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Misstöne in einer perfekten Vita
Absolut gewaltig: Cate Blanchett verwandelt sich in Chefdirigentin Lydia Tár.
Todd Fields neue Arbeit beginnt mit einer Laudatio: Der „New Yorker“-Journalist Adam Gopnik (spielt sich selbst) gibt eine Einführung zu seiner Gesprächspartnerin, die in der filmimmanenten Welt gar keiner Erklärung mehr bedarf: Hier ist Lydia Tár, aktuell erste weibliche Chefdirigentin eines großen deutschen Orchesters, eine Größe, deren Vita aus Superlativen besteht: Worte wie „Harvard“, „Emmy“, „Grammy“, „Oscar“ und „Tony“ fallen. Sie hat sich in einer männerdominierten Szene durchgesetzt und positive Akzente gesetzt –wie etwa ein Fellowship-Programm, das jungen Dirigentinnen Unternehmergeist und Auftrittsmöglichkeiten vermitteln soll.
Aktuell probt Tár mit ihrem Orchester (dem auch ihre Lebensgefährtin, Konzertmeisterin Sharon, gespielt von Nina Hoss, angehört) die Live-Aufnahme von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie durch das Label Deutsche Grammophon
– ein bedeutender Karrierehöhepunkt –, und ihre Memoiren mit dem selbstbewussten Titel „Tár on Tár“ stehen knapp vor der Veröffentlichung. Doch gerade jetzt beginnt die Perfektionistin die Kontrolle über ihr Leben und über ihren Ruf zu verlieren. Daran ist allein ihr Verhalten schuld: Sie agiert nach eigenen Regeln und nützt ihre Machtposition hier und da aus, was sich nun zu rächen droht.
BEDROHLICHE DISSONANZEN
Mit Leichtigkeit behandelt Todd Field (Little Children) vieles: institutionelle, hierarchische Strukturen, Cancel Culture, die demokratischen bis autokratischen Regeln der klassischen Welt; transaktionsorientierte Beziehungen; die Frage nach der Trennung von Werk und Autor. All das wird anhand der zentralen Figur erörtert, die auf einzigartige Weise von Cate Blanchett (Blue Jasmine) gespielt wird. Sie zeigt in der Rolle der Maestra, dass sie eine der ganz
Großen ist. Sie nahm Klavierstunden, übte Taktstocktechnik, Rhythmusmuster, amerikanischen Dialekt; lernte Deutsch, studierte Dirigenten, um einen eigenen Stil für Lydia Tár zu entwickeln: „Um herauszufinden, wer Tár nicht ist – aber auch, wer sie sein möchte. Dirigieren ist wie eine Sprache, ein gewaltiger Akt der kreativen Kommunikation. Es ist in höchstem Maße individuell und persönlich“, so Blanchett. Sie und Field wurden einander wichtige Sparringpartner in der Entwicklung des Stoffes. Die Musik stammt von der Oscar-prämierten Komponistin und Cellistin Hildur Guðnadóttir (Joker). Jeder Moment sitzt, jedes Bild ist kraftvoll, das Drehbuch ist auf dem Punkt – und ebenso gnadenlos wie klug und unterhaltsam. #tar
TÁR KINOSTART 02.03., USA 2022, REGIE Todd Field, MIT Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Mark Strong, FILMLÄNGE 158 Min., © UPI
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