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Verstehen lernen

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DAS 94. DOT.

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Alice Diop begeht mit „Saint Omer“ ein intensives Spielfilmdebüt.

Wissen Sie, warum Sie Ihre Tochter getötet haben?“ – „Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass ich es durch dieses Verfahren verstehen werde“, antwortet die Frau, die vor Gericht steht. Laurence Coly hat ihr 15 Monate altes Baby ins Meer gelegt. Nun wird der Mutter in der nordfranzösischen Stadt Saint Omer der Prozess gemacht. Im Gerichtssaal sitzt auch Rama: Die Professorin und Schriftstellerin ist aus Paris angereist, um über den Prozess zu schreiben. Sie will den Medea-Mythos zeitgemäß behandeln. Auch sie stammt – wie die Angeklagte – aus dem Senegal, und sie ist schwanger. Als das Verfahren beginnt, zeigt sich, dass nichts greifbar ist und dass sich Rama mit der Angeklagten identifiziert.

Schmerzhafte Beobachtungen

Die Figur der Rama ist sehr nah an Dokumentarfilmerin Alice Diop, die mit Saint Omer ihren ersten

Spielfilm (Großer Preis der Jury in Venedig) gestaltet. Seit sie 2015 in „Le Monde“ ein körniges Standbild einer Überwachungskamera sah, das eine junge Frau mit einem Kinderwagen zeigte, war sie wie besessen von dem Fall, über den sie minutiös las und den sie später im Gerichtssaal beobachten würde. Zwei Tage, bevor das Bild veröffentlicht wurde, wurde in Berck-sur-Mer ein Baby von den Wellen angespült. Erst wurde vermutet, dass das Baby auf einem Flüchtlingsboot gewesen sei. Als aber im Gebüsch in Berck-sur-Mer ein Kinderwagen gefunden wurde, wurde allmählich rekonstruiert, dass Fabienne Kabou ihr Kind bei Flut am Strand zurückgelassen hat. „Sie hat gestanden; ich höre ihrem Anwalt zu, und sofort wird die Frage der Hexerei erwähnt. Ich erfahre, dass sie eine Doktorandin ist, eine Intellektuelle, die ersten Kommentare der Presse heben ihren außergewöhnlichen IQ von 150 hervor. Doch sie sagt, ihre Tanten im Senegal hätten sie verhext, was erklären würde, was sie getan hat … Für mich passt da etwas nicht zusammen. Zugleich frage ich mich, warum alle eine so große Sache daraus machen, dass sie sehr redegewandt ist, schließlich ist sie Akademikerin.“ Die junge Mutter Diop beobachtete Projektionen auf die Frau (auch von sich selbst); sie bemerkt in Saint Omer nicht nur die übriggebliebenen Wahlkampfplakate von Marine Le Pen, sondern auch die Blicke von weißen Passanten auf sie. Den Prozess besucht auch eine schwangere Journalistin, die – wie Diop selbst – in Tränen ausbricht, als es darum geht, dass die Anwältin nicht nur ihrer Klientin eine Stimme gebe, sondern auch der getöteten Tochter. All diese aufwühlenden Erfahrungen führen zu einem Film, der ebenso intensiv wie schmerzhaft und vielschichtig ist. www.filmgarten.at/saintomer

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