas Regionales zu investieren“, erkläutert Marlon aus Esslingen. Eine noch weitreichendere Veränderung forderte die zweite Arbeitsgruppe „Eigentum für alle“. Die Kommune soll eine „GEA“, eine „Gesellschaft für Eigentum für alle“ gründen und ein Haus bauen. Die Bewohner*innen zahlen Miete an
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die „GEA“ und erwerben so über die Zeit das Eigentum an der Wohnung. „Es ist nichts anderes als Leasing für ein Wohnobjekt“, sagte Benjamin, ebenfalls vom PlatzProjekt Hannover. Er präsentierte eine Modellrechnung, in der nach 27 Jahren, selbst mit einer Miete auf Höhe des Hartz IV-Satzes, die Wohnung abbezahlt wäre. Danach gehöre der Familie die Wohnung und die Kommune hätte das vorgestreckte Geld wieder eingenommen. Dieses könne in eine neue „GEA“ investiert werden. Benjamin nennt das Modell eine „Graswurzelbewegung“, die sich über die Zeit immer weiter verbreite. Diese setze der Immobilien-Spekulation ein Ende, denn das durch die „GEA“ erworbene Eigentum dürfe nicht verkauft werden. Wer umziehen will, dessen Anteile würden mittels eines Punktesystems umgerechnet, mit dem eine Wohnung gegen eine andere getauscht werden könnte. Um bei Vergabeverfahren den gesellschaftlichen Nutzen eines Projektes messbar zu machen, forderte die Arbeitsgruppe die Erstellung eines Kriterienkatalogs: „Hier geht es um einen Ansatz, wie man soziale Rendite gleichsetzen kann mit finanzieller Rendite. Anhand eines Indikators können Sie sehen, ob ein Projekt wertvoll ist“, sagt Benjamin.
UtopiEn in ScHUbLAdEn Gemeinsam mit einem Architekten hatte die dritte Arbeitsgruppe des Jugend-
forums ein Modellhaus gebaut, eine Visualisierung von Wohnutopien. Statt Zimmern waren in die Hauswände bewegliche Schachteln eingelassen, beschriftet mit Begriffen wie „Gemeinschaft“ oder „Natur“. „Jede dieser Schachteln steht für ein Ideal, das uns besonders wichtig ist“, erläutert Adalina, die das Modell mitentwickelt hat. „Je nachdem, wie sehr jemand auf ein Ideal besonderen Wert legt, kann er diesen Kasten mehr in das Haus hinein schieben. In dem Modell sieht man dann, wie für jemanden persönlich das ideale Wohnen aussieht.“ Die Gruppe zog daraus die Forderung, die Menschen, die später in den Häusern wohnen, von Anfang in deren Gestaltung miteinzubeziehen.
tEiLHAbEn Am EntStEHUngSproZESS Laut Teilnehmerin Klara aus Greifswald hätten alle Konzepte einen zentralen Aspekt gemeinsam, und das sei Partizipation. „Nichts für uns, nichts ohne uns. Wir haben mit dem Modell der Wohnutopien Parameter aufgezeigt, die man in Planungsprozesse einbinden kann. Für uns heißt Partizipation auch, dass Entscheidungen und Kompetenzen geteilt werden. Dass wir teilhaben am Quartier, teilhaben an Entstehungsprozessen, und dass es Transparenz und Kommunikation gibt.“ Anke Brummer-Kohler, die Leiterin der Abteilung im Bundesministerium für
Bau, äußerte uneingeschränkte Zustimmung: „Ich finde, jeder, der Politik ernst nimmt, kann sich über solch eine aktive Forderung nach Beteiligung nur freuen. Davon können alle Projekte profitieren.“ Brummer-Kohler schlug vor, die Aktiven des Jugendforums auch direkt an Treffen mit Wohnungs- und Immobilienverbänden zu beteiligen, und die dortigen Verantwortlichen mit den entstandenen Ideen zu konfrontieren. „Da waren einige Punkte dabei, die eine ganze Ecke über das hinaus gehen, was wir selbst so schon erdacht haben“, sagt Brummer-Kohler. Diese Beteiligung wäre eine Neuerung, die das Jugendforum direkt an die anderen Vorhaben des Ministeriums anbinden und die Partizipation der Teilnehmenden auf einer anderen Ebene ermöglichen könne. In jedem Fall sei die Fortführung des Jugendforums für die kommenden drei Jahre gesichert, verspricht BrummerKohler.
Constanze Fertig 21, Berlin ...war beeindruckt von der Idee einer „Wohnkapsel“ der utopischen Weiterführung eines Wurfzelts. Doch ein festes Dach über dem Kopf ist ihr lieber.
frisc h , f r u ch t i g, s e l b s tge p r e s s t – m itm achen @po lit ik o ran g e.de
impr ESSUm diese politikorange-Ausgabe entstand durch ein redaktionsteam der Jungen presse berlin e.v. begleitend zum Jugendforum Stadtentwicklung des bundesministeriums für Umwelt, naturschutz, bau und reaktorsicherheit vom 19. bis 22. Juni 2015 in berlin.
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ls Veranstaltungszeitung, Magazin, Onlinedienst und Radioprogramm erreicht das Mediennetzwerk politikorange seine jungen Hörer*innen und Leser*innen. Krieg, Fortschritt, Kongresse, Partei- und Jugendmedientage – politikorange berichtet jung und frech zu Schwerpunkten und Veranstaltungen. Junge Autor*innen zeigen die große und die kleine Politik aus einer frischen, fruchtigen, anderen Perspektive.
poLitikorAngE – dAS mULtimEdiUm politikorange wurde 2002 als Veranstaltungszeitung ins Leben gerufen. Seit damals gehören Kongresse, Festivals und Jugendmedienevents zum Programm. 2004 erschienen die ersten Themenmagazine: staeffi* und ortschritt*. Während der Jugendmedientage 2005 in Hamburg wurden erstmals Infos rund um die Veranstaltung live im Radio ausgestrahlt und eine 60-minütige Sendung produziert.
WiE komm’ icH dA rAn?
WEr mAcHt poLitikorAngE?
Die gedruckten Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen, über die Landesverbände der Jugendpresse Deutschland e.V. und auch als Beilagen in Tageszeitungen verteilt. In unserem Online-Archiv stehen bereits über 50 politikorange-Ausgaben und unsere Radiosendungen sowie Videobeiträge zum Download bereit. Dort können Ausgaben auch jederzeit nachbestellt werden.
Junge Journalist*innen – sie recherchieren, berichten und kommentieren. Wer neugierig und engagiert in Richtung Journalismus gehen will, dem stehen hier alle Türen offen. Genauso willkommen sind begeisterte Fotograf*innen und kreative Köpfe fürs Layout. Den Rahmen für Organisation und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Ständig wechselnde Redaktionsteams sorgen dafür, dass politikorange immer frisch und fruchtig bleibt. Viele erfahrene Jungjournalist*innen der Jugendpresse stehen mit Rat und Tat zur Seite. Wer heiß aufs Schreiben, Fotografieren, Gestalten ist, findet Infos zum Mitmachen und zu aktuellen Veranstaltungen im Internet oder schreibt einfach eine E-Mail. Die frischesten Mitmachmöglichkeiten landen dann direkt in deinem Postfach!
WArUm EigEntLicH poLitikorAngE? In einer Gesellschaft, in der oft über das fehlende Engagement von jungen Menschen diskutiert wird, begeistern wir für eigenständiges Denken und Handeln. Die politikorange informiert über das Engagement anderer und motiviert zur Eigeninitiative. Und politikorange selbst ist Beteiligung – denn politikorange ist frisch, jung und selbstgemacht. Hier bist du gefragt!
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Herausgeber und redaktion: politikorange c/o Junge Presse berlin e.V. Alt-Moabit 89, 10559 berlin www.jpb.de chefredaktion (v.i.S.d.p.) und Leitung: Johanna Kleibl (johanna.kleibl@jpb.de) Janina-Christin Fischer (j-c-fischer@web.de) redaktion: Constanze fertig, Janina-Christin fischer, Leonard Kehnscherper, Johanna Kleibl, Ann-Kathrin Leclere, Ágnes Molnár, Henrik Nürnberger, Diana Parsons, Ludwig schuster, Louisa Zimmer teambetreuung: Constanze fertig fotografie: Ludwig schuster Layout: Henrik Nürnberger druck: bVZ berliner Zeitungsdruck GmbH Am Wasserwerk 11 10365 berlin auflage: 4.000 Exemplare Eine Projekt der Jungen Presse berlin, Landesverband der Jugendpresse Deutschland.
Mit freundlicher unterstützung des bundesministeriums für umwelt, Naturschutz, bau und reaktorsicherheit (bMub) und des bundesinstituts für bau-, stadt- und raumforschung (bbsr) im bundesamt für bauwesen und raumordnung (bbr).
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Das Sternchen, das wir in dieser Ausgabe verwenden, soll betonen, dass neben männlichen Lesern und weiblichen Leserinnen auch Lesende diese politikorange in den Händen halten. foto: ludwig schuster
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hoch hiNaus
markaNte WohNtürme siNd der traum VoN Nach geLtuNg streBeNdeN architekt*iNNeN, BehaupteN Böse zuNgeN. drei koNtroVerse BeispieLe aus BerLiN. Von henrik nürnberger
der süNdeNfaLL
foto: ludwig schuster
WähreNd poLitik uNd BeVöLkeruNg Noch mit dem proJekt „mediaspree“ haderN, schuf eiN iNVestor sichtBare tatsacheN: der WohNturm „LiViNg LeVeLs“ eNtstaNd auf der Brache des ehemaLigeN mauerstreifeNs zWischeN east side gaLLery uNd spreeufer. seitdem Versperrt das exkLusiVe haus fLaNeur*iNNeN deN Weg uNd erregt damit die ohNehiN schoN üBerhitzteN gemüter auf diesem städteBauLicheN fiLetstück.
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foto: Johann stephanowitz
schöN War maL aNders: die charakteristischeN pLatteNBauteN im WestBerLiNer haNsaVierteL (tiergarteN) gaLteN eiNst aLs moderNer eNtWurf des soziaLeN WohNeNs. heute siNd sie eiN historisches symBoL des WetteiferNs iN der stadteNtWickLuNg zWischeN ost uNd West. deshaLB schLageN iNitiatiVeN sogar Vor, das kLoBige WohNeNsemBLe der „puNkthäuser“ iN die Liste der uNesco-WeLtkuLturerBestätteN aufzuNehmeN. respekt!
die VisioN
Grafik: Gehry Partners LLP
am aLexaNderpLatz, dieser schNörkeLLoseN BetoNWüste, kaNN maN architektoNisch WeNig faLsch macheN. das dachte sich WohL der BerLiNer seNat uNd VergaB deN zuschLag aN deN kaNadisch-amerikaNischeN architekteN fraNk gehry. der Lieferte eiNeN üBeraus geWagteN eNtWurf eiNes WohNturms, der aB 2017 das östLiche zeNtrum der hauptstadt BereicherN soLL. er Wird der höchste seiNer art foto: henrik nürnberger iN deutschLaNd.
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