Tausend Jahre Schulzeit ©Telse Schumacher, geb. Gagelmann
Compiler: Renata Schumacher Redakteur: Maria C. Guevara-Arenas Design und Layout: Yulith Martínez Herausgegeben von: Leitartikel Colectivo la Terraza Erste Ausgabe - Juni 2019 Bogotá / Kolumbien, August 2018 Tipografia: Antraxja Goth 1938 y Times New Roman
Tausend Jahre Schulzeit
Ich widme diese Zeilen meiner unvergessenen „Meldorfer Gelehrten Schule“
Prolog
Der Nationalsozialismus und Hitlers sogenanntes „Tausendjähriges Reich“ hatten großen Einfluss auf das Leben der Kinder und Jugendlichen. Es wurde zur Pflicht, den Jugendorganisationen der Nationalsozialisten beizutreten. Und so kam auch Telse in die Hitlerjugend (Bund Deutscher Mädchen), wo sie bald Chöre, Theaterstücke und andere Veranstaltungen leitete. Wegen des andauernden und sich verschärfenden Krieges veränderten sich ihre Aufgaben. So halfen die nun jugendlichen Mädchen bei Bauern auf dem Feld, arbeiteten in Munitionsfabriken und standen den Soldaten zur Seite.
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Seit Jahren schon wandern die Gedanken von Telse Schumacher, geborene Gagelmann, in eine Zeit zurück, die außergewöhnlich war, weil sie die Welt für immer verändern sollte.
In 1945, als Telse 19 Jahre alt war und kurz vor ihrem Abitur stand, endete der Krieg und damit eine Zeit, die sie tief geprägt hat.
Telse wurde in Meldorf, Schleswig- Holstein, am 14. Dezember 1926 geboren. 1933 wurde sie eingeschult, im selben Jahr, in dem Adolf Hitler Reichskanzler wurde.
Nach dem Abitur studierte Telse Sprachen und wurde DiplomDolmetscherin für Englisch und Spanisch. Sie heiratete Waldemar Schumacher, mit dem sie fünf Kinder 3
bekam, von denen zwei schon als Kleinkinder verstarben.
Sie widmet diese Zeilen ihrer Schule, der sie in Dankbarkeit verbunden ist. Es war nicht im Sinne von Telse, sich in eine Analyse dieser Zeit zu vertiefen.
Sie lebt seit 1956 in Bogota, Kolumbien. Dort entdeckte sie ihr liebstes Hobby, die Malerei.
Ihre persönlichen Erinnerungen, die Ereignisse und Anekdoten stehen hier im Mittelpunkt und ermöglichen es dem Leser, einen Einblick in das alltägliche Leben eines Mädchens in Meldorf während des Zweiten Weltkrieges zu erlangen.
Sie begann mit der Porzellanmalerei, in der sie 1975 bei einer Internationalen Ausstellung eine zweiten Platz belegte. Dann widmete sie sich mehrere Jahre der Lithographie, bevor sie die Ölmalerei für sich entdeckte. Einzelausstellungen ihrer Werke gab es in Bogotá (1985, 2006 und 2011). Sie nahm auch an zwei Sammelaustellungen des Leserzirkels (1982) teil.
Ihre Tochter,
Renata Schumacher
Weiterhin hat sie sich für Belange der Deutschen Evangelischen Kirche und der Kindertagesstätte San Mateo eingesetzt und ist bis zum heutigen Tag aktives Mitglied der Kirchengemeinde. Doch von all dem soll in diesem Text nicht die Rede sein. Unter dem Titel „Tausend Jahre Schulzeit“ hat Telse ihre Erinnerungen an ihre prägenden Kinder- und Jugendjahre aufgeschrieben. 4
TAUSEND JAHRE SCHULZEIT Als ich die freundliche Einladung der Schule zum „50-jährigen Abiturjubiläum“ erhielt, das gleichzeitig mit dem Abitur der jungen Absolventen gefeiert werden sollte, und als ich mir die hoffnungsfrohen, fröhlichen jungen Menschen vorstellte, die nun ins Leben treten wollten, konnte ich nicht umhin, das Schicksal dieser in Frieden und Geborgenheit aufgewachsenen Generation mit meinem eigenen zu vergleichen. Und dabei wurde mir plötzlich gegenwärtig, dass meine Schulzeit mit dem Aufstieg des Dritten Reichs begonnen und mit seinem totalen Zusammenbruch geendet hatte.
des selben Jahres war mein erster Schultag in der Meldorfer Bürgerschule für Mädchen. Welche Aufregung! Endlich konnte ich meiner älteren Schwester Maggi in die Schule folgen. Aufgeregt marschierte ich mit meinem neuen Ranzen in die Schule. Alleine. Meine Mutter wollte nachkommen, da sie vorher noch die bettlägerige Großmutter versorgen musste. Sie hatte sowieso viel zu tun, obwohl sie eine Hausangestellte („lütte Deern“) hatte. Meine Schwester Maggi (Margarete) war sieben Jahre alt, Ische (Luise) vier und Ernst noch nicht geboren.
Ich fing an, die alten, zum Teil arg verstaubten Erinnerungen wieder wachzurufen, und es entstand dabei das Bild einer Jugend in einem der dramatischsten Abschnitte der deutschen Geschichte. Vielleicht wird es gar einige von den jungen Abiturienten interessieren, zu lesen, wie es damals war, in einer Zeit, die so schlimme Wunden hinterlassen hat, dass man die Erinnerung an sie meist aus dem Gedächtnis bannt. Im Januar 1933 war Hitlers Machtübernahme und damit gründete er, wie er erklärte, sein tausendjähriges Reich – und im April
Maggie Ische Telse mit Dienstmadche little dirn tür vor dem Garten
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Meine Mutter hatte für Maggi und mich bei Bleyle für die ersten Schuljahre hellblaue Strickkleider bestellt. Da muss ich gleich einmal abschweifen und die Geschichte dieser Kleider erzählen. Wir trugen sie den ganzen Winter über.
Meine Großmutter lag mit schwerer Diabetes im Bett und musste gepflegt werden. Sie war eine anspruchsvolle Kranke. Im Jahr darauf sollte sie sterben. Nach der kurzen Schulstunde standen die Mütter der Kinder mit ihren Schultüten auf dem Schulhof. Nur meine Mutter war nicht da.
Und den nächsten auch. Bis sie uns zu klein wurden. Daraufhin ließ meine Mutter sie bei der Firma „anstricken“, sodass wir noch ein weiteres Jahr damit in die Schule gehen konnten. Doch dann kamen sie in die Abseite, wo sie mehrere Jahre herum lagen, bis wir uns im Krieg wieder an sie erinnerten.
Ich stand alleine abseits und lief dann weinend nach Hause. Am Marktplatz endlich kam meine Mutter mir entgegen, mit der Schultüte in der Hand. Aber zu spät. Natürlich wurde ich dann zuhause, unter dem Apfelbaum, mit der Schultüte fotografiert.
Maggie,Tels,Ische Pfingsten gleiche kleider
Es gab ja damals kein Fernsehen, nur ein Radio für die Nachrichten. Wir hatten dann bald auch Flüchtlinge aus Ostpreußen im Haus, nachdem die Russen im Krieg Ostpreußen überrollten: Frau Hübner mit drei Kindern und später das Ehepaar Odebrecht (Zahnarzt).
Erster schultag 1933
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Da das Heizmaterial knapp war, konnten wir die Zentralheizung nicht anstellen, sondern nur einen Ofen heizen, den meine Mutter in das Zimmer meines Großvaters hinein stellen ließ.
Diese Fetzen legten wir beim Stricken um den dünnen Wollfaden und fertigten auf diese Weise Fausthandschuhe, die wir dann an die unbekannten Soldaten an der Ostfront schickten.
Da saßen wir dann alle gemeinsam, außer meinem Vater, der nach seiner Einberufung zuerst in Belgien, dann in Griechenland bei der deutschen Besatzung und zum Schluss vor Petersburg war. Dort musste er mehrmals am Tag die Umwelttemperatur und Windstärke messen.
Und nun weiter zur Schule. Wir waren die erste Klasse in der Bürgerschule, in der mit der Ganzheitsmethode unterrichtet wurde. Das heißt, wir lernten keine Buchstaben, sondern ganze Wörter zu schreiben, mit dem Erfolg, dass wir in der zweiten Klasse weder richtig schreiben noch lesen konnten.
An alle Einwohner wurden Bezugsscheine für Lebensmittel und Bekleidung verteilt. Wir durften uns daraufhin ein Kleidungsstück bei Grützmacher oder Kruse im Jahr kaufen. Da erinnerten wir Mädchen, Maggi, Luise und ich, uns an die Bleyle-Kleider in der Abseite. Wir reppelten sie auf und wickelten die dünnen Wollfäden um einen Bricken, legten ihn dann ins Wasser und trockneten ihn anschließend. Daraufhin waren die Fäden glatt. Gleichzeitig sammelten wir die im Stacheldraht hängen gebliebenen Schafwollfetzen ein, am Nordseestrand und auf den Deichen, wo die Schafe weideten, um das Gras niedrig zu halten.
Außerdem wurde uns am Anfang die Sütterlin Schrift Sütterlin-Schrift mit Tafel und Kreide beigebracht, später mit Tinte und Federkiel, um dann nach zwei Jahren auf die neu verordnete lateinische Schrift umgeschult zu werden. Bis heute schmuggeln sich immer noch einige Sütterlin-Reste in meine Schrift ein. Unser Klassenlehrer in der Volksschule war Herr Neumann.
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Es kam schon mal vor, dass wir einen Klaps auf unsere Finger bekamen, mit oder ohne Lineal. Wenn der Stress zu groß wurde, flog schon mal ein Tintenfass durch die Luft. Ich ging gerne in die Schule, zumal ich dort meine ersten Freundschaften schloss, die alle bis heute gehalten haben.
“. Wir sangen und tanzten folgenden Tänze: „Ach lieber Schuster du, ...“, „Wenn hier een Pott mit Bohnen steiht und dor een Pott mit Brie“, „Herr Schmidt, Herr Schmidt, wat bringt din Dochter mit?“, „Go von mi, go von mi, ick mag die nie sehn“, und andere mehr.
In der Handarbeitsstunde lernten wir stricken, und wir strickten gemeinsam hellblaue Söckchen. Bei mir kam trotz aller Mühe immer nur ein Klumpfuß heraus. Und außerdem nähten wir gemeinsam rotgepunktete Nachthemden und schenkten uns gegenseitig Freundschaftsringe.
ACH LIEBER SCHUSTER DU https://bit.ly/2I4Dp2t
Der Höhepunkt des jeweiligen Schuljahres war und ist auch heute noch, bei uns in Meldorf, das Vogelschießen. Vorher gab es schon große Aufregung, wenn wir in der Turnstunde mit den Jungens aus der gegenüberliegenden Jungenschule die kleinen Tänze üben mussten.
WENN HIER EEN POTT MIT BOHNEN STEIHT UND DOR EEN POTT MIT BRIE https://bit.ly/2KHnJUE
DEUTSCH IST DIE SAAR https://bit.ly/2wLBSIn
Zusätzlich schickten uns unsere Eltern zu Peter Schmidt in den „Tanz- und Anstandskursus“.
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Vormittags gingen wir klassenweise auf den Sportplatz und lieferten uns Wettkämpfe, z.B. im „Eierlaufen“ und „Sackhüpfen“ für die Kleinen. Die Älteren durften den „Vogel“ abschießen. Der jeweilige Sieger war „König“ oder „Königin“ und bekam die vorher von den Eltern gestifteten Geschenke. Nach dem Mittagessen, für das wir nach Hause gingen, trafen wir uns in unseren Sonntagskleidern wieder auf dem Schulhof, wo wir uns klassenweise, mit Blumen geschmückten Bögen sowie Musikkapellen vor und hinter uns, alle miteinander auf den Weg durch Meldorfs Gassen machten.
Meldorfer Gelehrtenschule
Nach vier Jahren Grundschule bat ich meine Eltern, mich auf der Meldorfer Gelehrtenschule anzumelden, weil ich Abitur machen und Lehrerin werden wollte.
Danach versammelten wir uns auf dem Marktplatz, wo wir in die verschiedenen Säle eingeteilt wurden. Natürlich waren dort schon unsere Eltern, die uns den Nachmittag über begleiteten.
Typisch: dieser unerfüllte Wunsch meiner Mutter übertrug sich auf ihre Tochter. Mit diesem Schulabschluss trat ich in die Stapfen meines Onkels Ernst, Bruder meines Vaters, der auch an dieser Schule sein Abitur gemacht hatte.
Die Mädchen saßen auf der einen Seite des Saales, die Jungs auf der anderen. Und als die Musik anfing zu spielen, rannten die Jungs auf ihre Freundinnen zu und der Tanz begann. Mich forderte meistens Heinz Siebels auf, nicht nur im ersten Jahr, sondern in allen vier Volksschuljahren und auch noch in der Oberschule. Später waren wir auf dem Gymnasium in derselben Klasse. Daraufhin war er mein sogenannter „Freund“
Er kam danach im Ersten Weltkrieg an die Front und fiel in der Schlacht bei Langemarck. Leider habe ich bei einem Besuch in Langemarck, wegen der unüberschaubaren Menge weißer Grabsteine, sein Grab nicht finden können.
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Stolz stülpte ich mir die Schülermütze auf (schwarz, grüner Rand und mit Schirm!) und fuhr damit fröhlich auf meinem ersten Fahrrad durch Meldorfs Gassen. Die „Machtübernahme“ lag nun bereits vier Jahre zurück, was für unsere Schulzeit tiefgreifende Folgen haben sollte. Die Schülermütze wurde allmählich verpönt. Schon in der zweiten Klasse liefen wir mit der dunkelblauen „Teufelskappe“ herum, denn mit dem Eintritt in die Oberschule ging der obligate Beitritt zur Hitlerjugend einher, von dessen politischen Hintergrund wir keine Ahnung hatten.
In der Schule mit 10 Jahren
Ich sehe mich noch als Zehnjährige mit klopfendem Herzen zur Aufnahmeprüfung marschieren. Diese Prüfung bestand in einer Bildbeschreibung, an die ich mich heute noch erinnere.
Wir Mädchen bekamen als Uniform „berchtesgadener“ Jäckchen und einen dunkelblauen Rock mit einer weißen Bluse zum Anknöpfen. Später erhielten wir stattdessen eine braune „Kletterweste“ und einen Rock mit einem Gürtel. Gegen Kriegsende sollten wir dazu noch ein dunkles Jackett tragen, was meine Mutter mir aber schon nicht mehr kaufte.
Danach musste ich ein Gedicht aufsagen und schließlich etwas rechnen. Es war alles etwas einfacher, als befürchtet. Meine Tochter würde gesagt haben: „puppig“. Damals wollte ich mit Gewalt aufs Gymnasium, obwohl es noch eine ausgesprochene „Jungenschule“ war. Frauke Constabel war meine Schicksalsgefährtin inmitten einer Horde von Jungs, während alle meine anderen Freundinnen und auch meine beiden Schwestern auf die „Höhere Töchterschule“ gingen, insofern sie nicht in der Volksschule blieben.
Mit BDM Uniform
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Wir waren der erste Jahrgang, der nicht mehr als „Gymnasium“ sondern als „Oberschule“ unterrichtet wurde, nämlich mit der ersten Fremdsprache Englisch. Unser Klassenlehrer war Oberstudienrat Ködel. Wir waren die erste Klasse in seiner Lehrerlaufbahn – was wir damals allerdings nicht wussten. Turnen hatten wir Mädchen (dreizehn an der Zahl von der Sexta bis zur Prima) zusammen bei Fräulein Jörgensen. Unsere privaten Aktivitäten wie Bastelunterricht, Turnen im Meldorfer Sportverein, Kindergottesdienst am Sonntagmorgen, wurden allmählich durch HJ-Dienst ersetzt. Nur den Geigenunterricht bei Herrn Heesch behielt ich bis zu seiner Einberufung bei. Jeden Mittwoch gab es einen „ Kameradschaftsnachmittag“ mit Gemeinschaftsspielen, Scharaden, Singen und Vorlesen ausgesuchter propagandistischer Erzählungen. Die Lehrer durften uns an diesem Tag keine Hausaufgaben aufgeben, auch übers Wochenende nicht, da wir samstags schon ab Vormittag Dienst hatten, meistens Leichtathletik im Sommer und Geräteturnen im Winter, als Vorbereitung auf das Jugendsportabzeichen. Einmal im Jahr fand an einem verlängerten Wochenende das Sportfest der Nordmark auf dem Bungsberg statt.
Sport. Bund deutscher Mädel (BDM)
Sportverein. Meldorf
Ich war nicht so gut in Leichtathletik und bin auch deshalb nie dabei gewesen, aber Geräteturnen machte mir großen Spaß. Nachdem wir mit Lily Kleberg und Schigi Rupert am Barren, am Reck und am Boden geübt hatten, erhielten wir beim Sportfest in Kiel den ersten Preis, was uns eine Einladung nach Berlin zum Gesamtdeutschen Sportfest einbrachte. Das fanden unsere Eltern nun nicht so gut – es war schon Krieg – und so haben wir daran nicht teilgenommen. In der Quarta oder Tertia bekamen wir Latein hinzu, bei Etje Harders, nur leider nicht für uns Mädchen. 11
Was heute kaum noch jemand weiß: es wurde den Mädchen verboten, Latein zu lernen. Mädchen sollten halt nicht studieren. Sie sollten später für den „arischen“ Nachwuchs sorgen. Erst nach zwei Jahren wurde dieses idiotische Verbot aufgehoben. Und nun hieß es, zwei Jahre Latein nachzuholen, bei Sani Köster. Wir marschierten also zusammen mit Annegret Behrends, Lily Kleberg, Wiebke Matthiesen und Sigrid Ruppert fleißig in die Anlagen, wo Sani wohnte. Nach einem Jahr konnten wir am regulären Lateinunterricht teilnehmen, wurden am Anfang allerdings noch nicht benotet. Später griff der Lehrer dann hart durch, wie jeder sich vorstellen kann, der ihn kannte, so dass ich vor jeder Arbeit wie Espenlaub zitterte. Aber ich habe es ihm zu verdanken, dass ich bis heute, zusammen mit meinen Leidensgefährtinnen, noch lauthals die Grammatikregeln deklamieren kann. Nach zwei Jahren, in der Quarta, war Kriegsbeginn, Anfang September 1939. Vorher allerdings, im Juni 1939, gingen wir mit der Klasse (auch die über und unter uns) in ein Ferienlager in der Vogelkoje bei Kampen auf Sylt mit Lehrer Mondrian (der leider später im Krieg fiel).
Während unseres Aufenthaltes lernte ich Itze Dieckmann aus der Klasse über uns näher kennen und lieben. Wir verabredeten gelegentliche Treffen in den Dünen. Natürlich sahen wir uns auch in der Schule, doch meistens näher auf dem Auhof bei Wiesche Matthiesen. Es war inzwischen Krieg und Itze meldete sich sobald wie möglich als Fallschirmspringer zum Militär. Da er der Beste in der Abschlussprüfung war, wurde ihm ein Flug geschenkt. Das Flugzeug stürzte ab. Itze war tot. Die Beerdigung in Meldorf war ein Ereignis (sein Vater war der Bürgermeister). Es kamen viele Offiziere und auch der Ritterkreuzträger aus Meldorf (der später leider auch an der Front fiel). Selbstverständlich wollte ich ihn auch begleiten, so traurig wie ich war. Allerdings war ich verpflichtet worden, an diesem Wochenende ein Lager für „Erste Hilfe“ in Albersdorf zu leiten. So ließ ich meinen Zug abfahren und nahm anschließend mein Fahrrad dorthin. Nach dem Krieg ging eine Abordnung von drei Geschäftsleuten zum Meldorfer Bürgermeister, um ihn zum Rücktritt zu veranlassen. Er zog daraufhin seine Pistole und erschoss einen dieser Männer. 12
In diesem anschließenden Durcheinander erschoss er sich dann selber (seine arme Frau!). Das ganze Leid des Krieges machte uns Lily Kleberg sichtbar, als sie nach dem Tod ihres ersten Bruders und kurz darauf ihres zweiten Bruders (beide Offiziere) in Schwarz in unserer Klasse saß. Kein Wunder, dass Franz Kleberg, ihr Vater und unser Lehrer, sich zwar für das Deutschtum im Ausland interessierte, aber für die Deutschen des Dritten Reiches nichts übrig hatte. Wenn ich mich recht erinnere, wurde auf ihn Druck ausgeübt, sich endlich einen sogenannten „Volksempfänger“ (ein Radio) zu kaufen Wir hatten zuhause schon längst einen, um Hitlers Reden zu hören. Sie wurden allerdings auch in der Schule übertragen, wo wir verpflichtet waren, sie anzuhören. Ich habe nie wieder in meinem Leben so einen begeisterten Jubel gehört wie damals, bei Hitlers Rede nach dem Einmarsch in Österreich.
Konfirmation
Jetzt hätte ich fast vergessen, meine Konfirmation zu erwähnen. Ein Jahr lang hatten wir in Religion Vorbereitungsunterricht bei Pastor Jakobsen, der uns auch später konfirmierte. Ein Sonntag davor war die Prüfung, während des Gottesdienstes. Wir wurden nach den Texten von Gebeten und Liedern gefragt und mussten sie auswendig aufsagen. Die Konfirmation war ein sehr feierlicher Akt in unserer Kirche, an dem auch unsere Eltern und Geschwistern teilnahmen. Anschließend gab es bei uns zuhause ein schönes Mittagessen mit unseren eingeladenen Gästen, wie zum Beispiel meine Onkel und Tanten, die aus den 13
halten sollten, suchte ich mir selber ein englisches Buch aus, nämlich die „Canterbury Tales“, und studierte es eingehend.
Inzwischen, in der Tertia glaube ich, wurden auf Anordnung „von oben“ (also der Partei) alle privaten Schulen geschlossen, so auch die „Höhere Töchterschule“. Diese Schülerinnen kamen so zu uns. Da es davon ein gutes Dutzend gab, wurde für Mädchen eine Parallelklasse gebildet, zum Verdruss von Frauke und mir.
Nach einem Monat fragte sie, wer jetzt einen Vortrag halten könnte. Niemand außer mir meldete sich. „Du hast doch gar kein Buch bekommen“. „Nein, aber ich habe mir selber eins ausgesucht und kann darüber berichten.“ Es blieb ihr nichts anderes übrig, als mir im Zeugnis eine zwei zu geben. Durch meine Anstrengungen im Englischen hatte ich es im übrigen später leicht, meinen Dolmetscher zu machen.
Mussten wir uns doch jetzt von „unseren“ Jungens trennen. Allerdings, ein Jahr später, nachdem eine Reihe von Mädchen, nach der Mittleren Reife, nach Itzehoe auf die sogenannte „Klopsschule“ abgingen, wurden die restlichen Mädchen wieder in die Jungenklasse integriert.
Mit den übrigen Lehrern hatte ich keine Probleme, da mir das Lernen Spaß machte; bis auf Frau von Hassel, die uns Kunstunterricht gab. Dabei fiel mir das Zeichnen und Malen leicht. Heute beschäftige ich mich sogar mit Ölmalerei, mache Ausstellungen und verkaufe Bilder. Sie hatte aber immer etwas auszusetzen und war eigentlich gemein zu mir.
Es kamen natürlich auch die Lehrer mit zu uns, unter anderem auch die sogenannte „Mutter Boysen“. Für mich war sie das leider nicht, sodass ich mich im Englischen, was sie unterrichtete, besonders bemühte. Sie war ständig so gemein zu mir, dass, für mich völlig unerwartet, eine Abordnung der Jungs aus meiner Klasse zu ihr ging und sich deswegen beschwerte.
In den ersten Jahre meiner Gymnasialzeit fielen auch die heute, dank Impfschutz weitgehend bedeutungslos gewordenen, Infektionskrankheiten wie Scharlach, den ich mit dreizehn hatte.
Ich gab mir also große Mühe. Als sie eines Tages zehn Bücher an ihre Lieblingsschüler verteilte, damit sie darüber nach dem Lesen einen Vortrag 14
„Deern, hest een scheev Mul? Dat löpt sich wedder trech.“ (Mein Mädchen, hast du einen schiefen Mund? Das wird von selber wieder heil.) Zum Glück verließen sich meine Eltern nicht darauf, sondern schickten mich nach Hamburg zum Spezialisten, mit meiner pensionierten Tante Anna, Stiefschwester meines Vaters, die Oberin beim bekannten Prof. Pfeiffer in Leipzig gewesen war. Daraufhin bekam ich Massagen und eine Bestrahlung im Meldorfer Krankenhaus.
War man erkrankt, musste man einen Monat in Quarantäne zuhause bleiben, bis man vom Gesundheitsamt, nach Desinfizierung, entlassen wurde. Aus dem oberen Fenster unseres Hauses ließ ich einen Bindfaden herunter und hievte mir die Schularbeiten, auf Zetteln geschrieben, hoch, die mir meine Freundinnen vorbeibrachten. Das Schlimmste war jedoch, dass mir das Haar total ausfiel; meine Mutter nähte mir daraufhin aus dunkelblauem Stoff einen Turban, mit dem ich in der Schule erschien.
Inzwischen war ich in der HJ zur „Scharführerin“ aufgestiegen, da ich gut mit den Kindern auskam. Damit hatte ich drei Schaften unter mir. Auch die Jungs aus meiner Klasse trugen bereits grüne, sogar grün-weiße sogenannte „Affenschaukeln“. Sie trafen sich beim Posaunenchor, in der Flieger - oder Marine-HJ.
„Meine Jungs“ waren ganz lieb und rissen keine Witze – was eigentlich so gar nicht ihre Art war -, wenn nicht Frau Wittinghof, unsere Deutschlehrerin, gerade meinte, darüber spaßen zu müssen. Da sieht man, welche Episoden man aus seiner Jugend behält.
Davon profitierten wir beiden Mädchen aus der Klasse, da wir zum Hafen mitgenommen wurden, wo die zwei Segeljachten lagen, die unter Direktor Walter angeschafft worden waren.
Wegen der späteren Diphtherie mussten meine Schwestern und ich ebenfalls wieder einen Monat lang zuhause bleiben. Ich bekam danach eine halbseitige Gesichtslähmung. Unser Arzt war Dr. Bruhn.
Im Frühjahr durften wir schmirgeln und neue Gardinen für die Bugfenster der Boote nähen. 15
Einmachen der vielen Früchte aus unserem Garten beschäftigt. Im Winter strickte sie uns allen Strümpfe aus Schafwolle.
Danach segelten wir allerdings unter Anleitung eines Lehrers ab und zu nach Büsum oder Helmsand. Gelegentlich durften wir sogar allein los, d.h. mit unseren Freunden aus der Marine-HJ. Da kam es einmal vor, dass wir vor lauter Flirten nicht auf das ablaufende Wasser achteten und das Schiff sich plötzlich schief legte.
In den Sommerferien wurden damals, im Gegensatz zu heute, keine größeren Reisen unternommen. Wir fuhren zu unseren Verwandten nach Krumstedt, Groserade oder gar mit dem Zug nach Burg und von dort zu Fuß, unter der Hochbrücke hindurch, nach Hochdonn, zu den Geschwistern meiner Mutter.
Es dämmerte schon. Kurz entschlossen band sich Heile Ehlers seine Klamotten auf den Kopf, schwamm durch den Pril, stapfte durch das Watt und holte sich sein Fahrrad am Hafen, um unsere Eltern zu beruhigen und um die Schulbücher für den nächsten Tag aufs Schiff mitzubringen, nebst den zum Lesen benötigten Taschenlampen.
Oder mein Vater nahm uns mit nach Hamburg zu dortigen Verwandten und danach zum Zoo, eventuell auch zu einer Hafenrundfahrt. Oder mein Großvater nahm uns an die Hand und per Bahn bis nach St. Michaelisdonn, um dort im Wald den Förster zu besuchen.
Unsere aufgeregten Eltern holten uns dann weit nach Mitternacht bereits bei Flut am Hafen ab. Leider hatten diese Ausfahrten bald ein Ende, nachdem sich der Krieg verschärfte und die Dithmarscher Bucht vermint wurde. Mein Vater widmete sich abends hauptsächlich seiner tollen Briefmarkensammlung, wenn er nicht zum Meldorfer Gesangverein ging, wo er über fünfzig Jahre lang Mitglied war und jeder Gesangsabend mit einem Spiel Skat endete. Meine Mutter war im Sommer mit dem 16
Aber auch das hatte alles bald, wohl gegen 1936/37, ein Ende, nachdem von der HJ Jugendlager in den Ferien angeboten wurden, zu denen wir uns begeistert meldeten. So fuhr ich am Anfang nach Segeberg in ein Zeltlager, von wo ich völlig verdreckt aber glücklich heimkehrte; oder z.B. nach Heiligenhafen zum Singleiterkreis. Somit konnte ich in Meldorf die Sing- und Spielschar gründen.
Im Zeltlager
Wir übten Lieder zur Umrahmung von Partei-Veranstaltungen ein. Manchmal traten wir auch bei Hochzeiten „im neuen Stil“ auf. In unserem Alter war für uns die politische Absicht, die hinter dieser Art von Jugenderziehung lag, nicht durchschaubar. Wir liebten bloß unser Vaterland und lebten für dieses Ideal.
BDM Lager, Wolmersdorf
Während des Krieges waren natürlich die Arbeitskräfte knapp, weil sie alle vom Militär eingezogen worden waren.
Wir sangen z.B.: Jetzt müssen wir marschieren ich und mein Kamerad. In langen Reihen zu vieren, denn ich bin Soldat.Wissen wir auch nicht, wohin es geht, wenn nur die Fahne vor uns weht. Jetzt müssen wir marschieren ich und mein Kamerad.
So meldeten sich einige Bauern aus den umliegenden Dörfern in der Schule, um eventuell Schüler als Aushilfe zu bekommen. So fuhren wir, also die ganze Klasse, dann eines Tages im Frühjahr auf unseren Rädern zum Bauern, um Kohl zu pflanzen. 17
Die getrockneten Pflanzen lieferten wir dann in der Schule ab.
Wir bekamen ein Bündel kleiner Pflänzchen in die Hand, und mussten diese in ungefähr 20 Zentimetern Abstand in die Erde pflanzen. Wir Mädchen versuchten, zusammen in einer Reihe zu bleiben, denn wir erzählten uns dabei Geschichten oder Märchen. Annegret war besonders gut darin.
Da das zugeteilte Heizmaterial knapp war, mussten wir - allerdings nur einmal - versuchen, Abhilfe zu schaffen, und zwar wie folgt. Wir besaßen einen kleinen Wagen, von dem wir die Räder mit Stroh umbanden und den wir mit leeren Gefäßen beluden. Damit fuhren wir um Mitternacht (meine Mutter, Frau Hübner und ich) die Chaussee entlang bis zum Hafen, wo sich damals eine Ölpumpe befand. Der Wächter schon eingenickt, sodass wir so leise, aber auch so schnell wie möglich, unsere Gefäße mit dem „eingesammelten“ Öl füllten.
Kaum waren wir am arbeiten, kam der nächste Bauer zu uns aufs Feld und fragte uns, ob wir anschließend auch bei ihm pflanzen könnten. „Natürlich! Wenn Sie uns zum Mittagessen einen Mehlbeutel servieren!“ Klar, das war das Wenigste! Wenn wir abends, nach der Arbeit, unser Geld vom Bauern bekamen, gingen wir nicht gleich nach Hause, sondern zu Böthern, um dort ein Eis zu essen; denn „am Eis von Böthern kann man nicht klötern“.
Am nächsten Tag fuhren wir mit demselben Wagen zu Tante Minna (eine Cousine meines Vaters), am Bahnübergang, wo sie eine Kohlenhandlung besaß.
Weil es kaum noch normale Medikamente gab, wurde unsere Klasse von der Schule einmal losgeschickt, um Heilkräuter vom Straßenrand und auch von den Wiesen zu sammeln, wie z.B. Kamille, Löwenzahn usw.
Wir durften uns den Kohlestaub einschaufeln, mit dem wir zuhause das Öl vermischten, um es im Herd zum Kochen zu benutzen. Das alles haben wir nur einmal gemacht, weil es zeitaufwendig war und der Krieg bald zu Ende war.
Anschließend breiteten wir diese auf unserem Dachboden aus, der ja auf Anordnung „von oben“ leer geräumt sein musste, auf Grund eventueller Bombenangriffe. 18
Einmal wurde in den Dünen von Gudendorf ein „Führerthing“ der Nordmark veranstaltet. Dafür übten wir vorher, in Plön, das Märchen „Die Jungfrau Marlen“ ein. Wir führten dieses Stück, mit großem Beifall, anschließend in Gudendorf auf. An einem dieser Abende wurde uns außerdem der Film „Jud Süß“ gezeigt. Hinterher sangen wir spontan das Lied mit dem Schluss:
Natürlich verbrauchten wir nicht den Futterstoff; daraus wurde mir ein Kleid für das Abitur genäht. Später lag mein Vater vor Petersburg und war für die Wetteraufzeichnungen zuständig Dieser Führerthing war eines der großen Erlebnisse meiner Kindheit. Ausgerechnet in Bogotá/ Kolumbien (wohin ich später auswanderte) traf ich eine Freundin aus dieser fernen Zeit wieder, die als Lehrerin an der Deutschen Schule arbeitet: Frau Doktor Ute Walschburger.
„Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“.
Ich leitete als Scharführerin eine Theater- und Chorgruppe. Einmal, beim Mittagessen auf dem Auhof, wo ich oft mit meiner Freundin Wiebke zusammen war, lernte ich Herrn Luserke kennen. Nachdem alle privaten Schulen geschlossen wurden, geschah das auch mit seiner Schule auf einer Insel Ostfrieslands.
Zwischendurch fuhr ich mit meinem Fahrrad einmal kurz nach Meldorf, um mich von meinem Vater zu verabschieden, der – zum Glück – einige Tage auf Urlaub aus Griechenland zuhause war. Und immer noch war Krieg. Mein Vater war längst nicht mehr bei uns, sondern an der Front.
Er landete mit seinem Schiff, „Die Krake“ im Meldorfer Hafen und blieb dort liegen. Wir besuchten ihn dort öfter und unterhielten uns sehr nett. Als er später in Meldorf wohnte, ging ich öfter zu ihm und er erzählte unter Anderem, dass er auch Theaterstücke geschrieben hatte.
Er brachte uns aus Belgien als Geschenk einen tollen karierten Wollstoff mit, aus dem Maggi und ich Röcke mit Bolero bekamen. 19
Natürlich war er damit einverstanden, dass ich unter seiner Leitung eines davon aufführte – er als „Kapitän“, ich als „Pilot“, wie er sagte. Er kam hin und wieder und schaute sich die Proben an, bis wir die Premiere hatten. Es das Jahr 1943. Inzwischen hatte sich der Krieg verstärkt und nun fielen auch Bomben auf unsere Städte. Der „Führer“ beschloss daraufhin eine für uns positive Maßnahme, nämlich die Kinderlandverschickung. Kleine Kinder wurden im Klassenverband aus den gefährdeten Städten in ruhigere Dörfer verschickt und standen unter der Obhut älterer BDM-Mädchen. Aus meiner Klasse wurden Annegret Behrends und ich dafür abkommandiert. Ich kam nach Österreich ins Örtchen Mayerling (wo sich der österreichische Thronfolger mit seiner Geliebten umgebracht hatte). Man quartierte uns im früheren Pferdestall des Schlosses ein, der zu einem Nonnenkloster umfunktioniert worden war – und ausgerechnet den Nonnen fielen wir nun ins Haus.
Es kam eine Klasse von jungen Schülerinnen (einige sogar in meinem Alter) zusammen mit ihren ergrauten Lehrerinnen aus Wien, und ich musste vor allen die „Autorität“ verkörpern! Ehrlich, ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut und machte insgeheim gemeinsame Sache mit den Schülerinnen – und gegen die Lehrerinnen. Wir spielten heimlich nach dem Zapfenstreich z.B. Mikado miteinander. Die Mädchen aus Wien hatten vormittags Schule, und im Prinzip hatte ich dann Zeit, die mir nachgeschickten Schularbeiten zu machen. Aber wie sollte ich mich in einen Aufsatz über Meldorfs Straßennamen vertiefen, unter einem Pfirsichbaum sitzend, das Schloss und die Alpen im Blick? Der Aufsatz fiel auch entsprechend aus und den anderen Arbeiten erging es nicht besser. Natürlich musste ich mich nach meiner Rückkehr dranhalten, doch zum Glück drückten die Lehrer ein Auge zu. Wieder zuhause fielen auch in Hamburg, Kiel und Lübeck die Bomben. Wir hatten oft Fliegeralarm, da die englischen Bomber anscheinend unseren Kirchturm als Orientierungshilfe benutzten. Tagsüber konnte man die metallisch glitzernden Flugzeuge als 20
Punkte am blauen Himmel erkennen. Nachts war es unheimlicher, wenn wir bei Alarm mit unseren Flüchtlingen und einigen Nachbarn in unserem Keller saßen. Mein Bruder Erni hatte dort ein kleines Bettchen stehen. Wir anderen saßen auf Stühlen; denn links von der Treppe war unser Kohlenkeller, wo auch die Kartoffeln für den Winter in Erde eingelagert wurden. Rechts war etwas Platz für uns. An der Wand standen Regale, die mit Eingemachtem gefüllt waren. Da bei Fliegeralarm das Licht ausgestellt wurde, benutzten wir kleine Kerzen. Nur einmal standen wir am Tage bei Fliegeralarm draußen und beteten, dass die Engländer schnell die Bomben abwürfen. Wir sahen nämlich, obwohl wir eigentlich im Keller sein sollten, wie ein englisches Flugzeug weiße Markierungstücher über Hemmingstedt, wo Erdöl gefördert wurde, abwarf. Die Bomber allerdings ließen auf sich warten, sodass der Nordwestwind die Markierungen auf Meldorf zuwehte. Dann, endlich, kamen sie! Wir verschwanden eiligst im Keller und sahen am folgenden Tag den nächsten Trichter einer Bombe auf der Weide neben unserem Feldgarten hinter den Anlagen. So wurde auch die sogenannte
„Hölle“ in Hemmingstedt nur leicht beschädigt.Dauerte der Alarm bis nach Mitternacht, brauchten wir erst eine Stunde später als normal in die Schule zu kommen. Als Hamburg seinen schweren Angriff hatte, wurden wir von der Schule beurlaubt und machten Bahnhofdienst: Wir schenkten an die Weiterreisenden, die ihre Behausung verloren hatten, Kaffee aus, verteilten Wäsche und führten „unsere“ Flüchtlinge in das Notlager in der Erheiterung. Wir alle waren hoch motiviert zu helfen, und so war meine Mutter auch durchaus damit einverstanden, eine Mutter mit Kind liebevoll aufzunehmen, die ich ihr angeschleppt hatte. Die meisten Flüchtlinge jedoch – auch die aus dem Osten – wurden in Gudendorf untergebracht. An unseren freien Nachmittagen und den Wochenenden halfen wir dort in der Küche oder bei der Kinderbetreuung aus und fuhren mit dem Fahrrad dorthin. Bis auf die Jüngeren vom Jahrgang 1927, wurden die Jungs unserer Klasse im Jahre 1943 zur Heimatflak eingezogen. Sie bekamen tagsüber an Ort und Stelle Unterricht beim Klassenlehrer, außerdem eine Grundausbildung in der Infanterie und kamen zum Schluss noch an die Front bei Lübeck, wo sie noch gegen die Russen 21
eingesetzt wurden. Nachts mussten sie auf die einfliegenden englischen Bomber schießen, als sogenannte „FLAK“. Wir, die nicht eingezogen worden waren, gingen vorerst noch weiter zur Schule. Ab Untersekunda hatten wir Französisch bei „Muschi“ Hinz. An sommerlichen Tagen verleiteten wir ihn dazu, den Unterricht „im Schatten kühler Bickbeeren“, wie er sagte (sprich: „Linden“), auf dem Schulhof abzuhalten. Dort verwickelten wir ihn in Gespräche über seine Kriegserlebnisse.
An der Nordsee
Von seiner Tochter Renata erzählte er uns gerne, und wenn dann noch die neue „Adler“ (eine Fliegerzeitschrift) verteilt wurde, war es mit dem Unterricht nicht mehr weit her. Nur ein Glück, dass wir im Abitur nicht in Französisch geprüft wurden!
An der Nordsee
Weiterhin gingen wir im Sommer zur Nordsee zum Baden, konnten dann aber bei plötzlichem Alarm nicht mehr nach Hause radeln, sodass wir öfters Zeugen von Luftangriffen im Himmel über uns wurden. Einmal stürzte ein Flugzeug in die Watten ab.
In Deutsch hatten wir den Lehrer „Duff“ Jensen, der ruhig und unkompliziert war; in Chemie und Physik den auch bereits pensionierten Lehrer „Schnuff“ (ebenfalls Jensen).
Da ich noch am Deich lag, lief ich furchtlos durch die Watten, schwamm durch die Priele auf das Flugzeug zu, um eventuell zu helfen. Weil ich aber den Piloten tot am Steuer sitzen sah, bin ich schleunigst zurück und nach Hause gefahren.
Durch einen Gasangriff der Franzosen im ersten Weltkrieg hatte er ein dunkelblaues Gesicht. Er war sehr nett mit uns beiden Mädchen; denn in der Pause fragte er, ob er uns in der nächsten Stunde in Chemie dran nehmen könnte: „Oh nein, lieber übernächste Stunde!“. 22
Der zweite Mann im Flugzeug war vorher mit dem Fallschirm abgesprungen. Da wir im Sommer immer in der offenen Veranda saßen, sahen wir, wie dieser Engländer an unserem Haus zum Bürgermeisteramt vorbei geführt wurde – ein junger Kerl, wie leid er mir doch tat. Und im Winter liefen wir Schlittschuh auf der überfluteten Wiese beim Auhof, wo ich fast jeden Nachmittag mit meiner Freundin Wiebke verbrachte. Oder wir fuhren Schlitten in den Anlagen und auf dem Albersberg: „hackeldiewackel dibandiefackel“ riefen wir, was auch immer das bedeuten mochte.
Friesenwalls
So verlief also unsere Schulzeit zwischen Lernen und Dienst, bis wir restlichen Schüler im Jahre 1944 zum Bau des Friesenwalls einberufen wurden, weil die Deutschen einen englischen Überfall in Schleswig Holstein erwarteten.
Unsere Jungs waren ja längst bei der FLAK, so dass nunmehr die fünfzehnbis sechzehnjährigen Jungs aus ganz Schleswig Holstein einberufen werden mussten. Eine Führerin vom BANN (die übergeordnete Dienststelle der HJ) und ich reisten vorher nach Viöl und mussten dort die Quartiere vorbereiten – einfach ordentlich Stroh auf den Boden in der requirierten „guten Stuben“. Auch der Waschkessel wurde als Kochtopf für den täglichen Eintopf beschlagnahmt. Dann hieß es, einen Essensplan aufzustellen und die Waren, die uns wöchentlich geliefert wurden, zu verteilen. Mittags ging ich dann von Küche zu Küche, um das Essen im Eintopf zu probieren, erst dann konnte es an die Jungs ausgegeben werden. Am selben Ort, wo wir stationiert waren, veranstaltete einmal der Pastor an einem Sonntag ein Orgelkonzert. Natürlich gingen Annegret und ich hin, mit dem Erfolg, dass wir vom Kameradschaftsabend ausgeschlossen wurden. Wir – nicht faul – nähten sämtliche Jackenärmel der Teilnehmer zu und verschwanden in der Dunkelheit, um uns ein Alibi zu verschaffen. 23
Wenn ich mich recht erinnere, dauerte der Einsatz sechs Wochen des Sommers 1944. Mittlerweile war bekannt, dass die Amerikaner über die Normandie einmarschieren wollten. Weitere sechs Wochen gastierten wir wieder in der Schule und wurden danach aus der Unterprima zum Arbeitsdienst eingezogen. Die Erteilung des Abiturs sollte von der Bewährung im Arbeitsdienst abhängig gemacht werden, wie es in meinem damaligen Zeugnis steht. Lily und ich kamen in das Lager Öderquard bei Stade im Alten Land: ein blaues Leinenkleid mit weißem, bestickten Dirndl-Schürzchen und einer Brosche am Ausschnitt. Sonntags braunes Kostüm mit passendem Hut und weißer Bluse. Tagsüber zogen wir für unseren Marsch zur Einsatzstelle (bis zu acht Kilometer im Schnee) Knobelbecher mit zwei Paar Wollsocken an. Das mitgenommene Marmeladenbrot wurde schon unterwegs vertilgt. Zuerst arbeitete ich für eine kinderreiche Mutter in einer umgebauten Mühle. Dann kam ich auf ein Gut im Alten Land, das mit Flüchtlingen voll besetzt war.
Ich musste an einer Balje mit einem Waschbrett Strümpfe für die ganze Belegschaft waschen oder im Keller Äpfel aussortieren. Am Mittagstisch gab es Tischkarten. Obwohl ich Abiturientin war, wurde ich „wie der letzte Dreck“ behandelt, zumal der Sohn des Hauses Schwierigkeiten beim Abitur hatte. Also war ich ganz froh, als ich zum Kriegseinsatz in einer Munitionsfabrik abkommandiert wurde. Am liebsten wäre ich als Schaffnerin zur Hamburger Straßenbahn gegangen, wie meine Hamburger Mitgefährtinnen. Im totalen Einsatz arbeiteten wir von sechs bis sieben, also zwölf Stunden lang, nur mit einer Stunde Unterbrechung für das Mittagessen. Ich war die Leiterin von den eingesetzten Mädchen und hatte deswegen ein Extrazimmer. Morgens wurde ich vom Militär eine halbe Stunde früher geweckt, nämlich um Fünf, und musste anschließend meine Mädchen wecken. In lange weiße Kitteln gehüllt saßen wir am Fließband oder verluden die fertigen Geschosse in Eisenbahnwaggons, unter der Aufsicht des Militärs. Bei vorüberfliegenden Flugzeugen verbargen wir uns in der Fabrik hinter der zu verlandenden Munition – naiv wie wir waren. 24
Und fast jede Nacht verbrachten wir bei Bombenalarm im Keller. Klar, wir waren ein ausgemachtes Ziel, wurden allerdings zum Glück nicht bombardiert. Komischerweise. Die Nachrichten wurden immer düsterer, und meine Stimmung auch. Meine Schwester Maggi war als Diätassistentin im Einsatz in einem Lazarett in Königsberg. Es bedrückte mich sehr, schon lange keine Nachricht mehr von ihr erhalten zu haben. Glücklicherweise entkam sie mit dem ganzen Lazarett heil über die Ostsee nach Dänemark. Und von meinem Vater, der noch an der Front war, gab es ebenfalls keine Nachricht. Immer näher kam der Lärm der Front, das Bellen der Artillerie, die Einschüsse der Granaten. Schließlich wurde uns auf einer eilig herbeigerufenen Versammlung am 2. Mai erklärt, wir dürften jetzt – wie auch immer – nach Hause fahren. Zum Glück musste ich nach Norden, die meisten kamen aus dem Süden und sie gingen dann gezwungener weise mit uns. Ich wurde netterweise mit meinem schweren Koffer in einem offenen Fahrzeug der Wehrmacht mitgenommen, wobei wir bei Tieffliegerangriffen mehrfach in den Chausseegraben springen mussten.
Kaum in Hamburg angekommen: Fliegeralarm! Der Bunker in Sankt Pauli führte in Serpentinen in die dunkle Tiefe. Es regnete Bomben, es brummelte, der Bunker zitterte. Nach der lang ersehnten Entwarnung: nichts wie raus und über rauchende Trümmer hinweg zum Dammtorbahnhof. Mit Müh und Not bekam ich nach langem Warten noch ein Plätzchen im Bremserhäuschen außerhalb vom Waggon, wo ich – von zwei Soldaten umschlungen – nach Stunden in Meldorf eintraf. Die Freude meiner Mutter war unbeschreiblich – und meine auch. Ob die Schule noch funktionierte, weiß ich nicht. Jedenfalls war von meiner Klasse sowieso niemand da. So erwartete ich also zuhause das Kriegsende am 8. Mai 1945, und damit verbunden die Besetzung Meldorfs durch die Engländer. Ich sehe mich noch mit meiner Mutter, morgens im Sonnenschein, am Frühstückstisch sitzen. Am Fenster geht ein englischer Offizier vorbei: Haus beschlagnahmt! Ach du meine Güte! Wohin mit uns, meinem Großvater, meinen beiden jüngeren Geschwistern, Luise und Ernst samt all den Flüchtlingen aus Ostpreußen – eine Frau mit drei Kindern und ein Zahnarz25
tehepaar! Zum Glück hatte der Engländer ein Einsehen und beließ uns das obere Stockwerk, in dem wir uns innerhalb von zwei Stunden, so gut wie es ging, einrichten mussten.
Unser Haus wurde deshalb wieder freigegeben. Meine Freundin Annegret Behrends zog für die Dauer der Beschlagnahme ihres Hauses zu uns, ihre Familie zu Hartmanns.
Noch rasch aus dem Bücherschrank „Mein Kampf“ und den „Mythos des 20. Jahrhunderts“ von Rosenberg herausgeholt und in den Graben versenkt.
Alle Schulen in Meldorf waren geschlossen, unsere auch. Wir hatten jedoch reichlich damit zu tun, morgens für unsere Familien um sechs Uhr nach markenfreier Wurstbrühe anzustehen oder in Haus und Garten zu helfen, bis ... bis es eines Tages an unserer Haustür klingelte, und ein Offizier nach mir fragte. Ja, ein deutscher Offizier, denn jene Soldaten, die in unserer Gegend kapituliert hatten, liefen noch weitgehend unbehelligt herum. Man munkelte, Churchill wisse noch nicht, ob er sie vielleicht gebrauchen könnte, um die Russen zu bremsen. Ja, es waren wirklich völlig verrückte Zeiten.
Unser Haus an der Hafenchaussee mit Veranda
Im ersten Stock wurde von schlaksigen Engländern eine Schreibstube eingerichtet, weil wir die offene Veranda zur Straße hatten. Durch die Gardinen belauschten wir von oben den morgendlichen Appell und die Zurufe (tea, quick!). Allerdings beschlagnahmten sie bald die ganze Hindenburgstraße und richteten ihr Hauptquartier im Grützmacherschen Haus ein.
Dieser Offizier war von Etje Harder, dem damaligen Schulleiter, zu mir geschickt worden und suchte Mädchen, die Theater spielen wollten. Annegret – die ich gleich auch mobil machte – (sie wohnte ja auch noch bei uns) und ich fuhren danach täglich mit dem Rad nach Nindorf (in Kleidern, aus Fahnen und 26
des Verliebten“ von Goethe. Annegret und ich spielten die weiblichen Hauptrollen in den Hans-Sachs-Stücken.
Fallschirmresten zusammengenäht), wo sich die Nindorfer Schattenspiele etabliert hatten. Wir sprachen die Texte aus dem Urfaust (Annegret das Gretchen, ich die Martha) hinter einer Leinwand, auf der sich, als Schatten im Licht eines Scheinwerfers, von den Soldaten gebastelte Scherenschnitte bewegten.
Wir traten in Heide und auch in Rendsburg auf, wo Annegret seltsamerweise sich weigerte, zu spielen, sodass ich mich erbot, ihre Rolle innerhalb einer halben Stunde zu übernehmen, um die Aufführung nicht platzen zu lassen.
Allerdings gaben wir nur wenige Aufführungen vor den Soldaten in Nindorf und der Umgebung, da sich die Gruppe infolge von Entlassungen langsam auflöste.
Zum Glück hatte ich ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis, blieb mit Herzklopfen in der Nähe des Souffleur-Kastens und erledigte ihre Rolle mit Applaus.
Doch kaum war Nindorf vorbei, klingelte Oberleutnant Bein bei uns in der Hafenchaussee 13, um Mädchen für Theateraufführungen anzuwerben, die seine Fähnrichskompanie, in Elpersbüttel stationiert, einüben wollte.
Außerdem gründete der Offizier, Herr Berger, von Beruf Chorleiter, einen Madrigalchor, in dem alle meine Freundinnen mitsangen und für den wir meistens in den Anlagen, beim Kriegerdenkmal, übten.
Da immer noch kein Schulbetrieb war, „organisierte“ ich meine Freundinnen und dieses Mal ging es gen Norden, von den Fähnrichen zuvor galant in die Pferdekutsche gehoben.
Einmal, während wir dort probten, kam ein Soldat aus dem Krankenhaus in der Österstrasse angerannt und suchte jemanden mit der Blutgruppe O zur sofortigen Blutspende.
Wir übten auf der Tenne eines großen Hofes zwei Hans-Sachs-Stücke ein, „Der fahrende Schüler aus dem Paradies“ und „Das Kälberbrüten“, außerdem Kleists „Amphitryon“ und „Die Laune
Ich war die Einzige mit dieser Blutgruppe und sah mich kurze Zeit darauf im Krankenhaus neben dem Soldaten liegen, der direkt von mir – natürlich mit einem Schlauch – das Blut bekam. 27
Zur Belohnung erhielt ich danach ein Glas Milch, ging in die Anlagen zurück und sang weiter.
Mit dieser Gruppe fuhren wir zu Aufführungen vor Soldaten ins Tivoli nach Heide und nach Rendsburg, soweit ich mich erinnere. Eine Soldatenkapelle umrahmte die Stücke während der Umkleidepause mit Musik von Mozart und Haydn.
Natürlich spannen sich zarte Bande hin nd her, was der ganzen Sache natürlich ihren besonderen Reiz verlieh. Die Proben genügten uns nicht, um uns zu treffen, und so sparten wir unsere Lebensmittelmarken, um z.B. bei uns zuhause ein Mehlbeutelessen oder bei Sigrid Menze in der Apotheke ein rauschendes Fest zu veranstalten.
Ich habe ihnen dazu meine Geige samt Ständer geliehen. Doch der Herbst 1945 kam und unsere Fähnriche wurden, wie alle anderen Soldaten, die von den Engländern vorläufig zur Überprüfung in Dithmarschen zusammengezogen worden waren, nach und nach entlassen und nach Hause geschickt. Unser Chor hielt sich noch eine Weile und wir gaben noch ein letztes Konzert zu Weihnachten, mit Madrigalen und Weihnachtsliedern.
Die langen Kleider, die wir unbedingt tragen wollten, waren noch aus dem Fundus der schwärmerischen Nazi-Organisation „Glaube und Schönheit“ oder aus der Hochzeitskiste der Mutter von Sigrid Ruppert, die aus Brasilien eine große Menge handgenähter, reinseidener Kleider für ihre Hochzeit geschickt bekommen hatte.
Mein Vater wurde inzwischen von der Wehrmacht entlassen. Doch er war nur kurze Zeit zuhause, weil die Engländer ihn auf Grund einer gemeinen Denunziation in ein Gefangenenlager nach Neuengamme bei Hamburg brachten.
Durch die Bowle, vom Apotheker Menze für uns angesetzt, waren wir so beschwingt, dass wir trotz der von den Engländer verhängten „curfew“ (Sperrzeit mit Ausgangsverbot) mitten in der Nacht um den Dom, im Walzertakt und singend, herumtanzten, ohne dass sich ein Engländer blicken ließ.
Ich rannte noch hinter dem englischen Auto hinterher, um ihm ein Pyjama mitzugeben, und erreichte ihn zum Glück noch an der nächsten Haltestelle. Mein Vater war Schießscharte beim Kyffhäuserbund (Ex-Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg) gewesen. 28
Das machte man ihm zum Vorwurf. Auf dem Schießstand am Sportplatz übte er samstags mit seinen Kameraden Schießen auf Scheiben mit Kleinkalibergewehren. Mich nahm er mit, um die getroffenen Zahlen anzugeben. Anschließend durfte ich mich dann auch im Schießen üben.
Wenn alles nach ein paar Wochen so weit war, schnitt ich die großen Blätter in entsprechende Streifen und wickelte darin die fermentierten, klein geschnittenen Blätter. Zum Schluss schnitt ich sie in gleiche Größen, und die Zigarre war fertig. Anschließend packte ich sie ein und fuhr damit nach Hamburg (natürlich mit der Bahn) und traf mich dort mit meiner Schwester Maggi, die damals im Kinderkrankenhaus als Diätassistentin arbeitete.
In dieser Zeit, wo es wenig zu essen und auch zu rauchen gab, pflanzte der Vater von Frauke, der als Finanzbeamter nicht eingezogen worden war, in seinem Garten Tabak an. Da mein Vater auch ein großer Zigarrenraucher war, guckte ich mir ab, wie man die Pflanzen behandeln musste, die er mir schenkte.
Wir beide machten uns auf nach Neuengamme, in das Lager meines Vaters. Leider durften wir ihn selber nicht sehen, aber sie nahmen uns am Eingang das Paket für ihn ab. Nun konnte er wieder rauchen und hatte auch genug zum Tauschen gegen Brot und andere Lebensmittel. Allerdings wurde er bald wieder nach Hause geschickt.
Natürlich begoss ich sie regelmäßig bei uns im Garten, bis sie auf Mannshöhe herangewachsen waren. Dann schnitt ich die unteren, größeren Blätter ab und reihte sie auf einem Bindfaden auf, den ich auf den Dachboden unseres Hauses zum Trocknen aufhing. Die oberen kleineren Blätter zerhackte ich gründlich und schichtete sie dann lagenweise in eine Wanne, wo ich sie mit Zuckerwasser besprengte.
Natürlich empfanden wir eine tiefe Trauer um alle Verwandte und Freunde, die den Krieg nicht überlebt hatten. Gleichzeitig jedoch waren wir von der Erleichterung überwältigt, dass das Blutvergießen aufgehört hatte und keine Bomben mehr auf unsere Städte fielen.
Daraufhin durfte ich sie bei unserem Bäcker Harders neben den Backofen stellen, damit sie fermentierten. 29
Dadurch wird verständlich, dass wir uns bemühten, nicht zu sehr nach hinten zu schauen, sondern der Zukunft mit Optimismus und Lebensfreude entgegenzutreten. Zurückblickend möchte ich gar meinen, dass gerade die ersten Monate nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zu den unbeschwertesten und schönsten Abschnitten meines Lebens zählen.
Also wurden wir Mädchen zusammen mit den inzwischen heimgekehrten Soldaten aus unserer Klasse (größtenteils waren sie Offiziere geworden) und einigen in Meldorf Gestrandeten zu einem Sonderkursus zusammengezogen, um so schnell wie möglich zu einem gültigen Abitur zu kommen. Schmerzlich empfanden wir das Fehlen unserer im Krieg gefallenen Mitschüler wie Klaus Schnepel, Ernst Schütt und Enne Lau.
Unsere geschrumpfte Klasse: 16 jährige Jungs bei der FLAK
Die Möglichkeit gehabt zu haben, Theater zu spielen, viel zu proben, aufführen zu können, und nicht zuletzt die Freundschaft zu den Fähnrichen war sehr abwechslungsreich und brachte mich genau in dieser Zeit auf ganz andere Gedanken.
Nun war die irgendwie irreale Übergangszeit vom Krieg zum normalen Leben vorbei. Wir fingen an, ernsthaft auf unser neues Ziel hinzuarbeiten.
Natürlich war die auf unseren Zeugnissen stehende Aussage, wonach die Erteilung des Abiturs von der Bewährung im Arbeitsdienst abhänge, gegenstandslos geworden.
Noch nie hatte mir das Lernen in der Schule so viel Spaß gemacht wie in diesen Tagen. Nur in sphärischer Trigonometrie geriet ich, im Gegensatz zu unseren Ex-Marineoffizieren und
Abitur
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Ex-FLAK-Helfern, in Bedrängnis, so dass Heinz Siebels mir noch Nachhilfeunterricht geben musste. Etje Harders seinerseits setzte seinen ganzen Ehrgeiz ein, um uns in Latein glänzen zu lassen, so dass wir noch zuhause Vergils Verse in deutsche Verse zu fassen versuchten – und das freiwillig!
Den offiziellen Abschluss meiner Schulzeit bildete die feierliche Verleihung der Urkunden in der Aula, wonach es am Abend einen großen Ball mit Polonaise gab. Und dann begann für uns die abenteuerliche Suche nach einem Ausbildungsplatz. Die wenigen nicht ausgebombten Universitäten waren mit ehemaligen Kriegsteilnehmer überfüllt, so dass wir Mädchen uns zunächst auf das Arbeiten im Haushalt beschränken mussten, um überhaupt Lebensmittelkarten zu bekommen.
Etje richtete überdies einen Zirkel über das griechische Drama ein, an dem wir Mädchen außerhalb der Schule teilnahmen. Zusätzlich hatten wir Französischunterricht bei einer Flüchtlingsfrau, die bei Annnegret wohnte.
Wenn es an einer Universität freie Studienplätze gab, wurden Frauen so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt, sondern vorwiegend Kriegsheimkehrer, wofür wir auch Verständnis aufbrachten. Ein Medizinstudium, was mir eigentlich vorschwebte, war auf Jahre hinaus aussichtslos. Nicht einmal in alten Sprachen, wie Latein und Griechisch, hatte ich mit meinen Anträgen Glück.
Geschichte wurde ausgespart, meine ich, und auch Erdkunde. Doch in Englisch strengte ich mich besonders an, damit Frau Boysen an mir nichts aussetze konnte (was sie sonst ja mit Vorliebe tat). Am Tag der mündlichen Prüfung versorgte uns die Klasse unter uns mit Kaffee und Brötchen. Als ich erfuhr, dass ich von der mündlichen Prüfung befreit wurde, war ich derart erleichtert, dass ich meinen Leidensgefährten der Reihe nach um den Hals fiel. Als die Prüfung am Nachmittag endlich vorbei war, gingen wir untergehakt und singend zur „Dithmarscher Bucht“ am Hafen, wo wir bis zum Morgengrauen feierten.
Daraufhin studierte ich Neue Sprachen an der Hamburger Fremdsprachenschule, machte meine Dolmetscherprüfung in Englisch und eine Sprachprüfung in Spanisch und ging schließlich auf eine Handelsschule, um die nötigen Kenntnisse für eine Bürotätigkeit zu erwerben. 31
Danach konnte ich tatsächlich meine erste Anstellung als fremdsprachliche Korrespondentin bei Wiechers & Helm in Hamburg bekommen. Die erste Zeit in Hamburg wohnte ich an der Eppendorfer Landstraße, gegenüber der „Friedenslinde“. Es war die Zeit der entsetzlichen Lebensmittelknappheit, und alle hungerten – ich auch. Schließlich bekam ich Hungerödeme, die mir wenigstens auf ärztliche Anordnung ein paar Extra-Marken für Fisch einbrachten. Meine Schwester Maggi arbeitete zu jener Zeit in Rothenburgsort in der Kinderklinik, und ich besuchte sie häufig, wodurch ich wenigstens auch mal zu einem Breichen für Kinder kam. In Eppendorf wohnte ich in einem vom Gang abgetrennten Kabuff, in das mit Mühe gerade ein kleines Bett hineinpasste. Wie froh war ich, als ich dann nach Blankenese umziehen durfte! Denn man konnte sich damals nicht selbst eine Wohnung suchen, sondern war auf die Gnade des Wohnungsamtes angewiesen. Wohnraum war in einer so ausgebombten Stadt eben äußerste Mangelware. Der erste Gang zum Amt war zwar erfolglos, brachte mir jedoch eine private Einladung des Sachbearbeiters zum Mittagessen ein. 32
Ich hatte vor, diesen mit, auf dem Schwarzmarkt erworbenen, Zigaretten zu bestechen. Damit lag ich allerdings ganz daneben, denn der Sachbearbeiter entpuppte sich als der Beauftragte für den Kampf gegen Bestechung! Er nahm es mir jedoch nicht übel. Wir mussten beide viel über mein Ungeschick lachen. Dann bekam ich doch den ersehnten Wohnraum bei einer, mir inzwischen bekannten, Familie, als sogenanntes „Dienstmädchen“ zugeteilt. Die Arbeit bei Wiechers & Helm hat mit viel Spaß gemacht. Aber aus verschiedenen, persönlichen Gründen bin ich nach ein paar Jahren zum Bruder meines Hamburger Chefs zur Cela GmbH nach Ingelheim (eine Tochtergesellschaft von Boehringer) gegangen. Dort lernte ich Waldemar Schumacher, Vertreter meines Chefs, kennen. Er stammte aus einer adligen Familie in Petersburg, wuchs aber in Frankreich auf, wo er auch sein Abitur machte. Er kam mit seinen Eltern während des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland, wo er sofort eingezogen wurde und noch zwei Jahre als Funker im Krieg verbrachte.
Anschließend war er zwei Jahre bei den Russen in Kriegsgefangenschaft und wurde bei seiner Rückkehr Dolmetscher bei Boehringer. Bald verliebten wir uns ineinander und heirateten im Mai 1956. Gleich im Oktober sind wir mit einem Bananendampfer nach Kolumbien ausgewandert. In Bogotá gründete er eine Tochtergesellschaft, nämlich eine Firma für landwirtschaftliche Produkte von Boehringer Ingelheim. Bald danach bekam ich meine Kinder (Susi, Stefan, Christian, Isabel und Renata) und war mit ihnen über die Jahre sehr beschäftigt.
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Als die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, (alle drei haben inzwischen ihren „Doktor“ gemacht – in Chemie, Philosophie und Medizin, worauf ich natürlich sehr stolz bin), fing ich an, Kurse in meinem Hobby, der Malerei zu nehmen. Nachdem ich einige Jahre Radierungen und Lithografien gemacht hatte, fing ich mit Ölmalerei an, bei der ich heute noch bin. So wunderschöne Landschaften, wie es sie in Kolumbien gibt, muss man einfach malen.
Wenn ich heute auf meine Schulzeit zurückblicke, so war sie natürlich unter anderem durch die HJ geprägt. Dazu muss ich sagen, dass ich zwar Mitglied der HJ war, wie alle anderen auch, aber durchaus kein „Nazi“ wurde, denn die Politik von Hitler interessierte mich überhaupt nicht, sondern lediglich das gesellige Zusammensein mit meinen Freundinnen.
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LIEDER ZUM VOGELSCHIESSEN, NACH DENEN WIR IN MEINER SCHULZEIT TANZTEN
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Wenn hier een Pot mit Bohnen steiht, und dor een Pot mit Brie, dann lot ich Brie und Bohnen stohn und danz mit mien Marie. Und wenn Marie nie danzen kann, dann hett se scheewe Been. Dann treck wie ehr een Pumpbüx an, dann is dat nie to seen.
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Go von mi, go von mi Ich mag die nie sehn, kumm to mie, kumm to mie ick bin so alleen.
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Ach lieber Schuster du, flick du mir meine Schuh. Die Schuh die sind entzwei, der Schuster sitzt dabei.
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Herr Schmidt, Herr Schmidt, wat bringt dien Dochter mit? Dusen doler und een Pott vul Grüt Dat bringt den Schmidt sin Dochter mit. Damals liessen wir vom Deutschlandlied die erste Strophe natürlich nicht aus: Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt ...
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„Deutsch ist die Saar“ Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar, und deutsch ist unseres Flusses Strand und ewig deutsch mein Heimatland, mein Heimatland, mein Heimatland. Deutsch bis zum Grab, Mägdlein und Knab’deutsch ist das Lied und deutsch das Wort,deutsch ist der Berge schwarzer Hort, der Berge schwarzer, schwarzer Hort. Deutsch schlägt das Herz, stets himmelwärts, deutsch schlug’s, als uns das Glück gelacht,deutsch schlägt es auch in Leid und Nacht, in Leid und Nacht, in Leid und Nacht. Reicht euch die Hand, schlinget ein Band, um junges Volk, das deutsch sich nennt, in dem die heiße Sehnsucht brennt, nach dir, oh Mutter, nach dir, nach dir. Der Himmel hört’s! Jung Saarvolk schwört’s, lasset es uns in den Himmel schrei’n, wir wollen niemals Knechte sein, wir wollen ewig Deutsche sein! Es hat der Fürst vom Inselreich uns einen Brief gesendet, er hat uns da mit einem Streich die Herzen umgewendet. Wir sagen „nein“ und aber „nein“, zu seinem Einverleiben. Wir wollen keine Dänen sein, wir wollen Deutsche bleiben!
Die vier Geschwister zu Pfingsten
Schulausflug
Meldorfer Volksschule Klassenausflug
Vater Wilhem und Mutter Cristine uf der Veranda in Meldorf
Christine Tim. Telses Mutter vor ihrer Hochzeit
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Haus an der Hafenchaussee heute
Goldkonfirmation Meldorf
Mitabiturienten Anngret, Lily und Hildegrad Krohn. Meldorf 2017
Nach 30 Jahren mit Frauke Konstyabel. Telses Ausstellug mit Lehrer Kรถdel Frauke und Telse in Meldorf, 2016
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Gemahlt von Telse Schumacher Gagelmann 2019