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Tausend Zeilen

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Stadt, Land, Welle

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Schön erzählt

Michael Bully Herbig erzählt den Medienskandal um den „Spiegel“-Reporter Claas Relotius nach: „Tausend Zeilen“.

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Mit Abstand Herbigs bester Film“, stellt der Trailer mit einem Textinsert in Aussicht. „Ne, das ist nicht gut“, überlegt Jonas Nay, der als der preisgekrönte Reporter Claas Relotius – beziehungsweise als „Lars Bogenius“, wie er im Film heißt – zu sehen ist, und redigiert den Text zu Herbigs „ehrlichstem“ Film.

Herbig hat sich von „wahren Begebenheiten“ inspirieren lassen.

Die Vorweihnachtszeit im Jahr 2018 war beim Nachrichtenmagazin „Spiegel“ alles andere als besinnlich – das renommierte Blatt musste sich einer katastrophalen Imagekrise stellen. Am 20. Dezember schrieben der designierte Chefredakteur Steffen Klusmann und einer der damaligen stellvertretenden Chefredakteure Dirk Kurbjuweit (heute Leiter des Hauptstadtbüros) Zeilen, die ihnen wohl schwerer fielen als alle davor in ihrer journalistischen Laufbahn: „Für uns ist dies Tag 1, nachdem wir mit dem Fall Relotius an die Öffentlichkeit gegangen sind. Wir hatten eine Menge Krisensitzungen, einige Pressegespräche, wir haben aufmerksam die sozialen Netzwerke verfolgt, über Strategien gesprochen. Der Tag ging spät zu Ende. Heute wird es ähnlich. Claas Relotius hat sieben Jahre lang für den ‚Spiegel‘ gearbeitet, viele große Reportagen geschrieben, aber leider enthalten wohl die meisten erfundene Passagen. Er schrieb über Leute, die er nicht getroffen oder sogar erfunden hatte, er beschrieb Szenen, die es so nie gab. (…) Er hat betrogen, wir haben uns betrügen lassen, die Chefredaktion, die zuständige Ressortleitung und Dokumentation. Wir waren immer stolz auf unser System der vielen Absicherungen, dass die Texte von so vielen Augen gelesen werden. Unsere Dokumentare sind die Faktenchecker, die unsere Texte überprüfen und Fehler ausmerzen sollen. Heute wissen wir, dass dieses System lückenhaft ist.“

EIN SONG, EINE SZENE … Als Claas Relotius, einst das Wunderkind beim „Spiegel“, ein Jungspund, der mit seinen Reportagen einen Preis nach dem anderen einheimste und im ForbesMagazin als einer der „herausragenden Autoren unter 30 Jahren in Europa“ gelistet wurde, im Juni 2021 erstmals in einem Interview Stellung bezog, antwortete er auf die Frage, wie viele seiner Texte korrekt waren: „Nach allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten.“ Er habe „in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“.

Wenn es der Atmosphäre half, erfand er schon mal einen Song, der im Radio spielte, gern auch mal eine Szene. Er legte Gesprächspartnern Worte in den Mund, oder er erfand einfach kurzerhand Menschen, von denen er berichtete, mit denen er angeblich sprach und die teils horrible Taten begingen. Er erfand sie absurderweise, während er vor Ort im Hotelzimmer saß. Rückblickend heißt es, man hätte es wissen müssen: dass seine Reportagen zu perfekt waren, um wahr zu sein. Dass Relotius heute nicht mehr für ehrwürdige Nachrichtenmagazine dichtet, liegt an einem freien „Spiegel“-Reporter, der während der Arbeit an einem gemeinsamen Text skeptisch wurde: Juan Moreno.

Moreno und Claas Relotius sollten eine Reportage über Bürgerwehren und Flüchtlingstrecks an der Grenze zwischen den USA und Mexiko verfassen. Moreno bemerkte Unstimmigkeiten, teilte der Ressortleitung seinen Verdacht mit, stieß jedoch auf Skepsis. Da man seinem Verdacht keinen Glauben schenken wollte, forschte Moreno der Recherche seines Kollegen hinterher und besuchte im Text beschriebene Mitglieder der

Bürgerwehr, um durch sie Beweise zu sammeln, dass Relotius seine Reportagen aus Erfindungen wob. Der Skandal um Relotius brachte auch eine Debatte über die Ethik des Erzählens im Journalismus ins Rollen. Der ehemalige „Spiegel“Autor Stefan Niggemeier etwa meinte über die gängige Kultur des Reportagenschreibens, dass es in journalistischen Lehrbüchern mitunter als legitim angesehen werde, in Reportagen das Reden und Handeln mehrerer Personen in einer einzigen Figur zu verdichten.

RELOTIUS‘ DRAMATURGIE Als für den „Spiegel“ in Hamburg das Drama seinen Anfang nahm, verfolgte Filmemacher Michael Bully Herbig in München mit großem Interesse, wie eine unabhängige Aufklärungsmission gebildet wurde, die fünf Monate später ihren Abschlussbericht vorlegte. „Als ich von diesem Super-GAU für den seriösen Nachrichtenjournalismus hörte, hatte ich sofort Bilder und Dialoge im Kopf“, so Herbig. „Es ist nicht so, dass ich Hochstapelei beeindruckend oder erstrebenswert finde, aber Hochstapler sind ganz raffinierte Menschen, die mich als Geschichtenerzähler interessieren und die bei mir viele Denkprozesse auslösen.“

Herbig, der im komischen Format (u.a Der Schuh des Manitu und (T)Raumschiff Surprise – Periode 1) beheimatet war, ehe er 2018 den DDR-Flucht-Thriller Ballon vorlegte, sah im Medienskandal, der sich vor ihm ausbreitete, den idealen Stoff, um filmisch erneut eine völlig andere Richtung einzuschlagen. Zu seiner Ernüchterung hatte sich die UFA bereits – noch Monate vor dem Erscheinen – die Filmrechte an Juan Morenos Buch „Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ gesichert. Zu seinem Glück aber dachte man bei der UFA während der Stoffentwicklung an Bully Herbig als Regisseur.

Herbig hatte einen „selbstbewussten Film, der einfach macht, was er will“ im Kopf. „Es geht in diesem Film um die Lüge, um die Unwahrheit. Darin habe ich stilistisch eine Chance gesehen, Dinge zu machen, die ein normaler Film nie machen darf. Die Handlung bricht immer wieder aus, wir erfinden kleine Geschichten innerhalb des Films. Und wenn die Leute glauben, dass sie gerade die Wahrheit gesehen haben, schlagen wir wieder einen Haken. Wir arbeiten also mit denselben Methoden wie der Reporter, der seine Geschichten verdreht oder erfindet“, freut sich Herbig, der sich mit seinem neuen Film auf kein Genre festlegt und gern die vierte Wand durchbrechen lässt, um seine Figuren mit dem Publikum in Kontakt treten zu lassen: Sowohl der fälschende Reporter als auch der skeptische freie Journalist buhlen laut Herbig um die Gunst des Publikums. „Sie wollen die Zuschauer überzeugen, dass sie das Richtige tun. Der Film zeigt, dass beide ihre Motivation haben.“

Als Relotius, der in Bully Herbigs Film Lars Bogenius heißt, ist Jonas Nay (Deutschland 86) im Einsatz,

als sein Gegenspieler, der freie Reporter Juan Moreno (im Film „Juan Romero“), ist Elyas M’Barek zu sehen. Herbig, der wollte, dass M’Barek „hinter der Figur Juan Romero komplett verschwindet“, ho , dass „die Leute aus dem Kino gehen und sagen: So haben wir Elyas ja noch nie gesehen“. Bogenius‘ Motivation breitet sich ab 30.09. auf der Leinwand aus. Claas Relotius selbst hat sich im Juni 2021 in einem 26 Seiten langen Interview im Magazin „Reportagen“ zu seinen Beweggründen geäußert: Er spricht von Phasen des Realitätsverlusts und psychotischen Zuständen. Er habe wahrscheinlich kaum einen journalistisch korrekten Text geschrieben – in der unverrückbaren Überzeugung, dass es sich bei Reportagen nicht um Tatsachenberichte, sondern um verdichtete Erzählungen handle. Im Gespräch bezeichnet er sein Handeln als verantwortungslos. Gleichzeitig habe er geglaubt, er mache seine Arbeit gut … #1000Zeilen

TAUSEND ZEILEN KINOSTART 30.09., D 2022, REGIE Michael Bully Herbig, MIT Elyas M’Barek, Jonas Nay, Marie Burchard, Michael Ostrowski, Kurt Krömer, © Warner Bros.

„EIN BILDGEWALTIGES MÄRCHEN FÜR ERWACHSENE“

STERN

IDRIS ELBA

TILDA SWINTON

EIN FILM VON GEORGE MILLER

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